Es ist schon fast halb zwölf: Roman
Von Zdenka Becker
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Über dieses E-Book
Hilde und Karl könnten einen beschaulichen Lebensabend verbringen, wäre da nicht Karls zunehmende Demenz und die bevorstehende Übersiedelung ins Altersheim. Am Dachboden findet Hilde eines Tages eine Kiste mit alten Briefen – und während das Gedächtnis ihres Mannes immer mehr nachlässt, wird die Vergangenheit für Hilde umso lebendiger. Die Briefe führen sie zurück in jene Zeit, als Karl und sie verlobt waren, getrennt durch familiäre Verpflichtungen, Karls Arbeit in Berlin – und das NS-Regime, das bald seinen Schatten über ihr junges Glück wirft.
Als auch noch ein Hobbyhistoriker beginnt, Fragen nach dem Verschwinden von Hildes Nichte zu stellen, droht ihr das Geflecht aus Lügen, das sie um ihr Leben aufgebaut hat, zusehends zu entgleiten …
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Buchvorschau
Es ist schon fast halb zwölf - Zdenka Becker
FISCHBACH, 17. AUGUST 2008
Die Haustür geht auf. Im Türrahmen erscheinen eine alte Frau und ein alter Mann. Beide wirken unbeholfen und blicken sich unsicher um. Die Frau greift nach dem Arm des Mannes, wobei sie sich am Handlauf, der neben der Tür montiert ist, mit der freien Hand abstützt.
»Komm, Karl«, sagt sie ruhig, »draußen ist es jetzt nicht mehr so heiß.«
Der alte Mann schiebt einen Fuß nach vorne, lässt ihn ein paar Zentimeter sinken, mühevoll erreicht er die erste Stufe. Die Frau macht es ihm nach und steigt gleich, ein wenig eckig, beinah forsch, die zweite Stufe hinunter. »Bald hast du es geschafft«, murmelt sie mehr für sich als für ihren Gatten, der zwar hölzern, aber doch ohne Panne die beiden Stufen in den Hof schafft und nun neben der Zuckerfichte vor dem Eingang steht.
»Gehen wir nach Hause?«, fragt er.
»Karl, wir sind zu Hause.«
»Seit wann?«
Die alte Frau winkt ab und führt Karl zum Gartentisch unter dem Nussbaum. Auf dem gedeckten Tisch stehen eine Thermoskanne mit zwei Kaffeetassen, daneben ein flacher Plastikbehälter, unter dessen Abdeckung einige Mehlspeisstücke durchschimmern.
»Schau, Vroni hat uns einen Kuchen gebacken.«
»Ich möchte nach Hause gehen«, murrt der Alte und bleibt neben seinem Stuhl stehen. Mit einer Hand hält er sich an ihm fest, mit der anderen fährt er durch sein schütteres, weißes Haar, gleitet über das Gesicht, berührt seine spröden Lippen. »Bitte, bringen Sie mich nach Hause.«
»Karl, noch einmal – wir sind zu Hause. Ich bin seit fast 70 Jahren deine Frau, ich heiße Hilde und wir haben zwei Kinder, vier Enkelkinder mit fünf Urenkeln, die alle woanders wohnen und uns manchmal besuchen. Wir sind eine Familie.« Ihre feste Stimme wird langsam brüchiger. »Soll ich dir etwas von unseren Kindern erzählen?«
»Na gut, dann bleibe ich, aber nur auf eine Tasse.« Karl setzt sich umständlich nieder, legt seine von Altersflecken übersäten Hände auf den Tisch und schaut die Frau vor ihm an, die ihm irgendwie bekannt vorkommt, die er aber nicht einordnen kann. »Und jetzt?«, fragt er. »Was machen wir jetzt?«
»Wir trinken ein, zwei Tässchen Kaffee, essen Kuchen und genießen die Sonne.«
»Und wenn jemand kommt und uns von hier verjagt?«
»Niemand wird uns von hier verjagen«, sagt Hilde, während sie ein Stück Zwetschkenkuchen auf einen der Teller platziert. »Hmmm, der duftet aber köstlich. Probier mal!«
»Ich will nach Hause.«
»Karl, wir sind zu Hause. Das hier ist unser Haus.«
»Seit wann?«
»Eigentlich seit immer.«
»Seit immer? Das gibt es nicht.«
Hilde greift nach der Hand ihres Mannes und drückt sie. »Karl, ich lebe hier schon immer«, betont sie, »weil ich in diesem Haus geboren worden bin, und du bist auch hier zu Hause, seit wir verheiratet sind.«
»Wir sind verheiratet? Seit wann?«
»Das habe ich gerade gesagt, seit fast 70 Jahren.« Die alte Frau wird nachdenklich. »Warte«, sagt sie nach einer Weile, »im Februar waren es genau 67 Jahre.«
»Wie denn? Zuerst 70 und dann 67 Jahre? Liebe Dame, Sie haben es nicht so genau mit der Wahrheit.«
Hilde sagt nichts mehr. Sie schiebt sich ein Stück Kuchen in den Mund und kaut langsam. »Der schmeckt hervorragend. Jetzt probier doch mal.«
Karl nimmt ebenfalls eines und stopft es ganz in den Mund. »Wenn Sie meinen«, brummt er, wobei Biskuitbrösel und Zwetschgenmus auf sein Hemd fallen. Weder Karl noch seine Frau kümmern sich darum. Was ist schon ein schmutziges Hemd gegen ein paar Minuten Ruhe? Trotz ihres hohen Alters weiß Hilde, dass sie sich nicht mehr auf einer Geraden vorwärtsbewegt, wie sie es immer angestrebt hatte, sondern sich im Kreis dreht. Der Dämon der Vergesslichkeit hat nicht nur über ihren Karl Macht gewonnen, er greift unbarmherzig auch nach ihr. Sie spürt, wie die Tage in diffuses Licht schwinden, ihre Konturen verlieren, blasser werden.
Es ist ein warmer Sommer, Mitte August. Die Bäume im Garten tragen viel mehr Obst als in den vergangenen Jahren. Das Rot der Äpfel leuchtet durch das Laub, die überreifen Birnen fallen ins Gras. Die Ameisen und Wespen feiern ein Fest.
Doch plötzlich wird die nachmittägliche Idylle durch ein lautes Geräusch gestört. Ein Rasenmäher frisst sich im hinteren Teil des Gartens durch das Gras, ein junger Mann in kurzen Jeans und einem blauen T-Shirt schiebt das Gerät vor sich her.
»Wer ist das?«, schreit Karl auf und wird unruhig. »Ist das ein Einbrecher?«
»Nein, Karl, beruhige dich. Das ist Markus. Der kommt öfter zu uns.«
»Ist er mein … unser … nein, unser Sohn ist er nicht.«
»Markus ist ein Zivildiener. Er hilft uns den Garten in Ordnung zu halten. Und er macht für uns Besorgungen. Ein sehr netter Bursche.«
»Ich dachte schon …«
Hilde ist müde. Ihr eigenes Alter macht ihr genug zu schaffen, aber seit es mit Karl angefangen hat, erträgt sie den Alltag immer schwerer. Schon vor Jahren begann er vergesslicher zu werden, wer wird es nicht, wenn er den Achtziger hinter sich gelassen hat. Es fängt mit dem Brillensuchen an, die Hausschlüssel sind auf einmal weg, die Fernbedienung war vor einer Minute noch da, von Menschen, die ständig kommen und gehen und die man nicht erkennt, gar nicht zu sprechen.
»Das ist für Ihr Alter normal«, sagte die Hausärztin und verschrieb beiden ein Ginkgo-Präparat, das den ermüdeten Gehirnzellen auf die Sprünge helfen sollte. Je eine Tablette in der Früh, zu Mittag und am Abend, Tag für Tag, und dann vergisst man, die Tabletten zu nehmen, man findet sie nicht mehr, verdammt, wo sind die blöden Pillen, sie lagen doch gerade noch auf dem Tisch.
»Frau Doktor, wie soll ich weiter mit meinem Mann zusammenleben, wenn er nicht mehr weiß, wer ich bin?«
»Er hat doch sicher auch etwas hellere Momente. Sprechen Sie mit ihm über Ihr Leben.«
»Wir haben viel durchgemacht. Zuerst der Krieg, dann die schwere Arbeit, und als die Kinder in die Stadt gingen, um zu studieren …« Hilde legte ihr Gesicht in die gefalteten Hände und stöhnte. »Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer unser Leben war.«
»Ja, sicher. Das Leben besteht aus schönen und weniger schönen Tagen. Das sogenannte Glück besteht, wie Sie wissen, nur aus kurzen Augenblicken. Der Rest ist Alltag. Holen Sie das Schöne zu sich, blättern Sie in den Familienalben, sprechen Sie mit Ihren Kindern, Nachbarn, Freunden, schaffen Sie sich ein Tier an. Eine Katze wäre am einfachsten.«
»Als Trudi und Karli noch klein waren, hatten wir zwei Katzen und einen Hund.«
»Sehen Sie, es kann sein, dass Ihr Gatte durch Tiere, die im Hof herumrennen, seine innere Orientierung wiedergewinnt. Zumindest teilweise.«
»Zu uns kommen manchmal Nachbarskatzen. Und Sie meinen …?«
»Ja, geben Sie den Besuchskatzen warme Milch, dann werden sie öfter kommen.«
Obwohl Karl sehr früh die Konturen seines Lebens verloren hatte, wusste er genau, dass da etwas war, da, in seinem Kopf, in seiner Seele, konnte aber die Geschichten nicht mehr abrufen. Irgendwo schien sich ein Vakuum gebildet zu haben, ein Leerraum, als ob ein volles Lager ausgeräumt worden war. Gähnende Leere. Wie konnte das nur passieren? Wohin ist sein Leben verschwunden?
Sie verließen die Ordination Hand in Hand und stützten einander beim Gehen. Auf der Straße wartete schon Vroni auf sie mit laufendem Motor, half ihnen einzusteigen und brachte sie nach Hause.
»Karl, am Wochenende kommen die Kinder«, sagt Hilde und legt sich ein zweites Stück Kuchen auf den Teller. »Sie wollen mit uns etwas Wichtiges besprechen. Du kannst dir schon denken, was.«
»Was?«
»Sie meinen, dass wir es in einem Seniorenheim leichter hätten als hier. Bequemer und vor allem sicherer.«
»Und wer bringt mich heute nach Hause?«
Wenn Trudi und Karli es ernst meinen und sie in ein Heim geben, was wird dann aus ihnen?, denkt Hilde. Das Haus wird verkauft und jemand wird in den Sachen herumwühlen, die ihr Leben ausmachten. Was wird aus den Geheimnissen, von denen nur sie wissen? Hilde stockt. In dem Moment durchfährt sie etwas wie ein Dolch. Sie weiß, die Sache duldet keinen Aufschub. Nervös fuchtelt sie mit den Händen, greift Karl an den Schultern und rüttelt ihn. »Karl, wir müssen etwas unternehmen.«
Das Rasenmähergeräusch hat endlich aufgehört. Jetzt rumort Markus in der Scheune, ordnet die Gartengeräte, rollt den Wasserschlauch ein. »Ich bin fertig!«, ruft er in Richtung Tisch, an dem die beiden Alten wie erstarrt sitzen.
»Brauchen Sie noch etwas, Frau Dorn?«
»Ja, bitte … würden Sie noch …«
Markus kommt näher, klopft seine schmutzigen Hände an der Hosennaht ab, zieht aus der Tasche ein Taschentuch und säubert sich provisorisch.
»Wollen Sie ein Stück Kuchen mit uns essen?«
»Nein, danke … ich wollte gerade …«
»Lernen können Sie auch am Wochenende.« Hilde versucht zu scherzen, was ihr in dem Moment nicht sonderlich gut gelingt.
»Meine Freundin wartet auf mich.«
»Na, dann lassen Sie sie nicht warten.«
»Aber Sie wollten doch etwas.«
»Ja, Sie bitten, eine Kiste vom Dachboden zu holen, aber das hat Zeit. Vielleicht morgen.«
»Wenn Sie wollen, hole ich sie sofort. Das geht schnell. Um welche geht es?«
»Die große dunkelbraune mit dem Holzdeckel. Sie steht direkt rechts neben dem Aufgang unter den Dachbalken. Ich hoffe zumindest, dass sie immer noch dort steht. Ich war schon lange nicht mehr oben.«
»Das haben wir gleich«, ruft Markus fröhlich und seine Schritte donnern schon über die fragile Holztreppe, die zum Dachboden führt. Der junge Mann legt eilig ein paar zusammengerollte Teppiche auf die Seite, verschiebt die Verpackungskartons eines Fernsehers und einer Waschmaschine, wirbelt Staub auf, entdeckt die gesuchte Kiste und müht sich mit ihr auf den Hof.
»Wo soll ich sie hinstellen?«, fragt er.
»Lassen Sie sie unter dem Dachvorsprung stehen. Ich werde sie gleich abstauben.«
»Darf ich?«
»Nein, nein, Sie haben mir schon genug geholfen. Laufen Sie zu Ihrer Freundin. Liebe soll man nicht warten lassen.«
Und weg ist er, der junge, ungestüme Mann, fast noch ein Kind. 23 Jahre ist er alt, Student, im letzten Semester hat er sein Bachelorstudium in Wirtschaft und Management abgeschlossen. Und bevor es mit dem Masterstudium weitergeht, leistet er seinen Zivildienst ab. Alle wundern sich über die Unterbrechung, nur Hilde nicht, sie weiß, warum er das Jahr braucht. Markus sitzt manchmal mit ihr zusammen und weiht sie in seine Pläne ein. Er erzählt ihr Dinge, die er sich nicht traut, seinen Eltern gegenüber zu äußern. Karl würde ihn, wenn er könnte, am liebsten wegschicken, aber Hilde liebt den Jungen, weil er sie an ihren Lieblingsenkel Max erinnert.
Am Abend kommt Vroni wie jeden Tag noch einmal und unterstützt Karl beim Waschen und Umziehen. Bevor sie ihn ins Bett legt, hilft sie ihm beim Essen, danach schlichtet sie das benutzte Geschirr in den Geschirrspüler, wischt den Tisch ab, kehrt die Brösel vom Boden und geht. Hilde sitzt noch eine Weile im Hof, schaut der heraufziehenden Dunkelheit zu, beobachtet den Mond, wie er sich langsam von links nach rechts bewegt. Eine schmale Sichel, ähnlich der, die sie in ihren jungen Jahren auf dem Acker und im Garten verwendet hat.
Wie oft hat sie ihn schon angehimmelt. Wie oft hat sie mit Karl draußen gesessen und ihm Wünsche geschickt, an seine magische Kraft geglaubt. Aber der Mond schwieg. Manchmal erspürte er ihre innersten Träume und machte sie wahr, andere Male enttäuschte er sie und schickte ihr nur kaltes Licht. Wie viele Jahre ist das her? Es ist schon fast nicht mehr wahr.
Hilde schaut nach Karl, der im Ehebett friedlich schläft und leise schnarcht. Sie stellt ein Glas Wasser auf das Nachtkästchen, richtet seine Bettdecke und schaltet das Licht aus. Sie weiß, ihr Mann wird bis Mitternacht fest schlafen, dann aufwachen, hektisch versuchen aufzustehen und verlangen, nach Hause gebracht zu werden. Er wird toben, schreien und betteln, so wie jede Nacht, aber früher oder später gewinnt die Müdigkeit, und er wird sich von Hilde ins Bett zurücklegen lassen.
Bevor sie das Schlafzimmer verlässt, fällt ihr Blick auf zwei Fotos, die neben der Tür an der Wand hängen. Trudi mit ihren dünnen Mäusezöpfchen und einer großen Zahnlücke. Ihre Milchzähne sind ausgerechnet zwei Tage vor dem Termin beim Fotografen ausgefallen. Karli, er war gerade neun Monate alt, steht in einem gestrickten Anzug auf einem Stuhl, eine unsichtbare Hand hält ihn, damit er nicht herunterfällt. Wie sehr er ihr damals wegen seiner abstehenden Ohren leidtat. Später, als er schon den Kindergarten besuchte und die Ohren immer noch nicht anlagen, klebte sie sie ihm über Nacht mit einem Pflaster am Kopf fest, was aber nichts nutzte. Hilde wendet sich von den Fotos ab und geht. Es ist halb neun. Sie hat noch mindestens drei Stunden Ruhe, die sie heute nützen möchte.
Draußen steht die Kiste. Auf der dicken Staubschicht kann man noch die Handabdrücke von Markus erkennen, Spuren seines Körpers, gegen den er die schwere Last beim Tragen über die steile Treppe gedrückt hat. Hilde kehrt den Staub mit einem kleinen Besen herunter, streicht über den Deckel und versucht ihn anzuheben, aber er lässt sich nicht öffnen. Und wenn er angenagelt ist?, schießt es ihr durch den Kopf. Sie schiebt ihre Finger in den Spalt zwischen der Kiste und dem Deckel und zieht an ihm. Sie spürt eine leichte Bewegung. Na also, denkt sie. Kurz entschlossen eilt sie in die Werkzeugkammer und holt Hammer und Meißel aus der Werkzeugkiste. Geschehe, was geschehe, sie muss die Kiste heute aufbringen.
Sie führt den Meißel in den Spalt und klopft dagegen. Hoffentlich wird Karl von dem Krach nicht wach, denkt sie und hört trotz der berechtigten Sorge nicht mit dem Hämmern auf. Der Meißel dringt immer tiefer ein, sie spürt Holzspäne an ihrer Hand, und da macht es einen Ruck und der Deckel springt auf. Mühevoll schiebt sie ihn zur Seite und erkennt von der schwachen Hoflaterne beleuchtet einen Stapel Zeitungen in der Kiste.
»Das darf nicht wahr sein«, entkommt es ihr. »Hat Karl die Briefe etwa vernichtet?«
Hilde greift nach dem Zeitungspapier, durchwühlt es panisch, es knistert spröde unter ihren Fingern, und stößt auf ein Bündel Briefe. Erleichtert nimmt sie es heraus und drückt es an ihre Brust.
Ludwigsfelde, 2. Februar 1938
Liebste Hilde!
Ich bin gut angekommen und arbeite seit gestern in der Fabrik. Schade, dass Du die Halle, in der ich beschäftigt bin, nicht sehen kannst. Groß, sauber und mit den besten Werkzeugen ausgestattet, die man sich nur vorstellen kann. Manche davon habe ich noch nie gesehen. Hier zu arbeiten macht wirklich Spaß. Der Meister hat mein Zeugnis begutachtet, dann zeigte er mir meine Werkbank und sah mir eine Weile zu. Ich glaube, ich habe ihn mit meiner Präzision überzeugt, weil er die ganze Zeit genickt und sogar ein bisschen gelächelt hat. Als er ging, klopfte er mir auf die Schulter.
In der Wohnbaracke habe ich ein Bett in einer Stube mit sechs Betten bekommen, einen Stuhl für meine Sachen und einen verschließbaren Spind. Mehr brauche ich im Moment nicht.
Heute war ich beim Bürgermeister wegen meiner Karteikarte. Da habe ich auf der Amtstafel zwei Trauungen angeschlagen gesehen. Das eine Paar wird am 14., das andere am 21. März getraut. Mir war dabei richtig warm ums Herz. Bei uns wird es auch bald so weit sein.
Wir haben noch zu Hause ausgemacht, dass wir, wenn es geht, im April heiraten werden. Ich glaube, es wäre am besten gleich nach Ostern. Das wäre am Sonntag, den 16. April. Wäre Dir das recht? Andererseits, wenn wir später heiraten würden, könnte ich Ende Mai, Anfang Juni schon meinen Urlaub bekommen, und wir könnten eine kleine Hochzeitsreise machen. Oder ist es Dir zu spät?
Schreibe mir, wie Du darüber denkst. Und vergiss nicht, den Trauschein Deiner Eltern beizulegen. Ich werde dann aufs Gemeindeamt gehen, mich über alles erkundigen und uns gleich anmelden. Und noch etwas: Wir werden in Ludwigsfelde heiraten, nicht in Berlin. Es sei denn, Du möchtest auch kirchlich kopuliert sein, damit es besser hält. Das ginge natürlich auch in Berlin.
Wegen der Wohnung habe ich mich auch schon umgehört. Es wird am besten sein, wir nehmen uns für den Anfang ein möbliertes Mansardenzimmer, dann werden wir weitersehen. Es steht uns alles offen – einen Baugrund zu kaufen oder uns in einem Neubau eine Mietwohnung zu nehmen. Hier wird heuer viel gebaut. Aber wenn sich in Berlin eine günstige Wohnmöglichkeit findet, werden wir sie natürlich wahrnehmen, und ich werde mit der Bahn in die Arbeit nach Ludwigsfelde fahren. Das ist nicht weit. Etwa eine halbe Stunde.
Wichtig ist nur, dass Du kommst und wir heiraten und gemeinsam unseren Hausstand gründen. Du kannst Dir sicher sein, wir werden eine schöne Wohnung finden, Möbel kaufen, dafür gibt es günstige Ehestandsdarlehen, und ein schönes Leben zusammen beginnen. Unsere Liebe wird uns über alle Hindernisse hinweghelfen.
Inzwischen ist es schon sehr spät und ich gehe schlafen. Gute Nacht, meine Liebe. Träum was Schönes.
Viele Bussis, Dein Karl
FISCHBACH, 17. AUGUST 2008, NACHT
Es ist kurz vor Mitternacht. Hilde sitzt immer noch im Hof und strengt ihre Augen an. Sie spürt die Nachtkälte, fröstelt ein wenig. In den Händen hält sie Karls ersten Brief, der sie in eine ganz andere Wirklichkeit entführt. Ihr ist, als ob gerade ein Theatervorhang aufginge und sie auf einer Bühne stünde. Sie erkennt die Kulissen, riecht den alten Staub, bis in den letzten Nerv spürt sie den Sog der teuflischen Idee, ein Großdeutsches Reich zu erschaffen. Sie macht Hitler, der dabei die Regie führte, für die größte Tragödie ihres Lebens verantwortlich. Es ist aber nicht nur die Vergangenheit, die sie gerade vereinnahmt, sondern es sind vor allem die Geschehnisse in jenen schicksalhaften Jahren, von denen Karl nichts weiß und die sie seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht aus dem Kopf bekommt.
Was war da alles? Krieg, Heirat, Trennung, unzählige Versprechen? Vielleicht die Hoffnung auf ein besseres Leben? Schuld? Eine große Schuld, die ihr bis heute auf den Schultern lastet, ein Geheimnis, das sie mit ihrer Nichte Lina teilt, und die Gewissheit, ein Leben lang einem Toten manchmal näher zu sein als den Lebenden?
Ist es das, wovon die Frau Doktor sprach? »Blättern Sie in den Familienalben, sprechen Sie mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, erinnern Sie sich.«
Die dicke Brille rutscht ihr bis zur Nasenspitze und droht ganz herunterzufallen. Hilde hält sie mit der rechten Hand auf, setzt sie ab und legt die Bügel zusammen. Genug für heute, denkt sie, morgen ist auch noch ein Tag. Doch dann fragt sie sich – ist es überhaupt zulässig, den Geist aus der Flasche zu lassen und mit der Illusion zu spielen, dass alles noch gut werden wird?
Sie steht auf, schwankt dabei leicht, der Schwindel macht ihr gerade jetzt zu schaffen. Trotzdem gelingt es ihr, den Kistendeckel zu schließen, die Briefe, die sie doch gerade erst wiederentdeckt hat, sollen nicht feucht werden. Langsam, die Pantoffeln über den rauen Beton schleifend, bewegt sie sich in Richtung Haus. »Mama, Mama«, hört sie schon im Vorzimmer ihren Mann rufen und weiß, dass die Nacht vorläufig zu Ende ist. Aber das ist ihr in dem Moment herzlich egal.
Fischbach, 27. Februar 1938
Lieber Karl,
vielen Dank für Deinen lieben Brief. Wie schön ist es zu wissen, dass es Dir gut geht.
Die Heiratsurkunde meiner Eltern und auch die anderen Dokumente habe ich auf der Gemeinde besorgt. Nur weiß ich immer noch nicht, ob ich schon im Frühjahr zu Dir kommen kann. Elfi möchte nicht, dass ich gehe. Sie droht, dass sie sich und Lina etwas antut, wenn ich sie allein im Haus lasse. Sie schafft die Arbeit im Stall und auf den Feldern nicht, die Kleine ist noch zu jung, um ihr zu helfen, und die Pacht von der Bäckerei wird sie auch nicht aus der Misere herausreißen. Der Fischer zahlt wenig, und das auch nicht regelmäßig. Das ist ein Jammer. Der Papa hätte ihn schon längst hinausgeworfen.
Weißt Du, Karl, wenn ich es mir so richtig überlege, es ist schon ganz schön egoistisch von mir, meine Schwester im Stich zu lassen, wo ich ihr bei der Geburt der Kleinen versprochen habe, immer auf sie beide aufzupassen. Sicher, ich war damals selbst noch ein Kind, aber versprochen ist versprochen. Und ich liebe die Kleine, als ob sie meine eigene Tochter wäre, das kannst Du mir glauben.
Deshalb mein Vorschlag: Ich werde heuer die Feldarbeit noch mit Elfi zusammen verrichten. Wenn wir Glück haben, bekommen wir noch ein, zwei Knechte dazu. Nach der Ernte werden wir nach einem geeigneten Pächter suchen, und ich komme gleich zu Dir. Heiraten können wir auch im Herbst.
Bitte, sei mir nicht böse. Ich möchte nicht nur eine gute Ehefrau, sondern auch eine gute Schwester und Tante sein.
Mit den allerliebsten Grüßen und vielen Bussis
Deine Hilde
FISCHBACH, 18. AUGUST 2008, MORGEN
Was für eine kurze Nacht. Beinah schlaflos. Hilde und Karl liegen noch in ihren Betten. Wenn Karl aufwacht, wird sie sich an ihn schmiegen, denkt die alte Frau, und ihm das Gefühl geben, dass sie zu ihm gehört. Das wird ihnen beiden guttun. Und er wird fragen, »Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir?«, Hilde aber bald erkennen und ihr etwas von seinem wehen Knie und seinen Kreuzschmerzen erzählen. Währenddessen rumort Vroni in der Küche und bereitet den beiden ein Frühstück: Malzkaffee, Haferflockenbrei, ein Butterbrot mit selbst gemachter Marmelade. Mundgerecht geschnitten, wie sie es gernhaben.
Vroni kommt auch aus dem Dorf. Sie wohnt nur ein paar Häuser weiter. Ihr Mann ist vor ein paar Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben, die einzige Tochter hat nach Innsbruck geheiratet, hat dort Familie und Kinder und kommt die Mutter nur alle paar Monate besuchen. Und Vroni kann nicht mit gefalteten Händen im Schoß dasitzen, sondern will helfen. Die Dorns kennt sie schon seit Jahrzehnten; mit ihrer Tochter Trudi ging sie in die Schule. Danach arbeitete sie im städtischen Seniorenheim als Altenpflegerin. Jetzt kümmert sie sich nur noch um Hilde und Karl.
»Was ist das für eine Kiste im Hof?«, fragt Vroni. »Soll ich sie wegräumen?«
»Nein, bitte nicht, lass sie dort, wo sie ist. Markus wird sich am Nachmittag darum kümmern«, erwidert Hilde, die gewaschen und vollständig angezogen die Küche betritt. Zum Glück kann sie sich noch selbst pflegen, wenn auch sehr mühsam. Aber wie lange noch?
Karl hingegen lässt das Morgenritual über sich ergehen: Waschen, Anziehen, Morgenübungen, Frühstücken. Er wehrt sich nicht mehr gegen Vronis Berührungen und das feuchte Tuch im Gesicht, wenn sie ihn nach dem Essen reinigt. Bewusst oder unbewusst versteht er, dass die einzige Alternative ein Pflegeheim, vielleicht sogar eine Pflegestation wäre, und das möchte er mit allen Mitteln verhindern. Als er noch gesund und fit war, sprach er oft davon,