Love this Game: Basketball – über die Liebe zu einem grandiosen Spiel
Von André Voigt
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Über dieses E-Book
André Voigt
André „Dré“ Voigt gilt als DER deutsche NBA-Kenner schlechthin. Er arbeitet als Experte für DAZN, betreibt einen der erfolgreichsten deutschen Basketball-Podcasts und war Chefredakteur des Basketball-Magazins FIVE. Sein neuestes Projekt ist das Basketball-Bookazine GOT NEXXT. Zusammen mit Jan Hieronimi ist er Autor von „Planet Basketball“ und „Planet Basketball 2“.Seine Kommentare zum aktuellen Geschehen in der NBA finden sich auf Twitter.com/drevoigt.
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Buchvorschau
Love this Game - André Voigt
Für Isabel, Ylva, Edith und Fritz.
INHALT
VORWORT
FUNDAMENTALS
Hoop Dreams
Keiner ist gestorben, fünf Sterne
Learning by Doing
Von Käfigen zu Arenen
Big George
Feindliche Übernahme
Rettung in der Bowlingbahn
SUPERSTARS
Erster Kontakt
Die Besten der Besten
Müller, Meier, Schulze, Nowitzki
DIE ASSOCIATION
Der Manager auf dem Sitz neben mir
Not the American Dream
Hard Cap, nein danke!
Die Luxussteuer
Superteams
Tauschgeschäfte
Try Trade!
Trades für alle!
Die NBA-Draft
Das Ende der Freiheit
Der beste Weg zum Erfolg
Von Gier und Planwirtschaft
Der kalte Umschlag
The Process
Unangenehme Wahrheit
BUILT TO WIN
Ein Nachthemd vom Chef
Archetypes – das Ende der Positionen
Das perfekte Team
PLANET BASKETBALL
Mit Abstand verlieren
NBA-Reisen: Wie geht das?
Es muss nicht immer NBA sein!
Deutschland … es ist kompliziert
Als ich Pau Gasol rettete
Bucket List
Da hilft auch kein Mittelstrahl
DANKE
VORWORT
Es war ein Samstag im Januar 1988. Ich weiß noch, wie Micha den auf Barock gemachten Metallschlüssel drehte. Er stand an einer dieser Schrankwände, die damals gefühlt jede Familie im Wohnzimmer stehen hatte. Dunkles Holz, viel Stauraum, eine Vitrine für die „guten Gläser und – so war das in den 1980ern halt – eine Bar. Genau die öffnete Micha. Er klappte die schwere Tür vorsichtig nach unten, wodurch sie zu einer Ablage wurde. Praktisch, denn so ließ sich auf Bauchhöhe direkt ein Drink mixen … und zu mixen gab es einiges. Seine Eltern waren nicht zu Hause. Ich meine, dass sein Vater Schütze oder Kegler war oder beides – auch so ein 1980er-Ding. Auf jeden Fall war bei Micha im vierten Stock im Dresdener Ring 47 im Wolfsburger Stadtteil Westhagen sturmfrei. Wir wohnten damals im Dritten. Ich war 14, Micha und sein Kumpel Sven waren ein Jahr älter. In Sachen pubertärer Entwicklung waren sie mir wahrscheinlich sogar noch weiter voraus – auch wenn ich beide um einen Kopf überragte. Micha hatte mich nachmittags auf dem Flur eingeladen, doch abends „hochzukommen
. Warum, steckte er mir nicht. Jedenfalls erinnere ich mich nicht mehr daran. Dafür aber an die Flasche mit dieser blauen Flüssigkeit namens „Blue Curaçao, an den dicken Hinweis „mit Farbstoff
. Ich erinnere mich auch an eine weiße Flasche mit der Aufschrift „Malibu", an klitzekleine Gläser … vor allem aber an dieses Gefühl, gleich etwas Verbotenes zu tun.
Wir probierten uns durch so ziemlich jede Art von Alkohol, die dieser als Barschrank getarnte Übergang in die Erwachsenenwelt zu bieten hatte. Immer nur kleine Mengen – Michas Eltern durften nichts merken –, dafür alles durcheinander. Zum ersten Mal Alkohol, wow! Ich dachte, dass dieser Moment, so bitter brennend er zum Teil auch schmeckte, das nachhaltig Wichtigste sein würde, was ich an diesem Tag erleben sollte. „Endlich Haare auf der Brust! und so … Da machte Sven den Fernseher an. Er schaltete zielsicher über die etablierten Sender hinweg, ARD, ZDF, sogar vorbei an den neuen privaten RTL, SAT.1, bis zu einem Kanal namens „Super Channel
. Den hatte ich noch nie wirklich wahrgenommen – genau wie das, was jetzt dort gezeigt wurde. Sven spielte beim VfL Wolfsburg Basketball, und aus irgendeiner Programmzeitung musste er erfahren haben, dass genau dort jetzt dieser Sport lief. Kein Spiel aus der deutschen Bundesliga, sondern eines aus den USA, der NBA – „der besten Basketballliga der Welt", wie mir versichert wurde.
Natürlich wusste ich, dass es diesen Sport mit den Körben gab. Wir hatten ihn mal in der Grundschule angetestet – mit diesen farbigen Gummibällen, die ein oranges Ventil hatten –, aber von der F- bis zur C-Jugend brannte ich nur für Fußball. Kicken war alles, Pierre Littbarski mein Idol. Die größte Strafe: Trainingsverbot. Der wendige Dribbler „Litti, das Vorbild für einen Jungen, dem sein Trainer die Dehnbarkeit „einer Bahnschranke
attestierte und ihn aufgrund seiner Länge ins Tor stellte? War das nicht denkbar unrealistisch? Ja. Immerhin spielte ich mich bis in die Abwehr vor, wo ich dann vom selben Übungsleiter, lieb gemeint, „André Ruderfuß" gerufen wurde, weil ich mit meinen langen Beinen jeden Angreifer abgrätschen würde … Ja, der Herr Dau, er war ein Poet des grünen Rasens.
Mit Fußball war es jedoch schon länger vorbei. Zwei Armbrüche in einem Jahr ließen mich in meinem zweiten Verein den Anschluss verlieren. Unser Trainer, der seinen Schützlingen nach dem Spiel in der Kabine vor versammelter Mannschaft eine Schulnote für die gezeigte Leistung gab (gern auch lautstark verbalisiert eine Sechs), sorgte dafür, dass ich die Lust verlor und irgendwann einfach nicht mehr zum Training ging. Und jetzt flimmerten da diese Bilder über den Röhrenfernseher. Grüne Trikots, gelbe mit ein wenig lila an der Seite. Was gesagt wurde, verstand ich als Siebtklässler nicht. Drei Dinge fielen mir jedoch auf. Zum einen lief da dieser supergroße Spieler über das Parkett, dessen Name zu lang für sein Trikot war: „Abdul-Jabbar". Dazu trug er eine Brille. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sah aus, als hätte jemand zwei Wassertropfen eingefroren, in der Mitte zusammengeklebt und ihm übergezogen. Die Brille schmiegte sich um seinen kahl geschorenen Kopf, war durchsichtig und wurde hinten von einem schwarzen Gummiband gehalten. Auch warf er anders als alle anderen. Abdul-Jabbar führte den Ball am langen Arm weit über den Kopf (mit der Tropfenbrille), dann ließ er ihn seitlich gen Korb fliegen. Zum zweiten war da sein Mitspieler namens Johnson. Der war zwar um einiges kleiner als dieser Abdul-Jabbar, aber viel länger als sein Verteidiger. Irgendwie spielte auch er anders. Sven merkte an, dass der mit Vornamen Magic heiße. Und es wurde noch wilder: Schrempf. Der sollte ein Deutscher sein. Ich weiß noch, dass ich dachte: Ein Deutscher in den USA? Wie geht denn das?
Ehrlich gesagt hatte ich nach einer guten Stunde auch andere Probleme: In meinem Bauch wurde es irgendwie warm. Ich war redseliger als sonst. Das musste der Alkohol sein. Ich machte mir Sorgen, ob ich nicht eine meilenweit zu riechende Fahne vor mir hertrug. Als wenig rebellischer Teenager wollte ich es mir auf keinen Fall mit meinen Eltern verscherzen. Also verabschiedete ich mich und ging langsam runter in den dritten Stock. Im Dunkeln. Nicht, dass mich noch einer der Nachbarn sah. War meine Zunge blau von diesem Curaçao-Zeug? Oh Gott, würde ich lallen, wenn ich zur Tür reinkam? Auf keinen Fall lallen oder schlimmer noch: torkeln! Das Zimmer von meinem Bruder und mir lag am Ende des langen Flurs, links davon das Wohnzimmer, wo meine Erziehungsberechtigten fernsahen. Schnellen Schrittes ging ich bis zur Toilette zwischen Wohn- und Kinderzimmer, rief: „Ich bin wieder da", schloss die Tür zum Klo, putzte mir übergründlich die Zähne, gefolgt von einer Guinness-Buch-würdigen Gurgelarie, und verabschiedete mich ins Bett. An diesem Tag hatte sich mein Leben nachhaltig verändert, und zwar ganz anders, als ich gedacht hatte. Basketball wurde mein Leben. Magic Johnson?, grübelte ich vor dem Einschlafen. Komischer Name.
Basketball oder Fünf!
„Klaus Hantelmann mag ein nicht ganz so komischer Name sein, dafür spielt er in dieser Geschichte eine weitaus wichtigere Rolle als der von Earvin „Magic
Johnson. Der Mann, der mich schlussendlich zum Basketball brachte, war Lehrer am Albert-Schweitzer-Gymnasium (ASG) in Wolfsburg. Er unterrichtete Biologie und Erdkunde im … nun … wenig charmanten Freizeit- und Bildungszentrum – einem 1970er-Jahre-Bau, der, wie der Rest des Stadtteils Westhagen, von den Stadtplanern vor allem „funktional" gestaltet worden war. In seiner Freizeit kümmerte sich Hantelmann als Abteilungsleiter um die Basketballsparte des VfL Wolfsburg. Spielerisch wenig begabt, hatte er sich als junger Mann in seiner Heimat Wolfenbüttel dennoch in den orangen Ball verliebt. Kein Wunder. Basketball hat dort Tradition. Der MTV Wolfenbüttel gewann 1972 und 1982 den deutschen Pokal und spielte als Gründungsmitglied von 1966 bis 1984 in der Ersten Bundesliga. In seiner nur knapp 55 000 Einwohner zählenden Heimatstadt war der MTV über Jahrzehnte DIE große Nummer. Eltern nahmen ihre Kinder mit zu den Spielen. Kinder wollten so sein wie die Helden, die in der Lindenhalle oder am Landeshuter Platz spielten. In der Zuschauerreihe direkt hinter der Spielerbank saß gern der Bürgermeister. Wolfenbüttel war eine dieser Basketballhochburgen, von denen es in der alten Bundesrepublik nur wenige gab. In Wolfsburg konnte davon keine Rede sein. Hantelmann leistete also sportliche Entwicklungshilfe und die beinhaltete, groß gewachsene Schüler anzusprechen, die er täglich unter einigen hundert Jugendlichen auf den Fluren des ASGs an sich vorbeilaufen sah. Ob sie schon mal was von Basketball gehört hätten? Wollten sie den Sport nicht vielleicht mal ausprobieren? Super, genau dafür gab es die von Klaus Hantelmann selbst geleitete Basketball-AG!
Ich muss so um die 1,90 Meter lang gewesen sein, als mich Hantelmann auf dem Flur der Sekundarstufe 1 ansprach. Allerdings hatte er mehr als nur seine Standardsätze im Gepäck. Der Mann wusste, dass er im kommenden Schuljahr unsere Klasse in Erdkunde unterrichten würde. Und so schloss er seinen Anwerbeversuch mit folgendem Satz, den er mit einem schelmischen Grinsen untermalte: „Also, wenn du keine Fünf in Erdkunde möchtest – komm mal zur AG." Wer war ich, 14,5 Jahre alt, das Gesicht voller Akne und zu dieser Zeit außer Summer Games beziehungsweise MicroProse Soccer am C64 ohne jegliche sportliche Betätigung, dass ich dieses Angebot ablehnen würde? Es war die beste Entscheidung meines Lebens (und, ja, dieser Satz gibt zu Hause sicher Ärger …).
34 Jahre später sitze ich hier und schreibe ein Buch über meine Liebe zum Basketball. Über das Spiel, das so viel mehr für mich wurde als eine Freizeitbeschäftigung – oder das Hintergrundrauschen eines pubertären Alkoholabends. Basketball wurde zur Orientierung und zur Identität. Zur Bestätigung, Leidenschaft und auch zur Heimat. Ich lief für eine US-Highschool-Mannschaft auf, schlug zwei College-Angebote aus, spielte drei Jahre in der Zweiten Bundesliga, wurde Deutscher Hochschulmeister, coachte die zweite Herrenmannschaft meines Heimatvereins von der Kreis- bis in die Bezirksliga … und machte schließlich mein Hobby zum Beruf.
Über die Jahre war ich bei einigen der schönsten Basketballspiele aller NBA- und FIBA-Zeiten live in der Halle. Mit einer Handvoll Freunde gründete ich eine eigene Zeitschrift (Five), später einen Podcast (Got Nexxt), noch später eine weitere Zeitschrift (Got Nexxt – The Magazine), ich durfte im Fernsehen (sogar live) über Basketball sprechen, NBA-Partien kommentieren. Vor allem aber traf ich seit 1988 eine Menge Menschen, die diese Liebe zum Basketball nicht nur teilten, sondern weiter anfachten. Von meinen ersten Coaches beim VfL Wolfsburg (Henning Schlieker, Bernd Uellendahl und Conny Pawlak) über unzählige Freunde und Bekannte im Sport bis zu Dirk Nowitzki. Am Ende sind es die Menschen und ihre Geschichten, die den Sport zu dem machen, was er ist.
Diese Liebe wollte ich immer weitertragen. Sei es als Jugendtrainer damals beim VfL, in meinem Podcast, mit unserer Zeitschrift, an einem Samstagabend auf der Party des Babamixed in Braunschweig … oder eben mit diesem Buch.
Viel Spaß!
FUNDAMENTALS
HOOP DREAMS
Basketball ist die individuellste Teamsportart der Welt. Das mag auf den ersten Blick paradox, ja sogar abschreckend klingen. Dabei liegt genau hier vielleicht das größte Geheimnis der Faszination dieses Sports. Deshalb zur Erklärung ein kleines Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, wir sind allein in einer Turnhalle. Uns stehen alle Bälle, Tore, Netze und was es sonst noch zur Ausübung von Mannschaftsspielen gibt, zur Verfügung … alles außer Mitspielern. Wir schnappen uns den Fußball. Ein paar Schüsse auf das leere Tor später passen wir das Leder vielleicht gegen die Wand, damit es zu uns zurückspringt, nur um es dann wieder gegen die Backsteine zu spielen. Also her mit dem Handball. Nach jedem Wurf ins Tor das Gleiche: das Spielgerät aus dem Netz friemeln, hinter den Kreis gehen, ein, zwei Dribblings, Wurf … Eventuell versuchen wir die Latte zu treffen, vielleicht ein paar Hechtsprünge in den Kreis plus Rolle auf dem Boden nach dem Wurf ins leere Tor. Jetzt Hockeyschläger und -ball? Schuss, Tor … Selbst Hockey-Enthusiasten, Hand- und Fußballer müssen zugeben: Das macht nicht lange Spaß. Es fehlt der Wettbewerb, die Challenge namens Torwart. Also Volley-, Völker-, Faust-, Brenn-, Base-, Wasserball, Rugby, American Football, Cricket, Lacrosse, Quidditch? Nee, lass mal …
Irgendwann greifen wir zum Basketball. Wahrscheinlich – unsere Turnhalle steht in Deutschland – müssen wir jetzt irgendwo an einer der vier Wände eine Kurbel drehen, die eine schlimm ächzende Konstruktion in Gang bringt, die den Korb von der Decke auf die gewünschten 3,05 m Höhe herunterfahren lässt. Sofort ist klar, was getan werden muss: Das Runde muss ins Runde. Von oben. Ein Selbstläufer ist das nicht, aber selbst ohne irgendeine Vorbildung im Bereich Korbwurf geht der ein oder andere Versuch recht schnell rein. Natürlich werfen wir zunächst mit beiden Armen. Denn diese Bewegung ist uns fremd. Richtig fühlt sich das nicht an, aber wenn das Ergebnis stimmt … wen kümmert’s? Irgendwie kickt das. Jedes Mal wenn dieser rotorange Lederball durch das weiße Nylongeflecht rauscht, macht das etwas mit uns.
Wahrscheinlich sind es kleine Endorphinausstöße, verbunden mit dem „Swish" des Balls, der durchs Netz rauscht, die uns konditionieren. Das Werfen wird zur Mikrochallenge mit sofortiger Erfolgskontrolle. Und die funktioniert ganz wunderbar allein. Der Torwart ist der Korb in der Höhe. Der Schwierigkeitsgrad kann selbst gewählt werden. Anfänger versuchen es näher am Ring, Fortgeschrittene von weiter weg oder nach einem Dribbling durch die Beine. Da ist sogar eine Linie. Wer von dahinter trifft, bekommt drei statt zwei Punkte. Muss ich probieren! So fängt es an. Überall auf der Welt. Es mag sich für jeden, der nicht selbst Basketball spielt, komisch lesen: Diese so grundlegende Faszination verlässt Basketballer nie. Sie können in der Kreisliga spielen oder in der NBA Millionen verdienen. Ein Ball, ein Korb, ein halbwegs ebener Boden – mehr braucht es nicht, um glücklich zu sein … egal ob im Madison Square Garden in Manhattan, in der Ischelandhalle in Hagen oder auf den Dong Dan Courts gleich um die Ecke vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Allein auf einen Korb zu werfen ist die Grundlage des besten Teamsports der Welt und war es von Anfang an. Sein Erfinder wollte eigentlich nur ein paar Halbstarke davon abhalten, sich umzubringen …
KEINER IST GESTORBEN, FÜNF STERNE
Der Kanadier James Naismith ist 31 Jahre alt, als er Basketball erfindet. Der Winter des Jahres 1891 steht vor der Tür. Eine Zeit, der die Lehrkörper der International YMCA Training School in Springfield, Massachusetts, traditionell mit Sorge entgegenblicken. Denn im Nordosten der USA wird es dann kalt, sehr kalt. Es fällt viel Schnee. So viel Schnee, dass noch heute Privatleute während eines der berüchtigten Blizzards Schneepflüge an ihre eigenen Autos schnallen, um die Straßen passierbar zu machen. Damals wie heute sind Winter in Neuengland ein Problem. 1891 kommt ein nicht sofort ersichtlicher Grund hinzu. Am College von Naismith werden seit 1887 Sportlehrer ausgebildet. Im Sommer sind die jungen Männer gut ausgelastet. Sie spielen American Football, Fußball und ein bisschen Lacrosse. Diese Sportarten sind zu dieser Zeit vor allem eins: ziemlich brutal. Während es bei Lacrosse und Fußball nur anständig auf die Knochen gibt, sterben noch im Kalenderjahr 1905 unfassbare 19 Studenten bei Football-Partien zwischen US-Colleges. Präsident Theodore Roosevelt sieht sich genötigt einzugreifen. Er trifft sich mit Vertretern verschiedener Unis, setzt Regeländerungen durch und gründet so nebenbei den Vorläufer der National Collegiate Athletic Association (NCAA), die heute quasi das Milliardengeschäft des US-Unisports organisiert.
Während also im Sommer für ordentlich Aggressionsabbau und Adrenalin gesorgt ist, hält der Winter einen Lehrplan für die Studenten bereit, der aus Marschieren, Geräteturnen und Freiübungen besteht. Wohin mit der angestauten Aggressivität? Woher den Kick nehmen? Da das mit Kniebeugen und dem gelegentlichen Unterschwung am Reck nicht so recht gelingen will, schlagen die jungen Herren anderweitig über die Stränge und gern in Gesichter. Es muss etwas passieren, fordert Luther Halsey Gulick. Er gilt heute als Vater des US-Sportunterrichts und ist damals Professor des Doktoranden James Naismith. Im Sommersemester 1891 hatte Gulick in einem Seminar gesagt, dass es ein neues Spiel brauche. Einen Hallensport, der „interessant, leicht zu erlernen und unter künstlichem Licht zu spielen sein muss". Daran erinnert sich Naismith, als der Winter naht. Denn der aktuelle Jahrgang ist schwierig, Interesse am öden Winterprogramm quasi nicht vorhanden.
Naismith erklärt gegenüber seinen Kollegen, dass das System das Problem sei und nicht die Studenten. Man müsse an ihre spielerischen Instinkte appellieren, schlägt er vor. Gulick freut sich über diese Idee. „Naismith, ich will, dass Sie diesen Jahrgang übernehmen und schauen, was Sie damit machen können", erklärt er. Er gibt Naismith auf den Weg, dass sein neuer Sport bitte anstrengend sein und keine Knochenbrüche der Studenten nach sich ziehen soll. So eine neue Sportart erfindet sich aber nicht einfach so nebenbei. Naismith tüftelt lange. Zwei Ideen, die er hat (Abwandlungen von American Football und Lacrosse für die Halle), stoßen bei den jungen Männern auf gar keine Gegenliebe. Dann kommt Naismith zu dem Schluss, Elemente verschiedener Sportarten, die seine Studenten kennen, miteinander zu verknüpfen. Als Spielgerät wählt er einen alten Fußball. Eine Art Tor soll es auch geben, aber nicht ebenerdig, sondern in der Höhe. Zu Beginn einer Partie und nach jedem Tor gibt es einen Sprungball, wie er aus dem englischen Rugby bekannt ist. Er erinnert sich an ein Kinderspiel, mit dem er und seine Freunde sich in seiner Heimat Ontario die Zeit zu vertreiben pflegten: Duck on a rock. Die Regeln sind simpel: In eine Baumgabel oder auf einen großen Felsen wird ein kleinerer Stein gelegt – der Drake. Ein Spieler ist so etwas wie ein Torwart, er bewacht den Drake. Die anderen Spieler versuchen, mit Steinen (Ducks) danach zu werfen. Fällt der der Drake zu Boden, können die Werfer ihn klauen. Kinder, die mit Steinen werfen, als Vorbild für eine neue, sichere Sportart … das liest sich bis hierhin absurd. Bis hierhin …
Die Grundidee von Naismith ist also, einen Ball in ein in der Höhe befestigtes Tor zu werfen. Brillant! Er fragt beim Hausmeister, ob der nicht zwei Kisten hat, in die ein Fußball locker passt. Hat der nicht, dafür aber zwei Körbe, in denen normalerweise Pfirsiche aufbewahrt werden. Besser als nichts. In der Turnhalle überlegt Naismith, wie hoch die Körbe eigentlich aufgehängt werden sollen. Pragmatisch, wie er ist, orientiert er sich an einer architektonischen Gegebenheit. Auf einer Höhe von 3,05 m (zehn Fuß) läuft ein Balkon einmal rund. Das ist damals in so ziemlich allen Sporthallen in den USA der Fall, dort können Zuschauer stehen. An das untere, hölzerne Ende des Balkons montiert Naismith seine Körbe. So weit so gut. Doch was sind eigentlich die Regeln seines neuen Spiels? Naismith schnappt sich seine Sekretärin und diktiert:
1. Der Ball darf mit einer oder beiden Händen in jede Richtung geworfen werden.
2. Der Ball kann mit einer oder beiden Händen in jede Richtung geschlagen werden – allerdings nicht mit der Faust.
3. Ein Spieler darf nicht mit dem Ball laufen. Der Spieler muss den Ball von dem Punkt, an dem er ihn fängt, weiterspielen. Wenn ein Spieler den Ball im schnellen Lauf fängt, darf er erst zum Stehen kommen.
4. Der Ball darf mit den Händen gehalten werden, nicht aber mit den Armen oder dem Körper.
5. Jegliches Stoßen mit der Schulter, Halten, Schubsen, Beinstellen oder Schlagen des Gegners ist verboten. Die erste Regelverletzung dieser Art wird als Foul gewertet, die zweite führt zu einer Disqualifikation des Spielers bis zum nächsten Korb. Wenn der Foulende seinen Gegner offensichtlich verletzen wollte, wird er vom Spiel ausgeschlossen und darf von seinem Team nicht ersetzt werden.
6. Schlägt ein Spieler den Ball mit der Faust, wird das als Foul gewertet, genau wie Verstöße gegen die Regeln 3, 4 und 5.
7. Begeht ein Team drei aufeinanderfolgende Fouls, ohne dass die andere Mannschaft ein Foul