DOROTHEA: Queere Heldin unterm Hakenkreuz
Von Jürgen Pettinger
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Über dieses E-Book
Die berühmte Schauspielerin Dorothea Neff (1903–1986) nahm ab 1940 ihre jüdische Freundin Lilli Wolff als U-Boot in ihrer Wohnung auf. Mit viel Mut, Opferbereitschaft und List gelang die Geheimhaltung. Aber 1944 musste Lilli mit einem Tumor in der Brust ins Krankenhaus. Wie sollte sie operiert werden, ohne aufzufliegen?
Jürgen Pettinger rollt den Fall neu auf, spürt in den Dokumenten und von ihm wiederentdeckten Tonaufnahmen der Beziehung der beiden Frauen nach und zeigt, dass queere Aktivist:innen von heute auf den Schultern der queeren Held:innen von damals stehen.
Mit zahlreichen s/w-Abbildungen
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Buchvorschau
DOROTHEA - Jürgen Pettinger
»Ich habe damals instinktiv meine Feindschaft, meine abgrundtiefe Ablehnung dieser politischen Linie, mit Blicken, in Bemerkungen oder im Nicht-die-Hand-Heben und solchen Dingen kundgetan.«¹
DOROTHEA NEFF
Dorothea ließ sich immer alles aus der Nase ziehen. Man konnte zwar vortrefflich mit ihr diskutieren, über Gott und die Welt; einfache Gespräche über dies und das überforderten sie aber. Zu ungenau, es machte sie unsicher. Sie konnte erstens nicht gut einschätzen, was wichtig genug war, erzählt zu werden und was nicht, zweitens wollte sie niemanden mit uninteressanten Anekdoten langweilen, die nur sie betrafen. Alltägliche Dinge, die sie umtrieben, machte sie gerne mit sich selbst aus. Andere damit zu beschäftigen schien ihr sinnlos.
Auf die einfache, so oft gestellte Frage zum Beispiel, wie ihr Tag gewesen sei, war mit größter Sicherheit nur ein dürres »Ganz gut« zu erwarten. Nicht viel mehr. Wer wirklich an Details interessiert war, an ihrem alltäglichen Leben teilhaben und sich nicht mit Allgemeinplätzen zufriedengeben wollte, musste nachbohren und vor allem Fragen stellen, die ihr konkrete Antworten abverlangten.
»Was war eigentlich gestern hinter der Bühne los?«
Dorothea hatte an diesem Abend Gäste geladen, eine kleine Runde. Nur sie selbst, der junge Nachbar von oberhalb, Erwin Ringel, der Medizin studierte, und Judith Holzmeister, eine ebenso junge Schauspielkollegin vom Theater.
Die Zusammenkunft hatte sie nahezu generalstabmäßig geplant. Der Abend diente dazu, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Erstens galt es, den Schein zu wahren: Dorothea konnte sich als beliebte Schauspielerin, die sie war, nicht vollends aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen, das hätte für Gerede gesorgt. Die Stimmung war ohnedies angespannt, überall herrschten Angst und Misstrauen. Ein falsches Wort konnte zu Verhaftungen führen, Menschen verschwanden von einem Tag auf den anderen.
Ein Schauspielpartner, den Dorothea von früher her kannte, war zum Beispiel eines Tages von der Gestapo abgeholt worden, weil ein anderer Kollege, der auf seine Rollen neidisch war, behauptet hatte, er habe von den Plänen irgendwelcher Kommunisten gewusst, die sich gegen die Regierung und den Krieg richteten, aber keine Anzeige erstattet. Erst nach Wochen war der Mann wieder aufgetaucht, mit gänzlich zerschlagenem Gesicht. Er war offenbar unschuldig, zumindest hatte man ihm nichts nachweisen können, dennoch konnte er in dem zerschundenen Zustand monatelang nicht auftreten. Seine Rolle hatte tatsächlich der Denunziant bekommen. Solche und noch viel schlimmere Geschichten kursierten haufenweise. Jeden Tag, in jeder Minute war Obacht geboten, bei allem, was man tat und sagte.
In gewisser Weise versuchte Dorothea also mit regelmäßigen Einladungen, Einblick in ihr ach so pflichtgetreues Leben zu gewähren, um jeglichen Gerüchten vorzubeugen. Sie war eine alleinstehende Schauspielerin, allein diese Tatsache war geeignet, für Gerede zu sorgen. Warum fand sie keinen Ehemann? Was trieb eine derart eigenbrötlerische Frau so alleine die ganze Zeit? Wollte sie keine Kinder bekommen? Das würde den Machthabern und ihren Anbiederern gar nicht gefallen. Dorothea wusste ja, was hinter ihrem Rücken über sie geredet wurde. Es war also wichtig, Normalität zu vermitteln, soweit es ihr möglich war.
Zweitens war sie auf der Suche nach Verbündeten, nach Menschen, denen zu trauen war. Als Schauspielerin liebte sie es zwar, in Rollen zu schlüpfen, seien sie gut oder böse, nur konnte sie die mit den jeweiligen Kostümen nach jeder Vorstellung wieder ablegen. Seit geraumer Zeit aber war sie nun gezwungen, auch abseits der Bühne ein Doppelleben zu führen, und das verlangte ihr immer mehr ab. Sie wusste, dass sie über kurz oder lang Hilfe brauchte und andere einweihen musste. Was die beiden Besucher nämlich nicht ahnten: An diesem Abend war noch eine weitere, für sie unsichtbare Person anwesend, um gemeinsam mit Dorothea über deren Vertrauenswürdigkeit zu urteilen.
Im Kaminschacht in der Wand, hinter einem großen, prachtvollen Kachelofen, hielt sich Dorotheas Freundin Lilli Wolff verborgen und hörte jedes Wort mit. Dorothea war es zuerst gar nicht recht gewesen, aber Lilli selbst hatte auf diesem rußverschmierten Versteck bestanden. Der Winter war vorüber, es musste nicht mehr geheizt werden und der Kamin bot ausreichend Platz für eine Person.
Er war ein idealer Lauschposten, vom Vorraum aus über eine hüfthohe, in die Holzvertäfelung eingelassene und kaum sichtbare Luke begehbar. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war minimal, wenn sich die Person im Kamin mucksmäuschenstill verhielt.
Dorothea wäre es lieber gewesen, die Freundin wäre, wie sonst, wenn Besuch da war, im gemeinsamen Schlafzimmer geblieben, das lag weit weg vom Salon und den Gästen und war auch nicht, wie die anderen Räume in der Wohnung, über ein Durchgangszimmer, sondern über einen eigenen Gang zu erreichen. Von dort aus hätte Lilli zwar nichts von den Gesprächen der Abendgesellschaft mitbekommen, sie wäre aber auch selbst nicht zu hören gewesen. Was, wenn sie nun plötzlich niesen musste? Bei der vielen Asche und dem Ruß in dem Kamin war das gar nicht so unwahrscheinlich.
Aber Lilli konnte und wollte nicht mehr alleine und abgeschottet sein. Sie hatte Dorothea regelrecht angefleht, ihr wenigstens an diesem Abend dieses kleine Stück Freiheit zu geben. Seit eineinhalb Jahren machte sie sich nun schon vollständig unsichtbar, seit eineinhalb Jahren hatte sie die Wohnung kein einziges Mal verlassen.
»Wenn ich schon nicht mit am Tisch sitzen kann, dann lass mich wenigstens still an dem Abend teilhaben!«, hatte sie eindringlich gebeten.
Um den von Dorothea gefürchteten Niesanfällen vorzubeugen, hatte sie kurzerhand eine Drahtbürste genommen und den Kamin – so gut es ging – von Ruß und Asche befreit. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es doch dazu kommen sollte, hatte sie ein Kissen dabei, in das sie ihr Gesicht drücken würde. Den Fußboden hatte sie mit alten Stofffetzen ausgelegt, um andere versehentliche Geräusche zu dämpfen. Dann hatte sie einen Holzschemel in das Kaminloch gestellt, auf dem sie gerade noch aufrecht hocken konnte. Links und rechts stieß sie mit den Schultern gegen die Wände, ihre Bewegungsfreiheit war so weit eingeschränkt, dass es nahezu unmöglich war, die Sitzposition zu ändern. Sie saß also nur ganz still da und konnte gar keinen Mucks machen. Dorothea hatte dem Drängen der Freundin schließlich nachgegeben, aber darauf bestanden, eine Kommode vor die Luke zu schieben, sobald Lilli drin war. Nur um ganz sicherzugehen, dass nicht doch jemand zufällig den Kaminschacht entdecken und auf die Idee kommen würde, wissen zu wollen, wohin dieses Türchen in der Holzvertäfelung führte. Man konnte nie wissen.
Lilli hörte von ihrem Versteck aus jedes Geräusch so deutlich, als säße sie tatsächlich mit am Tisch. Das Gespräch war bisher recht einsilbig verlaufen. Dorothea war steifer als sonst. Sie stakste ständig zwischen Salon und Küche hin und her, brachte eine neue Karaffe mit Wasser, räumte gebrauchte Gläser ab oder klapperte sonst mit irgendwelchen Gegenständen herum. Sie war ganz offensichtlich schrecklich nervös und versuchte dies mit übertriebener Aufmerksamkeit und Gastfreundschaft zu überspielen.
Die beiden Eingeladenen waren einander noch nie zuvor begegnet und wirkten recht unbeholfen im Umgang miteinander. Die Frage, was gestern hinter der Bühne losgewesen sei, hatte Dorotheas Theaterkollegin gestellt.
»Es war nichts«, gab Dorothea – wie auf solche Fragen zu erwarten – kurz und knapp zurück. Ähnlich hatte sie am Vorabend auch Lilli gegenüber reagiert, die natürlich sofort erkannt hatte, dass doch etwas war.
Nach der Vorstellung war sie wutentbrannt nach Hause gekommen und wollte sich eigentlich sofort schlafen legen. Aber Lilli hatte nicht nachgegeben und entsprechend nachgebohrt, was denn der Grund für Dorotheas Zorn sei.
Lilli Wolff in Jugendtagen, undatiert
Sie hatten die Vereinbarung getroffen, dass Dorothea sich jeden Abend Zeit nahm und Lilli genau und wirklichkeitsgetreu von den Ereignissen des Tages berichtete, die sie erlebt oder beobachtet hatte. Das waren oft Banalitäten, wenn etwa ein Regisseur während einer Probe mit der einen oder anderen Interpretation nicht zufrieden war oder eine neue Bühnenkulisse nicht funktionierte, weil eine Türe klemmte oder ähnliches.
Dorothea war Lillis einziges Fenster zur Welt außerhalb der Wohnung. Oft bestand sie sogar darauf, dass Dorothea ihr ganze Gespräche, die sie im Laufe des Tages geführt hatte, Wort für Wort nacherzählte. Bald waren daraus regelmäßige Privatvorstellungen geworden.
Lilli saß dann am Sofa und war das Publikum, Dorothea spielte sich selbst und alle anderen, nahm dabei sogar verschiedene Positionen ein. Wie sich herausstellte, tat es auch ihr wohl, da sie dadurch keine Fragen beantworten und sich selbst offenbaren, sondern einfach nur nachspielen musste, was tagsüber geschehen war. Lilli saß mit geschlossenen Augen daneben und stellte sich vor, wie die Leute aussahen, um die es ging. Waren sie groß oder untersetzt, dick oder dünn, elegant oder grobschlächtig? Schien die Sonne warm auf ihre Gesichter, während sie sich unterhielten, oder befanden sie sich irgendwo in einem dunklen Garderobenraum?
An besagtem Abend, an dem Dorothea so zornig nach Hause gekommen war, war sie nach der Vorstellung hinter der Bühne einen jungen Kollegen angegangen. »Du bist ein Schmierist!«, hatte sie ihn angebrüllt, weil er auf der Bühne plötzlich improvisiert und in Dorotheas Augen damit die ganze Szene auf den Kopf gestellt hatte. Mehrfach schon hatte Dorothea Kämpfe mit dem um zehn Jahre jüngeren Schauspieler ausgetragen. Ihrer Beschreibung nach war er zwar schön wie aus einer Zahnpasta-Reklame, dabei aber eitel, launisch und unpräzise beim Arbeiten.
Otto Wilhelm Fischer hieß der Kerl, wollte selbst aber nur kurz O. W. genannt werden; für Dorothea ein weiterer Beweis dafür, dass er nur herausstechen und sich selbst mit seinem Namen besonders machen wollte. Sogar als »arroganten Krampfbruder« hatte sie ihn bezeichnet. Das war sehr untypisch für Dorothea, denn eigentlich suchte sie bei jedem Menschen, auch wenn er oder sie ihr nicht gleich sympathisch war, immer zuerst das Gute. Lilli musste in ihrem Versteck bei dem Gedanken an Dorotheas furiose Nachstellung der Ereignisse vom Vorabend grinsen. Nachdem Dorothea sich selbst gespielt hatte, wie sie als mit allen Wassern gewaschene und erfahrene Bühnendarstellerin den gerade einmal 26 Jahre alten Jungspund zusammengestaucht hatte, war sie einen Schritt zur Seite getreten und hatte seine Rolle eingenommen. Wie er einfach nur langsam den Kopf senkte, wie ein Hund vor seinem strengen Herrchen, und mit zur Schau gestellter Demut die Unterlippe kräuselte, wie es Kleinkinder tun, wenn die Eltern sie maßregeln.
»Man hätte ihm eigentlich eine herunterhauen müssen«, hatte Dorothea nach dieser abendlichen Privatvorstellung trocken kommentiert. Dann hatte sie sich mit einem Textbuch ins Bett gelegt und kein Wort mehr gesagt.
Dorothea Neff und O. W. Fischer in Baron Trenck der Pandur, 1940
Nun in der Runde auf diesen Zwischenfall hinter der Bühne angesprochen, erzählte Dorothea lediglich, dass sie sich geärgert habe, weil ihr Partner in einer Szene die Position verlassen und sie damit aus dem Konzept gebracht hatte. Fast so, als habe sie sich nicht über ihn, sondern vielmehr über sich selbst geärgert, weil sie nicht spontan genug reagiert hatte. Den Namen O. W. Fischer erwähnte sie mit keinem Wort. So sehr er sie auch aufgeregt hatte, niemals würde sie hinter seinem Rücken vor anderen Kolleginnen oder Fremden schlecht über ihn reden.
Der angehende Arzt aus dem oberen Stockwerk, der bis jetzt kaum etwas gesagt hatte, wechselte gekonnt das Thema. Offenbar hatte er gespürt, dass Dorothea über bestimmte Dinge nicht gerne sprach.
»Welchen Eindruck haben sie von Wien?«, wollte er wissen. Er selbst war dem Dialekt nach hier aufgewachsen und Dorothea nun schon so lange in der Stadt, dass sie genügend Zeit gehabt hatte, anzukommen und sich ein Bild davon zu machen.
Lilli kannte Erwin Ringels Stimme schon von Gesprächen im Hausflur, die sie mitangehört hatte. Persönlich zu Gesicht bekommen hatte sie ihn aber noch nie. Er musste um die 20 Jahre alt sein, also ebenfalls deutlich jünger als Dorothea und sie selbst. Als Student lebte er in einer kleinen Wohnung ganz oben im vierten Stock. Für die Hausbewohner hatte er immer ein nettes Wort parat, bot sich an, Einkäufe die Stiegen hochzutragen. Lilli stellte ihn sich als adretten jungen Mann vor, korrekt gekleidet, mit einem freundlichen Gesicht und aufrechten Blick.
Er verstand es jedenfalls ganz offensichtlich auch, die richtigen zu Fragen stellen, denn Dorothea, die dem Knarren des Parkettbodens zufolge schon wieder auf dem Sprung in die Küche gewesen war, blieb abrupt stehen.
»Problematisch«, sagte sie, neuerlich kurz angebunden. Lilli fürchtete schon, dass der angehende Arzt womöglich doch einen wunden Punkt getroffen hatte und das Gespräch damit schon wieder beendet war.
Wien war nämlich für sie anfangs eine herbe Enttäuschung gewesen. Beide waren sie ja aus einer bereits sehr gefestigten nationalsozialistischen Atmosphäre in Deutschland in die Stadt an der Donau gekommen und hatten mit einer gewissen österreichischen »Aufgelockertheit« gerechnet. Dorotheas Ruf ans Wiener Volkstheater war ihnen damals geradezu wie eine Schicksalsfügung erschienen.
Schon an ihrem allerersten Tag in Wien hatten sie aber feststellen müssen, dass von der Leichtigkeit, der Nonchalance, für die Land und Leute hier berühmt waren und auf die sie so gehofft hatten, nichts übrig war. Sie hatten sich damals einfach in einen Bus gesetzt, um gleich einmal so viel wie möglich zu sehen. So waren sie nicht nur an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten vorbeigefahren, sondern auch an den vielen