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Der Lügenpresser: Roman
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eBook182 Seiten2 Stunden

Der Lügenpresser: Roman

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Über dieses E-Book

Dr. Karl Schmied, 62, ist verliebt. In Sonja aus Moldawien. Weil die Zukunft verheißungsvoll ist, schaut der Boulevardjournalist und studierte Historiker auch in die Vergangenheit zurück. Aus kleinen Verhältnissen stammend, hat er etwas aus sich und seinem Leben gemacht. Mit vielen Veränderungen im Land ist er durchaus zufrieden, aber dass man keinen "Mohr im Hemd" mehr bestellen darf und gleichgeschlechtliche Paare jetzt auch noch heiraten wollen, geht ihm dann doch zu weit. EU, Migranten, Flüchtlinge, Roboterisierung, Social Media, die Krise der Politik und der Zeitungen: Karl Schmied sieht schwarz für die Zukunft. In seinem kleinen Kosmos fühlt er sich durchaus wohl. Bis zwei unerwartete Nachrichten sein sorgfältig zurechtgezimmertes Selbstbild krachend zum Einsturz bringen – worauf der vermeintlich Besonnene zu einem drastischen Mittel greift.
Mit spitzer Feder und hintersinnigem Witz taucht Livia Klingl in ihrem ersten Roman tief in die österreichische Seele ein. Sie schickt Karl Schmied auf eine Reise durch das Gestern, das Heute und das zu erwartende Morgen und blickt hinter die Fassade eines Menschen, der wie so viele andere auch das Gefühl hat, aus dieser unberechenbaren Zeit gefallen zu sein.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. März 2018
ISBN9783218011181
Der Lügenpresser: Roman

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    Buchvorschau

    Der Lügenpresser - Livia Klingl

    Montag

    IN DER FRÜH, ZU HAUSE IM BETT

    Niemals hätte ich mir das früher vorstellen können, aber jetzt weiß ich es. Das sind keine kitschigen, aber nie wahr werdenden Erzählungen aus Frauenromanen und ihren erst recht kitschigen Verfilmungen im deutschen Fernsehen, bei denen ich sofort wegschalten muss, weil dieses Gesülze hält ja kein Mensch aus. Jedenfalls kein Mann. Nein, das gibt es wirklich, dieses Ankommen, Sich-zu-Hause-Fühlen, diese beglückende Zweisamkeit, die Romantik, die Zärtlichkeit, dieses Einander-Wollen!

    Ich erkenne mich kaum wieder! Dass ich einmal im Bett liegen und jemandem anderen am Kopfpolster nachspüren würde, noch einen Hauch vom Duft der anderen Person festhalten möchte, hätte ich nie im Leben von mir selber gedacht. Aber jetzt liege ich hier in den zernudelten Laken, auf denen wir die vergangenen Stunden verbracht haben, aneinandergekuschelt wie zwei schlafende Kätzchen.

    Sonjas leicht vom Schweiß der Nacht verschwitzte Bettdecke habe ich an meinen Körper und zwischen meine Beine gepresst, meinen Kopf auf ihrem Polster, die Nase eingetaucht wie in ein Parfümflakon, damit ich noch die letzten Reste von ihr erschnüffeln kann von dort, wo eben noch ihr dichtes, lockiges Haar gelegen ist.

    Der Spruch stimmt also doch, dass man Dinge loslassen, weglassen, aber vor allem zulassen muss. Zulassen, was für ein seltsam doppeldeutiger Begriff! Man kann das Herz zu lassen und damit nichts an sich heranlassen. Oder man kann etwas zulassen und damit das Herz öffnen, so wie mir das passiert ist. Diese deutsche Sprache mit ihren zehntausenden Wörtern hat schon seltsame Eigenheiten! Bei Zulassen ist mir das bisher nie aufgefallen, dass es das Öffnen und zugleich sein Gegenteil, das Verschließen bedeutet. Mein Lieblingsbeispiel für die Unlogik war ja immer „unwirsch, eine Verneinung von etwas, das es in seiner Bejahung im Sprachgebrauch überhaupt nicht gibt. Im Duden gibt es „wirsch sehr wohl. Und es heißt absurderweise dasselbe wie unwirsch.

    Sonja, was für ein schöner, warmer Name! Ich mag ihr Haar so sehr! Es ist immer gepflegt, ihre Locken glänzen wie poliert. Man will andauernd drüberfahren über diese kupferfarbene Mähne, sie in den Fingern halten, ihr Apfelshampoo riechen, sich in ihrem Haar verlieren wie überhaupt in der ganzen Frau. Wahrscheinlich gibt mir dieses Haar so sehr das Gefühl, als wäre ich endlich zu Hause, weil es mich in meine Kindheit zurückversetzt. Angeblich ist die ja prägend fürs ganze restliche Leben, besonders die Gerüche. Und der Geschmack von Essen. Und Musik natürlich auch.

    Mit der Musik hatte ich Glück. Denn kaum war ich der Kindheit entwachsen, verdrängten die Beatles und die Stones dieses ländlich-liebliche österreichische Ziehharmonika- und Geigengesäusel und das Marschmusik-Umtata wenigstens aus dem damals sensationellen, neu gegründeten Radiosender Ö3. Das kann sich ja heute kein Mensch mehr vorstellen, was das für uns Junge bedeutet hat! Da hat sich ein Fenster zur Welt aufgetan in diesem muffigen Wien!

    Für mich war Ö3 eine Erlösung, für die Mutter gar nicht. „Dreh die Negermusik leiser!, hat sie mit fader Regelmäßigkeit in Richtung meines Zimmers gekeppelt, weil sie den „langhaaraten Engländern und all der anderen „Wumm-Wumm-Musik absolut nichts abgewinnen konnte. „Nur Wumm-Wumm!, hat sie gesagt. „Und was soll das für ein Text sein, yeah, yeah, yellow submarine?", hat sie die Pilzköpfe nachgeäfft und deren Refrain kritisiert, als wären die Refrains der deutschen Schlager zwingend sinnstiftender. Uns Jungen haben die Engländer gefallen. Für mich waren sie überhaupt das erste Zeichen, dass der alte Nachkriegsmief aus dem faden Österreich langsam verschwinden und sich neue, freiere Lebensweisen bis zu uns nach Wien-Landstraße durchschlagen würden.

    Die Mutter ist eben ganz anders aufgewachsen, in einem Österreich, das es ja gar nicht gab. In der Ostmark haben sie die Leute mit patriotischem Zeug betrommelt und wenn es hoch herging mit Walzerklängen. Die „Lili Marleen mit ihrem für mich bis heute so berührenden „Vor der Laterne, vor dem großen Tor, das die schöne Marlene Dietrich berühmt gemacht hat, hat die Mutter erst nach dem Krieg so richtig kennengelernt, mehr oder weniger zeitgleich mit mir. Weil die Lili Marleen galt unter den Nazis eine Zeit lang sogar als „wehrzersetzend", das haben ja nur der Wehrmachtssender Belgrad und dann die alliierten Sender für die Soldaten gespielt, die voller Heimweh waren. Und solche Sender hat man bei meinen Großeltern nie gehört. Die waren zwar nicht gerade fanatische Nazis, aber Mitläufer waren sie schon, wie fast alle damals.

    Von den Großeltern weiß ich so gut wie gar nichts. Der Opa war Uhrmacher. Der ist stets im Hinterzimmer von seinem kleinen Laden gesessen, mit einer Lupe aufs rechte Auge gepresst, und hat gekrümmt wie ein alter Ast Uhrwerke repariert. Geredet hat der nicht viel, schon gar nicht über die Politik oder die Kriegszeit. Die Oma war Hausfrau. Immer hatte sie so ein ärmelloses, geblümtes Hauskleid an. „Das schont das andere Gewand. Das bleibt dann länger gut", hat sie gesagt und die Achseln gezuckt über die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie leben musste. Sie war aus Böhmen, aber deutschsprachig, keine Tschechin. Geredet hat sie ansonsten kaum je, nur gelächelt, jedenfalls mich angelächelt. Und sie hat sehr gute böhmische Süßspeisen fabriziert. Mohnnudeln hat sie am liebsten gemacht und manchmal auch Milchreis mit Zimt obendrauf.

    Zimt hat weihnachtliche Stimmung erzeugt. Wenn ich mir heute vorstelle, wie ich mich als Kind über die drei, vier Mandarinen zum Nikolo gefreut habe, das versteht ein junger Mensch ja gar nicht mehr! Das ganze Jahr über gab es keine Mandarinen oder Orangen und auch an Zitronen kann ich mich nicht erinnern. Nur im Advent hat es für uns Zitrusfrüchte gegeben. Die Mutter hat mir zum Nikolo immer ein rotes Sackerl hergerichtet, da waren Mandarinen drinnen, Erdnüsse und ein Schoko-Nikolo. Für uns Kinder waren das damals ganz tolle Geschenke. Wenn man das heutzutage einem Kind erzählen würde, das täte einen anschauen, als spräche man vom ärmsten Dorf in Afrika.

    Die Lieblingssendung von der Mutter im Radio war der Heinz Conrads. „Griaß eich die Madln, servas die Buam, ich hör’s bis heute, wie er damals jeden Sonntagmorgen die Hörer begrüßt hat. Dann den Kranken Mut zugesprochen und dann ging es los mit den raunzigen Heurigenliedern und den anderen Wienerliedern, wo es dauernd ums Sterben geht. Irgendwann hat mir ein Sprachforscher, ein sehr fähiger Autodidakt, erzählt, dass es in Wien 50 Wörter und Umschreibungen für den Tod gibt, so viele wie in keiner anderen Sprache. Von „er hat die Patschen g’streckt über „er schaut sich die Erdäpfel von unten an bis zu meinem absoluten Favoriten „er hat den 71er g’nommen.

    Als ich das neulich beim Kaffee den jüngeren Kollegen erzählt habe, haben die nur geschaut wie ein Autobus und nichts verstanden. „Na, was ist der 71er?, habe ich um Antwort heischend gefragt. Aber es kam nichts. „Eine Straßenbahn! Und wo führt die hin, diese Straßenbahn? Große Augen haben’s gemacht. „Na? Zum Zentralfriedhof fährt diese Straßenbahn!", habe ich selbst die Antwort gegeben, im Tonfall eines Lehrers für geistig Minderbemittelte. Komisch, was die Jungen alles nicht mehr wissen heutzutage. Jung und Alt verstehen einander nicht nur wegen des Altersunterschieds nicht, sondern auch wegen der schönen wienerischen Sprache, die ausstirbt, genauso wie die Wiener Kaffeehäuser, wo es eben nicht chillig, sondern gemütlich ist.

    Beim Wort chillig gehe ich ja innerlich die Wände hoch. Was für ein dämliches Wort! Wie wohlig klingt doch faulenzen oder abschalten oder entspannen! Aber, um ehrlich zu sein, nicht alles ist so blödsinnig, was die Jungen mit der Sprache anstellen. Fernschimmeln, zum Beispiel, finde sogar ich witzig. Natürlich musste ich mir den Begriff erst erklären lassen von der Sally. Die mischt uns Alte ganz schön auf in der Zeitung mit ihren Ideen und ihrer Sicht auf die Welt und auch mit ihrem Neusprech. „Fernschimmeln, das ist, wenn du nicht in deinem üblichen Lokal abhängst, sondern anderswo, hat sie mir erklärt und sich wie immer ein bisserl mokiert über mich alten Knochen. „Und abhängen tut nicht nur das Rindfleisch beim Fleischhauer, gell, sondern auch der Mensch. Capito?

    Vom Heinz Conrads hat die Sally sicher noch nie gehört. Ich war ja noch ein Bub, als der berühmt wurde, und ich kann mich erinnern, dass ich bei einem seiner ständig gesungenen Lieder, dem „Schuster Pockerl, immer feuchte Augen gekriegt habe. Die Mutter auch. Der „Schuster Pockerl war wohl das Symbol schlechthin für diejenigen, die die Politiker heute die „kleinen Leute" nennen. Arm und fleißig war er, der Pockerl. Auf seinem Schusterschemel hockend hat er unermüdlich auf die Schuhe gehämmert, die ihm die ärmliche Kundschaft gebracht hat, zum Sohlen Aufdoppeln. Der Schuster Pockerl hat nicht geraunzt, vom Leben nichts verlangt, er war ein fleißiger, bescheidener, stiller Mann. Und eines Tages hat er mit seinem Hammer das letzte Mal auf einen Schuh geklopft, ist von seinem Schemel gekippt und war tot.

    Heutzutage sind die kleinen Leute nicht mehr stumm. Heute lassen sie sich nichts mehr gefallen, heute begehren sie auf. Jetzt haben wir die Wutbürger und die Schreihälse und die, die „denen da oben, dem „Establishment und der „Hautevolee" nichts mehr durchgehen lassen wollen. Ich finde das gut, dass sich die Leute nicht mehr wie Untertanen benehmen. Wir haben den alten österreichischen Bauernstaat abgeschüttelt. Aber jetzt schlägt das Pendel ein bisserl zu weit in die andere Richtung aus. Was die Leute fordern, ist manchmal schon besorgniserregend, jedenfalls für einen moderaten Menschen wie mich. Und für einen Historiker, wie ich einer bin, erst recht. Das richtige Maß ist in unserer Gesellschaft verloren gegangen. So etwas hat in früheren Zeiten noch nie zu etwas Gutem geführt.

    Aber was geht es mich an? Mir geht es gut, richtig gut. Ich verdiene wirklich ordentlich. Ich habe die billige Wohnung von der Mutter, die ist fast zu groß für mich. Relativ ruhig ist sie auch, jedenfalls dann, wenn der Serbe von gegenüber nicht seine Frau niederbrüllt und die Araber im Erdgeschoß keine Gäste haben und herumschreien wie am Basar in Kairo. Wenigstens kann ihr kleiner Abdullah ordentlich Deutsch, wenn seine Eltern schon so kulturfremd angezogen sind mit ihren bodenlangen Gewändern und mit ihrem Glitzervorhang mit Rüschen vor dem Doppelfenster. Aber gut, das geht mich nichts an. Ich kann ja wegschauen, wenn mir der Geschmack von denen nicht passt.

    Hach, wie gerne hätte ich die Sonja noch neben mir liegen! Dann würde ich an ihrem Haar riechen wie an einem teuren Parfüm. Wenn die Mutter ihre Haare frisch gewaschen hatte, dann habe ich mich immer gut gefühlt als Kind. Da war ein Gefühl der Geborgenheit da, ein Zuhausesein, geschützt in den eigenen vier Wänden. Geschützt vor dem oft doch einigermaßen bedrohlichen Draußen.

    Richtige Badezimmer hatten damals die wenigsten, da gehörten wir schon zu den Privilegierten mit unserem von der Küche mit diesem leicht stinkigen Plastikvorhang abgetrennten Badezimmerchen mit Waschbecken und einer ordentlichen Wanne, nicht so einer Sitzbadewanne, in der man nur kauern konnte. Die meisten hatten damals in Wien gar kein Bad und oft nur ein Gangklo und man ist sich bei Eiseskälte oder nachts auf dem Weg zur Notdurft am Gang begegnet, das weiß ich aus Erzählungen von Leuten, denen es schlechter ging als uns. Wir hatten ein eigenes Klo, sogar mit Fenster auf den Gang, sodass man lüften konnte. Den Gang haben wir Balkon genannt. Eigentlich war er eine Pawlatschen, ein Gang vom Stiegenhaus zur Wohnung. Breit genug für einen Sessel, einen schmalen Tisch und ein paar Blumentöpfe.

    In denen hatten wir im Sommer Petersilie, Schnittlauch und Tomaten. Es gab ja damals nicht viel, da war man mit den Erträgen vom Balkon schon sehr gut bedient. Ein frisches Schnittlauchbrot, das war eine Delikatesse.

    Das Brot heutzutage ist ja nichts wert, jedenfalls nicht das aus dem Supermarkt. Keine Kruste, kein Geschmack, weich wie ein Schwamm, nach drei Tagen zum Wegschmeißen. Mit den Semmeln ist es noch viel ärger. Die sind schon weich wie das amerikanische Zeug für die Hamburger, noch ehe du aus dem Supermarkt draußen bist. Schon seltsam, da gibt es hunderttausend Hygieneregeln und Kontrollen in den Geschäften, aber das Zeug schmeckt immer öfter nach nichts. Tomaten schauen zwar großartig aus, aber mit geschlossenen Augen hat man keine Ahnung, was man da zu sich nimmt.

    In unserem Haus gibt es bis heute in jedem Stockwerk eine Bassena. Aber die sind alle hinter Holzwänden versteckt, und verwendet hat die, seit ich denken kann, niemand mehr. Nicht einmal die Messerschleifer, die damals einmal im Monat gekommen sind, sich im Hof aufgepflanzt haben und „Messer, Scheren, Hacken, schleiiiiifen! gerufen haben. Dann sind die Leute hinunter in den Hof und haben alles schleifen lassen, was man schleifen lassen konnte. „Zigeuner sind das, haben sie im Haus hinter dem Rücken der Messerschleifer getuschelt. „Da musst aufpassen wie ein Haftlmacher, dass nix wegkommt!"

    Witzig, was einem alles einfällt, wenn man im Bett liegt und noch ein bisserl Zeit hat, ehe man raus muss. Manchmal sind auch Fremde in den Hof gekommen mit einem Leiterwagen und haben die Bewohner mit dem Ruf „Hadern!" angelockt. Dann haben die Leute alles hinuntergebracht, was sie nicht mehr brauchen konnten, vor allem Hadern, also alte Kleider, aber auch Hausrat, meistens, wenn jemand gestorben war und eine Wohnung ausgemistet werden musste. Da kommt sicher das Schimpfwort Haderlump her, aber das kennt ja heute auch kaum noch jemand.

    Ein normaler Haushalt hatte ja nichts zu verschenken und auch kaum je etwas wegzuwerfen, wir hatten ja wirklich nicht viel und auf das Wenige haben wir geachtet, bis es zerfallen ist. Es war alles irgendwie viel kostbarer als heute, sogar jeder Naturbesen und jedes Blechschauferl.

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