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LANDEBAHN
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eBook334 Seiten5 Stunden

LANDEBAHN

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Über dieses E-Book

Carl Hammer, Unternehmensberater, ist viel in der Welt unterwegs. Stets mit leichtem Gepäck, gut gedeckten Kreditkarten und gegen alles geimpft, reizt ihn das Leben im globalen Dorf. Nur nach Indien wollte er nie, doch seine Karrierepläne lassen ihm keine andere Wahl. Schlaflos, mit hohem Fieber und widerstrebenden Gefühlen, die er nicht begreift, fliegt er nach einem Streit mit seiner Frau Alice los. Erschöpft und desorientiert treibt er in Indien wie ferngesteuert ins Zentrum seiner Lebensfrage: Wer bin ich wirklich? Denn Carl kennt seine Herkunft nicht und sieht, wenn er in den Spiegel schaut, stets nur sein Phantombild, nie sein wahres Ich. Er bricht den Kontakt zu Alice ab, reist mit einem mysteriösen Fremden nach Varanasi, ertrinkt beinahe im heiligen Fluss Ganges und landet mit einer schweren Infektion bewusstlos im Krankenhaus. Dort wacht er unter den Augen der Medizinstudentin Shakti auf und verliebt sich in sie. Mit ihr will er ein neues Leben beginnen. Sie ziehen ins Village, eine New-Age Kommune mit Selbstversorgergarten, Therapie- und Meditationszentrum. Carl fühlt sich bald wie neu geboren. Doch dann erfährt er, dass Shakti nicht nur seine spirituelle Schwester ist. Carl muss sich einer schockierenden Wahrheit stellen und ein völlig neues Leben beginnen. Carl Hammers Ausstieg aus einem überhitzten, unwirklichen Leben im globalen Dorf, das sich als ein nicht fassbares Überall und Nirgends erweist, ist hochaktuell.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Juni 2020
ISBN9783347074958
LANDEBAHN
Autor

Stefan Gross

Stefan Gross wuchs im Taunus auf, lernte ein Handwerk und studierte Architektur an der Muthesius-Schule in Kiel. Später im Leben war er in Indien, Afrika und Südamerika beruflich unterwegs. In dieser Zeit begann er zu schreiben. Er absolvierte Kurse in literarischem Schreiben und studierte autodikatisch. (Lesen, lesen, lesen und schreiben, schreiben, schreiben.) Erste Kurzgeschichten entstanden und wurden bei schreibwerk berlin (https://schreibwerk-berlin.com) veröffentlicht. LANDEBAHN ist sein erster Roman. Stefan Gross lebt mit seiner Frau in Köln.

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    Buchvorschau

    LANDEBAHN - Stefan Gross

    Juni

    Die langen hellen Tage verführten uns dazu, noch weniger zu schlafen als sonst. Um fünf standen wir auf, machten uns Kaffee und setzten uns raus auf die Terrasse. Der Himmel über München sah metallisch aus. Ihm fehlte die typische, meiner Wahlheimat nachgesagte, Heiterkeit. Die kleinen Wolken waren geometrisch exakt über die Fläche verteilt, ein bisschen wie das bayerische weißblaue Rautenmuster.

    »Zirruswolken«, sagte ich.

    »Sieht cool aus, Carl«, sagte Alice. »Die Kondensstreifen bringen ein bisschen Pep ins Bild.«

    »So als Signatur der Globalisierung?«, fragte ich.

    Alice Antwort war ein langes, genüssliches Gähnen. Es war eindeutig zu früh und die Stimmung zu friedlich für eine Debatte über den Zustand der Welt. Sie schlürfte den Rest Milchkaffee aus ihrer XXL-Tasse und stellte sie zögernd auf den mintgrünen Metalltisch. »Ich muss los, auch wenn ich am liebsten zu Hause bleiben würde. Der Verkehr macht mich irgendwann fertig.« Sie stand auf und ging ins Bad.

    Alice war Biologin. Sie arbeitete am Frauenhofer-Institut und beschäftigte sich mit plastikfressenden Mikroorganismen. Häufig steckte sie im Stau und entwickelte dann immer abgefahrenere Ideen. Sie glaubte noch an die Rettung der Welt durch die guten Taten der Wissenschaft und auch an einen Home-Office-Arbeitsplatz.

    Wir hatten unser Haus in Garching erst vor einem halben Jahr gekauft, ein Reihenhaus aus den Achtzigern, mit weißen, großformatigen Fliesen im Flur und einem klobigen Treppengeländer aus Stahlrohren. Küche und Wohnbereich lagen auf versetzten Ebenen. Es gab nur wenige Wände. Von der Küche aus konnte man das ganze Erdgeschoss überblicken. Bei der Besichtigung hatten wir uns gleich vorstellen können, wie hier unsere Kinder herumspringen, zwei mindestens, die hier Geburtstage feiern mit unzähligen Freunden, die Luftschlangen durch die Wohnung blasen, Getränke verschütten und im Garten herumtoben würden. Eine Horde gefräßiger, brüllender Monster, die ich vom Grill fernhalten müsste. Unser Kinderwunsch war ein Thema, das uns ziemlich beschäftigte. Alice war zweiunddreißig und ich fand, das sei kein Grund zur Eile, aber ja, natürlich, auch ich wollte Kinder mit ihr.

    Ich wäre am liebsten auch zu Hause geblieben. Schon seit Tagen hatte ich ein leichtes, rätselhaftes Fieber, aber keine Erkältungssymptome. Ich führte es auf eine Hepatitis-Impfung vor einigen Tagen zurück. Vielleicht war es auch eine psychosomatische Reaktion auf meine bevorstehende Geschäftsreise nach Indien. Ich sollte dort die Fusion einer deutsch-amerikanischen Ingenieursgesellschaft mit einem neu akquirierten indischen Partner begleiten. Die Aussicht auf einen zweiwöchigen Aufenthalt in diesem Land begeisterte mich nicht gerade. Ich mochte Indien nicht. Ich hatte darüber nur frustrierende Bilder im Kopf: chaotische Städte, Elend, Schmutz und viel zu viele Menschen. Indien stellte ich mir vor wie die wahrscheinlichste Version unserer näheren globalen Zukunft. Ich hatte ein ernstes Motivationsproblem und als Unternehmensberater war die Motivationsfrage für mich äußert wichtig. Ich versuchte, mich für Indien zu motivieren, aber es gelang mir einfach nicht.

    Ich arbeitete bei Richard Mertens Consulting. Richard kannte ich schon seit vielen Jahren und war einer der ersten gewesen, die damals bei ihm anfingen. Sein Unternehmen war anfangs nicht viel mehr als ein Netzwerk befreundeter Berater gewesen, für die Richard Aufträge beschaffte, meist von Klienten der Industrie. Ich liebte ihn für seinen äußerst strapazierfähigen Optimismus und eiferte ihm nach. Ich hatte ihn an der Uni kennengerlernt. Er hatte einen Lehrauftrag für Wirtschaftspsychologie. Damals war Richard ein Visionär. Wir wollten die Welt verändern. Ich glaubte an seine grüne Agenda und war fasziniert von der spirituellen Dimension, die er in unserer Arbeit sah. Schamanismus und Marketing (Nichts ist unmöglich…) gingen für ihn ebenso zusammen wie Künstliche Intelligenz und Meditation. Doch mittlerweile war ich ziemlich ernüchtert von der Strahlkraft unserer Vision. Unsere Klienten wollten nur scheinbar grüner, nachhaltiger, und fairer werden.

    Wir wurden für Greenwashing eingespannt, propagierten die New Work Culture und warfen Leute raus, die nicht mehr ins Konzept passten; Leute wie Brauer, ein unbequemer Ingenieur mit dem ich heute einen Termin hatte. Oft kam ich mir nur noch vor wie ein hilfloser Beobachter des gerade stattfindenden Weltuntergangs.

    Doch wovon träumte ich? Von einem richtigen Leben im falschen? Das war der Traum meiner gescheiterten 68er Adoptiveltern, die mich falsch erzogen hatten. Meine wirklichen Eltern kannte ich nicht. Ich dachte oft an sie, betrachtete mich im Spiegel und zerbrach mir den Kopf darüber, wer sie waren. Ob sie jemals an mich dachten? Vielleicht waren sie nicht mehr am Leben. Es war völlig sinnlos, über sie nachzudenken. Es gab keine Antwort.

    Ich nahm unsere überdimensionierten Kaffeetassen, ging in die Küche, packte sie in die Spülmaschine, steckte ein Tab ins Fach, stellte sie an und hörte dem sanften Brummen noch eine Weile zu.

    Alice kam und präsentierte sich in weißen Jeans, grüner Bluse und weißen Sneakers. Ihre rotblonden Haare trug sie als Pferdeschwanz.

    »Die reinste Morgenröte«, pries ich sie, trat zu ihr, wollte sie umarmen, aber sie rümpfte die Nase und hielt mich mit ausgestrecktem Arm auf Distanz.

    »Du bist noch nicht geduscht, Carl Hammer!«

    »Ja klar«, sagte ich und schnupperte den Duft, den sie verströmte. Ich mochte ihr zitroniges Deo. Alice grinste aufgeräumt, grüßte militärisch und trat ab.

    .»Kann spät werden heute Abend«, rief ich ihr hinterher. Die Haustür fiel ins Schloss. Ein paar Sekunden später hörte ich sie mit ihrem hellgrauen 1er BMW an der Terrasse vorbeirauschen.

    Ich nahm eine Ibuprofen, duschte mich und fuhr zu meinem Kunden.

    Brauer

    starrte zur Decke, wo eine Etage über uns die arbeiteten, die er stets nur als die da oben bezeichnete. »Die da oben, die müsste man alle… besonders die verfluchten Weiber mit ihren…«

    »Was?«, unterbrach ich ihn scharf. Brauer, dieser ganz und gar bayerische Mensch, spielte den von völlig überzogenen Verdächtigungen gekränkten männlichen Kollegen und warf theatralisch den Kopf in den Nacken. Brauer war leitender Ingenieur unseres Klienten S&T - Solutions&Technologies. Ich sollte Brauer motivieren, für S&T nach Indien zu gehen. Er war Ende Fünfzig, galt als stur und hatte nicht die geringste Lust dazu.

    S&T war aus der Fusion mehrerer amerikanischer und deutscher Ingenieursgesellschaften hervorgegangen. Der jüngste Coup war die Fusion mit einem indischen Partner, der an die zehntausend neue, überwiegend junge Mitarbeiter ins Unternehmen einbrachte. Dreißigtausend Ingenieure unter einem Dach würden dann bei S&T die Industrien der Zukunft insbesondere in Asien planen. Ich betreute diesen Prozess und war auf Wunsch von S&T intensiv in deren Organisation eingebunden. Ich sollte hinreichend Stallgeruch bekommen und alles genau kennen lernen.

    Seit einer halben Stunde saß ich nun schon mit Brauer zusammen. Und er ging mir gehörig auf die Nerven.

    »Ahh, vergessen’s das bloß mit den Weibern, Herr Hammer. Man darf ja wirklich nix mehr sagen«, protestierte er und suchte den Schulterschluss unter Männern, doch ich betrachtete ihn nur, versuchte, die richtige innere Distanz zu ihm wieder herzustellen, was er auch gleich mitbekam.

    Brauer sei schon ein sensibles Tierchen, hatten sie mir oben in der Human-Ressource-Abteilung von S&T gesteckt, auch wenn sie die Spezies nicht definiert hatten. Schwein? Ratte? Schlange? Wolf? Ich sann über das passende Totem für Brauer nach und fand, dass er am ehesten was von einem Bären hatte. »Nie hab ich einer auch nur einmal…«, brummte der Bär. »Was?«, fasste ich wieder nach, dieses Mal noch schärfer im Ton und wohl zu laut. Brauer fuhr gleich aus seinem Freischwinger hoch. Sein massiger Oberkörper schoss verblüffend schnell nach vorne bis an die Tischkante, als hätte ihn die elastische Stuhllehne katapultiert, und winkte verärgert ab. »Ah! Gar nix! Als hätt ausgerechnet ich Dreck am Stecken«, schnaufte er. Brauer war ein impulsiver Charakter, auch wenn das vielleicht nicht bärentypisch war – oder vielleicht doch. Was wusste ich. Ich sah die Schweißperlen auf seiner Stirn, und die trieb ihm gewiss nicht das wohl temperierte Reizklima dieser modernen Arbeitswelt hier hervor, das in diesem erst vor wenigen Wochen fertiggestellten Bürogebäude herrschte. Die neuen Oberflächen schimmerten noch verheißungsvoll und rochen klar unterscheidbar nach Materialien. Steinboden, Wandfarben, Holz, Metall; sogar das Glas verströmte noch einen spezifischen, nicht von menschlichen Ausdünstungen überlagerten Geruch. Brauer schwitzte, weil es hier nichts anderes zu trinken gab als Wasser, wenn auch unterschiedliche Sorten. Drei Flaschen mit der Aufschrift Plain, Medium und Active standen nebeneinander auf dem Glastisch, eine eigene Edition für S&T. Das Firmenlogo, eine grafische Applikation der beiden Buchstaben, prangte in intensivem Blau auf den puristisch gestalteten Etiketten. Die für die Corporate Identity zuständigen Designer hatten ihren Job schon gemacht. Wem aus diesen Flaschen eingeschenkt wurde, sollte erkennen können, mit welcher Kultur er es in diesem transformierten, oder besser: sich im Transformationsprozess befindenden Unternehmen zu tun hatte.

    Brauer kramte umständlich ein kariertes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich den Schweiß von der rotglänzenden Stirn, faltete es routiniert zusammen und sagte – man hätte es bei diesem bärigen Typen kaum für möglich gehalten – mit schnurrender Freundlichkeit: »Was halten Sie von einer Pause, junger Freund?« Ich konnte mir Brauers verblüffende Verwandlung in einen Schmusekater nur mit dessen dringendem Bedürfnis nach Alkohol erklären.

    Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte eine Stunde Zeit, mit Brauer über seine Zukunft bei S&T zu verhandeln, aber darüber, dass man ihn nach Indien versetzen wollte, hatten wir noch kein Wort verloren. Ich schaute nach draußen. Im Innenhof spiegelte sich der Bambus in der dunkelgrünen Glasfassade. Amazing energizing working environment. We want to energize our people, lobten die Amerikaner das angeblich nach Feng-Shui Regeln gestaltete Gebäude. Brauer war nicht der einzige, dem solche Sprüche auf den Geist gingen, aber er hielt eben die Klappe nicht. In der Vollversammlung neulich hatte er S&T eine amerikanische Marketinggesellschaft mit deutschen Bedenkenträgern und indischen Fleißbienchen genannt. Seine sarkastischen Kommentare kamen inzwischen überhaupt nicht mehr gut an. Früher hatte er auf Betriebsfesten mit kabarettistischen Einlagen für Stimmung gesorgt. Ich hatte Mitleid mit ihm, und das, wusste ich, war gefährlich. Also versuchte ich ihn zu verachten. Brauer erhob sich, ohne eine Antwort abzuwarten. Er war wirklich ein Bär, einer von der gedrungenen, ziemlich breit gebauten Sorte. Im gestärkten weißen Hemd und in von altmodischen Hosenträgern gehaltenen Senioren-Jeans wirkte er geradezu provozierend falsch gekleidet. Ich blieb einfach sitzen und nahm mir heraus, diesen Mann eine Weile zu betrachten, wie es mir beliebte. Diese Demütigung war der Preis, den der Alkoholiker zahlen musste, bevor ich ihn zum Auftanken entließ. Ich ließ ihn schmoren.

    Lang und breit hatte Brauer in der letzten halben Stunde dargelegt, warum es nicht mehr rund lief bei S&T und mich überhaupt nicht zu Wort kommen lassen. Brauer könne vor allem eines nicht, nämlich zuhören, hatten sie mich oben gewarnt. Und er sage Kunden leider auch ungefragt ins Gesicht, wie und wofür sie ihr Geld am besten auszugeben hätten. Und wenn Brauer erst das Wort habe, lasse er es sich nicht mehr nehmen und rede sogar dann noch hemmungslos weiter, wenn alle am Tisch aufstanden, ihre Sachen einpackten und zur Tür rausgingen. Was offenbar vorgekommen war, bei Schweizer Kundschaft, die sich leider seither sehr zurückgezogen habe. Brauer müsse raus aus dem Kundengeschäft, hatte der neue CEO von S&T Deutschland, ein junger Karrierist mit geglättetem bayerischem Akzent, mich geradezu angefleht in typisch bayerischer Übertreibung.

    Denn die Zeit für allmächtige Ingenieure, die den Kunden ihre Meinung diktierten, sei vorbei. Seit der Planet eine einzige riesige Messe sei, auf der alle ständig herumkramten, als sei Schlussverkauf, müsse man vor allem eines können: gut verkaufen nämlich, auch als Ingenieur. Da sei Brauer mit seinem Latein aber sehr schnell am Ende gewesen, ja im Gegenteil. Er habe den Akademiker raushängen lassen und die Kunden vergrault. Non omnia possumus omnes! Ob ich denn wüsste, was das heißt? Ich hatte passen müssen.

    »Na schön, zehn Minuten, aber wirklich nur zehn«, sagte ich schließlich. Brauer marschierte flugs Richtung Tür und nahm sich dann doch noch kurz Zeit, sich an mich zu wenden. Er zauberte ein jungenhaftes Gesicht aus seinen eben noch zerfahrenen Zügen und strahlte mich an. »Sie sind also doch ein Anständiger. Und das müssen Sie unbedingt bleiben, ein Anständiger, denn es gibt kaum mehr Anständige. Und wenn Sie erst in meinem Alter sind, dann werden Sie verstehen, wie ich das meine. Denn das ist das Einzige, was wirklich zählt, Anstand, egal in welchem Alter.« Und dann malte er eine Acht in die Luft. »So lange noch, mein Freund, und ich werde das durchziehen, das hab ich meiner Frau versprochen. Und Sie, mein Freund, werden das auch nicht ändern, auch wenn Sie das sollen und vielleicht sogar meinen, dass sie das wollen, weil die da oben (er zeigte wieder zur Decke) Sie viel zu gut bezahlen, als dass Sie sich noch eine eigene Meinung leisten könnten.« Ein leichtes Zucken in Brauers Gesicht, ein Wimpernschlag. Das war’s. Ich spürte den Blick in meinem Bauch. Brauers Miene verdunkelte sich, als er seine Konzentration von mir abzog. »Wusste ich‘s doch«, brummte er, ging raus und ließ mich allein im Raum zurück. Brauer war trotz seiner Sucht ein erhabener und zutiefst mit seiner Firma verwachsener und auf seine Lebensleistung stolzer Mensch.

    Ich starrte gedankenverloren zu der Stelle, wo die Acht noch spürbar hing und war kurz in Versuchung, aufs Klo zu verschwinden und mir einen runter zu holen. Ich musste dieses Gefühl aufsteigender Ohnmacht aus unterdrückter Aggression so schnell wie möglich loswerden. Ich verfluchte meinen Job, halblaut, wie in Bayern üblich, und brummelte vor mich hin. Das Fluchen war auch eine Art Masturbation. Man besorgte es sich selbst, dachte dabei an andere und genoss eine oberflächliche Entladung von Druck. Ich ging zum Fenster, öffnete es, streckte den Kopf raus, schüttelte ihn aus wie einen Putzlappen und stellte mir vor, wie alle meine negativen Gedanken nach unten in die angepflanzten Büsche sanken. Die kleine Therapie funktionierte erstaunlich gut. Ich verspürte augenblicklich Erleichterung und begann, ein wenig vor dem offenen Fenster zu tanzen, mich zu schütteln und auf den Boden zu stampfen, allerdings nicht zu heftig. Berechtigte Bedenken, dass sie eine Etage tiefer auf die Idee kommen könnten, hier oben habe irgendwer nicht mehr alle Programme in der Cloud, ließen mich diese auf einem Seminar gelernte Methode schnell wieder abbrechen. Meine innere Arbeit über mein Aggressionsthema war ein langwieriger und komplizierter Prozess. Richard coachte mich gelegentlich. Obwohl an allen möglichen Instituten als Berater, Coach, Trainer und sogar als Schamane ausgebildet, schwor Richard auf die ganz einfachen Dinge wie Ausatmen – Innehalten – Ankommen. Er hatte für mich eine Übung entwickelt: Brrr, immer wieder Brrr, bis die Lippen anfingen zu jucken. Richard meinte, mein Krafttier sei das Pferd. Und das drohe eben manchmal mit mir durchzugehen, aber das sei dennoch ein Glücksfall. Zu einem Pferd könne man schließlich ziemlich gut eine innere Beziehung aufbauen. Er selbst habe es da viel schwerer. Sein Totem sei der Buckelwal. Wenn ihm nämlich seine Walenergie durchgehe, seien größere Schäden unvermeidlich. Sein innerer Zugang zu seinem Totem sei alles andere als einfach.

    Ob Richard sein Verhältnis zu seinem Wal coachen ließ, wusste ich nicht. Er hatte Probleme, über die er mit mir nicht viel sprach, und solche gehörten dazu. So ein ungeheuer riesiges Tier war schließlich nicht ohne. Richard hatte irrationale, schwer nachvollziehbare Persönlichkeitsanteile, genau wie ich selbst. Unsere Beziehung barg ständig die Gefahr, dass wir aneinandergerieten. Mein inneres Pferd war mir nicht gerade vertraut, sonst hätte ich ihm bestimmt einen Namen gegeben. Santana vielleicht. Aber ich nahm die Sache auch nicht wirklich ernst und hatte das Gefühl, dass Richard mit seiner Walgeschichte ziemlich dick auftrug. Es war typisch für ihn, sich ausgerechnet dieses imposante, erst vor vierzig Jahren heiliggesprochene Tier als sein Totem zu erwählen und damit ein bisschen anzugeben. Er behauptete sogar, ein Buckelwal hätte ihn erwählt beim Wale-Watching in Mexiko, als er dort seine Ausbildung zum Schamanen machte.

    Mein Telefon klingelte. Richard war dran und fing sofort von Indien an. »Carl, mein Bester, ich weiß, du freust dich schon. Ich spüre das sogar durchs Telefon. Ich habe deinen Flug umbuchen müssen. Du musst leider schon übernächsten Samstag fliegen.« Das erwischte mich wie die Mitteilung über den Unfalltod eines nahen Angehörigen. In diesem Fall Alice. Mein Wochenende mit ihr, sie hatte an dem betreffenden Samstag Geburtstag, löste sich auf wie ein überbelichtetes Bild und ich brachte vor lauter Empörung über diese Nachricht keine Antwort zustande. Stattdessen ließ ich Richard weiterreden. »Ich weiß, ich weiß, ich weiß ja, aber Alice hat es ziemlich gut aufgenommen.« Ich hatte große Lust, einfach aufzulegen, Richard mischte sich seit einiger Zeit ein bisschen zu oft in unser Privatleben ein. »Du hast Alice angerufen? Du hättest mit mir zuerst reden müssen.« »Ja, aber ohne Alices Zustimmung hätte ich mich nicht getraut, dich anzurufen. Es tut mir leid, Carl, aber S&T war nicht davon zu überzeugen, dass du wenigstens erst noch mit deiner Frau Geburtstag feiern solltest, bevor du fliegst. Natürlich haben sie sich tausendmal entschuldigt. Aber sie können nichts machen. Mr. Rajshekhar Raji hat kurzerhand die Termine vorgezogen. Außerdem wollen sie dich jetzt drei Wochen haben, nicht nur zwei. Du bist da jetzt schon sehr beliebt, Carl.«

    Rajshekhar Raji war der starke Mann von S&T India und seine jungen IT-affine Ingenieure, darunter viele Frauen, sollten zukünftig die eigentliche Arbeit machen, wie Brauer das nannte: Zeichnungen, Berechnungen, Datenpflege. Die deutsche Sektion von S&T sollte den Prozess organisieren. Welcome to the machine hieß der Job unter der Hand. Ich sollte nach Indien und mir ein genaues Bild von der Sache machen. Man erwartete von mir, dass ich ein Umstrukturierungskonzept mit Rajshekhar auf den Weg brachte und für deutsche Effizienz sorgte.

    »Indien ist ein durchweg hässliches und verlorenes Land. Ich werde dort nichts essen und nach einer Woche werden sie mich besorgt nach Hause schicken. Wirst sehen, ich bin dort für nichts zu gebrauchen.« Richard lachte rau, aber in seinem Sarkasmus schwang auch echte Sorge um meine Kooperationsbereitschaft.

    »Du wirst sehen, Indien ist das Paradies auf Erden, eine trostspendende Kultur, und Menschen von außergewöhnlicher Anmut werden sich um dich kümmern. Und sag Brauer, dass Indien seine große Chance ist. Er soll sich in Deutschland noch trockenlegen lassen und dann ab. In Indien ist es viel leichter, nicht wieder mit dem Saufen anzufangen als hier. Er kann sich von Früchten und Nüssen ernähren, den ganzen Tag Wasser trinken und niemand wird ihn schief anschauen. Er wird abnehmen und sich wie wiedergeboren fühlen. Und er kann alle sechs Wochen nach Hause, falls seine Frau nicht mitkommen will. Was ich aber nicht so gut fände. Sie soll mit ihm dahin gehen. Deswegen rufe ich auch an. Überzeug ihn, dass sie mitgeht. Die beiden haben erwachsene Kinder. Alleine wird er es nämlich nicht aushalten. Wie geht’s ihm?« »Gerade macht er eine kurze Pause, braucht ein Erfrischungsgetränk.« »Dachte ich mir, sonst wärst du nicht ans Telefon gegangen. Ich hatte so einen Riecher. Aber ich kenne ihn ja. Er lässt dich ein bisschen zappeln und dann wird er unterschreiben.« »Wenn er nicht gleich wieder auftaucht, muss ich ihn wohl suchen gehen«. Richard lachte aufmunternd. Ich sah durch den Glasausschnitt in der Tür, dass Brauer zurückkam. »Brauer kommt, ich muss auflegen«, sagte ich und legte auf.

    Brauer stellte gut gelaunt einen Kaffeebecher mit Deckel auf den Tisch. »Cappuccino, den mögen Sie doch. Hab ich gesehen dieser Tage. Habe sie ja auf dem Schirm, junger Freund, ähm, Herr Hammer.«»Hm, ja, danke sehr.« Dass ich nicht sein Freund war, sagte ich ihm aus gesprächsklimatischen Gründen nicht. Wenigsten hatte er sich korrigiert. Brauer fläzte sich auf seinen Stuhl, verschränkte die Arme hinterm Kopf und grinste mich an. Von den beiden dunklen Seen auf dem weißen Hemd erhoben sich riesige Schwärme unsichtbarer Schweißvögel, die direkt in meine Nasenlöcher flogen und mir auf die Rezeptoren kackten. Ich schaute betreten zu Boden, angewidert und provoziert von Brauers unverschämt schwitzender Körperlichkeit. Brauer seufzte, nahm die Arme runter und schenkte sich Wasser ein, das sprudelnde Active. »Auch was?« Ich schob ihm mein Glas hin. Brauer schenkte mir gekonnt ein. Frisch geduscht, mäßig betrunken und respektabel gekleidet mochte er ein guter Gesellschafter sein. Er stellte die Flasche ab und lächelte zufrieden. »Ich habe früher gemixt, war ein richtig guter Barkeeper in Schwabing, als Student, wissen Sie.« Ich zog anerkennend die Augenbrauen hoch. Brauer wirkte heiter bis ungeduldig. »Nun, was machen wir jetzt?« Brauer ließ seinen Zeigefinger erigieren. »Ich finde, wir sollten langsam zum Ende kommen, sonst kriegen Sie noch Probleme mit denen da oben. Die achten jetzt auch neuerdings auf die Zeit, ausgerechnet die.« Ich deutete mit der flachen Hand einen symbolischen Schlag auf die Tischplatte an und richtete mich in meinem Stuhl auf, wozu ich nach vorn rutschen und mich auf die Stuhlkante setzten musste. Bürostühle sollte man mit dem Hintern aussuchen, mit verbundenen Augen. Ich schaute Brauer umstandslos in die Augen. »Jetzt hören Sie mir erst einmal zu.«Brauer lehnte sich zurück und schaute so erwartungsvoll, als hätte er an Weihnachten die übliche Schachtel Pralinen auszupacken. Dieser fette Buddha wusste zweifellos, was ich ihm andienen sollte. Brauer in Indien. Das wäre ein ganz schlechter Witz. Ein besoffener schwitzender Ganesha in Hosenträgern, der sich vor wissbegierigen Fünfundzwanzigjährigen lächerlich macht.

    »Herr Brauer: ich habe Ihnen im Auftrag der Geschäftsleitung ein sehr gutes Angebot zu unterbreiten!« Ich kramte in meiner Ledertasche und zog die Hülle mit dem Vertragsentwurf raus. Mein Junge, irgendwann wirst du erkennen, was du anrichtest. Ich stutzte, war mir nicht sicher, ob Brauer das gerade tatsächlich gesagt oder ich das nur gedacht hatte. Ich entnahm ein Exemplar für mich und schob Brauer die Schutzhülle mit dem zweiten Exemplar über den Tisch, der es so angewidert betrachtete, als handle es sich um einen fettigen Teller mit Essensresten am Morgen nach einer Grillparty. Sei doch froh, du versoffener Trottel, dass du überhaupt ein Angebot bekommst, dachte ich und sagte: »Sie werden sehr angenehm überrascht sein. Zwei Jahre, ein sehr, sehr ordentliches Gehalt, kaum Steuern und obendrauf eine stattliche Prämie. Gelegentliche Heimreisen oder wahlweise noch mehr, sehr gute Zulagen, falls Ihre Frau Sie begleiten möchte, was sicher in Ihrem und auch ihrem Interesse ist. Ich an Ihrer Stelle wäre sehr erfreut über eine solche Möglichkeit. Sie können sich fit machen bei Berlitz, sogar Hindi ist drin.« Brauer nahm sein Wasser, trank es leer und stellte das Glas behutsam auf den Tisch. Er schaute mich seelenruhig an.

    »Sie sehen sehr, sehr erschöpft aus, mein Freund. Sie schlafen schlecht, Sie wollen weniger trinken. Es gefällt Ihnen nicht, wie Ihr Chef Sie behandelt, dass Sie Ihre Frau viel zu selten sehen und keine Freunde mehr haben, mit denen sie einfach so beim Bier reden können, über Gott und die Welt und sämtliche Verbrecher der Geschichte seit Erfindung der Schrift. Richtige Kumpels haben Sie nicht, sondern nur solche, die mit Ihnen joggen, segeln, Berge beklettern und in der VIP-Lounge langweilige Bayernspiele mit Ihnen anschauen wollen und Sie anschließend zum Koksen und Kieksen in den Puff schleppen. Sie sehnen sich nach Liebe und echtem Verständnis. Sie an meiner Stelle würden das trotzdem sehr wahrscheinlich unterschreiben, um endlich aus Ihrem erzwungenen Leben rauszukommen und in Indien womöglich noch nach Feierabend nach Erleuchtung suchen. Aber ich habe keine der ihren vergleichbare innere Not, keine Sehnsucht nach einem anderen Leben, von dem ich beim Kacken träume und mich dann doch nicht traue, es mit meiner großen Liebe zu besprechen. Ich habe kein Motiv, in dieses edle alte Land zu ziehen.«

    Brauer schob mir den Vertrag über den Tisch und schaute mich aus schwimmenden Augen an. Trinker neigen zu Tränen und großen Gefühlen. Brauer war ein Prachtexemplar und gefiel sich in seiner Rolle. Ich hatte Mühe, mich zu beherrschen, ihn nicht auf der Stelle rauszuschmeißen und dieses Gespräch ergebnislos zu beenden. Ich spürte, ich würde so werden wie er, unausweichlich, weil ich den gleichen inneren Kräften folgte – Ratio und Arroganz. Eine sehr zuverlässige Mischung, um zu scheitern. Brauer spürte das auch, genoss seine Rolle und predigte weiter.

    »Sie irren sich, wenn Sie glauben, wir könnten stets entscheiden, wie wir gerade lustig sind. Aber das können wir nur scheinbar. Und Sie können das nicht verstehen. Noch nicht. Und so treffen Sie ständig falsche Entscheidungen, die Ihnen dann auf die Füße fallen. Sie stolpern im Leben herum und wollen aller Welt glauben machen, die Dinge ließen sich, wenn man nur wolle, stets zum Besseren entwickeln, zu mehr Glück, Erfolg, Gesundheit und einem langen aufregenden Leben, wenn auch nicht unbedingt zu mehr Frohsinn und Gemütlichkeit. Aber wer wir eigentlich sind und was wir im Leben wirklich verloren haben, das wollen Sie nicht wahrhaben. Sie denken, es müsste unbedingt eine Bestimmung geben, eine Wendung zum Besseren. Das ist unsere Tragödie. Wir denken das alle gelegentlich. Aber Sie haben dazu noch Angst, tragisch zu enden und sich nur noch lächerlich zu machen, so wie ich. «Diese Worte schmerzten mich. Brauer war ein Seelenverwandter, ein echter Bruder. Ich antwortete ihm mit dem schiefen Lächeln des Besiegten, der immer noch glaubte, eine Chance zu haben und heuchelte weiter.

    »Na gut. Überlegen Sie es sich in aller Ruhe. Es wäre wirklich sehr, sehr schade. Und es wird Ihnen womöglich leidtun. Oder gibt es Gründe, die Sie uns nicht mitteilen können? Hören Sie Herr Brauer, S&T hat ein offenes Ohr für jeden seiner Mitarbeiter.«

    Brauer wusste genau, wie er den Nagel zu schmieden hatte. Er dachte gar nicht daran, auf mein Angebot einzugehen, dafür umso mehr auf mich, der seinen Widerwillen für dieses Projekt vor Brauer kaum mehr verbergen konnte. Brauer las meine Gestik, Mimik, Körpersprache, meine innere Haltung und gesamte Verfassung wie ein Hacker den Quelltext eines Programms. Denn ich hatte überhaupt keine Lust auf den Indien-Trip und das lag nicht nur an diesem Mr. Rajshekhar Raji, der ein ganz strammer Hindu war. Einmal hatte ich das Wort Umstrukturierung bei einer Videokonferenz nur kurz erwähnt. Da war er gleich ausgerastet und hatte die Ausstrahlung eines Laborprimaten auf Amphetamin an den Tag gelegt. Seine anschließende Entschuldigung war dann ein willkommener Anlass, sich als guter Patriarch vor seine Belegschaft zu stellen. Er wusste so gut wie ich, dass seine rückständig organisierte Abteilung personell hoffnungslos überbesetzt war. Mir blieb die Rolle des kaltherzigen Rationalisierers, obwohl Raji genau wusste, dass ich ihm letztlich nur einen Gefallen tat.

    Vor meiner Zeit als Berater war ich Offizier bei der Bundeswehr und hatte Einsätze in Afghanistan geleitet. Daher wusste ich, dass Choleriker die untauglichsten Soldaten waren, die man sich vorstellen konnte. Sie waren ein echtes Risiko. Ich schätzte Menschen mit einer

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