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Highway to Hel
Highway to Hel
Highway to Hel
eBook327 Seiten4 Stunden

Highway to Hel

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Über dieses E-Book

Der sympathische Bummelstudent Max hat einen makabren Nebenjob: Er sieht Toten beim Totsein zu. Eines Tages gerät er in eine besonders bizarre Lage: Eine junge Frau wacht in ihrem Sarg auf und Max ist der Einzige, der ihr helfen kann. Von da an gilt es für die beiden, ein paar lebenswichtige Fragen zu klären: Was hat Claire überhaupt in diesem Sarg zu suchen? Was ist dieser Vegvísir, der andauernd auftaucht? Und warum sollte man im Jenseits immer eine Salami zur Hand haben? Auf der Jagd nach Antworten geraten die beiden immer wieder in skurrile Situationen und reisen von Köln über Berlin bis nach Island, wo sie bis in die Totenwelt hinabsteigen müssen, um Claire ganz zurück ins Leben zu holen.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Outbird
Erscheinungsdatum21. Juni 2024
ISBN9783948887681
Highway to Hel
Autor

Ulrike Serowy

Ulrike Serowy hat englische, deutsche und skandinavische Sprachen und Literatur sowie Geschichte und Archäologie studiert. Sie schreibt Prosa, Lyrik und Essays. Sie debütierte im Hablizel Verlag mit ihrer schwarzmetallischen Erzählung Skogtatt – in seiner Rezension für die FAZ nannte Dietmar Dath das Buch ein „lichtabweisendes Juwel“. Serowys Texte sind oft von Musik inspiriert und an diese rückgebunden. In Kooperationen mit in- und ausländischen Künstlern entstehen so mitunter Werke, die zwischen Literatur und Musik vermitteln und das eine mit dem anderen verbinden. Ihre Lesungen hält sie am liebsten an besonderen Orten wie dem Gold+Beton unter dem Kölner Ebertplatz, einem entlegenen Wald in den österreichischen Alpen oder auf internationalen Musik- und Kunst-Festivals wie dem Heavy Days in Doomtown in Kopenhagen und dem Doom over Leipzig.

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    Buchvorschau

    Highway to Hel - Ulrike Serowy

    Wuppertal

    Vielleicht hätte er doch nicht den erstbesten Job annehmen sollen. Wenn er nicht so bräsig gewesen wäre und noch ein bisschen weitergesucht hätte, dann hätte sich bestimmt noch was Besseres ergeben. Was Besseres als das hier. Oder wenigstens was Anderes, das würde ja fast schon reichen.

    Max hatte die Arme auf den Schreibtisch gestützt und presste das Kinn in die Hände. Er schaukelte im Bürostuhl hin und her, angespannt und lethargisch zugleich. Dann ließ er seinen Zeigefinger widerwillig auf die Haupttaste plumpsen, um die Bildschirme upzudaten. Alles ruhig. Er seufzte. Gut so, alles andere wäre auch … ja ... keine Ahnung, wie das wäre, oder was dann wäre. Dieser Job war ohnehin schon bizarr genug, extrem langweilig und extrem nervenaufreibend zugleich, deswegen wusste Max nicht, ob er sich tatsächlich mehr Action wünschen sollte. Am besten wäre es wahrscheinlich, einfach zu kündigen. Aber 25 Tacken pro Stunde bekam man nun wirklich nicht in jedem Studentenjob. Trotzdem. Er könnte auch Nachhilfe geben oder als Kabelträger irgendwo durchs Bild stolpern, Nachtschichten an der Tankstelle schieben oder einfach in einem ganz normalen Büro arbeiten. Oder, oder, oder… Aber das hier… Er sah auf die Uhr, gleich halb vier. Nachts. Das hieß Nachtzulage. Sonntags gab es sogar noch Extrazuschläge, da ging er mit 35 Euro die Stunde nach Hause. Die Schicht endete um halb sechs, dann kam die Ablösung.

    Er rutschte in seinem Bürostuhl hin und her und versuchte, sich gleichzeitig bequem und aufrecht hinzusetzen. Vielleicht würde es helfen, das Ganze möglichst professionell und gelassen zu sehen, sich in seine Rolle einzufinden. Schließlich bezahlte man ihn dafür, dass er hier Wache hielt und auf die aufpasste, die das selbst nicht mehr konnten. Also sollte er sich wohl … wie sagte man… er sollte sich ermannen. Schönes Wort, könnte von Christian sein. Entschlossen drückte Max noch mal auf den Update-Knopf und zwang sich, die Bildschirme eingehend zu betrachten. Aber es tat sich nichts. Rein gar nichts. Wie immer. Und wie immer verging die Zeit quälend langsam. Max versuchte, seine Konzentration beizubehalten, gegen Langeweile und Widerwillen gleichzeitig zu kämpfen, aber das Starren ließ seine Augen brennen, und das leise Summen der Mikrofonboxen und das blassblaue Bildschirmflimmern schläferten ihn unerbittlich ein. Einzuschlafen war die größte Todsünde, die man als Guardian Angel begehen konnte, der Kündigungsgrund Nummer eins. Aber Max fühlte, wie ihm der Sandmann auf die Lider drückte. Er versuchte vergeblich, sich gegen den Schlaf zu wehren, und war bald weggepennt.

    Mit einem Mal fuhr er auf.

    „Ah! Hilfe! Wer ist da, was ist los? Drück den Alarmknopf!", rief Max, halb wach, halb noch im Schlaf. Da war plötzlich Lärm gewesen, und etwas hatte ihn gepackt und

    geschüttelt.

    „Max! Max! Wach auf! Haltung bewahren!", rief da eine andere Stimme. Voller Schrecken gab Max noch ein paar halbunterdrückte Schreie von sich, dann wurde er sich bewusst, wo er sich befand, und dass es bloß Christian war, der vor ihm stand und an seiner Schulter rüttelte.

    „Mann, du bist das nur. Du hast mich fast zu Tode erschreckt!"

    Christian schnaubte durch die Nase und verzog den Mund zu einem halben Grinsen. Das wiederum war bemerkenswert, denn Christian hatte es eigentlich nicht so mit dem Lachen. Dafür tat er eine Menge Dinge, auf die Max selber nicht so viel Wert legte. Christian hatte ein Buch unter den Arm geklemmt: Die Geschichte des Todes von Philippe Ariès.

    „Hab ich dich erschreckt? Entschuldige bitte. Das war nicht meine Absicht." Das war offensichtlich eine Lüge, und es war genauso offensichtlich, dass Christian wusste, dass Max es wusste, denn sein Grinsen verbreiterte sich noch ein wenig. Dann wurde er wieder ernst und geschäftig und begann routiniert mit dem obligatorischen Übergabegespräch. Christian liebte diesen Job.

    „Alles ruhig geblieben heute." Er schaute prüfend auf die Bildschirme, besah sich eingehend einen nach dem anderen. Dabei wechselte sein Ausdruck, mal runzelte er mahnend die Stirn, mal blickte er milde drein.

    „Jaja, alles ruhig. Wie immer eigentlich."

    „Gab es außergewöhnliche Zwischenfälle." Er stellte seine Fragen so geraderaus und routiniert, dass sich die Fragezeichen überflüssig vorkamen und ihren Einsatz verpassten.

    „Nein, keine außergewöhnlichen Zwischenfälle."

    „Notsituationen."

    „Nein, auch keine Notsituationen. Es war alles ruhig, so wie immer."

    „Ja, wie immer. Schade eigentlich, oder?" Christian drehte sich wieder zu ihm um und lächelte, prüfend und versonnen zugleich.

    „Naja, ich weiß nicht. Ich finde es ganz okay so, wenn es ruhig bleibt. Aber vielleicht hast du ja Glück heute. Max konnte sich die Spitze nicht verkneifen, aber Christian schien seinen Unterton nicht bemerkt zu haben. Er seufzte ein wenig wehmütig. „Nun ja. Man weiß nie. Aber ich mache es mir jetzt hier gemütlich. Du kannst gehen. Er ließ sich auf den Stuhl sinken, aus dem Max eben aufgestanden war, und drückte noch einmal die Updatetaste. Als nichts zu sehen war, langte er nach der Fernbedienung der Musikanlage und drückte darauf herum, bis vielstimmiger sakraler Männergesang mit jazzigen Saxophoneinsprengseln das Büro erfüllte. Er warf einen Seitenblick auf Max, der noch etwas unschlüssig herumstand. „Du fragst dich sicher, was das für Musik ist. Das sind Jan Garbarek und das Hillard Ensemble. Officium. Das sagt dir wahrscheinlich nichts. Solltest du dir mal in Ruhe anhören. Könnte dir nicht schaden."

    „Ja, danke. Kann ich ja mal machen." Max hatte sich eigentlich gar nichts gefragt, aber auch das störte Christian nicht weiter. Er schlug sein Buch auf und versank auf der Stelle darin. Max konnte die Kapitelüberschrift sehen: Erstes Buch – Die Zeit der Ruhenden.

    „Okay, dann, ich bin dann mal weg. Hab ne gute Schicht."

    Christian antwortete nicht mehr.

    Max verließ den niedrigen Betonbunker, in dem die Firma sich eingenistet hatte. Es war die achte Filiale im Land. Innerhalb von zwei Jahren hatte sich das Unternehmen exponentiell vervielfacht, oder so. Auf jeden Fall war es rasend schnell gewachsen und bot optimale Jobchancen für Bummelstudenten wie ihn, und für nekro-bibliophile Nachteulen wie Christian. Max schloss sein Rad los und sah sich noch einmal um. Neben der Eingangstür prangte das Firmenschild, klinisch weiß mit dem bewusst Vertrauen erweckenden Logo in himmelblau und lindgrün (eine Sanduhr und eine Sense hätten eigentlich besser gepasst, dachte er), und dem Namen, den Max ein bisschen zu martialisch fand: Guardian Angels – we wake while they sleep. Die Arbeit hätte wirklich nicht einfacher sein können. Und nicht verstörender. Im Guardian Angels-Büro gab es zwei Wände voller Bildschirme, davor ein Board mit Tastaturen, Mikrofonen, Kontroll- und Updateknöpfen und einem Telefon mit Direktverbindung in die Berliner Zentrale. Zwei Bildschirme gehörten jeweils zusammen, und zwei Bildschirme gehörten jeweils zu einem Toten. Oder, wie es im Guardian Angels-Sprech hieß, zu einem „Klienten".

    Auf die Bildschirme, denen Max in seiner Schicht gegenübersaß, waren die Gesichtskameras geschaltet. Jeder der Klienten wurde rund um die Uhr per Sargkamera überwacht, für fünf Tage. Danach wurden die Kameras ausgeschaltet. Aber bis es so weit war, hatten die Mitarbeiter von Guardian Angels genug Zeit, dem Tod ins Gesicht zu sehen. Rechts von ihm flimmerte die zweite Abteilung Bildschirme, oder besser: flimmerte nicht, denn auf ihnen war die Herzfrequenz der „Klienten" zu sehen – fünf gerade Linien auf fünf Bildschirmen, die für immer ins Leere liefen.

    Max’ Job bei Guardian Angels war denkbar einfach: Die Angestellten mussten wirklich nichts anderes tun, als zuzugucken. Den Toten beim Totsein zugucken. Alles Ungewöhnliche mussten sie umgehend an die Zentrale in Berlin melden, von wo aus der automatisierte Teil der Überwachung stattfand.

    Die Zentrale spielte in regelmäßigen Abständen Tonsignale in den Särgen ab. Sirenentöne, die Lieblingsmusik des Verstorbenen, oder die Stimmen der Angehörigen, alles, um zu prüfen, ob die Klienten auf akustische Reize reagierten. Außerdem waren die Mikrofone in den Särgen rund um die Uhr aktiv und auf die Lautsprecher in der Filiale geschaltet. Die Stille im Büro kam also direkt aus den Gräbern.

    Sollte sich in einem der Särge etwas tun, waren die Mitarbeiter angehalten, auf einen der großen roten Alarmknöpfe in der Mitte des Kontrollboards zu drücken; für jeden der Klienten gab es einen. Drückte man diesen, dann wurde daraufhin das jeweilige Notfallprogramm gestartet. Gleichzeitig wurde eine Meldung an die Zentrale abgesetzt, von wo aus die Behörden, der Notarzt und der Totengräber informiert wurden, und wer sonst noch nötig war, um jemanden zu retten, der lebendig begraben war.

    Aus der Filiale konnte man sich in die Mikrofonschaltung zwischen Berlin und den Särgen einklinken. Das sollte eigentlich nur im Notfall geschehen, aber Jens, der IT-Nerd unter den Kollegen, hatte es fertiggebracht, die Schaltung zu manipulieren, und so konnte man von hier aus die Übertragung nach Berlin stumm stellen und vor Ort so viel Blödsinn machen, wie man wollte.

    Christian spielte über das Mikrofon gerne Bach oder Requien von unbekannten Komponisten in die Särge ein. Zuletzt hatte Max im CD-Player des Kontrollboards noch Andrea Luchesi – Requiem e Dies Irae von 1771 gefunden. Christian war der Meinung, dass wenigstens die Toten sich nicht vom postfaktischen Schund unserer Zeit belästigt fühlen müssten und stattdessen nur noch in den Genuss wahrer Hochkultur kommen sollten. Wie auch immer. Kollege Timo ließ gerne Death Metal in den Särgen laufen und lachte sich jedes Mal darüber schlapp, dass er den Toten „echte Totenmusik vorspielen könnte und dass er endlich mal „Leute mit Geschmack gefunden hätte. Letztens beim Schichtwechsel hatte er eine CD mit gruseligem Cover und unleserlichen Buchstaben vor Max’ Nase geschwenkt und dabei über beide Backen gestrahlt. „Hier, guck mal, Lurking Among Corpses von Gorgosaur! Das passt doch super!" Max spielte nie Musik in die Särge ein; er ließ einfach das Campusradio laufen und versuchte, so wenig wie möglich auf die Stille hinter den jungen Plauderstimmen zu achten.

    Vor ungefähr drei Jahren hatte es kurz nacheinander zwei Fälle von vorzeitigen Begräbnissen gegeben – zumindest war es das, was die Presse daraus gemacht hatte. Eigentlich war nur ein Fall wirklich eine übereilte Beerdigung gewesen. In Japan war eine Frau in eine Art Schockstarre verfallen und für tot erklärt worden; ihr Bruder hatte sie bei einem Besuch auf dem Friedhof aus dem Sarg rufen und klopfen gehört und das Grab daraufhin sofort öffnen lassen, aber es kam dann doch jede Hilfe zu spät. Im zweiten Fall hatte eine exzentrische reiche Dame aus Schottland ein Handy mit ins Grab genommen und, für den Fall der Fälle, den Friedhof in Edinburgh mit W-LAN und hervorragendem Netzempfang ausstatten lassen. Von diesem Telefon aus hatte es kurz nach ihrer Beerdigung tatsächlich einen Anruf gegeben (bei ihrem Immobilienmakler), aber als man ihr Grab öffnete, fand man die alte Dame friedlich ruhend vor, bzw. mausetot. Warum das Telefon geklingelt hatte, ließ sich nicht eindeutig erklären. Man vermutete, dass es an einer fehlerhaften App lag. Trotzdem: Die mediale Aufregung über die beiden Fälle hatten die Gründer von Guardian Angels geschickt genutzt und ihr Unternehmen auf einer Welle der Hysterie reitend groß gemacht. Angefangen hatte das Ganze als kleines Start-up, aber es hatten sich schnell Investoren gefunden, die bereit waren, eine Menge Asche in das Geschäft mit dem Tod zu stecken. Guardian Angels bot seinen meist gut betuchten Kunden die totale Rundum-Versicherung gegen die Schrecken einer vorzeitigen Bestattung an, beziehungsweise: gegen deren Folgen. Wer das volle Programm gebucht hatte – es trug den klangvollen Namen REQUIESCAT IN PACE – bekam einen Sarg mit Video- und Vitalfunktionsüberwachung, mit Mikrofon und Licht, und, am wichtigsten, einem Sauerstofftank, der von der Filiale aus aktiviert werden konnte. Die Gräber der Guardian Angels-Kunden waren vergleichsweise locker mit Erde bedeckt, und auch die Särge selbst ließen sich leicht öffnen. Davon konnten sich die Kunden bei einem Termin zum Probeliegen gerne persönlich überzeugen, und für die Mitarbeiter gehörte das Probeliegen sogar zur Einarbeitung. Sollte es einmal zu einem Notfall kommen, das heißt, sollte tatsächlich jemand aus seiner Totenruhe erwachen, dann würden die Guardian Angels sofort für genügend Licht und Sauerstoff und einige beruhigende Extras im Sarg sorgen. Und natürlich würde sofort jemand zur Rettung des Klienten losgeschickt, das versicherte der äußerst schicke Hochglanzprospekt des Unternehmens.

    Natürlich war das alles totaler Quatsch. In 99,999999 Prozent wurde der Tod einer Person einwandfrei festgestellt, bevor es unter die Erde ging. Also, im Klartext, immer. Dass das Geschäft trotzdem so gut lief, lag vor allem an der guten Marketingstrategie von Guardian Angels, die einer dem Tod und dem Sterben vollkommen entfremdeten Gesellschaft die Illusion von Kontrolle bis über das Ende hinaus vorgaukelte. Zudem war es in der dauervernetzten Gegenwart fast undenkbar geworden, nicht ständig erreichbar zu sein. Wer noch im Netz war, der war auch lebendig, irgendwie; und Guardian Angels befand sich gerade mit verschiedenen Onlinekonzernen in Verhandlungen über Liveschaltungen direkt ins Grab. Dann wäre es möglich, das eigene Monitoring direkt in die sozialen Netzwerke einzuspeisen und so für seine „Freunde" sichtbar zu bleiben – das war zwar noch Zukunftsmusik, aber so oder so blieb noch genug zu tun für Unternehmen wie Guardian Angels, und folglich auch für Max.

    Aber für heute hatte er genug von den Toten. Max schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr in den dunklen, feuchtkalten Herbstmorgen. Von der Filiale brauchte er gut zwanzig Minuten bis zu seiner WG. Die Wohnung lag in einem nüchternen Fünfzigerjahre-Bau, der an einer breiten Durchgangsstraße stand. Max stellte das Rad vor der Tür ab, schloss auf und ging durch die schmucklose Eingangshalle, stieg dann die hellgrau geflieste Treppe nach oben in den dritten Stock. Der Nachbar von ganz oben schloss anscheinend gerade seine Tür ab, das Schlüsselklingeln hallte gut vernehmlich durch das Treppenhaus. In den anderen Wohnungen war noch alles still. Max schloss die WG-Tür auf und bemühte sich jetzt ganz besonders, möglichst leise zu sein. Auch wenn der Rest des Hauses bald aufwachen würde, standen seine Mitbewohner eher selten so früh auf. Annika studierte Musikpädagogik, steckte die meiste Zeit aber in freie Jugendarbeit mit Theater, Jonglage und Gruppendiskussionen, und David machte grade ein „Surfpropädeutikum", wie er es nannte – das hieß, er jobbte das Semester über bei einem Metallunternehmen und sparte das viele Geld, das er dort scheffelte, für seinen nächsten Surftrip nach Australien. Mit Elektrotechnik wollte er sich erst nach den nächsten Semesterferien wieder beschäftigen, vielleicht. Beide gingen ihr Studium also eher entspannt an, und Max wollte sich mit seinem Geographiestudium genauso wenig stressen. Eigentlich. Zumindest war das der Plan, und das war bislang der einzige, den er hatte. Aber keine Panik. Er würde das schon schaffen. Und danach würde sich schon was ergeben. Irgendwie. Es stand ihm ja alles offen. Es gab so viele Möglichkeiten, er konnte ja wirklich alles machen, er musste nur die Chancen ergreifen, die vor ihm lagen. Einfach sein Bestes geben. Flexibel sein. Kreativ sein. Die Initiative ergreifen. Max schüttelte sich unwillkürlich. Nein, er hatte gerade wirklich keinen Bock auf dieses Gedankenkarussell. Er streifte seine Schuhe ab, warf seine Jacke über den Kleiderhaken und schlurfte in die Küche, ohne das Licht anzuschalten. Hier herrschte das übliche WG-Chaos, Krümel auf dem Tisch, schmutziges Geschirr in der Spüle und offene Holzregale, aus denen Verpackungen unbestimmbaren Alters hervorquollen. Max nahm sich ein Glas vom Regal und füllte es mit Wasser aus dem Hahn. Mit warmem Wasser. Er drehte sich um und lehnte sich ans Spülbecken, während er trank. Das Flurlicht fiel bis auf seine Socken. War das eigentlich irgendwie weichlich, gerne warmes Wasser zu trinken? Der Gedanken kam und ging auch gleich wieder. Max war tierisch müde und nicht so richtig in Grübellaune. Er stellte das Glas ab und ging quer über den Flur in sein Zimmer. Auch hier ließ er das Licht zunächst aus, stieg über seine Uni-Tasche und einen Haufen von Bibliotheksbüchern und schaltete die Nachttischlampe ein. Max setzte sich aufs Bett und zog die Hose aus. Ach verdammt, Zähneputzen vergessen. Er hauchte in die hohle Hand. Naja. Er hatte heute zwar kein Date mehr, aber schaden konnte es nicht, mal übers Gebiss zu bürsten. Im Spiegel sah er sein Gesicht, müde und weich, irgendwie konturlos, obwohl er immer einen ordentlichen Bartschatten stehen ließ. Seine dunkelblonden Locken standen verwuschelt vom Kopf ab und seine Haut wirkte wächsern, bleich. Kein Wunder, nach sechs Stunden Toten-TV. Er putzte sich schnell die Zähne und ging zurück in sein Zimmer. Das Handy zeigte inzwischen viertel nach sechs. Na super. Morgen musste er um halb elf an der Uni sein, und diesmal durfte er wirklich nicht fehlen. Nein, nicht morgen. Heute. Max seufzte und stellte den Wecker auf halb zehn, dann ließ er sich ins Bett fallen.

    „Max? Es klopfte an der Tür. Noch mal. „Max? Bist du wach? Klopf klopf.

    „Hm, ja? Max glitt langsam aus der Dämmerung des Halbschlafs und hob den Kopf so wenig wie möglich. Die Tür öffnete sich und Annika steckte den Kopf ins Zimmer. „Guten Morgen! Ich dachte ich weck dich jetzt doch mal, bevor du noch den ganzen Tag verpennst. Sie strahlte ihn an. „Kaffee?"

    „Ja, ja klar. Gerne. Max kratzte sich am Kopf und gähnte. „Wie spät ist es denn?

    „Kurz nach elf."

    Mit einem Satz war Max aus dem Bett. „Was?! Scheiße! Ich muss sofort zur Uni!"

    Annika öffnete die Tür ein bisschen weiter und lehnte sich an den Türrahmen, während Max hektisch in seine Hose stieg und sich einen Pulli vom Schreibtischstuhl schnappte.

    „Wieso, was ist denn heute so Wichtiges?"

    „Da ist so ein Kurs für Abschlussarbeiten, da musste ich unbedingt hin, und der hat schon um halb elf angefangen. Scheiße! Ich verlier noch meinen Platz. Wieso hat der blöde Wecker nicht geklingelt?"

    Max raffte seine Sachen zusammen und drückte sich an Annika vorbei in den Flur, stieg gleichzeitig in die Schuhe und warf sich die Jacke über. „Häh? Vielleicht hat er ja geklingelt, und du hast es einfach nicht gehört?"

    „Was weiß ich! Du hättest mich ja auch mal eher wecken können!"

    „Ernsthaft? Ich bin doch nicht deine Mami! Woher soll ich bitte wissen, wann du in die Uni musst?"

    Annika funkelte ihn böse an. Sie drehte sich auf dem Absatz um, verschwand in ihrem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie hatte recht, woher hätte sie das wissen sollen?

    „Sorry, war nicht so gemeint!, rief Max ihr nach. Er überlegte kurz, ob er ihr hinterher gehen sollte, sich entschuldigen, aber er hatte wirklich keine Zeit, er musste sofort los. „Tut mir leid! Echt! Ich muss jetzt weg, bis später! Sorry!, rief er noch mal über den Flur. Keine Antwort. Na toll, jetzt hatte er gleich doppelt Mist gebaut. Max lief nach unten und schwang sich aufs Rad. Zehn Minuten später war er an der Uni und lief keuchend zum Seminarraum. Die Uhr am Ende des Flurs zeigte halb zwölf. Um zwölf wäre das Seminar vorbei, aber Max durfte seinen Platz auf keinen Fall verlieren. Er atmete tief durch und öffnete die Tür.

    „…Sie sehen also, dass Formalitäten bei Ihren Arbeiten durchaus notenentscheidend sein können… Der Dozent beendete den Satz mit einem überraschten Aufwärtsbogen in der Stimme und wandte sich zur Tür, zu Max. „Das Seminar ist noch nicht zu Ende, warten Sie bitte draußen.

    Max fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und seine Hände schwitzig wurden. „Entschuldigung, ich bin zu spät. Eigentlich wollte ich zu Ihnen ins Seminar. Ich stehe auch auf der Seminarliste. Max Krämer heiße ich."

    Der Dozent rückte seine Brille zurecht und sah mit einem fiesen kleinen Lächeln auf seine Liste. „Aha. Dann wollen wir mal sehen. Wie war noch gleich der Name?"

    „Krämer. Max." Max war heiß, und er schwitzte. Im Seminarraum saßen gut dreißig Leute und alle starrten ihn an, manche mit trägem Gleichmut, andere mit unverhohlener Eskalationsgier.

    „Krämer, Krämer. Ach ja, hier. Krämer, Max Valentin. 14. Semester. Sind das Sie?"

    Max schluckte. „Ja, das bin ich."

    „Ich habe Sie hier schon ausgetragen. Weil Sie ja nicht anwesend sind."

    „Ja, es tut mir leid. Ich muss unbedingt noch teilnehmen, ich brauch den Kurs ganz dringend."

    Der Dozent sah Max schräg von unten an. „Ihnen ist aber schon bewusst, dass in meinem Seminar eine unbedingte Anwesenheitspflicht besteht?"

    „Ja, das weiß ich. Es tut mir leid, ich habe verschlafen und…" Max biss sich auf die Zunge. Das klang gar nicht gut, und der Dozent grinste auch gleich noch ein bisschen breiter.

    „So so. Verschlafen. Nun ja, Studentenleben kann zur Gewohnheit werden, nicht wahr? Der Dozent zwinkerte Max zu. Lacher aus dem Plenum. „Und Sie sagen, Sie brauchen das Seminar unbedingt?

    „Ja, ich wollte bald die Abschlussarbeit schreiben."

    „Ihre Masterarbeit nehme ich an? Oder meinen Sie die Bachelorarbeit?"

    Max schluckte wieder. Was für ein mieses Verhör. „Bachelor."

    „Wollen Sie sich dann auch bei mir prüfen lassen?"

    Max holte Luft aber er kam nicht mehr dazu, zu antworten. Der Dozent wies mit einer knappen Geste auf einen freien Platz. „Lassen wir das erst einmal. Setzen Sie sich. Sie können im Kurs bleiben, auch wenn Sie bereits einige wichtige Grundlagen verpasst haben. Das können Sie gerne durch eine kleine Zusatzaufgabe wieder einholen, sagen wir mal, Sie schreiben einen kurzen Essay über die Bedeutung und Wirkung von Layout und Formatierung universitärer Abschlussarbeiten. Bitte mit Literaturangaben, Fußnoten et

    cetera, mindestens fünf Seiten Fließtext Times New Roman 12 pt oder Arial 11 pt. Einverstanden? Ach, und bitte lassen Sie sich dabei besser nicht von irgendeiner künstlichen Intelligenz helfen. Ich werde die Arbeit bei Abgabe ausführlich mit Ihnen durchsprechen, da sollten Sie besser selbst der Verfasser sein."

    Max nickte ergeben. Der Dozent kritzelte etwas auf seine Liste und Max setzte sich unbeholfen auf einen freien Platz. Am liebsten wäre er mitsamt dem Stuhl im Boden versunken; stattdessen holte er seinen Block aus der Tasche und begann, alles, was der Dozent noch von sich gab, mitzuschreiben. Er bemühte sich, den Blick nicht mehr zu heben, bis das Seminar vorbei war.

    Nach der Uni fuhr Max heim. Er wollte sich bei Annika entschuldigen und klopfte an ihre Tür, aber es kam keine Antwort. Wahrscheinlich war sie nicht da, genau wie David, dessen Zimmertür offenstand. Max ging in sein eigenes Zimmer. Er sollte echt mal Ordnung schaffen. Max nahm den Laptop vom Schreibtisch, legte ihn aufs Bett und schaltete ihn ein, dann ging er wieder in die Küche und schaute nach, was noch zu Essen da war. Das Ergebnis war ernüchternd – alter Frischkäse und ein paar Nudeln von gestern. Aber im Gefrierfach fand er die Rettung: Eine Salamipizza, die er umgehend in den Backofen schob. Während Max auf die Pizza wartete, sah er sich eine Viertelfolge seiner Lieblingsserie an, dann holte er die Pizza aus dem Ofen und schaute beim Essen den Rest, im Bett, den Laptop auf dem Bauch und den Pizzateller neben sich. Als er fertig war, schob er beides von sich und blickte zu seinem Bass, der in der Ecke wartete. Wie spät war es jetzt? Zwei. Um sieben begann die Probe, bis dahin war noch ewig Zeit. Max rollte sich auf die Seite. Er wollte ja noch Bass üben. Und er könnte auch noch was für die Uni machen. Könnte er. Aber eigentlich hatte er eine viel bessere Idee. Max griff nach seinem Handy und stellte zum zweiten Mal an diesem Tag den Wecker.

    Kurz vor halb sieben wachte er auf, ganz von alleine. Wieder nichts geschafft, so ein Scheiß. Er fühlte sich dämmrig, neblig und bematscht, aber immerhin war er nicht mehr so todmüde wie heute Nachmittag. Max packte seinen Bass ein und verließ die Wohnung, diesmal mit Vorfreude, obwohl er das mit dem Üben schon wieder nicht geschafft hatte. Aber zusammen Musik machen war einfach immer gut. Zur Probe fuhr er allerdings mit dem Auto, denn der Proberaum lag in einem Gewerbegebiet am Rande der Stadt.

    Max betrat den Betonblock, ging durch den lichtlosen Flur und steuerte den Proberaum an, aus dem bereits Musik drang. Er öffnete die Tür. Jonas, der Gitarrist, und Paul, der Drummer, waren schon dabei, über ein neues Riff zu jammen. Wer noch fehlte, war Marek, der Sänger. Marek schrieb großartige schnoddrige Texte, über das verwirrende Leben und die Schwierigkeiten mit der Liebe und dem Dasein als solchem. Außerdem sah er ziemlich gut aus, zumindest behauptete Annika das. Max musste neidlos anerkennen, dass Marek groß und gut gebaut war und dass er seine Texte mit einer leicht versoffenen, lakonisch klingenden Reibeisenstimme sang, die bei Frauen anscheinend wirklich gut

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