Freak Sisters
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Buchvorschau
Freak Sisters - Christine Sterly-Paulsen
Table of Contents
KM Christine Sterly-Paulsen_Freak Sisters
Impressum
Ab ovo
Steinkind
Das stumme Haus
Dybbuk
Garten mit und ohne Blumen
Geschichten vom Flieder
Martin-Sie
Ars amatoria
Judith die Hexe
Heiß wie keine Kohle
Mai vorbei
Small fishes
Die Herberge zum Großen Bären
Ulrich Langgereist
Harmonie du Soir
Ulis Schloss
Vila Luminosa
Schmerz
Bazar du Nouveau Siècle
Schwimmen lernen
Fisch und Vogel
Die Mondscheinfront
Traumatlas
Der Eckladen
Wasser
Die Befreiung der Symbole
Nächstenliebe
Wohin geht die Reise?
Tausend Tode, sieben Leben
Neue Ufer
Der zwölfte Mann der Mondscheinfront
Baby go wild
Die Große Mutter
Ein ungewaschener Engel
New Morning
Blau in Blau
Vollmond
Nummer 13
Keine Luft
Regentag
Blaubarts Kammer
Sternenschau
Werbung
Christine Sterly-Paulsen
Freak Sisters
Roman
KM_Logo_Titel_CMYK_450dpi.tifOriginalausgabe
Mai 2024
Kulturmaschinen Verlag
Ein Imprint der Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt)
Ochsenfurt
www.kulturmaschinen.com
Die Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt) gehört
allein dem Kulturmaschinen Autoren-Verlag e. V.
Der Kulturmaschinen Autoren-Verlag e. V. gehört den AutorInnen.
Und dieses Buch gehört der Phantasie, dem Wissen
und der Literatur.
Umschlaggestaltung: Imke Cohrs,
unter Verwendung eines Fotos von Jure Gasparic
Eingestellt bei BoD
978-3-96763-307-8(kart.)
978-3-96763-308-5(geb.)
978-3-96763-309-2(.epub)
Ab ovo
Wann immer Rebecca und Judith andere Menschen kennenlernten – was zu Beginn ihres Lebens selten geschah, später häufiger – hatten sie zwei Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Das erste: Sie waren keine Zwillinge. Das zweite: Die dickere von beiden hieß Judith, die streng aussehende, knochige Rebecca.
Die verkehrte Namensgebung hatte unmittelbar mit den Umständen ihrer Geburt zu tun; Umstände, von denen ihre Eltern nur andeutungsweise sprachen, so dass ein Schatten von drastischen Geschehnissen, von Unsagbarkeiten sich über den Raum legte. Umstände, die mitklangen, als ihre Mutter Yvonne sie im Alter von knapp vierzehn Jahren beiseitenahm, mit einem Gesicht, als habe sie eine lange Rede vorbereitet, und dann nur einen Satz zu Stande brachte – einen Satz, auf den sie eine Antwort nicht haben wollte.
»Ich hoffe, ihr wisst, wie man verhütet.«
Der Rest blieb den zwei Schwestern zu ahnen übrig. Auch wenn sie es miterlebt hatten, gewissermaßen.
In den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft bewegte sich Yvonne wie ein Schlachtschiff auf Selbstmordkommando durch die Straßen der Stadt. Ihre Beine waren zu unförmigen Säulen angeschwollen, deren Gleichgewicht Schritt für Schritt durch den weit vorstehenden Bauch bedroht wurde. Yvonne, die gewöhnlich keine anarchistischen Neigungen besaß, wankte über Kreuzungen mit roten Ampeln, drängte sich durch jede Kassenschlange, lief vor fahrende Autos, als hoffte sie insgeheim, der Sache ein schnelleres Ende zu machen als die Natur es vorsah.
Dieses eine Kind, murmelte sie vor sich hin wie ein Gebet mit einhundertacht Wiederholungen, dieses eine und nie wieder. Ein Gedanke, den sie ihrem Mann auf keinen Fall mitteilen konnte, den sie einsam kultivierte, wenn sie auf einer Parkbank nach Luft japste, den sie als Fluch gebrauchte, wenn sie sich beim Aufstehen um ihren eingeklemmten Ischiasnerv krümmte. Dabei war sie gerade erst 31 Jahre alt, sie rauchte nicht, hatte nie unter Übergewicht zu leiden gehabt: kein Gedanke an eine Risikoschwangerschaft.
Erleichterung fand sie nur abends im Bett, für Augenblicke. Ewald war Anhänger einer Freikirche, klein und behaart wie ein Satyr, mit einem ausgeprägten sexuellen Appetit. Jeden Morgen, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, stellte sie fest, dass sie weniger wie eine Frau und mehr wie ein Monster aussah. Ihren Mann störte es nicht. Eher im Gegenteil, wie ihr schien, und jedes Mal, wenn er kräftig zustieß, hoffte sie, etwas würde geschehen in den Weiten zwischen ihrem Kopf und den roten, geschwollenen Füßen, sie könnte innerlich zerreißen, wenigstens die Fruchtblase könnte platzen, dein Bauch, das unbekannte Wesen. Nach einigen Minuten vergaß sie alles. Schlief ein, als wäre nichts, nur um gleich wieder geweckt zu werden, von schmerzenden Knien, von Babytritten, vom Drang, die Toilette aufzusuchen.
Sie machte das Licht auf dem Nachttisch an und las Beratungsbücher. Sie las historische Romane, bevorzugt über den Niedergang der antiken Welt. Sie las in der Bibel. Sie zählte die Tage bis zum Geburtstermin. Als sie bei siebzehnundderrestvonheute angekommen war, hatte der Himmel ein Einsehen und schickte ihr ein paar kräftige Wehen.
Yvonne ertrug den Schmerz gelassen, ignorierte das Krankenhauspersonal, biss die Zähne zusammen, dass es knirschte. Bis Zentimeter 7. Dann bettelte sie um Betäubungsmittel, die man ihr nicht gab – gewiss aus Rache für ihre Arroganz von vorher. Ewald verließ den Raum. Yvonne fluchte Gott, und Ewald, und vielen anderen, die sie kannte.
Was sie zwei Stunden später in halber Bewusstlosigkeit auf die Welt brachte, war rothäutig und kahlköpfig. Kleiner, als sie erwartet hatte.
»Aaron, wenn es ein Junge ist. Rebecca für ein Mädchen.«
Yvonne war müde. Und immer noch sehr dick. Sie versuchte nicht einmal, Ewald ein glückliches Mutterlächeln zu schenken. Ewald, der wie ein Fremder neben dem Plexiglaskasten mit einem fremden Baby saß.
Die Augen fielen ihr zu. Sie träumte, sie ginge eine Straße entlang, eine einsame Straße, graue Häuser, kahle Bäume, und dabei war es Sommer. Sie ging, sonst nichts, sie hatte kein Kind bei sich, keinen Mann, niemanden. Und sie aß Kot. Sie aß Hundekot von der Straße, Haufen für Haufen, bis das leise Quäken des Neugeborenen sie weckte.
Steinkind
Nach drei Tagen entließ man Yvonne nach Hause. Die Rebecca-Tragetasche in der Hand stand sie vor dem Spiegel am Schlafzimmerschrank, ebenso unförmig, wie sie gegangen war, und fühlte ein solches Grauen ihrer eigenen Gestalt gegenüber, dass die Tränen liefen, unkontrollierbar, wie die Milch aus ihren Brüsten.
Ewald streckte nicht einmal die Hand nach ihr aus, murmelte nur: »Wochenbettdepression«.
»Es geht schon wieder«, sagte Yvonne, gekränkt, weil er sie nicht ernst nahm.
Yvonne war weder hübsch noch eitel. Was sie quälte, war ein archaischer Ekel vor der Substanz Fett, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte. Seit jeher hauchten fette Menschen ihr Schrecken ein, wie die Oger aus grausamen Märchen. In ihrer Schulzeit hatte sie sich bewusst mit den dicken Mädchen angefreundet, um sich für diese Schwäche zu bestrafen – so gewissenhaft war sie. Aber das war ein oberflächliches Handeln gewesen, das an ihrem tiefen Abscheu nichts änderte.
Sie wandte sich vom Spiegel ab, nahm das Baby aus der Tasche, stillte es, auf der Bettkante sitzend, legte sich nach getaner Arbeit hin, die Hände auf dem Bauch, der sich offenbar entschlossen hatte, ein Eigenleben zu führen, und gewaltig zuckte und schmerzte. Die Hebamme hatte von Rückbildung gesprochen. Rückbildung, das ist gut, dachte Yvonne, sah benommen die schweren Vorhänge am Fenster, den bösen Blick des Kruzifix über dem Schreibtisch, an dem Ewald seine Seminararbeiten schrieb, und Ewald selbst, der sie von der Tür aus betrachtete, als traue er sich nicht herein. Sie konnte die Augen kaum offenhalten, aber schlafen wollte sie nicht.
Pressen! Pressen! Die Stimme war hart, sie klang wie ein Feldwebel auf dem Exerzierplatz, nur weiblich. Merkte sie nicht, dass Yvonne keine Luft bekam? Pressen! Eins zwei drei, Luft holen, zwei drei! Sie schien von überall zugleich zu kommen, unpersönlich und dämonisch. Yvonne würde ihr nicht gehorchen. Vade retro, wollte sie schreien, doch es kam kein Ton. Da brach es glitschig zwischen ihren Beinen hervor, ein Wesen, schuppig wie eine Echse. Schweißnass wachte sie auf.
Der Schmerz aus ihrem Traum war noch da, die Atemnot auch. Ich muss das Fenster aufmachen, dachte sie, diese Vorhänge abreißen. Sie stand auf, krümmte sich, mein Gott, wie habe ich geschwitzt, ich muss krank sein. Keuchend ertastete sie den Weg zum Fenster, als kämpfe sie gegen einen Orkan, zog am Vorhang, ging zu Boden. Hatte sie es mit einem dieser tückischen Träume zu tun, die einem nur vorgaukeln, man sei erwacht, und dann kehrt das Grauen wieder? Der Schmerz überlief sie in Wellen, ein nicht enden wollender Orgasmus des Schmerzes, und sie gab sich ihm hin, pflichtbewusst, wie bei den allnächtlichen ehelichen Umarmungen.
Wie viele Male hatte sie davon geträumt, Katzen zu gebären, Schlangen, verkümmerte Monster.
DA. Es kam wieder. Yvonne schrie. Und sie hörte Ewald schreien. Was hatte Ewald in ihrem Traum verloren?
»Hilf mir!« schrie Yvonne.
»Ich rufe einen Krankenwagen«, keuchte Ewald und verpasste so auch die Geburt seines zweiten Kindes. Die kleine Kreatur lag dünn und bläulich auf dem Fußboden, als er zurückkam, einen halben Meter pulsierende Nabelschnur von ihrer Mutter getrennt.
»So kam es«, sagte Judith, »dass sie mich Judith genannt haben. Eine Judith ist lang und dünn. Ich hatte an der linken Hand einen sechsten Finger. Willst du sehen?«
Sie zog ein Lederetui aus ihrem gebügelten Blusenausschnitt und zeigte ein mumifiziertes, schwärzliches Stöckchen vor.
Judith verbrachte die ersten zwei Wochen ihres Lebens auf der Intensivstation – wenn man, in diese Worte fasste es Yvonne, von Leben überhaupt sprechen konnte. Sie litt unter Sauerstoffmangel und Gelbsucht, musste künstlich ernährt werden und wuchs Yvonne in ihrer Hilflosigkeit bald mehr ans Herz als die rosige kleine Rebecca. Yvonne päppelte das zarte Kind wie ein Vögelchen. Sie war dankbar, dass die Alpträume vorbei waren. Sie war dankbar, als Ewald sein theologisches Examen bestand. Und wenn er sich vor dem Ehebett entkleidete, schon mit aufgerichtetem Penis, wie auf einer dieser antiken Vasen, vor denen sie im Museum den Blick abwandte, schwor sie sich bei den zwei kahlen roten Köpfen an ihrer Seite: Nie wieder.
Das stumme Haus
Eine stumpfsinnige, fast unbesuchte Dorfkirche. Außerhalb des Dorfes, als hätte dieses noch wachsen sollen, das Pfarrhaus. Ein Anwesen für protestantische Großfamilien mit fünf Kindern, Katze oder Hund. Im Garten alte Obstbäume, die kahl waren, als sie im Frühling einzogen. Die Fenster der leeren Zimmer im Erdgeschoss des Hauses verhängt mit dunklen Stoffen, die Yvonne an die Vorhänge ihrer vergangenen Wohnung gemahnten. Die Räume sollten als Gemeindehaus dienen, aber welcher Gemeinde? Den sechs Dörfern, in denen Ewald seine Hausbesuche machte, bei 80. Geburtstagen, einsamen Herzen und sterbenden Alkoholikern? Alte Frauen, verlassene Männer und keine Kinder, fast gar keine. Das war es, was man Ewald angeboten hatte; ihm, der letzten Wahl; ihm, der kein brillanter Kopf war; ihm, der kein einnehmendes Wesen besaß und bis zu seinem Examen nicht einmal der Landeskirche angehört hatte.
Letztlich war er zufrieden, weit in den Osten geschickt zu werden, wie ein Missionar, predigen zu können, statt sich umschulen zu lassen auf eine Stelle beim Ortsamt oder einer anderen Behörde, wie der Berufsberater beim Arbeitsamt ihm nahegelegt hatte. Er hatte gezweifelt, ob Yvonne bereit sein würde ihm zu folgen, war sicher, dass er eine überzeugende Rede nicht würde halten können; doch der bedurfte es nicht. Yvonne begrüßte den Umzug. Die Straßen der Stadt waren ihr unerträglich geworden, kaum konnte sie sich überwinden, den Kinderwagen mit den beiden Mädchen zu einem täglichen Rundgang hindurchzuschieben. Sie fütterte sie mit Vitamin-D-Tabletten und mied die Außenwelt. Je abgelegener ihr neuer Wohnort, desto lieber war es ihr. Sie beschloss, ihr weiteres Leben drei Aufgaben zu widmen: der Aufzucht ihrer Kinder, der moralischen Unterstützung Ewalds und der Vermeidung einer neuen Schwangerschaft. Von der Lehrerstelle für Latein und Chemie, mit der sie ihr gemeinsames Leben vor dem Mutterschutz finanziert hatte, ließ sie sich beurlauben, ohne das Verlangen, jemals in diesen Beruf zurückzukehren. Sie hüllte sich in heilsame Stille. Redete mit niemandem. Den Babys sang sie Kinderlieder vor, Schlaflieder und Choräle.
Ihre Unterhaltung mit Ewald beschränkte sich meistens auf »Guten Morgen«, »Guten Abend« und »Guten Appetit«, ohne dass einer von ihnen das Gefühl gehabt hätte, es fehle ihm etwas. Das Tischgebet sprachen sie gleichzeitig, aber nicht gemeinsam. Er dachte an Sex, sie ans Sterben.
Die Mädchen wuchsen, so selbstverständlich wie die Blätter an den Bäumen. Judith nahm zu, was Yvonne erleichterte. Rebecca wurde dünner, das bemerkte sie nicht. Im Pfarrgarten blühten altmodische Rosen, missachtet von Yvonne und Ewald, die für die Schönheiten der Natur beide kein Auge hatten. Nach einiger Überlegung hielten sie ein Gespräch ab, in dem sie entschieden, alle zwei Monate einen Gärtner zu bestellen. Die restliche Zeit überließen sie die Vegetation sich selbst. Nach einem Tag ohne Zwischenfälle und dem immergleichen Abendessen – Wurstbrot für den Pastor, Milchbrei für die Kinder – gingen alle schlafen. Die Mädchen in getrennten Zimmern, die Eltern in einem gemeinsamen Ehebett. Ihre Seelen blieben zuverlässig voneinander getrennt. Um sechs Uhr morgens folgten Morgengebet und Frühstück, das vom Abendbrot nicht abwich – eine Harmonie wie aus dem Bilderbuch, nur besser.
Wäre nicht das sogenannte Gemeindeleben gewesen. War Ewald nicht im Haus, musste Yvonne auf jedes Klingeln die Tür öffnen, verstaubte und verschimmelte Landfrauen empfangen, ihre Klagen anhören zur Weitergabe an den Seelsorger, ihnen Kaffee anbieten. Mit den Mädchen hatte sie es leichter. Ob sie ruhig in ihren Betten lagen oder weinten, davon musste sie nichts mitbekommen – das Haus war groß genug. Yvonne machte sich vertraut mit der Geschichte des vierzigjährigen Sohnes einer Besucherin aus dem Nachbardorf, der Türen eintrat, in den Kleiderschrank urinierte und keine Frau finden wollte; mit der Angst vor der senilen Mutter einer anderen Gemeindefrau, die im Gartenschuppen eine Satanskapelle errichtete und keinen hineinließ, aber Schatten sah man und Lichter, und sterben konnte die Alte nicht; mit dem Gram um die Tochter, die fortgezogen war in die Stadt, nie zu Besuch kam und nie die Enkel schickte, nicht einmal in den großen Ferien. Yvonne hörte zu und zählte in Gedanken die Tage bis zu den Tagen, rezitierte ein lateinisches Gedicht, oder beschäftigte sich mit jenem seltsamen Phänomen, dass sie sich das Gesicht ihres Mannes in seiner Abwesenheit nicht vor Augen führen konnte – stattdessen umso deutlicher sein drohend erregtes Glied, vor dem sie sich abwandte, dessen Anblick sie aber auch mit geschlossenen Augen nicht entkam.
»Hören Sie, Frau Pfarrer, sie sagt, es gibt keine Arbeit hier, in wieviel Kilometern Umkreis keine Schule für die Kinder, und Kinder gibt es auch nicht. Sie sagt, niemand bleibt hier, der ein bisschen Verstand hat, aber immerhin ist das unser Land, immer schon unser Land, selbst wenn sie weggehen muss, Frau Pfarrer, gut und schön, kann sie nicht wenigstens in den Ferien? Kann sie nicht wenigstens die Kinder in den Ferien?«
Yvonne lächelte und nickte, noch drei Tage, goss Kaffee ein, öffnete eine Packung mit Keksen. Aus den Zimmern der Mädchen hörte man nichts. Sie genoss diese Ruhe, die Tristesse um sie her, die so gar keine Risiken barg, keine Überraschungen, keine Verlockungen. So verlässlich wie sonst nur ihre altsprachliche Lektüre. So verlässlich wie ihr monatlicher Zyklus, seit es DAS GETRÄNK gab: ½ Gin, ½ Rum (weiß), ½ Wodka, ½ Tequila, ½ Blue Curaçao, ½ Sprite.
Yvonne wusste, normalerweise gehen nicht so viele Hälften auf ein Ganzes. Bei ihrem Getränk schon. Sie hatte dieses Wundermittel gegen Schwangerschaft gefunden, wie man einen Geldschein auf der Straße findet, aber man findet keine Geldscheine auf der Straße, schon gar nicht in diesem Dorf. Wie ein Vogelei dann eben – nein, sehr unpassend. Eigentlich, dachte Yvonne, kommt es selten vor, dass ein Mensch etwas findet und es gebrauchen kann. Sie hatte darum gebetet. Suchet, so werdet ihr finden. Um ein probates Mittel, das keine Sünde war und kein Verrat ihrem Mann gegenüber.
Dybbuk
Rebecca lag im Gitterbett und schaute aus dem Fenster in den Mond. Der schaute zurück auf Rebecca. Ihr Babygesicht war hell und rund wie er, unter Umständen hätten sie gute Freunde werden können. Es sollte aber nicht dazu kommen. Ihre erste Begegnung mit dem Mond, mit seinem stillen Licht, war furchteinflößend. Kein Geräusch zu hören, nur ein Schmatzen aus dem Nebenzimmer – ein leises Lebenszeichen von ihrer Schwester, dem Nicht-Zwilling.
Rebecca lag auf dem Rücken, in einem ärmellosen Schlafsack, so weit wie möglich von dem kratzigen Schlaftier auf ihrem Kissen abgerückt, lautlos. Lautlos aus Instinkt, ein verlassenes Junges (welcher Tierart auch immer) vor dem großen gelb-weißen Räuber dort draußen. Ein lauerndes Auge, das ihr erwachendes Denken, das noch keine eigenen Worte hatte, mit den Gebeten und Liedern ihrer Eltern verband.
Hätte jemand in ihr Gesicht gesehen, was hätte der bemerkt? Allein, es sah keiner hin, selbst die Schlafgeräusche der Schwester waren unerreichbar weit. Nur ein kleiner kalter Geist schlich an ihre Seite – ein Dybbuk, der sich undeutlich spiegelte im Mond und dessen Lichtschein, einen krummen grauen Schatten warf. Ihr versprach, sie nicht mehr zu verlassen und ihr den eigenen Namen ins Ohr flüsterte wie einen Fluch: Rebecca la mal-aimée.
Yvonne fand sie am nächsten Morgen steif, mit eisigen Fingern. Sie öffnete die Augen erst auf einen Schrei hin, der eine Mischung war aus Verärgerung und Besorgnis. Als hätte sie es, in unkindlichem Vorbedacht, darauf angelegt, ihre Mutter zu erschrecken.
Von dieser Nacht an war Rebecca der Mond unerträglich. In Vollmondnächten fürchtete sie sich vor dem Schlaf. Sie fürchtete sich vor allen Liedern, in denen er vorkam, vor den elterlichen Gebeten, vor dem Wort Himmel. Die Angst machte sich breit in ihrem Leben, als hätte sie mit den ersten Tropfen Milch die Alpträume ihrer Mutter geschluckt.
Später, als sie aus dem Bett klettern und die Tür öffnen konnte, fand sie den Weg ins Zimmer von Judith. Es kam vor, dass ihr Dybbuk sie antrieb, die Schwester zu kneifen und zu beißen. Judith kniff selten zurück. Wenn sie schrie, hielt Rebecca ihr den Mund zu oder streichelte sie hilflos dort, wo sich rot ihre Zähne abzeichneten. Oft blieb Judith still, und sie sahen gemeinsam aus dem Fenster.
Die Schweigsamkeit der Kinder fiel Yvonne spät auf. Anlässlich eines der seltenen Telefonate mit der eigenen Mutter, die ihre Enkeltöchter zu sprechen wünschte, beiden aus der Ferne versicherte, sie werde sie gewiss in den kommenden Monaten besuchen, und sich dann über das Ausbleiben einer Antwort beschwerte. Argwöhnte, man hetze die Kinder gegen sie auf. Oder diese seien allgemein verstockt. Da erst wurde Yvonne bewusst: dass die beiden Mädchen nicht sprachen, war in deren Alter keine Selbstverständlichkeit.
Das bedeutete Arztbesuche in der Stadt. Arztbesuche, die sie eine Menge Deospray kosteten, und bei der Rückkehr die Versuchung, nach einer der Flaschen zu greifen, die streng für ihr monatliches Getränk reserviert waren.
Der Arzt untersuchte die Schwestern getrennt. Stellte fest, dass sie Gegenstände auf Bildern benennen konnten, wenn man sie dazu aufforderte. Aber: »Die beiden zeigen kein Mitteilungsbedürfnis, keinen Wunsch nach Kommunikation.«
»Muss man das haben«, fragte Yvonne. Auf der Suche nach einer Antwort kam der Arzt ins Grübeln und überwies sie an einen Spezialisten.
»Typisch für Zwillinge«, erklärte der Kinderpsychologe in der nächstgrößeren Stadt, »bringen Sie sie so viel wie möglich mit Gleichaltrigen zusammen. Manchmal« – ein Blick auf Yvonnes Bauch – »hilft auch ein Geschwisterchen. Und natürlich der Kindergarten.«
Judith, die dreijährige pummelige Judith, die noch Windeln trug, sagte: »Wir sind keine Zwillinge.«
Spontanes Mitteilungsbedürfnis.
Notiz auf der Karteikarte.
Fragender Blick an die Mutter, die gleich Tränen in den Augen hatte. Der Spezialist schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln und bestand nicht auf dem Thema, wo seine beruflichen Gewohnheiten ihn eher zum Nachhaken getrieben hätten. Aber für die spezielle Verletzlichkeit schwangerer Frauen hatte er eine unprofessionelle Schwäche.
Garten mit und ohne Blumen
Also der Kindergarten. Ein riesiger Bau, der in großen Teilen leer stand, insofern an ihr eigenes Haus erinnerte, ein Bau aus grauen Betonzeiten, in denen dennoch mehr Kinder zur Welt gekommen waren, mehr Eltern in dem jetzt verlassenen Landstrich gelebt hatten. Eine Erzieherin, die aus jenen Zeiten überdauert hatte, Herrscherin über fünfzehn traurige Existenzen unter Schulalter und ungezählte freie Plätze.
Christlich war der Kindergarten nicht.
»Auch sonst nicht weltanschaulich geprägt«, versicherte die Erzieherin, deren Stimme während des Vorstellungsgesprächs zwischen Gleichgültigkeit und Werbeeifer schwankte, mitten im Satz umspringen konnte wie bei einem Jungen im Stimmbruch. Die Gleichgültigkeit war unüberhörbar stärker, sie hatte die Gewohnheit auf ihrer Seite, sie wurde gestützt von den vielen unbezogenen Betten im Schlafraum, von den rostigen Rohren der Klettergeräte im Außengelände, den Plastiktöpfchen im Bad, so oft desinfiziert, dass sie ihre ursprüngliche Farbe verloren hatten.
Das Gespräch fand außerhalb der Öffnungszeiten statt. Alles war so sauber und aufgeräumt, als hätte man geplant, diese Räume für immer zu verlassen.
Man? Die Frau mit den nach innen gesunkenen Augen und der instabilen Stimme?
»Um sieben öffnen wir. Bringen bis halb neun, Frühstück um neun«, sagte mechanisch die Stimme und schob Yvonne aus der Tür.
Sie war pünktlich am nächsten Morgen; zehn vor acht. Die Mädchen, gebadet, mit gewaschenen Haaren, erwarteten schweigend das Unbekannte. Im Auto erinnerte sich Yvonne an die kleine rote Kindergartentasche, die sie selbst in diesem Alter gehabt hatte, wie ein Briefträger hatte sie damit ausgesehen, und jetzt hatte sie vergessen, ihren eigenen Kindern ein Frühstücksbrot einzupacken – in der geheimen Hoffnung, der Kindergarten würde verschwunden sein, wenn sie dort ankam.
Ein Tag genügte, damit Judith ihre Meinung fasste und sie nicht wieder aufgab. Rebecca brauchte zwei Tage länger.
Yvonne fragte ihre Töchter nicht, wie ihnen der Kindergarten gefiel, aber sie wurde jeden Nachmittag zum Gespräch gebeten.
Warum war Judith noch nicht trocken? Hier setzte man Kinder vom ersten Geburtstag an auf den Topf, es funktionierte immer.
Rebecca hatte ein anderes Mädchen gekniffen und sich danach unter dem Tisch versteckt.
Beide Schwestern spielten nicht mit den Kindern aus der Gruppe.
Sie sangen bei den gemeinsamen Liedern nicht mit.
Rebecca verweigerte die Mahlzeiten.
Andere Eltern machten sich Gedanken wegen der jüdisch klingenden Vornamen der Mädchen – dabei sei der Vater doch evangelischer Pfarrer?
Nach einer Woche gab Yvonne auf. Sie teilte der Erzieherin ihren Entschluss mit, zu einer kirchlich geleiteten Einrichtung zu wechseln, fuhr die 25 Kilometer dorthin, hielt vor dem Eingang und drehte wieder um. Unmöglich, jeden Tag diese Strecke zurückzulegen, nur damit Rebecca und Judith sprechen lernten.
Ewald hatte ohnehin Bedenken gehabt, was den Kindergarten anging. Er stimmte ihr zu, dass man die Kinder ebenso gut zu Hause erziehen könne.
»Du bist doch Lehrerin«, sagte er, »gib ihnen Sprachunterricht.«
Yvonne nickte, Gespräch beendet, Ewald zog sich aus, stand vor ihr, das Gesicht missmutig, der Oberkörper behaart, der Penis erigiert. Er nahm sie, bekleidet wie sie war und mit einer gewissen Brutalität, von hinten.
½ Gin, ½ Rum (weiß), ½ Wodka, ½ Tequila, ½ Blue Curaçao, ½ Sprite, sagte sich Yvonne, sagte es Tag für Tag, Mal für Mal, um es nie zu vergessen.
Damit Yvonne ihre Pflichten als gute Ehefrau nicht vergaß, wiederholte der Pastor denselben Akt einmal wöchentlich. Zweieinhalb Jahre später wiederholte sich auch das eheliche Gespräch über die Erziehung der Töchter.
Rebecca und Judith waren fast sechs Jahre alt. Unbehelligt vom Kindergartenbesuch oder der Ankunft kleiner Geschwister (ihr Vater gab sich Mühe, von Yvonnes Rezept ahnte er nichts), verbrachten sie ihre Tage unter den zart abblätternden Tapeten des alten Hauses, oder zwischen den Bäumen und Büschen des Gartens, die Hände voller Splitter, die sie sich gegenseitig zogen, ohne ein Geräusch, schwarze Knie, die ihnen die Mutter mit der Nagelbürste schrubbte, wenn sie abends in der Badewanne saßen, ebenfalls schweigend. Seit zweieinhalb Jahren wurde das Schweigen in den Vormittagsstunden gebrochen, von 8 bis 11 Uhr. Stunden, in denen die Schwestern erfuhren, was sie für ein glückliches Leben brauchten, es sei denn, sie hatten Halsweh, Fieber oder sonst einen kindlichen Infekt. Was nicht häufig vorkam, da es niemanden gab, bei dem sie sich hätten anstecken können. Lieder singen, Zeichnen, Schneiden, Kleben und eine halbe Stunde Vorlesen. Ab dem fünften Geburtstag kam ein Vorschulprogramm dazu, dem Rebecca und Judith mit Respekt begegneten, da es eine Zukunft versprach, von der man nicht wissen konnte, ob sie freundlich war oder bedrohlich.
Unerwartete Sorgen bereiteten Yvonne die Bastelstunden, obwohl die Kinder bereitwillig, sogar eifrig an ihre Aufgaben gingen. Judith arbeitete mit einer gewissen Sturheit, steigerte sich in endlose Wiederholungen, füllte ganze Seiten mit Kreuzchen und Kreisen, ohne vom vorgegebenen Muster abzuweichen, schnitt zwanzig Papiersterne, wenn sie einen schneiden sollte. Rebecca dagegen versetzte der Anblick dessen, was sie geschaffen hatte, in Raserei, in eine leise, verbissene Wut, so dass sie das Papier auf dem Tisch zerknüllte und weinend auf ihr Zimmer geschickt wurde.
Sprechen konnten sie jetzt beide, sogar kleine Gedichte aufsagen. Als Yvonne zu Ewald sagte: »Die Mädchen haben einen Einberufungsbefehl«, und ihm die Ladung zum Vorstellungsgespräch in der Schule reichte, lachte Ewald, was er nicht häufig tat. Dank Yvonnes Unterricht waren Rebecca und Judith so gut gerüstet, dass die Schulleiterin zum Ende des Gesprächs halb missgünstig, halb anerkennend bemerkte, ein solches Niveau liefere eben nur ein Privatkindergarten.
»Ein kirchlicher Kindergarten«, korrigierte Yvonne und fragte sich, ob Schuldirektorin und Kindergartenleitung miteinander verwandt seien, so ähnelten sie sich in Körperbau, Gesichtsausdruck und Frisur.
»Heißt das, Sie möchten die beiden auf eine kirchliche Schule schicken?«
Die Idee war Yvonne noch nicht gekommen. Ehe sie antworten konnte, tat die Schulleiterin das für sie: »Das hatte ich vermutet. Sie werden jeden Tag 50 Kilometer fahren müssen, macht Ihnen das nichts aus?«
»Ich weiß nicht«, sagte Yvonne. Rebecca und Judith sagten nichts. Sie sahen wohlerzogen aus, wie sie da saßen mit geflochtenen Zöpfchen und blauen Trägerkleidchen, das eine zu weit, das andere zu eng, denn Yvonne hatte beide in der gleichen Größe gekauft.
»Schade«, sagte die Schulleiterin, »Sie sind nicht von hier, das verstehe ich, trotzdem ist das hier eine ordentliche Schule, auch wenn wir die Mittel nicht haben, auch wenn Ihre Kinder mit ganz gewöhnlichen anderen Kindern in eine Klasse gehen, würde ihnen das keineswegs schaden, doch letztlich ist das Ihre Entscheidung, für eine konfessionelle Schule, ich persönlich …«
Sie unterbrach sich. Reichte Yvonne ein Formular, das diese unterschrieb, stand auf, um die Mädchen mit Händedruck zu verabschieden, als suche sie Verbündete: »Möchtet ihr beiden nicht gern auf unsere schöne Schule gehen?«
Rebecca und Judith sahen einander an, dann die Direktorin, die vergeblich um ein Lächeln heischte. Judith sagte höflich auf Wiedersehen. Rebecca trat im Hinausgehen gegen die senfgelbe Tür.
»Und was jetzt«, fragte Ewald zu Hause, entkleidete sich und begrub Yvonnes Antwort unter seinem unvermeidlich hungrigen Körper.
Geschichten vom Flieder
Es kamen keine Briefe von der Behörde, es kamen nicht einmal Fragen von den Nachbarn. Es war, als hätte das Dorf die Kinder des Pfarrers vergessen. Obwohl man sie gelegentlich im Garten sah, oder schweigend am Kaffeetisch sitzen, Kekse essend und Geschichten der alten Frauen lauschend. Andere Kinder gab es nicht im Ort, fast. Da waren zwei kleine Jungen, deren Eltern sich im Kindergarten über die jüdischen Vornamen beschwert hatten und die den Schwestern nicht zu nahe kamen – jüdisch ist ansteckend, sagten die Eltern. Außerdem gab es ein aufgedunsenes Mädchen, das beim Atmen schnaufte und von Yvonne zweimal zum Spielen eingeladen, von Rebecca und Judith aber nicht beachtet wurde. Dafür waren sie von einem Jungen fasziniert, den seine Mutter bei den Großeltern zurückgelassen hatte. Ewald sagte, dass sie trank. Am Ton seiner Stimme erkannten die Mädchen, dass es etwas Schlechtes war – warum, verstanden sie nicht.
Der Junge trug den Namen Frieder, war groß und sprach nicht. Er ging auch nicht nach draußen; auf jeden Fall nicht allein. Als er einmal an der Hand seiner Großmutter im Pfarrhaus erschien, sahen die Mädchen oben vom Treppenabsatz zu. Er ging, wie sie sich einen Seemann vorstellten.
Dieser Junge besuchte ebenfalls keine Schule.
Was soll ich machen, klagte die Großmutter, es gibt niemanden, der ihn fahren könnte, würde ohnehin nicht viel nutzen. Er muss nicht, seine Störung.
Ja, sagte Yvonne, viele Male ja, wie eine Aufziehpuppe, und die lauschenden Töchter erkannten in dem großen blassen Jungen ihren einzigen möglichen Freund.
Es sei denn, sie gingen WEIT WEG.
Die Geschichten, die sie einander erzählten, handelten oft von WEIT WEG. Und sie handelten von dem geheimnisvollen Jungen. Sie erzählten fast ohne Worte und mit Gesten, die so sparsam waren, dass kein anderer hätte folgen, dass kein anderer hätte ahnen können, wohin sie sich gedanklich aufmachten.
Beide Schwestern lernten schnell lesen und hielten sich nicht lange bei den Bilderbüchern auf, mit deren Hilfe Yvonne ihnen die Buchstaben und Silben vorgestellt hatte. Ehe ihr erstes Schuljahr vorbei war, bestanden die Deutschstunden zur Hälfte aus Lektüre, zur Hälfte aus Aufsatz und Diktat. Rebecca und Judith schrieben fehlerfrei, lasen gierig, spürten Fernweh nach jedem Ort, der zwischen die Seiten der Bücher gebannt war, wie sie selbst in das stille Haus und seinen verwilderten Garten. Sie richteten sich Geheimorte ein. Rebecca zeichnete eine Karte davon, Landkarte und Schatzkarte zugleich:
Unter Judiths Bett. In dieses Versteck nahmen sie eine Wolldecke und zwei Paar Gummistiefel mit, denn sie glaubten fest an einen geheimen Gang, der sich eines Tages auftun würde. Ein Geheimgang, der sie zu einer Welt voller Freude bringen würde. Woraus die Freude bestand, wussten sie nicht.
Eine Höhle in den Fliederhecken, im Winter nicht brauchbar, machte sie im Sommer unsichtbar. Sie gruben eine Vorratskammer in den Boden und legten eine Blechbüchse mit Süßigkeiten hinein.
Ein Winkel im Keller hinter Regalen voller leerer Einmachgläser und verrostetem Werkzeug, der berauschend nach alten Steinen roch.
Eine Astgabel im Walnussbaum; das Schuppendach, das man von dort erreichte. Eine Zuflucht nur für Rebecca, wo sie sich grausame Rache ausmalte, wenn Judith sie geärgert hatte, oder sich selbst zerfleischte, wenn es ihr Dybbuk gewesen war, der sie anstiftete, die Schwester zu quälen. Ihre schönsten Bilder aus der Zeichenstunde zu zerreißen, ihr kleine Dinge zu stehlen, Süßigkeiten, Stifte, sie zu treten, wenn die Mutter sie lobte.
Yvonne lobte sparsam, aus Prinzip, und weil sie eine dunkle Unzufriedenheit mit dem verspürte, was in jenen alptraumhaften Monaten in ihr gewachsen war.
Rebecca sammelte Tiere, vor denen Judith sich fürchtete: Schnecken, Ohrenkneifer, Raupen. Dafür war es Judith, die sich auf den Weg zu Frieders Haus machte, allein, ihren sechsten Finger um den Hals wie einen Talisman. Sie trug einen Schottenrock, der über dem Bauch spannte und ihr das Aussehen einer kleinen alten Frau gab, rote Wollstrumpfhosen und die Gummistiefel aus ihrem Versteck unter dem Bett.
»Ich möchte Flieder besuchen«, sagte sie zu der echten alten Frau auf der anderen Seite der Tür.
Beide Schwestern waren überzeugt, dass dies sein richtiger Name war, dass man den Jungen nach den lila Blüten benannt hatte, hinter denen verborgen sie von ihm erzählten. Gerade in diesem Jahr blühte der Flieder besonders lange, der April war warm gewesen, der Mai war kalt, so lange blühte er, dass Judith sich an eine Zeit ohne Fliederblüten schon nicht mehr erinnern konnte.
Die Großmutter fragte, etwas scharf: »Hat die Mutti dich geschickt?«, was Judith verneinte. Flieder saß am Küchentisch und klopfte mit einem Hühnerknochen auf das Holz, eintönig und ausdauernd. Er hörte nicht auf, als Judith sich ihm gegenübersetzte.
»Sag schon brav Hallo«, sagte die Großmutter.
Der Junge sagte: »Hallo«, ohne sein Klopfen zu unterbrechen. Ganz wie hallo klang es nicht, eher wie ein Geheimwort. Vielleicht hatte er seine eigene Sprache, so wie Rebecca und sie. Judith versuchte, das Geräusch nachzuahmen, das er gemacht hatte. Die Großmutter bedachte sie mit einem bösen Blick (so eine war nun die Tochter des Pfarrers).
»Wo ist deine Zwillingsschwester?«
»Sie ist nicht meine Zwillingsschwester.«
Judith wandte die Augen nicht von Flieders klopfender Hand. Morsezeichen, darüber hatte sie in einem ihrer Bücher gelesen. Seine andere Hand hing zur