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Kinder der Ungleichheit: Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt
Kinder der Ungleichheit: Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt
Kinder der Ungleichheit: Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt
eBook422 Seiten4 Stunden

Kinder der Ungleichheit: Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt

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Über dieses E-Book

Wie nie zuvor ist die junge Generation sozial tief zerrissen: Hinsichtlich Gesundheit, Bildung, Wohnen, Freizeit und Teilhabe verschärfen sich die Unterschiede. Während Kinder aus wohlhabenden, reichen und hyperreichen Familien materielle Sicherheit genießen und eine Führungsposition in der globalisierten Wirtschaftswelt erreichen können, bleiben diese Chancen den Gleichaltrigen aus sozial benachteiligten Familien versagt. Die Sozialwissenschaftlerin Carolin Butterwegge und der Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge leisten mit ihrem ersten gemeinsamen Buch einen Beitrag zur Beendigung dieser Entwicklung. Sie zeigen das Spektrum der Kinderungleichheit, ergründen die Ursachen und schlagen Gegenmaßnahmen vor. Denn wenn ein Großteil der »Generation Corona« abgehängt wird, geht es mit der ganzen Gesellschaft bergab.
SpracheDeutsch
HerausgeberCampus Verlag
Erscheinungsdatum18. Aug. 2021
ISBN9783593448909
Kinder der Ungleichheit: Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt
Autor

Carolin Butterwegge

Dr. Carolin Butterwegge arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität zu Köln. Sie hat ihre Doktorarbeit über die Armut von Kindern mit Migrationshintergrund geschrieben.

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    Buchvorschau

    Kinder der Ungleichheit - Carolin Butterwegge

    Carolin Butterwegge

    Christoph Butterwegge

    KINDER DER

    UNGLEICHHEIT

    Wie sich die Gesellschaft

    ihrer Zukunft beraubt

    Campus Verlag

    Frankfurt/New York

    Über das Buch

    Wie nie zuvor ist die junge Generation sozial tief zerrissen: Hinsichtlich Gesundheit, Bildung, Wohnen, Freizeit und Teilhabe verschärfen sich die Unterschiede. Während Kinder aus wohlhabenden, reichen und hyperreichen Familien materielle Sicherheit genießen und eine Führungsposition in der globalisierten Wirtschaftswelt erreichen können, bleiben diese Chancen den Gleichaltrigen aus sozial benachteiligten Familien versagt. Die Sozialwissenschaftlerin Carolin Butterwegge und der Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge leisten mit ihrem ersten gemeinsamen Buch einen Beitrag zur Beendigung dieser Entwicklung. Sie zeigen das Spektrum der Kinderungleichheit, ergründen die Ursachen und schlagen Gegenmaßnahmen vor. Denn wenn ein Großteil der »Generation Corona« abgehängt wird, geht es mit der ganzen Gesellschaft bergab.

    Vita

    Dr. Carolin Butterwegge arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität zu Köln. Sie hat ihre Doktorarbeit über die Armut von Kindern mit Migrationshintergrund geschrieben.

    Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Er beschäftigt sich seit über einem Vierteljahrhundert mit der Kinderarmut und hat dazu sowohl Forschungsprojekte durchgeführt als auch mehrere Bücher veröffentlicht.

    Für Sina (13) und Miko (5)

    Inhalt

    Einleitung

    1Was heißt überhaupt »ungleich«, »arm« oder »reich«?

    Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft

    Von Wohnungslosigkeit, Straßenkindern und der Existenz absoluter Armut

    Wer ist arm in einem reichen Land?

    Relative Armut ist kein »Leiden auf hohem Niveau«

    Reich ist, wer sein Vermögen nicht antasten muss

    2Die reichsten Familien werden reicher, die Armen zahlreicher

    Vermögen konzentriert sich bei wenigen Familien

    Armut beschränkt sich nicht mehr auf Randgruppen

    3Kinderungleichheit: eine Generation, zwei Klassen

    Die einen werden als Verlierer/innen geboren …

    … die anderen kommen mit einem silbernen Löffel zur Welt und erben einen goldenen

    Erbschaftsteuerreform als Geschenk für Kinder reicher Unternehmer

    Wer ist hier wirklich neidisch, warum und auf wen?

    4Und raus bist du: Kinder von Alleinerziehenden, Arbeitslosen und Ausländern

    In kinderreichen und Ein-Elternteil-Familien reicht das Geld hinten und vorne nicht

    Ausgegrenzt: Arbeitslose mitsamt ihren Kindern

    Hohe Hürden: Flüchtlingskinder und Familien mit Migrationshintergrund

    5Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg – zum Abitur, zum Studium und zur beruflichen Karriere

    Leben im urbanen Luxusquartier oder im Hochhaus am Stadtrand

    Der steinige Aufstieg armer Kinder

    Reiche haben bessere Bildungschancen

    Wer reich ist, lebt gesünder und länger

    6Kinderungleichheit ist nicht vom Himmel gefallen

    Neoliberalismus und Weltmarktdynamik

    Arbeit wurde verbilligt: Hartz, aber fair?

    Sinkende Löhne – steigende Mieten

    Kinder und Jugendliche als Hauptleidtragende der Sozialreformen

    Familienpolitik wird für die Mittelschicht gemacht

    Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip

    7Spaltungslinien in der »Generation Corona«

    SARS-CoV-2 ist kein Ungleichheitsvirus

    Auswirkungen auf das Verhältnis der Generationen

    Lehrkräfte, Schüler/innen und Familien am Limit

    Kindheit im Ausnahmezustand: Was die Pandemie hinterlässt

    8Gleichheit nützt allen, Kindern wie Erwachsenen

    Ungleiche Lebensbedingungen sind ein Skandal

    »Die Armen« und »die Reichen« – Klischees statt Aufklärung

    Mit der Kinderungleichheit setzt das Land seine Zukunft aufs Spiel

    Solidarität gewinnt, nicht Ellenbogenmentalität

    Gleichheit ermöglicht individuelles Glück und stärkt den sozialen Zusammenhalt

    9Ungleichheit bekämpfen, Armut beseitigen und Reichtum begrenzen!

    Karitatives Engagement reicht nicht

    Kindergrundsicherung – keine Patentlösung

    Den Arbeitsmarkt reregulieren!

    Unterversorgung armer Familien beenden!

    Die soziale Infrastruktur stärken!

    Schluss mit der Bildungsbenachteiligung!

    Für bezahlbares Wohnen sorgen!

    Reiche und Hyperreiche stärker besteuern!

    Anhang

    Literaturhinweise zum Weiterlesen

    Anmerkungen

    1. Was heißt überhaupt »ungleich«, »arm« oder »reich«?

    2. Die reichsten Familien werden reicher, die Armen zahlreicher

    3. Kinderungleichheit: eine Generation, zwei Klassen

    4. Und raus bist du: Kinder von Alleinerziehenden, Arbeitslosen und Ausländern

    5. Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg – zum Abitur, zum Studium und zur beruflichen Karriere

    6. Kinderungleichheit ist nicht vom Himmel gefallen

    7. Spaltungslinien in der »Generation Corona«

    8. Gleichheit nützt allen, Kindern wie Erwachsenen

    9. Ungleichheit bekämpfen, Armut beseitigen und Reichtum begrenzen!

    Einleitung

    Seit der Jahrtausendwende sehen wir mit wachsender Sorge, wie sich in unserer Gesellschaft ein Problem immer mehr verschärft: Die junge Generation spaltet sich in arme Kinder einerseits sowie wohlhabende und reiche Kinder andererseits. Während junge Menschen aus »gutbürgerlichen« Familien beste Startchancen und Aussichten auf eine Führungsposition in der zunehmend globalisierten Wirtschafts- und Finanzwelt haben, bleiben Gleichaltrigen aus sozial benachteiligten Familien diese Möglichkeiten versagt. Die Covid-19-Pandemie hat die ökonomische und soziale Zerklüftung der jungen Generation zuletzt enorm verstärkt. Zugleich sind vielen Menschen die extrem unterschiedlichen Lebenslagen von Kindern aus sozial benachteiligten und Kindern aus wohlhabenden Familien stärker bewusst geworden. Schließlich zeigen sich diese Unterschiede in sämtlichen Lebensbereichen: der Gesundheit, den Wohnbedingungen, den Bildungschancen, kultureller Betätigung sowie beruflichen Aufstiegs- und politischen Beteiligungsmöglichkeiten.

    Ungleichheit würden die meisten Westeuropäer/innen wohl eher in Staaten wie den USA, Brasilien oder Südafrika verorten, hat sich jedoch auch bei uns verfestigt. Sie ist bereits in Kindertageseinrichtungen deutlich spürbar, sofern dort Sprösslinge unterschiedlicher Bevölkerungsschichten aufeinandertreffen. Sie bestimmt die Bildungsbiografien junger Menschen, macht sich im gesamten Erwerbsleben bemerkbar und prägt auch das Alter. Zudem beschränkt sich die soziale Ungleichheit nicht auf eine Verteilungsschieflage bei Einkommen und Vermögen, sie erstreckt sich vielmehr auf sämtliche Lebensbereiche der Familien.

    Wir widmen dieses Buch unseren beiden Kindern. Ihrer Generation sind wir Rechenschaft schuldig über die Situation, die wir haben entstehen lassen. Trotz des Mitgefühls und der Betroffenheit, die Kinderarmut bei Erwachsenen hervorrufen mag, wird die soziale Ungleichheit von Minderjährigen immer noch viel zu wenig beachtet. Dass es sie überhaupt gibt, ist ein Skandal, aber auch ein Armutszeugnis für die politisch Verantwortlichen, den Sozialstaat und die ganze Gesellschaft. Es ist höchste Zeit, das Problem greifbar zu machen und endlich Lösungen in Angriff zu nehmen.

    Wir wenden uns zunächst dem Begriff »Ungleichheit« an sich zu, bevor wir auf die bestehenden Einkommens- und Vermögensverhältnisse schauen. Wir zeigen, wie sich die sozioökonomische Lage in Deutschland zunehmend polarisiert, wobei es Gewinner und Verlierer/innen gibt, und stellen die Hauptleidtragenden der wachsenden Ungleichheit und ihre Familien vor. Da sich Ungleichheit beim Gesundheitszustand, bei der Wohnsituation und bei den Bildungschancen zeigt, wird die nachwachsende Generation davon entscheidend geprägt. Im Anschluss geht es um die gesellschaftlichen Ursachen der Ungleichheit. Dabei widmen wir den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ein eigenes Kapitel. Wir analysieren Einstellungen, Argumentationsmuster und Vorurteile, um zu verdeutlichen, dass sie uns bis heute daran hindern, Kinderungleichheit erfolgreich zu bekämpfen. Und schließlich zeigen wir, wie der Kampf gegen die Ungleichheit dennoch zu gewinnen und was dazu nötig ist.

    Klar ist: Wir können und dürfen uns und unserer Gesellschaft das Potenzial der jungen Menschen nicht länger vorenthalten. Deshalb müssen wir jetzt handeln, um mehr Gleichheit zwischen den Kindern und Jugendlichen zu erreichen. Und wir müssen das Richtige tun, denn nur dann können wir verhindern, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation abgehängt wird.

    1 Was heißt überhaupt »ungleich«, »arm« oder »reich«?

    Einführung

    Politik, Wissenschaft und Medien entwerfen, formen und beeinflussen unser Bild von der sozialen Ungleichheit. Dabei handelt es sich um einen Begriff, der auf einer gesellschaftlichen Zuschreibung beruht. Wahrnehmung und Bewertung dessen, was Ungleichheit ist, werden nicht bloß von den ökonomischen Rahmenbedingungen und den herrschenden Wertvorstellungen bestimmt. Sie hängen auch stark vom Erfahrungshorizont, von der gesellschaftlichen Stellung sowie dem weltanschaulichen, religiösen und politischen Standort des jeweiligen Betrachters ab. Ein junger Migrant, der seit geraumer Zeit in einer Großstadt als Getränkelieferant, Fahrradkurier oder Paketbote arbeitet, und eine Auszubildende im Gartenbaubereich, die einer grün-alternativen Bürgerinitiative angehört, denken über soziale Ungleichheit höchstwahrscheinlich anders als eine pensionierte Grundschullehrerin auf dem Land, die regelmäßig zur Kirche geht und seit ihrer Jugend eine konservative Partei wählt, oder als ein renommierter Chefarzt, der Schatzmeister im örtlichen Tennisclub ist. Dasselbe gilt für einen Industriearbeiter, der gewerkschaftlich organisiert, Betriebsrat und Funktionär einer linken Partei ist, sowie einen Immobilienmakler, der mit seiner Familie in einer »bevorzugten Wohngegend« lebt und mehrere Mietshäuser besitzt. »Armut« und »Reichtum« gelten manchen Kommentatoren sogar als Kampfbegriffe, die man tunlichst vermeiden sollte, sind aber zur Analyse der Gesellschaft unverzichtbar.

    Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft

    Jene sozioökonomische Ungleichheit, die von den benachteiligten Menschen oftmals als soziale Ungerechtigkeit empfunden wird und fast zwangsläufig politische Ungleichheit nach sich zieht,¹ manifestiert sich im Gegensatz von Arm und Reich. Ausgangspunkt und Kristallisationskern der Ungleichheit ist die Tatsache, dass sich der Reichtum in den Händen weniger befindet. Diese Tatsache wird noch immer weitgehend tabuisiert. Zwar sind Armut und Reichtum zwei Seiten einer Medaille. Aber wenn die Massenmedien, die etablierten Parteien und die politisch Verantwortlichen hierzulande das Thema der (wachsenden) Ungleichheit überhaupt zur Kenntnis nehmen, konzentriert sich das Interesse vorwiegend auf die Armut. Hier den Reichtum auszublenden, ist realitätsverzerrend, wenn nicht gar ein bewusstes ideologisches Ablenkungsmanöver. Warum? Ganz einfach: Armut lässt sich als individuelles Problem abtun, dem auf karitativem Wege begegnet werden kann, materielle Ungleichheit hingegen nicht. Denn sie ist ein gesellschaftliches Problem, das in der Sozialstruktur (von Klassen und Schichten) wurzelt.

    In anderer Hinsicht ähneln sich sozioökonomische Ungleichheit und Armut als deren bedrückendster Teil. Zwar hat die Ungleichheit zwischen den Ländern zuletzt abgenommen, innerhalb der Länder des globalen Nordens wie des globalen Südens ist sie aber gewachsen. Wie dargelegt, bilden Armut und Reichtum den harten Kern der sozioökonomischen Ungleichheit. Auf diesen Gegensatz darf sie jedoch nicht reduziert werden, will man sämtliche Dimensionen ihrer Wirksamkeit erfassen. Denn es gibt kaum einen Lebensbereich, in dem sich die Ungleichheit nicht dauerhaft bemerkbar macht. Neben der finanziellen Lage von Haushalten, Familien und Einzelpersonen prägt die zunehmende Ungleichheit auch deren Gesundheit, Bildungs- und Ausbildungsniveau, Wohnsituation und Wohnumfeld sowie Freizeitverhalten und Mobilität.

    Jede/r versteht unter der Ungleichheit etwas anderes. Schließlich sind die Menschen weder biologisch noch sozial gleich, unterscheiden sich vielmehr nach Alter, Geschlecht, Gewicht, Körperbau, Größe, Haut-, Haar- und Augenfarbe voneinander, aber auch bezüglich ihrer genetischen Dispositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie im Hinblick darauf, wo sie wohnen (Stadt oder Land), in welchem Haushaltstyp und in welcher Familienform sie leben, welchen Beruf sie ausüben, ob sie Hobbys haben (und wenn ja, welche/s) sowie ob sie regelmäßig Sport treiben (und wenn ja, welchen). Es handelt sich hierbei um spezifische Ausprägungen der Ungleichheit, die entweder schicksalhaft vorbestimmt, naturbedingt oder selbstgewählt sind.

    Der österreichische Historiker Walter Scheidel differenziert zwischen absoluter und relativer Ungleichheit. Letztere bezieht er auf den Anteil, den die jeweiligen Teile der Bevölkerung an den Gesamtressourcen haben, absolute Ungleichheit dagegen auf die unterschiedlichen Mengen an Ressourcen, welche die jeweiligen Bevölkerungsteile besitzen. Ein relatives Ungleichheitsmaß wie etwa der Gini-Koeffizient lenkt Scheidel zufolge von der Kluft ab, die zwischen den Einkommen wie zwischen den Vermögen unablässig wächst.² Ein Koeffizient von 0 bedeutet Gleichverteilung (alle Personen besitzen gleich viel oder gleich wenig), 1 extreme Ungleichverteilung (einer Person gehört alles). Somit zeigt sich darin nur ein Mittelwert, nicht der jeweilige Anteil der Armen oder der Reichen in einem Land. Laut Scheidel sind zudem Haushaltserhebungen, aus denen diese Messgrößen abgeleitet werden, als gängige Methode wenig geeignet, um auch die höchsten Einkommen zu erfassen. Tatsächlich muss stärker auf die Entwicklung der Pole des Verteilungsspektrums geblickt werden, was sich deshalb als besonders schwierig erweist, weil gerade die Allerreichsten hinsichtlich ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse wenig auskunftsfreudig sind.

    Bei der Ungleichheit, um die es hier geht, handelt es sich um eine anhaltende, wenn nicht gar dauerhafte Ungleichverteilung von materiellen Ressourcen (ökonomische Ungleichheit), gesellschaftlicher Anerkennung (soziale Ungleichheit) sowie von (Zugangs-)Rechten und Repräsentation (politische Ungleichheit) zwischen großen Personengruppen, Klassen und Schichten. Dabei beruht diese Ungleichverteilung nicht auf persönlichen (Leistungs-)Unterschieden zwischen den Angehörigen dieser Gruppen und Schichten, ist vielmehr den bestehenden Herrschaftsverhältnissen geschuldet. Was normalerweise »soziale Ungleichheit« genannt wird, müsste eigentlich sozialökonomische oder sozioökonomische Ungleichheit heißen. Denn gemeint ist eine Form der Ungleichheit, die im Bereich der Wirtschaft entsteht, auf einer Fehlallokation materieller Ressourcen (Einkommen, Vermögen) beruht und sich entscheidend auf die sozialen Beziehungen der von ihr Betroffenen auswirkt.

    Von Wohnungslosigkeit, Straßenkindern und der Existenz absoluter Armut

    »Armut« und »Reichtum« sind in allen gesellschaftlichen Verteilungskonflikten heftig umkämpfte Begriffe, die von gegensätzlichen Interessen geprägt sind und deshalb ganz unterschiedlich verstanden werden. Sie bezeichnen die Pole eines sozioökonomischen Spektrums, das sich von größter Not und schrecklichem Elend auf der einen Seite bis zu unvorstellbarem Luxus auf der anderen Seite erstreckt. Darüber, was Armut und Reichtum oder ökonomische und soziale Ungleichheit bedeuten, wird auch in Zukunft gestritten. Entscheidend hierfür sind nicht zuletzt der Wohlstand der Gesellschaft, in der man lebt, und die Verhältnisse, nach denen Reichtum und Armut verteilt sind.

    Aus diesen Gründen existiert weder eine allgemein verbindliche Definition von Armut noch von Reichtum, denn in beiden Fällen handelt es sich um normative, von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängige Bestimmungen, nicht um rein deskriptive. Durch die Unterscheidung zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits lässt sich das Problem zwar nicht lösen, aber leichter bewältigen.³

    Von absoluter, existenzieller oder extremer Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die zum Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sicheres Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung, eine medizinische Basisversorgung und/oder eine Wohnung entbehrt. Laut den Angaben der Weltbank, die eine Internationale Armutsgrenze (International Poverty Line, IPL) festgelegt hat, ist eine Person arm, die mit weniger als 1,90 US-Dollar (kaufkraftbereinigt, d. h. bezogen auf das Preisniveau der Vereinigten Staaten) pro Tag auskommen muss. Der genannte Schwellenwert basiert auf dem Durchschnitt der Armutsgrenzen von 15 der ärmsten Entwicklungsländer und ist selbst für viele afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Staaten viel zu niedrig angesetzt: »Es wäre abwegig zu glauben, die Armut wäre überwunden, wenn alle Menschen über ein Pro-Kopf-Einkommen von mindestens 1,91 US-Dollar pro Tag verfügten. Diese Armutsgrenze kann allenfalls die Schwelle des Überlebens markieren, nicht aber die Schwelle zum ›angemessenen Lebensstandard‹, wie er als Recht in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte allen Menschen zugestanden wird.«

    In den Vereinigten Staaten würde man mit einem so geringen Geldbetrag nach kurzer Zeit verhungern. Außerdem beruht die Bestimmung der Kaufkraftparitäten auf internationalen Warenkörben, die sich nicht am spezifischen Verbrauchsverhalten von Armen orientieren. Manches deutet somit darauf hin, dass es sich beim deutlichen Rückgang der globalen Armut um ein statistisches Artefakt handelt. Ohne den bemerkenswerten Wirtschaftsaufschwung von Indien und der Volksrepublik China wäre vermutlich sogar ein Anstieg der extremen Armut im Weltmaßstab zu verzeichnen. Würde man die nationalen Armutsgrenzen der einzelnen Staaten verwenden, ergäbe sich ein ganz anderes, jedoch viel genaueres Bild der globalen Armut.

    Der Frankfurter Ökonom Richard Hauser hat darauf hingewiesen, dass selbst das physische Existenzminimum sowie die Grenze zur absoluten Armut nur schwer festzulegen sind, weil sie beispielsweise davon abhängen, ob es sich um ein warmes oder um ein kaltes Land handelt, in dem jemand lebt.⁵ Wer in Sibirien keinen Pullover besitzt, ist höchstwahrscheinlich arm; wer südlich der Sahara wohnt und keinen Pullover besitzt, ist es deshalb noch lange nicht.

    Fast alle Mangellagen, die nicht sofort zum Tod der davon betroffenen Menschen führen, sind relativ. Nach einer sozialwissenschaftlichen Relativitätstheorie der Armut ist diese nie ohne ihr jeweiliges Umfeld zu begreifen, sondern nur, wenn man das spezifische Verhältnis berücksichtigt, in dem die Betroffenen zu ihren Mitbürger(inne)n und deren Lebensstandard stehen. Hauser zufolge spielen neben natürlichen Gegebenheiten wie dem Klima auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Rolle. So entscheiden beispielsweise kulturelle und religiöse Tabus mit darüber, was gegessen oder getrunken werden darf.

    Für manche Beobachter existiert Armut ausschließlich in Staaten wie Burkina Faso, Bangladesch oder Mosambik, aber nicht in der Bundesrepublik. Während niemand bezweifelt, dass es im globalen Süden (extreme) Armut gibt, wird seit Jahrzehnten mit Verve darüber gestritten, ob sie auch hierzulande grassiert. Für die politisch Verantwortlichen wirkt es natürlich beruhigend und entlastend, wenn das Phänomen ausschließlich in Entwicklungsländern verortet wird. Realitätssinn beweist man aber nicht durch die Ignoranz gegenüber einem sozialen Problem. Wohnungs- und Obdachlose, total verelendete Drogenabhängige, »Straßenkinder«, bei denen es sich meist um obdachlose Jugendliche handelt, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, EU-Ausländer/innen ohne Sozialleistungsansprüche und »Illegale«, die man besser als illegalisierte Migrant(inn)en bezeichnet, gehören hierzulande zu den Hauptbetroffenen von absoluter, extremer oder existenzieller Armut.

    Wohnungslos sind Menschen, die weder über selbstgenutztes Wohneigentum noch über ein Mietverhältnis verfügen und deshalb in Notunterkünften leben oder bei Freunden und Bekannten nächtigen. Obdachlos sind Menschen, die auf der Straße leben. Nach einem deutlichen Rückgang während der 1990er-Jahre gab es 2014 in Deutschland ca. 335 000 Wohnungslose, vier Jahre später hatte sich ihre Zahl bereits verdoppelt. Für 2018 lag die Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), welcher mangels offizieller und exakter Daten auch die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung vertrauen, bei 678 000 Wohnungslosen, darunter 441 000 anerkannten Flüchtlingen. Von den Wohnungslosen lebten 71 000 (30 %) mit Partner(inne)n und/oder Kindern zusammen. Die BAG W schätzte die Zahl der Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf 19 000, was 8 Prozent der Wohnungslosen entsprach.

    Man schätzt, dass fast ein Viertel der Berliner Wohnungslosen zu Familien mit Kindern gehören. Auf einen ähnlichen Wert kommt die Bundesregierung in dem von ihr am 12. Mai 2021 vorgelegten Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht: Bei knapp 21 Prozent der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten handle es sich um Familien.⁶ Erheblich mehr Familien leben in überbelegten und zu engen Wohnungen, weil sie entweder keine für sie passende Bleibe finden, diese nicht bezahlen können oder trotz vorhandener Geldmittel auf einem angespannten Mietwohnungsmarkt keine Chance haben.

    41 000 Menschen, darunter in manchen Großstädten fast die Hälfte osteuropäische EU-Bürger/innen, lebten laut BAG-W-Schätzung im Jahr 2018 auf der Straße. Auch unter den Betroffenen mit deutschem Pass befinden sich immer weniger Berber oder Trebegänger, wie die »klassischen« Obdachlosen genannt wurden. Gestiegen ist zuletzt die Zahl der Mittelschichtangehörigen, von Freiberufler(inne)n, Soloselbstständigen und gescheiterten Existenzgründer(inne)n, die auf der Straße landen.

    Ein häufig ausgeblendetes, aber reales und bedrückendes Problem sind Minderjährige, die ohne Obdach bzw. festen Wohnsitz auf der Straße leben. Gelegentlich als »Straßenkinder« bezeichnet, führt der Begriff in die Irre, weil es sich meistenteils um Jugendliche und Heranwachsende (zwischen 14 und 25 Jahren) handelt, die es in der Familie oder einem Heim nicht mehr ausgehalten haben und vorübergehend an Bahnhöfen, auf öffentlichen Plätzen, in Parks oder leerstehenden Gebäuden unterschlüpfen. Man kann von einer hohen Suchtgefährdung dieser Personengruppe ausgehen, ein gesichertes Wissen um deren Größe und Zusammensetzung bzw. um die Herkunft, die Motive und die Lebenslagen der Betroffenen gibt es de facto aber nicht.

    Auf der Basis einer 2015 durchgeführten Fachkräftebefragung rechnete eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) die Zahl bundesweit auf rund 37 000 Wohnungs- bzw. Obdachlose bis zum Alter von 27 Jahren hoch, worunter geschätzt rund 300 Unter-14-Jährige, rund 6 200 14- bis 17-Jährige sowie mehr als 30 000 Heranwachsende und junge Erwachsene waren.⁷ Auffällig ist, dass der Anteil des weiblichen Geschlechts bei den Jugendlichen sehr viel höher liegt, was sich erst in der Altersgruppe über 19 Jahren ins Gegenteil verkehrt; insgesamt aber, schätzt die DJI-Studie, herrsche ein Verhältnis von zwei Männern zu einer Frau.

    Der Freiburger Medizinsoziologe Alex Füller und die Sozialarbeiterin Sarah Morr haben ein vermehrtes Auftreten von Straßenkindern und drogenabhängigen Jugendlichen unter den Obdach- bzw. Wohnungslosen beobachtet, was sie mit Orientierungsproblemen angesichts zerbrechender Familienstrukturen in Verbindung bringen.

    Eine weitere Gruppe von Minderjährigen und Heranwachsenden ist infolge der Zuwanderung von Geflüchteten ab 2015 mutmaßlich vor allem in großen Städten auf der Straße untergetaucht, wobei man hier auch Menschenhandel befürchtet: Von den unbegleiteten minderjährigen Ausländer(inne)n, die als Alleinreisende zunächst in Obhut genommen wurden, galten Anfang 2020 laut einem Bericht im Tagesspiegel (v. 7.7.2020) rund 1 700 als vermisst, waren demnach aus dem Jugendhilfesystem verschwunden.

    Immer mehr gestrandete Arbeitsmigrant(inn)en und Geflüchtete teilen das Schicksal von Obdachlosen, ungeschützt der Witterung und wehrlos den Angriffen rechter Schläger und alkoholisierter Jugendlicher ausgesetzt zu sein. Unterstützungsmaßnahmen wie Notunterkünfte, Nachtasyle und Kältebusse haben nicht verhindert, dass seit 1990 über 300 Obdachlose der Kälte zum Opfer gefallen sind, ohne dass die hiesige (Medien-)Öffentlichkeit mehr als nur sporadisch Notiz von den Tragödien genommen hätte, die sich auf unseren Straßen abspielen.

    Statt die extreme Armut in ihrer Kommune zu bekämpfen, bekämpfen manche Stadtverwaltungen lieber die extrem Armen. Vielerorts gehen Ordnungsbehörden mit aller Macht gegen »Penner« und Junkies vor, stören sie doch das lokale Wohlstandsidyll. Bei ihnen handelt es sich um die »marktfernsten« Gesellschaftsmitglieder, denen im Zeichen der neoliberalen Globalisierung nur sehr geringe Ressourcen zur Verfügung stehen. Für die auf der Straße lebenden Menschen – Mitglieder der Drogenszene, Alkoholkranke und Bettler/innen – gilt zudem ein besonders rigides Armutsregime: Polizeirazzien, Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Schikanen privater Sicherheitsdienste, durch die sozial Benachteiligte aus den Innenstädten vertrieben werden, sind typisch dafür. Indem man Obdachlosen den öffentlichen Raum und die Würde nimmt, erklärt man sie zu Menschen zweiter Klasse.

    Kinder armer Eltern landen viel häufiger als ihre Altersgenoss(inn)en aus besser situierten Familien im Heim, bisweilen sogar auf der Straße, wo sie leichter verwahrlosen können. Dort fehlen ihnen nämlich die materiellen Ressourcen und der soziale Rückhalt, über welche die meisten Kinder und Jugendlichen verfügen. Obwohl es hierzulande weder die Armengettos am Rande der Großstädte – wie in den USA – noch Straßenkinder als Massenphänomen nach afrikanischem oder südamerikanischem Muster gibt, machen sich die berufliche Perspektivlosigkeit und die soziale Exklusion vieler Menschen schon im frühen Kindesalter bemerkbar. Wer in eine Familie hineingeboren wird, die von staatlichen Transferleistungen lebt und finanziell kaum über die Runden kommt, wächst unter prekären Bedingungen auf und hat unabhängig von seiner eigenen Lebensleistung wenig Chancen, sich in der postmodernen »Wissens- und Leistungsgesellschaft« zu behaupten, von einer gesicherten Existenz und einem sozialen Aufstieg ganz zu schweigen.

    Wer ist arm in einem reichen Land?

    Während die absolute Armut eine existenzielle Mangelerscheinung ist, verweist die relative Armut auf den Wohlstand, der sie umgibt, und den Reichtum, der sie hervorbringt. Denn ursächlich dafür ist nicht etwa das Verhalten der Betroffenen, ausschlaggebend sind vielmehr die sozioökonomischen Verhältnisse, unter denen sie leben (müssen). In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist Armut nicht gott- oder naturgegeben, sondern letztlich systemisch, d. h. durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt. Damit trifft sie besonders solche Personengruppen, die aufgrund ihrer schwachen Stellung in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung strukturell benachteiligt sind.

    Armut ist ein mehrdimensionales Problem, das ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte umfasst. In diesem Sinne arm zu sein, bedeutet vor allem:

    Mittellosigkeit und Ver-/Überschuldung als Folge mangelnder Erwerbsfähigkeit, fehlender Arbeitsmöglichkeiten oder unzureichender Entlohnung;

    einen dauerhaften Mangel an unentbehrlichen und allgemein für notwendig erachteten Gütern, die es Menschen ermöglichen, ein halbwegs »normales« Leben zu führen;

    eine strukturelle Benachteiligung in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen, Mobilität, Freizeit und Sport;

    den Ausschluss von (guter) Bildung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken, welche für die gesellschaftliche Inklusion nötig sind;

    eine Vermehrung der Existenzrisiken, Beeinträchtigungen der Gesundheit und eine Verkürzung der Lebenserwartung;

    einen Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und damit meistens auch individuellem Selbstbewusstsein;

    Macht- und Einflusslosigkeit in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen (Wirtschaft, Politik, staatliche Verwaltung, Justiz, Wissenschaft und Massenmedien).

    Von relativer Armut ist betroffen, wer zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich aber nur das Allernötigste leisten und mangels finanzieller Mittel nicht oder nicht in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann. Den allgemein üblichen Lebensstandard in seinem Land unterschreitet ein relativ Armer über längere Zeit hinweg deutlich. Nach einem Beschluss des Europäischen Rates vom 19. Dezember 1984 über gezielte Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut auf Gemeinschaftsebene gelten diejenigen Einzelpersonen, Familien und Personengruppen als verarmt, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der in ihrem Mitgliedstaat als Minimum akzeptablen Lebensweise ausgeschlossen sind. Damit verbunden sind materielle Defizite und fehlende Partizipationsmöglichkeiten.

    Kaum weniger umstritten als der Begriff »relative (Einkommens-)Armut« selbst ist das Konzept ihrer Erfassung und Messung. Denn es ist ausgesprochen schwierig, eine Armutsgrenze zu bestimmen, die als Schwelle der bürgerlichen Respektabilität gelten kann. Nach einer Konvention des Europäischen Rates sind Unionsbürger/innen armutsgefährdet, sofern sie weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens ihres Mitgliedstaates zur Verfügung haben. Noch in den 1990er-Jahren galten 50 Prozent des arithmetischen Mittels sämtlicher Einkommen als Armutsgrenze, 40 Prozent als Obergrenze zur »strengen« und 60 Prozent als

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