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Zeichen der Zeit: Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität
Zeichen der Zeit: Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität
Zeichen der Zeit: Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität
eBook668 Seiten7 Stunden

Zeichen der Zeit: Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität

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Über dieses E-Book

Zeit ist eine grundlegende Bezugsgröße der politischen Welt. Doch was geschieht genau, wenn sich Politik an zeitlichen Horizonten und mit zeitlichen Kategorien orientiert? Marlon Barbehön entwickelt auf Grundlage kulturtheoretischer Zugänge eine Politische Theorie der Temporalität, um die Verwobenheit zeitlicher und politischer Wirklichkeit zu untersuchen. Mittels konzeptioneller Begriffsarbeiten und illustrativer Analysen wird gezeigt, dass Zeit der Politik nicht als objektive Größe voraus-, sondern auf kontingente Weise aus ihr hervorgeht.
SpracheDeutsch
HerausgeberCampus Verlag
Erscheinungsdatum22. Nov. 2023
ISBN9783593456027
Zeichen der Zeit: Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität
Autor

Marlon Barbehön

Marlon Barbehön, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg.

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    Buchvorschau

    Zeichen der Zeit - Marlon Barbehön

    Marlon Barbehön

    Zeichen der Zeit

    Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität

    Campus Verlag
    Frankfurt/New York
    Über das Buch

    Zeit ist eine grundlegende Bezugsgröße der politischen Welt. Doch was geschieht genau, wenn sich Politik an zeitlichen Horizonten und mit zeitlichen Kategorien orientiert? Marlon Barbehön entwickelt auf Grundlage kulturtheoretischer Zugänge eine Politische Theorie der Temporalität, um die Verwobenheit zeitlicher und politischer Wirklichkeit zu untersuchen. Mittels konzeptioneller Begriffsarbeiten und illustrativer Analysen wird deutlich, dass Zeit der Politik nicht als objektive Größe voraus-, sondern auf kontingente Weise aus ihr hervorgeht.

    Inhalt

    Dank

    1

    Einleitung

    I.

    Vorbereitungen

    2

    Die (politische) Gesellschaft und ihre Zeit

    2.1

    Natürliche Zyklen, Teleologie und Endzeit

    2.2

    Das Neue, die Geschichte und die Kolonialisierung der Zukunft

    2.3

    Unsicherheit, Gegenwartszentrierung und (neue) Endzeit

    3

    Der Zeit auf den Spuren

    3.1

    Vom Wesen der Zeit zu zeitlichen Operationen

    3.2

    Zeit in der politikwissenschaftlichen Diskussion

    3.3

    Kulturtheoretische Wege zur Zeit

    II.

    Konzeptualisierungen

    4

    Zeit und soziale Probleme

    4.1

    Dauer, Zeit und Erfahrung

    4.2

    Die Lebenswelt als kollektives (Zeit-)Gedächtnis

    4.3

    Das soziale Problem als Zeitdifferenz

    4.4

    Zeitwissen und Wissen um Problemzeiten

    4.5

    Die Problemgeschichte des demografischen Wandels

    5

    Zeit und politisches Entscheiden

    5.1

    Komplexität, Sinn und Zeit

    5.2

    Entscheiden als kommunikatives Zeitgeschehen

    5.3

    Politisches Entscheiden zwischen Vergangenheiten und Zukünften

    5.4

    Semantiken der politischen Verfügung über Zeit

    5.5

    Die entscheidende Suche nach einem Endlager für radioaktive Abfälle

    6

    Zeit und politisches Handeln

    6.1

    Interaktive Gegenwarten

    6.2

    Handlungszusammenhänge und (Zeit-)Perspektiven

    6.3

    Politik als Handlungswelt

    6.4

    Sequenzierungen politischen Handelns

    6.5

    Zeit für und des Protest(s)

    7

    Zeit und Regieren

    7.1

    Vom heilsbringenden Pastorat zur unendlichen Regierung

    7.2

    Regieren als Daueraufgabe

    7.3

    Disziplinierung des Gegenwärtigen und Strukturierung des Wahrscheinlichen

    7.4

    Statistische Momentaufnahmen und unsichere Extrapolationen

    7.5

    Nachhaltigkeit im Anthropozän als Bewahrung der Zeit des Regierens

    III.

    Reflexionen

    8

    Zeit (und Raum) und das Politische

    8.1

    Der gemeinsame Neuanfang als Geschichtsschreibung

    8.2

    Zeit der Unterbrechung und Unterbrechung der Zeit

    8.3

    Die zwei Zeiten des politischen Ereignisses

    8.4

    Der Zeit-Raum des urbanen Politischen

    9

    Zeit und Demokratie

    9.1

    Von Zeitbedarfen, Zeitressourcen und Tempolimits

    9.2

    Geschwindigkeit und Beschleunigung als Wahrnehmungsformen

    9.3

    Demokratie als temporales Weltverhältnis

    9.4

    Demokratische Techniken der Geschwindigkeitsverarbeitung

    10

    Schluss

    Quellen

    Literatur

    Dank

    Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Februar 2022 an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Heidelberg angenommen wurde. Sie bildet den Abschluss einer »zeitintensiven Zeit«, in der ich von der Unterstützung zahlreicher Menschen profitieren durfte. Zuallererst zu nennen ist hier Michael Haus, der mein Habilitationsprojekt als Mentor betreut und erstbegutachtet hat. Neben dieser formalen Rolle hat er insbesondere durch seine wertschätzende, ermutigende und vertrauensvolle Art großen Anteil am Gelingen meines Projekts. Er hat mir einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem ich eigenständig arbeiten und mir zugleich stets seiner fachlichen und menschlichen Unterstützung sicher sein konnte. Dafür gebührt ihm mein aufrichtiger Dank. Ebenfalls danken möchte ich Holger Straßheim, der als Zweitgutachter an meinem Habilitationsverfahren beteiligt war. Daneben hat er mich immer, wenn sich unsere Wege kreuzten, mit seiner Offenheit und seiner fachlichen Expertise in meiner Zeitarbeit bestärkt. Sebastian Harnisch und Thomas Schwinn danke ich herzlich für ihre Mitwirkung an der Habilitationskommission.

    Über das gesamte Habilitationsprojekt hinweg war ich in der glücklichen Lage, meine Überlegungen regelmäßig im Kolloquium der Professur für Moderne Politische Theorie an der Universität Heidelberg zur Diskussion stellen zu können. Aus den Rückfragen, Hinweisen und Kritiken habe ich stets großen Gewinn gezogen und hat meine Arbeit sehr profitiert. Mein Dank gilt dabei insbesondere jenen Kolleg*innen und Freund*innen, die über mehrere Semester am Kolloquium teilgenommen und sich immer wieder aufs Neue auf meine Anliegen und Argumente eingelassen haben, namentlich Aristotelis Agridopoulos, Benjamin Ewert, Anja Folberth, Marc Frick, Marilena Geugjes, Matthias Heil, Hannah Klein und Alexander Wohnig. Mein Dank gilt zudem Christina Boswell und Piotr Kimla, die mir mit ihrer Gastfreundschaft produktive Forschungsaufenthalte an der Universität Edinburgh (2019) bzw. der Jagiellonen-Universität Krakau (2021) ermöglicht haben. Danken möchte ich ferner Jens Beckert, Rainer Forst, Wolfgang Knöbl, Frank Nullmeier und Shalini Randeria für die Aufnahme meiner Studie in die renommierte Reihe »Theorie und Gesellschaft« sowie Catharina Heppner vom Campus-Verlag für ihre engagierte und gewissenhafte Begleitung des Publikationsprozesses.

    Schließlich möchte ich Martin Cieslik, Daniel Hendrichs, Iris Konrad, Max-Christopher Krapp, Fabian Mörsheim und Philipp Neurath danken, die mich mit ihrer verlässlichen Freundschaft und ihrem ehrlichen Interesse an meiner Arbeit unterstützt haben. Mein Dank gilt zu guter Letzt Johanna Weselek, die mich mit ihrer liebevollen Art und ihrem steten Zuspruch zum Ziel gebracht hat.

    Heidelberg, im August 2023, M.B.

    1 Einleitung

    In Machiavellis Der Fürst, einem der Gründungsdokumente der modernen Politischen Philosophie, begegnet uns ein Bild, das Herrschaft ganz wesentlich als eine Kunst des Erkennens der Zeichen der Zeit darstellt. Herrschaft, und mit ihr politische Stabilität, können nur dann sichergestellt werden, so Machiavelli (2016 [1513]: 98), wenn Herrschende ihre Handlungsweisen »mit dem Zeitgeist in Einklang [bringen]«, wenn sie sich nicht an überzeitlichen Prinzipien ausrichten, sondern sich flexibel auf die Erfordernisse der Zeit einstellen. Die Zeit tritt der Herrschaft als mächtige Randbedingung gegenüber, sie »jagt alles vor sich her, sie kann Gutes wie Schlechtes und Schlechtes wie Gutes bringen« (Machiavelli 2016 [1513]: 12), und eine zeitgemäße Herrschaft ist eine solche, die der Zeit gemäß ist und auf den Gang der Dinge reagiert bzw. sich auf ihn einstellt. Auch wenn dieses »realistische« Politikverständnis eines unter vielen ist, und zudem eines, dem ich mich in der vorliegenden Studie nicht unbesehen anschließen werde, so ist das dahinterliegende Verständnis von Zeit auch für andere zeitgenössische Perspektiven auf politisches Geschehen prägend. Es gibt sich etwa im Begriff des politischen Timings zu erkennen, d.h. in der kairologischen Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für politische Vorstöße, in der Frage danach, wann die Zeit einer politischen Idee gekommen ist (prominent etwa Kingdon 2003 [1984]). Dabei macht der Begriff des Timings mit seinem aktivischen Bedeutungsgehalt deutlich, dass die Reife der Zeit auch vom politischen Handeln abhängt und somit der »Zeitgeist« dem politischen Geschehen nicht rein äußerlich ist. Gleichwohl schwingt auch hier ein Bild von Zeit mit, die »alles vor sich herjagt« und auf die sich politische Aktivitäten einstellen müssen. Diese Zeitvorstellung lässt sich schließlich auch in Perspektiven finden, die Politik weniger als Machtgeschehen denn als kollektive Problemlösung verstehen und an sie die Erwartung richten, soziale Probleme und Krisen rechtzeitig – und damit ist zunehmend gemeint: noch bevor sie eintreten – zu erkennen, damit diese bestenfalls erst gar nicht virulent werden (DeLeo 2016; Cairney/St Denny 2020). Die Annahme, Erwartung bzw. Forderung, Politik habe die Zeichen der Zeit zu erkennen, bedeutet dann, sich hier und jetzt auf das Kommende einzustellen, oder besser noch: es in der Gegenwart vorbeugend zu bearbeiten.

    Damit sind wir bei einer zweiten Weise angelangt, wie sich der titelgebende Topos der vorliegenden Studie deuten lässt. Die Wendung »Zeichen der Zeit« verweist darauf, dass wir es in der sozialen Welt nicht mit der Zeit »an sich« zu tun haben, sondern mit Zeichen der Zeit, d.h. mit symbolischen Formen, die etwas inhärent Unverfügbares verfügbar machen. Die Zeichen der Zeit müssen in ihrer Zeichenhaftigkeit verstanden werden (so auch die Verwendungsweise im Matthäus-Evangelium), um von ihnen auf »die Zeit«, was immer das sein mag, schließen zu können. Diese Lesart gründet auf der gleichermaßen banalen wie weitreichenden Einsicht, dass man »die Zeit weder sehen noch fühlen, weder hören noch schmecken, noch riechen [kann]« (Elias 1988: VII). Zeit ist gar nicht anders zu haben als über Zeichen, mit denen das Vergangene, das vorüber, und das Kommende, das noch nicht eingetreten ist, symbolisch in die Gegenwart hineingeholt werden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass in unserer Sprache derart viele Metaphern und Redewendungen existieren, die um den Begriff der Zeit zentriert sind, ist dieser doch nicht an eine außersprachliche Substanz gekoppelt, die ohne Zeichen sinnlich erfasst werden könnte (auch die Uhr tut das nicht – darauf werde ich in unterschiedlichen Kapiteln zurückkommen). Trotz (oder wegen?) dieser Unverfügbarkeit spielt Zeit für unsere Orientierung in der Welt eine kaum zu überschätzende Rolle, und zwar nicht zuletzt für politisches Geschehen, das auf die inhärent unerreichbaren Horizonte der Vergangenheit und der Zukunft mittels symbolischer Praktiken ausgreift, um darüber eine Gegenwart für politisches Handeln herzustellen: Die Vergangenheit wird referiert, erinnert, aktualisiert und damit wirklich, indem Geschichten und Gründungsmythen der politischen Gemeinschaft erzählt, indem vergangene politische Errungenschaften gepriesen und Fehlleistungen angeprangert oder indem bis dato ungelöste Aufgaben ausgewiesen werden; die Zukunft wird vorhergesagt, projiziert, imaginiert und damit wirklich, indem U- oder Dystopien gezeichnet, indem zu erreichende Ziele formuliert oder indem politische Programme mit nacheinander zu vollziehenden Maßnahmen entworfen werden; und aus der Zusammenschaltung der beiden Zeithorizonte entsteht eine Gegenwart mit politischer Handlungsfähigkeit im Allgemeinen und spezifischen politischen Möglich- und Notwendigkeiten im Speziellen.

    Politik ist so besehen unentwegt mit Vergangenheiten und Zukünften befasst – und zwar nicht nur dann, wenn es etwa um »Erinnerungs-« oder »präventive Politik« geht, sondern grundsätzlich und immer, da sie als eine sinnhafte Praxis gar nicht anders kann, als sich gegenüber bereits konstituiertem Sinn zu positionieren und kommende Sinnkonstitutionen vorzuprägen (dieses grundlegende Argument wird in den Kapiteln in Abschnitt II aus je spezifischen zeittheoretischen Perspektiven heraus zu entwickeln und zu begründen sein). Politik in diesem Sinne mit Zeichen der Zeit in Verbindung zu bringen rückt den Zeichengebrauch in den Vordergrund, über den Wirklichkeit ihre sinnhafte Ordnung erhält. Dabei lehrt die (post-)strukturalistische Semiotik, dass die Bedeutung von Zeichen nicht dem Zeichen selbst anhaftet, sondern aus der Differenz von Zeichen bzw. aus der differenziellen Praxis des Zeichengebrauchs resultiert (de Saussure 2001 [1931]: 103–106; Foucault 1981: 67–74). Das symbolische Verfügbarmachen von Zeit ist somit immer und unausweichlich auch eine Konstruktion von Zeit. Die vorliegende Studie tritt an, diese Performativität der Zeitlichkeit von Politik auf Grundlage kulturtheoretischer Zugänge zu konzeptualisieren, diese Konzeptualisierungen in interpretativen Fallstudien auf ihre analytische Relevanz hin zu prüfen und damit die Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität zu zeichnen.

    Die Gleichsetzung von Zeit mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie sie soeben stillschweigend vorgenommen wurde, bedarf jedoch selbst zeittheoretischer Aufmerksamkeit. Wie ich im weiteren Gang der Untersuchung zeigen werde, ist diese Gleichsetzung nicht zwingend und sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine natürlichen Größen, die dem »Wesen« der Zeit entsprächen. Vielmehr handelt es sich bei der Differenz von Vergangenem und Zukünftigem sowie bei der Gegenwart als Moment der Differenzdisposition um eine historisch spezifische Erscheinungsform von Zeit (vgl. Koselleck 1989). Diese Erscheinungsform ist sowohl Bedingung als auch Produkt der zeitlichen Operationen moderner Politik: Ohne die Annahme, dass Vergangenheit und Zukunft divergieren, würde sich keine Gegenwart mit entscheidenden Weggabelungen ergeben, und ohne die Einsetzung von entscheidenden Weggabellungen würde uns der »Lauf der Zeit« nicht als kontingent und die Gegenwart nicht als zeitlich voranschreitender Punkt der Umformung von Zukunft in Vergangenheit erscheinen. Politik und Zeit sind so besehen voneinander abhängig, woraus die Notwendigkeit erwächst, die Zeitlichkeit von Politik in den Blick zu nehmen – und nicht »nur« Politik in der Zeit, was Zeit auf ein Faktum der natürlichen Welt reduzieren würde, oder Politik mit Zeit, womit Zeit als frei verfügbare Machtressource konzipiert wäre. Zeit kann diese Bedeutungen annehmen, sie darf aber nicht darauf reduziert werden und sie tritt nicht »von selbst« mit diesen Bedeutungen auf.

    Die Begriffe der Bedeutung und des Sinns, die bereits mehrfach aufgetaucht sind, nehmen eine zentrale Stellung in der vorliegenden Untersuchung ein. Insofern sich Politik und Zeit wechselseitig zur Wirklichkeit verhelfen, können weder »Politik« noch »Zeit« als Trägerinnen stabiler, ahistorischer Bedeutungen und mithin vor die analytische Klammer gesetzt werden. Vielmehr muss es bei einer Analyse der Zeitlichkeit von Politik darum gehen, wie Politik und Zeit in Praktiken der Bedeutungszuweisung bzw. Sinnkonstitution ineinander verstrickt sind, d.h. wie Zeit in politische Formen des Weltzugriffs eingeht, woraus sodann unsere Wirklichkeit ihre sinnhafte Ordnung erhält, inklusive einer kollektiven Vorstellung über das »Wesen« der Zeit. Hintergrundfolie dieser Perspektivierung ist die Prämisse, »that all time is social time« (Adam 1990: 14) bzw. »that time is fundamentally a social construction« (Adam 1990: 42). Hierin kommt zum Ausdruck, dass jede Zeitvorstellung innerhalb von und in Bezug auf gesellschaftliche(n) Bedingungen entsteht (Nassehi 2008: 36; umfassend hierzu auch Elias 1988). Mit dem Begriff der sozialen Zeit ist somit nicht ein distinkter Geltungsbereich bezeichnet, in dem es um menschliche Aneignungen und Interpretationen der Zeit »an sich« geht, deren »eigentliches« Wesen etwa von der Physik benannt wird; er verweist vielmehr auf die fundamentale Tatsache, dass Zeitvorstellungen notwendigerweise in einer Gesellschaft (und in Politik als einem gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereich) entwickelt, kultiviert, tradiert, umgeformt und revolutioniert werden und deshalb nicht losgelöst von ihr verstanden werden können. Dies begründet den Bedarf an einer sozialtheoretischen Position, die darauf ausgerichtet ist, die Entstehung und Reproduktion von sozialer (Zeit-)Ordnung als sinnkonstituierendes Geschehen zu perspektivieren. Mit Reckwitz (2012) lässt sich diese Position als eine kulturtheoretische bezeichnen. Sie reduziert die Frage der sozialen Ordnungsbildung nicht auf ein Handlungskoordinationsproblem, sondern richtet sie grundlegender darauf aus, was uns »überhaupt dazu bringt, die Welt als geordnet anzunehmen und somit handlungsfähig zu werden« (Reckwitz 2003: 288). Die Antwort auf diese Frage findet diese Gruppe an Theorien – es sind mehrere, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen – im Begriff der Kultur, verstanden als ein beweglicher Bestand an Deutungsmustern, Semantiken und Praktiken, der einerseits sinnkonstituierende Ereignisse anleitet und der andererseits selbst aus sinnkonstituierenden Ereignissen hervorgeht. Zeit lässt sich hier (für den Moment) als ein Teil dieses Bestands begreifen, und überdies als ein Teil, der in seiner Bedeutung für die sinnhafte Welterschließung und Ordnungsbildung kaum überschätzt werden kann. Dies impliziert einen operativen Zeitbegriff (vgl. Nowotny 1992: 422; Nassehi 2008: 24–30), der, anstatt von einem vorsozialen Wesen der Zeit auszugehen, das konstitutive Wechselverhältnis zwischen Zeit und Politik theoretisierbar und analysierbar macht und sich mit unterschiedlichen kulturtheoretischen Zugängen je spezifisch ausbuchstabieren lässt.

    Innerhalb der Politikwissenschaft ist eine solche Zugangsweise, zumindest im Hinblick auf den paradigmatischen Anspruch, mit der sie in der vorliegenden Studie auftritt, ein Novum. Wie noch zu zeigen sein wird, gibt es zwar durchaus einige und in jüngerer Vergangenheit zunehmend mehr Arbeiten, die auf den Zusammenhang zwischen Zeit und Politik reflektieren (vgl. Pierson 2004; Scheuerman 2004; Pollitt 2008; Straßheim/Ulbricht 2015b; Lazar 2019; Hom 2020; Torres 2022) und dabei bisweilen auch kulturtheoretischen bzw. konstruktivistischen Prämissen folgen. Eine grundständige Theoriearbeit, die an die konzeptionelle Tiefe der Zeitsoziologie (vgl. Schmied 1985; Bergmann 1992; Nassehi 2008; Abbott 2020) heranreichen könnte, findet sich in der politikwissenschaftlichen Diskussion jedoch kaum. Zeit bleibt hier vielfach »implicit, nonreflected, taken for granted« (Wagenaar 2011: 284), und wenn der Begriff angegangen wird, dann werden die Potenziale sozialtheoretischer Traditionen, die sich mit sozialer Zeit befassen, kaum ausgeschöpft (siehe aber Portschy 2015; Strassheim 2016). Im Lichte dieses Forschungsstands einerseits und der Allgegenwärtigkeit zeitkonstituierender politischer Praxis andererseits erscheint es gleichermaßen notwendig wie zielführend, grundständige zeittheoretische Arbeit zu leisten, um über Einzelanalysen hinauszugelangen und die immanente Beziehung zwischen Zeit und Politik auf grundlegender Ebene in den Blick zu bekommen. Mit der vorliegenden Studie soll also dem Feld der zeitbezogenen Politikforschung nicht »nur« ein weiterer (zeitdiagnostischer) Beitrag hinzugefügt werden, sondern das Feld selbst soll vermessen und konturiert werden, indem zeittheoretische Konzeptualisierungen von politischen Grundbegriffen entwickelt und die analytischen Möglichkeiten dieser Konzeptualisierungen in interpretativen Fallstudien illustriert werden. Es geht darum, die Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität zu zeichnen, mit der sich die wechselseitige Konstitution von Zeit und Politik bestimmen lässt und auf deren Basis eine zeitsensible Politikforschung betrieben werden kann. Eine solche Unternehmung ist deshalb erforderlich, da in der Politikwissenschaft die zeittheoretische Arbeit der empirischen Forschung hinterherhinkt, was sowohl einer Abschätzung des Geltungsbereichs empirischer Einsichten als auch einer grundständigen konzeptionellen Reflexion auf politische Zeitlichkeit im Wege steht (vgl. Gokmenoglu 2022).

    Die Rede von einer »Politischen Theorie der Temporalität« steht für einen paradigmatischen Anspruch. Der vorliegenden Studie geht es darum, »Zeit und Geschichtlichkeit als begründende Kategorien des [Politischen]« (Schwietring 2015) auszuweisen und disziplinär zu verankern. Ich werde dazu nicht »nur« Fallstudien präsentieren, die die Verstrickungen von Politik und Zeit für einen spezifischen politischen Gegenstandsbereich nachzeichnen (obgleich ich das auch tue), und ebenso wenig geht es mir um die Formulierung eines zeitdiagnostischen Beitrags, der den temporalen Zustand gegenwärtiger Regierungspraxis beurteilt (die geläufige Diagnose lautet hier: »Das geht alles viel zu langsam!«). Vielmehr steht die grundständige theoretische Ausarbeitung der »wesensmäßigen« Beziehung zwischen Politik und Zeit sowie, darauf aufbauend, die Skizze eines distinkten politikwissenschaftlichen Programms im Zentrum. Der Titel dieser Arbeit spricht von »Umrissen einer Politischen Theorie der Temporalität«, um die Erwartungen, die der paradigmatische Anspruch unweigerlich weckt, sogleich zu dämpfen: Was hier geleistet werden kann, sind theoretische Grundlegungen, die weiterer Anstrengungen, Präzisierungen und Feinschliffe bedürfen, und das nicht zuletzt deshalb, weil sich hier einer ganzen Reihe an Theorietraditionen bedient wird, die in ihren Verzweigungen und Schattierungen in einer einzelnen Studie unmöglich in Gänze gewürdigt werden können. Diese theoretischen Grundlegungen setzen beim Zeitbegriff an, und zwar unter Zuhilfenahme der reichen sozial- bzw. kulturtheoretischen Traditionen, die sich mit sozialer Zeit befassen, nämlich der Sozialphänomenologie, der Systemtheorie, des Symbolischen Interaktionismus und der poststrukturalistischen Gouvernementalitätsperspektive. Auf Grundlage dieser Theorieprogramme, die entweder konstruktivistische Zeitbegriffe vorhalten oder mit denen sich solche Begriffe ausarbeiten lassen, werden in der vorliegenden Studie unterschiedliche Konzeptualisierungen und Perspektivierungen politischer Wirklichkeit entwickelt, die die Temporalität der Politik auf jeweils spezifische Art und Weise sicht- und analysierbar machen. Mit der anvisierten Politischen Theorie der Temporalität soll somit nicht eine spezifische Perspektive identifiziert, sondern ein intern in unterschiedliche Varianten ausdifferenziertes Forschungsfeld konturiert werden, dessen Fundament ein theoretisch enttrivialisierter Zeitbegriff ist. Die Studie stellt sich somit der für die Politische Theorie konstitutiven »Aufgabe, grundbegriffliche Klärungen für die Politikanalyse zu leisten« (Martinsen 2014: 33). Dabei soll der Nachweis erbracht werden, dass Zeit ein politikwissenschaftlicher Grundbegriff par excellence ist, da sich politische Praxis, ungeachtet ihrer konkreten theoretischen Ausbuchstabierung, immer und notwendigerweise in einem Zusammenspiel aus Zeitstrukturen und Zeitsemantiken organisiert.

    Die Aufgabe einer »grundbegrifflichen Klärung für die Politikanalyse« wird hier auf zweierlei Weise verstanden. Erstens soll mit der Konzeptualisierung der Zeitlichkeit von Politik ein Beitrag zur Politischen Theorie geleistet und die Kategorie der Zeit innerhalb des politiktheoretischen Begriffsrepertoires etabliert werden. Dies ist bisher noch nicht geschehen (vgl. Göhler u.a. 2011; Gaus/D’Agostino 2017; Schwarz u.a. 2017), auch wenn es einige wertvolle Beiträge gibt, die politiktheoretische Reflexionen mit (mehr oder weniger detailliert ausgearbeiteten) Zeitbegriffen verbinden (Taylor 2002; Palonen 2004; Connolly 2011; Cohen 2018; Lazar 2019; Lorey 2020; Little 2022). Oftmals erhält der Zeitbegriff in der Politischen Theorie jedoch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit und werden die vielfältigen sozialtheoretischen Perspektiven auf Zeit, die jenseits der Politikwissenschaft zur Verfügung stehen, nur am Rande registriert. Die konzeptionellen und analytischen Potenziale zeittheoretischer Zugangsweisen sind bei weitem noch nicht voll ausgeschöpft. Hier möchte die vorliegende Studie einen systematischen Beitrag leisten, indem von unterschiedlichen kulturtheoretischen Zugängen und den dort angelegten Zeitverständnissen ausgegangen wird, um den Phänomenbereich der Politik auf je spezifische Weise hervortreten zu lassen. Dabei wird sich herausstellen, dass eine zeittheoretische Herangehensweise nicht darin aufgeht, einen weiteren Begriff an die Seite bereits etablierter Begriffe zu stellen; vielmehr ist sie mit grundständigen Beobachtungs- und Analyseformen verbunden, die andere politiktheoretische Grundbegriffe spezifisch konturieren. Überdies soll gezeigt werden, dass die behandelten Zugänge Familienähnlichkeiten aufweisen, die die Identifikation übergreifender Facetten der Zeitlichkeit von Politik ermöglichen. Sie rechtfertigen es, von einer Politischen Theorie der Temporalität zu sprechen, die sich als ein Forschungsfeld in unterschiedliche (und nicht aufeinander reduzierbare) Richtungen verzweigt.

    Zweitens soll der Zeitbegriff für die interpretative Politikforschung fruchtbar gemacht werden. Im Einklang mit kulturtheoretischen Prämissen fragt die Familie der interpretativen Politikforschung nach der Entstehung von Bedeutung in politischer Praxis (vgl. Schwartz-Shea/Yanow 2012; Bevir/Rhodes 2016; Barbehön u.a. 2019). Sie geht nicht von der Existenz bedeutungsvoller Phänomene aus, auf die nur politisch zugegriffen werden muss, sondern sie versteht politische Praxis als eine sinnhafte Tätigkeit, die soziopolitische Phänomene mit einer spezifischen Bedeutung erst hervorbringt. Methodologisch impliziert dies eine rekonstruktive Grundhaltung, die sich in eine Position des Sinnverstehens und ggf. des sinnverstehenden Erklärens begibt (vgl. Glynos/Howarth 2008; Barbehön 2018a). Dieser spezifischen Form der empirischen (nicht aber empirisch-analytischen) Forschung möchte ich mit der vorliegenden Studie den Zeitbegriff bzw. unterschiedliche kulturtheoretische Zeitbegriffe anbieten. Grundlegend und hinreichend tief theoretisiert, bietet er bzw. bieten sie originäre analytische Möglichkeiten, politische Wirklichkeit in ihrer sinnhaften Strukturierung und ihrer Performativität zu erfassen. Mehr noch: Da Zeit, wie zu zeigen sein wird, konstitutionslogisch mit Politik verknüpft ist, stellt eine temporale Perspektive nicht bloß eine unter vielen Betrachtungsweisen dar, die zudem nur bei spezifischen politischen Gegenstandsbereichen relevant wäre; vielmehr lässt sich immer nach der temporalen Ordnung politischer Wirklichkeit fragen – was freilich nicht bedeutet, dass es nicht auch andere Begriffe dieser Art und damit andere universale Beobachtungs- und Interpretationsmöglichkeiten gibt (man denke zum Beispiel an die Kategorie des Raums; siehe hierzu Kapitel 8).

    Damit sind wir bei der Architektur, Logik und Dramaturgie der Untersuchung angelangt. Die vorliegende Studie ist in drei Abschnitte gegliedert. In Abschnitt I werden die Vorbereitungen getroffen, die für die Ausarbeitung einer Politischen Theorie der Temporalität nötig sind. In Kapitel 2, dem ersten vorbereitenden Kapitel, geht es um gesellschaftliche Zeitvorstellungen, und zwar im Hinblick auf deren historische Variabilität und deren Implikationen für das Verständnis und die Möglichkeit von (moderner) Politik. Es soll plausibilisiert werden, dass Zeit eine soziale Größe ist, d.h. in spezifischen soziohistorischen Konstellationen entsteht und auf spezifische Art und Weise zu einer sozialen Tatsache und also wirklich wird. Dazu greift das Kapitel auf kulturhistorische und gesellschaftstheoretische Untersuchungen zurück, anhand derer sich die Gestalt und der historische Wandel von sozialen Zeitregimen rekonstruieren lassen. Die übergreifende Pointe des Kapitels liegt darin, für die Notwendigkeit einer kulturtheoretischen Annäherung an den Zeitbegriff zu argumentieren; für eine Herangehensweise also, die Zeit nicht als natürlich gegebene und vermeintlich stabile Größe aus der politikwissenschaftlichen Analyse heraushält, sondern die die wechselseitige Konstitution von Zeit, Gesellschaft und Politik denkbar macht. Hierauf aufbauend wird sich Kapitel 3 dem Zeitbegriff zuwenden und das Fundament für sozial- bzw. kulturtheoretische Konzeptualisierungen des »Zeit und Politik«-Verhältnisses legen. Hier werde ich in aller Kürze auf die Zeitphilosophie zugreifen, da deren Frage nach dem Wesen der Zeit zunächst naheliegt, die Entwicklung eines Verständnisses der sozialen Performativität von Zeit jedoch eher versperrt als befördert. Anschließend wird der Stand der politikwissenschaftlichen Zeitforschung vorgestellt, wobei zum einen die dominante objektivistische Engführung des Zeitbegriffs problematisiert und zum anderen die Einsichten konstruktivistischer Zugänge gewürdigt werden. Das Kapitel, und mit ihm Abschnitt I, endet mit der Vorstellung der Familie der Kulturtheorien und den zeittheoretischen Hoffnungen, die an diese Theorien gerichtet werden.

    Abschnitt II ist das erste von zwei Herzstücken der vorliegenden Studie. Hier wird in vier Kapiteln jeweils eine kulturtheoretische Konzeptualisierung der Zeitlichkeit von Politik ausgearbeitet und im Rahmen jeweils einer interpretativen Fallstudie exemplarisch zur Anwendung gebracht. Abschnitt II ist in separate Schritte unterteilt, da die verwendeten sozialtheoretischen Zugänge – die Sozialphänomenologie, die autopoietische Systemtheorie, der Symbolische Interaktionismus und die poststrukturalistische Gouvernementalitätsperspektive – zwar alle der Familie der Kulturtheorien zugehören, sich aber nicht aufeinander reduzieren bzw. unbesehen miteinander verschmelzen lassen. Obgleich sie die Prämisse teilen, dass sich die sinnhafte Ordnung der Welt als eine kulturelle Wissensordnung darstellt, lokalisieren sie »die ›kleinste Einheit‹ des Sozialen« (Reckwitz 2003: 288), d.h. den »Ort«, an dem Wissensordnungen konstruiert, reproduziert und wirksam werden, an unterschiedlichen Stellen, was wiederum je spezifische grundbegriffliche Zugriffe auf soziale (und politische) Wirklichkeit impliziert. Diese Pluralität des kulturtheoretischen Programms macht sich die vorliegende Studie dezidiert zunutze. Die genannten Theorietraditionen sollen nicht – wie dies etwa in Nassehis (2008) wegweisender Studie Die Zeit der Gesellschaft geschieht – direkt miteinander kontrastiert werden, um sodann die vermeintlich geeignetste Zugangsweise zu identifizieren (Nassehi landet hier bei der Luhmann’schen Systemtheorie); stattdessen sollen die Zugänge in den jeweiligen Kapiteln so stark wie möglich gemacht werden (ohne freilich über Grenzen hinwegzugehen), um deren jeweilige Beiträge für die Formulierung einer Politischen Theorie der Temporalität herauszustreichen. Mit dieser pluralen Aufstellung ist das Potenzial verbunden, für unterschiedliche Strömungen der Politischen Theorie und der interpretativen Politikwissenschaft anschlussfähig zu sein.

    Mit dieser Vorgehensweise geht einher, dass die vier Kapitel in Abschnitt II zunächst distinkte begriffliche Verständnisse politischer Wirklichkeit entwickeln. Analog zu den Kulturtheorien, die die kleinste Einheit des Sozialen unterschiedlich bestimmen, lokalisieren die vier entwickelnden Verständnisse die kleinste Einheit der Politik auf je spezifische Art und Weise, was sodann je spezifische Möglichkeiten der Beobachtung und Interpretation politischer Zeitlichkeit eröffnet. In Kapitel 4, dem ersten Anlauf, wird Politik als ein Wirklichkeitsbereich betrachtet, in dem soziale Probleme (zum Zwecke der politischen Bearbeitung) konstruiert werden. Einer geläufigen Position zufolge richtet sich Politik auf problematische Konstellationen, die ohne allgemeinverbindliche Regelungen nicht bewältigt werden können. Konstruktivistische Zugänge konzipieren dieses Erkennen als einen Akt der Problematisierung, d.h. als eine sinnkonstituierende Aktivität, die »das Problem« als ein bedeutungsvolles Phänomen erst hervorbringt. So besehen erscheint politische Praxis als eine andauernde Problematisierungsleistung: Probleme, die noch immer existieren oder abermals auf der Bildfläche erschienen sind, die neu entstanden sind oder in Kürze akut zu werden drohen, die besonders dringlich sind oder zeitweise beiseitegeschoben werden können, die es auf diese oder jene Art und Weise zu bearbeiten gilt, damit sie in Zukunft aus der Welt sind oder sich zumindest nicht verschärfen. Dabei deutet diese Liste typischer Problematisierungen bereits an, dass sich die Praxis der Problemkonstruktion als ein temporales und temporalisierendes Geschehen begreifen lässt, das einen gegenwärtigen bzw. künftig erwarteten Zustand auf Grundlage eines historisch aufgeschichteten Wissens als verbesserungswürdig und -fähig, d.h. als künftig potenziell andersartig thematisiert. Um dieser (und anderen Dimensionen von) Zeitlichkeit sozialer Probleme theoriegeleitet nachgehen zu können, greift Kapitel 4 auf die Sozialphänomenologie (Schütz 1932; 1971a; Schütz/Luckmann 2017) und die daran anschließende neuere Wissenssoziologie (Berger/Luckmann 1980; Luckmann 1992; 2007b) zurück. Mit diesem kulturtheoretischen Strang lässt sich ausarbeiten, wie ein soziales Problem in sinnstiftenden Praktiken der zeitlichen Relationierung entsteht, in welchen Formen »Vergangenheit« und »Zukunft« in der politischen Welt eingelagert sind und wie mittels temporaler Problematisierungen eine Eigenzeit des sozialen Problems entsteht, die im gesellschaftlichen Wissensvorrat als Problemgeschichte kultiviert wird (vgl. Barbehön 2018b). Illustriert wird diese zeittheoretische Konzeptualisierung am Beispiel des demografischen Wandels, wie er in der gegenwärtigen politischen (und vor allem auch administrativen) Praxis als soziales Problem konstruiert wird.

    In Kapitel 5 wird ein zweiter zeittheoretischer Anlauf unternommen, indem Politik mit der Herstellung und Bereithaltung der Kapazität für kollektiv verbindliches Entscheiden identifiziert wird. Politische Wirklichkeit ist so besehen ein fortdauerndes Entscheidungsgeschehen, in dem Entscheidungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten artikuliert, Handlungsalternativen entworfen und Verantwortlichkeiten für getroffene bzw. ausgebliebene Entscheidungen (was auch eine Entscheidung gewesen ist) zugeordnet werden. Während konventionelle politikwissenschaftliche Perspektiven typischerweise an den Entstehungsbedingungen, der materiellen Gestalt oder den Effekten von Entscheidungen interessiert sind, werde ich in Kapitel 5 die grundlegende theoretische Frage ins Zentrum rücken, was eine politische Entscheidung ist bzw. was sie (in temporaler Hinsicht) tut. Aus dieser Blickrichtung betrachtet braucht und etabliert eine politische Entscheidung eine Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft: Entscheidungen sind nur dann möglich, wenn das Kommende nicht zwangsläufig deckungsgleich mit dem Gewesenen ist, denn in diesem Fall gäbe es keine Alternativen, zwischen denen gewählt werden könnte, und zugleich werden im Angesicht dieser zeitlichen Differenz Entscheidungen notwendig, da die offene Zukunft dazu aufruft, über die Festlegung auf dieses und die Absage an jenes zielgerichtet auf das Kommende einzuwirken. Politisches Entscheiden ist somit konstitutiv mit Zeit verbunden. Dieses Verhältnis wird in Kapitel 5 auf Grundlage der autopoietischen Systemtheorie (Luhmann 1984a; 1993a; 1998; 2002) ausgearbeitet. Eine politische Entscheidung stellt hiernach ein als Handlung klassifiziertes, sinnkonstituierendes Kommunikationsereignis dar, das eine Entscheidungsvergangenheit aktualisiert, das Feld künftiger Entscheidungsoptionen strukturiert und unter Verwendung temporaler Semantiken reklamiert, auf den »Lauf der Zeit« einzuwirken (vgl. Barbehön 2022a; 2022c; 2023b). Auf Grundlage dieser zeittheoretischen Konzeptualisierung werde ich anhand des Beispiels der bundesdeutschen Suche nach einem Endlager für radioaktive Abfälle zeigen, wie sich politische Entscheidungen im Lichte einer (konfliktreichen) Vergangenheit und einer (unvorstellbar fernen) Zukunft temporal organisieren und damit Rationalität und Legitimität zu generieren versuchen.

    Im darauffolgenden Kapitel 6 wird Politik als eine Handlungssphäre konzeptualisiert, d.h. als ein gesellschaftlicher Wirklichkeitsbereich, in dem Dinge getan werden. Ein solcher Zugriff lässt Politik als einen Komplex aus sozialen Aktivitäten erscheinen; sie wird nicht anhand von Interessen, Werten, Wissensbeständen, Semantiken oder Diskursen erfasst, sondern anhand der praktischen Verwirklichung von zumeist interaktiven Handlungen in spezifischen raumzeitlichen Konstellationen und unter sinnhafter Bezugnahme auf andere Handelnde, symbolische Formen und physische Artefakte. Damit wird der Blick auf konkrete Interaktionsgeschehnisse gelenkt, in denen für die politische Welt typische Handlungsweisen, Rollen, Orte und Organisationen aufeinandertreffen. Mittels des Symbolischen Interaktionismus (Mead 1969a; 1969b; 1973; Strauss 1993; Blumer 2013), der die Entstehung von Bedeutung in Handlungen lokalisiert und sie nicht als der Handlung vorgängige Essenz versteht, werde ich dieses Verständnis politischer Wirklichkeit kulturtheoretisch herleiten und ausarbeiten. Dabei wird sich zeigen, dass in politischen Handlungsereignissen je spezifische Gegenwarten, die ihre je eigenen Vergangenheiten und Zukünfte mitbringen, zur Wirklichkeit gebracht werden. Ordnung, im Sinne temporär stabiler Sinngehalte und intersubjektiver Erwartungssicherheiten, entsteht hiernach durch die routinemäßige und/oder institutionell kodifizierte Verknüpfung von emergenten Handlungsgegenwarten zu komplexen Handlungsabfolgen, die in temporaler Hinsicht eine soziale Zeit der politischen Welt entstehen lassen. Exemplarisch zur Anwendung gebracht wird diese pragmatistische Perspektive auf die Zeitlichkeit von Politik am Beispiel der Praxis des Demonstrierens. Anhand einer ethnografischen Analyse unterschiedlicher Protestereignisse wird gezeigt, wie sich eine Demonstration im momenthaften Zusammentreffen von Körpern, Orten und symbolischen Artefakten als gemeinsame Handlung konstituiert, sich in die (als solche konstruierte) Dauer der politischen Welt einschreibt und eine interaktive Gegenwart erzeugt, die sich durch spezifische zeitliche Erfahrungsweisen auszeichnet (vgl. Barbehön 2023a).

    In Kapitel 7, dem vierten und letzten grundständigen Konzeptualisierungsversuch, werde ich Politik unter dem Gesichtspunkt des Regierens und dessen Rationalität betrachten. Politische Wirklichkeit stellt sich hiernach als eine Konfiguration aus Zielgrößen, Machttechniken und Wissensformen dar, die in ihrer Gesamtheit und jenseits spezifischer Handlungsweisen, institutioneller Einrichtungen und politischer Orientierungen das Spielfeld für »rationales Regieren« abstecken; nicht im Sinne einer überzeitlichen Vernunft, sondern eines historischen Apriori. Diese Begrifflichkeiten dürften bereits deutlich machen, aus welcher Perspektive Kapitel 7 argumentieren wird: Es ist dies die Gouvernementalitätsperspektive, wie sie in Foucaults (2006a; 2006b) Studien zur Genealogie des modernen abendländischen Staates dargelegt wird, bzw. genauer: wie sie sich aus diesen Studien destillieren lässt. Im Unterschied zur Sozialphänomenologie, zur Systemtheorie und zum Symbolischen Interaktionismus findet sich nämlich bei Foucault keine ausgearbeitete Sozialtheorie, sondern eine kritische Rekonstruktion der Gewordenheit moderner Verständnisse des Regierens, die sich jedoch zu einem kulturtheoretisch-poststrukturalistischen Zugang zur Zeitlichkeit von Politik zuspitzen lässt. Derart ausgerichtet und systematisiert kann sichtbar gemacht werden, dass die Entstehung der modernen abendländischen Rationalität staatlichen Regierens – jenseits der ihr inhärenten Ambivalenzen und Widersprüche – als Konstruktion und Kultivierung eines übergreifenden Zeit- und Geschichtsverständnisses interpretiert werden kann. Dieses Verständnis ist charakterisiert durch eine unendliche Zeit und eine offene Zukunft, die bestimmte Regierungsziele, Machttechniken und Wissensformen, denen selbst wiederum zeitliche Merkmale eingeschrieben sind, möglich und nötig machen. Die moderne gouvernementale Vernunft ist so besehen eine temporalisierte und temporalisierende Vernunft, insofern modernes Regieren eine Zeit einrichtet, die danach verlangt, regiert zu werden. Die sich an diese Konzeptualisierung anschließende exemplarische Analyse wird sich befassen mit der Formel des nachhaltigen Regierens im Anthropozän als einem gegenwärtig besonders wirkmächtigen Dispositiv, das die Zeit- und Geschichtsvorstellung der modernen Regierungsrationalität sowohl zum Vorschein bringt als auch erneuert. Dabei wird herausgearbeitet, wie das Nachhaltigkeitsdispositiv die Zeitlichkeiten der Ziele, Machttechniken und Wissensformen rationalen Regierens auf spezifische Weise wirklich werden lässt und dabei zugleich vormoderne Zeitfiguren aktualisiert.

    In Abschnitt III, dem zweiten Herzstück der Studie, werde ich auf eine höhere Abstraktionsebene wechseln und synthetisierende Reflexionen anstellen. Gegenstand der beiden Kapitel dieses Abschnitts werden Grundbegriffe der Politischen Theorie sein, die aus einer integrierten Perspektive, die sich theorieübergreifende Annahmen, Argumentationslinien und Einsichten zunutze macht, in den Blick genommen werden. Dabei werde ich mich von den einzelnen kulturtheoretischen Zugängen, wie sie in den vier Kapiteln zuvor genutzt und auf die Temporalität von Politik zugespitzt wurden, lösen (ohne dabei die Unterschiede der Theorieprogramme einzuebnen), um dem Anspruch der Konturierung einer Politischen Theorie der Temporalität näherzukommen. In einem ersten Schritt, in Kapitel 8, steht der Begriff des Politischen im Zentrum. Dieser Begriff steht für die Suche nach einem basalen Prinzip, das gleichsam hinter dem Alltagsgeschäft der Politik und jenseits der (in-)formell geregelten Prozesse des Politikmachens liegt. Für diese Suche werde ich auf das Denken von Arendt (1993; 2002; 2012) und Rancière (2002; 2003; 2008) zurückgreifen und diese beiden Stränge der Reflexion auf das Politische unter Rekurs auf die zuvor behandelten kulturtheoretischen Zeitbegriffe lesen. Dabei wird sich zeigen, dass sowohl dem Arendt’schen als auch dem Rancière’schen Denken ein emphatisch-normativistisches Zeitverständnis eingeschrieben ist, das politische Ereignisse auf das eruptive Erscheinen von Neuem engführt und damit die temporale Dialektik aus Beständigkeit und Wandel aus dem Blick zu verlieren droht. Ausgestattet mit den kulturtheoretischen Erkenntnissen aus Abschnitt II lässt sich hier eine zeittheoretische Präzisierung vornehmen, mit der sich das Politische als konstitutives Wechselspiel aus ereignishafter Emergenz und ereignishafter Ordnung bestimmen lässt (vgl. Barbehön 2022b). Abschließend wird diese temporalisierte Perspektive genutzt, um auf die Dimension des Raums zu reflektieren; und zwar konkret auf die räumliche Struktur der Stadt, die sich als spezifischer Zeit-Raum des Politischen interpretieren lässt (vgl. Barbehön/Haus 2021).

    In einem zweiten Schritt, in Kapitel 9, wird der Demokratiebegriff ins Zentrum gerückt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Demokratie als Herrschaftsform einer spezifischen temporalen Logik unterliegt bzw. sich dieser Logik unterwirft – Herrschaft auf Zeit und Herrschaft über Zeit –, werde ich den unterschiedlichen Facetten demokratischer Zeitlichkeit auf Grundlage der in Abschnitt II erarbeiteten Zeitbegriffe nachgehen. Dabei werde ich die kulturtheoretische Zugangsweise gegenüber einer weitverbreiteten Perspektive in Stellung bringen, die die Zeit der Demokratie auf Grundlage eines uhrenzeitlichen Begriffs und damit unter dem Gesichtspunkt von Zeitbudgets behandelt, wobei deren krisendiagnostische Variante darauf hinausläuft, vor dem Hintergrund spätmoderner Geschwindigkeits- und Beschleunigungsraten eine (unüberbrückbare) Kluft zwischen demokratisch benötigten und gesellschaftlich zur Verfügung gestellten Zeitressourcen festzustellen (vgl. Rosa 2005). Dieser in zeittheoretischer Hinsicht naturalisierenden Diagnose wird das Kapitel kulturtheoretische Perspektiven entgegenstellen, mit denen sich Geschwindigkeit und Beschleunigung als sinnhafte Wahrnehmungsformen konzeptualisieren lassen, die inhärent mit der Entstehung von Neuem (als Bedingung und Produkt der modernen Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft) verbunden sind. Hiervon ausgehend lässt sich Demokratie als ein temporales Weltverhältnis beschreiben (vgl. Barbehön 2022b), als eine Dialektik aus der Ermöglichung und der Bewältigung von ungewissem Neuen, die sich immer wieder aufs Neue zu erkennen gibt und nie endgültig überwunden werden kann (und auch nicht überwunden werden sollte). Abschließend reflektiert das Kapitel auf unterschiedliche Semantiken, mit denen sich diese für die Demokratie konstitutive zeitliche Erfahrung mehr oder weniger produktiv verarbeiten lässt (vgl. Barbehön 2020; 2022c).

    Die Studie schließt mit Kapitel 10, in dem die zentralen Einsichten der vorherigen Analysen und Reflexionen zusammengetragen und aufeinander bezogen werden. Ziel dieser rekapitulierenden Ausführungen ist die Identifikation von begrifflichen und argumentativen Parallelen und Analogien, anhand derer sich die behandelten Zeittheorien, ungeachtet ihrer Differenzen, integrieren lassen. Aus dieser Integrationsleistung ergeben sich die Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität, die mit dem Versprechen verbunden ist, die Verquickungen zwischen Politik und den Zeichen der Zeit theoretisch gehaltvoll analysierbar zu machen.

    I. Vorbereitunge n

    2 Die (politische) Gesellschaft und ihre Zeit

    »Gesellschaft geschieht« – so lautet die prägnante Formel von Schwietring (2015), mit der er die Annahme, Zeit und Geschichtlichkeit seien »begründende Kategorien des Sozialen«, auf den Punkt bringt. In dieser Formel stecken zwei zentrale Implikationen. Zum einen ist damit gesagt, dass Gesellschaft, und mit ihr Politik als einem gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereich,¹ in der Zeit existieren. Gesellschaft, was immer damit bezeichnet werden mag, ist keine Gegebenheit und kein ahistorischer Zustand, sondern ein (sich wandelndes) Geschehen, und Geschehnisse erstrecken sich über Zeit und können nur als zeitlich extensive Phänomene erfasst werden. Freilich ist es möglich, eine Momentaufnahme gesellschaftlicher Verhältnisse zu produzieren, doch stellt dies eben die Aufnahme eines Moments von Gesellschaft dar, und nicht gesellschaftliches Geschehen. Zum anderen, und dies ist die sowohl weitreichendere als auch weniger intuitive Implikation, ist Gesellschaft ein Geschehen, das Zeit produziert. Gesellschaftliches Geschehen erhält seine zeitliche Extension (ohne die es kein Geschehen wäre) nicht gleichsam automatisch, sondern erst dadurch, dass Zusammenhänge mit Vergangenem und (möglicherweise) Kommendem hergestellt werden (Schwietring 2015: 152). Soziale Ereignisse sind notwendigerweise gegenwärtig; das, was sie an Abwesendem, also vom »nicht mehr« und vom »noch nicht«, benötigen, müssen sie sich selbst vergegenwärtigen, und als Vergegenwärtigtes ist es nie das Abwesende an sich, sondern stets konstruiert. Gesellschaftliches Geschehen in der Zeit stellt somit zugleich Zeit her, und zwar auf kontingente Art und Weise: Beispielsweise kann das Vergangene als etwas ausgewiesen werden, das regelmäßig wiederkehrt (womit es nie wirklich vergangen sein wird), oder als etwas, das unwiederbringlich vorüber ist, und das Kommende kann als etwas angesehen werden, das bereits in der Ewigkeit angelegt war, oder als etwas, dessen (Nicht-)Erscheinen von gegenwärtigen Handlungen abhängt.

    Die Bedeutung von Zeit in einer und für eine Gesellschaft kann somit nicht abstrakt und anhand einer ahistorischen Definition bestimmt werden, sondern nur mit Perspektiven, die für die Beweglichkeit gesellschaftlicher Zeitverständnisse sensibilisiert sind (klassisch² hierzu Sorokin/Merton 1937; Rammstedt 1975; Elias 1988; Dux 1989; Koselleck 1989). Es ist dies der Grund, weshalb dieses Kapitel mit »Die (politische) Gesellschaft und ihre Zeit« überschrieben ist, und nicht mit »Die (politische) Gesellschaft und die Zeit«, würde Zweitgenanntes doch einen autonomen Status von Zeit implizieren (vgl. Nassehi 2008: 35 f.).³ Zeit jedoch ist, in den Worten von Koselleck (1989: 10), »an soziale und politische Handlungseinheiten gebunden, an konkrete handelnde und leidende Menschen, an ihre Institutionen und Organisationen«. In der sozialen Welt tritt Zeit als kulturelles Zeitregime auf.⁴

    Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Prämissen wird verständlich, weshalb Studien, die sich mit der Zeit der Gesellschaft (und nicht mit Zeit und Gesellschaft) befassen, typischerweise mittels einer Unterscheidung und Gegenüberstellung von Epochen arbeiten, um an deren Differenz die Kontingenz von Zeit herauszuarbeiten. Ausgangspunkt ist dabei zumeist der Begriff der Moderne, an den zeitliche Unterscheidungen in zwei Richtungen angeschlossen werden (bspw. Vormoderne, archaische oder traditionale Gesellschaften auf der einen, Spätmoderne, zweite Moderne, reflexive Moderne oder Postmoderne auf der anderen Seite). Der darin zum Ausdruck kommenden Dreiteilung – Moderne sowie eine Phase davor und eine Phase danach – wird auch mit den folgenden drei Unterkapiteln gefolgt, und zwar mit dem Ziel, anhand der einschlägigen Forschungsliteratur einen Einblick in die Variabilität gesellschaftlicher Zeitvorstellungen zu geben. Diese Dreiteilung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Epochen keine objektiv gegebene Realität abbilden, sondern Ergebnis von zeitlichen Kategorisierungen sind, die eine Vielzahl komplexer und widersprüchlicher Phänomene in einer begrifflichen Entität »totalisieren« (vgl. Osborne 1995: IX; Knöbl 2022: 257–259) und dabei das nicht unproblematische Bild einer (westlichen) Moderne zeichnen (vgl. Schwinn 2013; Haus/De La Rosa 2016a: 24–26).⁵ Wenn also im Folgenden von Vor-, klassischer und Spätmoderne die Rede ist, dann stets unter dem Vorzeichen, dass solche Unterscheidungen an eine spezifische gesellschaftliche Gegenwart gebunden und deren Epochen sind. Dies gilt insbesondere für die gegenwärtige Spätmoderne, die künftig womöglich in die klassische Moderne eingefügt wird, falls sich in einer künftigen Gegenwart im Lichte dann noch fundamentalerer Umbrüche zeigen sollte, dass klassische Moderne und heutige (in der künftigen Gegenwart: erinnerte) Spätmoderne gar nicht so verschieden sind, wie es gegenwärtig erscheint (in der künftigen Gegenwart: damals erschien).

    Die Studien zu gesellschaftlichen Zeitverständnissen bzw. kulturellen Zeitregimen, die im Folgenden überblicksartig dargestellt werden sollen, bedienen sich unterschiedlicher Zeitbegriffe und -theorien⁶ (bisweilen verzichten sie auch ganz auf eine dezidierte Theoretisierung und führen Zeit als einen vermeintlich selbstevidenten Begriff), weshalb die folgende Darstellung nicht als zeittheoretischer Systematisierungsversuch zu lesen ist. Die Rekonstruktion ist vielmehr chronologisch und nach diagnostischen Aussagen gruppiert, um hierüber die Bandbreite gesellschaftlicher Zeit- und Geschichtsvorstellungen und deren Bedeutung für die (Un-)Möglichkeit von Politik aufzuweisen. Da sie chronologisch angelegt ist, mündet die Darstellung in unsere Gegenwart, deren Temporalstrukturen hier jedoch nicht diskutiert werden, um eine zeitdiagnostische Aussage zum gegenwärtigen Zustand spätmoderner Politik zu formulieren. Das vorliegende Kapitel hat nicht zum Ziel, die temporale Verfasstheit der Gegenwartsgesellschaft im Sinne eines analytischen Ausgangspunkts auszubreiten, um sodann nach den Implikationen für zeitgenössische Politik zu fragen – so wie es etwa im Anschluss an die gesellschaftsdiagnostische Beschleunigungstheorie (Rosa 2005) geschieht, was politikwissenschaftliche Forschung zu der nachgeordneten Frage verleitet, wie demokratische Politik dem (vermeintlichen) Faktum eines steigenden Tempos der Welt hinterherkommen bzw. welche Bedeutung sie unter diesen Bedingungen überhaupt noch plausibel reklamieren kann (Scheuerman 2004; Laux 2011; Saward 2017; Müller-Salo/Westphal 2018; kritisch hierzu Barbehön 2020; 2022c). Im Unterschied zu solchen Perspektiven sollen die folgenden Ausführungen zunächst »nur« verdeutlichen, dass Zeit in ihrer Bedeutung für Politik und Gesellschaft nicht als stabiler Parameter vor die Klammer gesetzt, sondern nur im Wechselverhältnis mit den sozialen Geschehnissen, in und mit denen sie erscheint, in hinreichender Tiefe verstanden werden kann.

    Im Folgenden werde ich mich von der Vormoderne (Kapitel 2.1) über die klassische Moderne (Kapitel 2.2) bis zur Spätmoderne (Kapitel 2.3) vorarbeiten. Dabei mögen die Darstellungen der Zeitregime bisweilen etwas überspitzt und ohne Graustufen daherkommen – was jedoch für das Anliegen der vorliegenden Studie, die keine geschichtswissenschaftliche ist, kein grundlegendes Problem darstellt, geht es doch zunächst nur darum, für die Vielfalt der Erscheinungsformen sozialer Zeit zu sensibilisieren.

    2.1 Natürliche Zyklen, Teleologie und Endzeit

    Um die Variabilität von kulturellen Zeitregimen systematisch in den Blick zu bekommen, hilft es, zunächst ein (sicherlich holzschnittartiges) Bild vormoderner Gesellschaften zu zeichnen.⁷ In einschlägigen kulturhistorischen Studien wird das vormoderne Zeitverständnis vielfach als zyklisch charakterisiert (Rammstedt 1975), da es geprägt ist von der Vorstellung einer ewigen

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