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Leerformeln sind hohle Worthülsen, die mit beliebigen Inhalten gefüllt werden können. Der Begriff Leerformel wird synonym mit Adjektiven wie „inhaltsleer“, „nichtssagend“ oder „unbestimmt“ verwendet.[1]

„Leerformel ist ein Begriff oder eine Aussage, wenn er/sie sie bloß dem Anschein nach etwas Wahres oder Richtiges besagt, jedoch viel zu unbestimmt ist, um in der Sache auf eine konkrete Aussage festgelegt werden zu können.“

Wolfgang Koschnick: Mehr Demokratie wagen. Leerformeln als Instrumente demokratischer Herrschaft. In: Telepolis, 13. Juni 2016.[2]

Ebenso wie eine Tautologie oder eine Konventionalistische Wendung kann eine Leerformel immer dann eingesetzt werden, wenn sich der Sprecher auf nichts Genaues festlegen will. Derlei Immunisierungsstrategie wird in Politik oder vergleichbaren Gebieten zu Legitimationszwecken eingesetzt:

„Schließlich liegt das Geheimnis des weltgeschichtlichen Erfolges jener tautologischen Formeln und Zirkelschlüssel gerade in ihrer Leerheit, denn diese erlaubt es, ihnen jeden weltanschaulichen Inhalt mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu unterlegen. […] Dazu kommt, dass sich solche Leerformeln für alle Arten institutioneller Menschenführung besonders eignen. Sie erwecken – zumal bei den Geführten – den Eindruck unerschütterlicher Stetigkeit der obersten Grundsätze, während sie die lenkenden Autoritäten bei ihren konkreten Entscheidungen in keiner Weise behindern.“

Ernst Topitsch: Soziologie des Existentialismus, 1953[3]

Der kritische Rationalist Hans Albert bestreitet hingegen die Brauchbarkeit von Leerformeln im Diskurs:

Die ideologische Brauchbarkeit der Leerformel steht somit in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Informationsgehalt.“

Hans Albert: Ökonomische Ideologie und politische Theorie. Göttingen 1972, S. 19, Anm. 15.

Herkunftskontext

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Der Ausdruck Leerformel ist von Vertretern des Neopositivismus, von Sprachkritikern des Wiener Kreises, in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingebracht worden. Er wurde vor allem durch den Soziologen Ernst Topitsch und den Rechtspositivisten Hans Kelsen (empty fomula) geprägt;

„Die sprachkritische Zielrichtung gilt vor allem zentralen Begriffen und Aussagen der Metaphysik, des Naturrechts und der aus diesen Traditionen gespeisten totalitären Ideologien des 20. Jh.“

Die Verwendung von Leerformeln ist nach Meinung der Neopositivisten eine Immunisierungsstrategie gegen Widerlegbarkeit.

Beispiele

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aus Politik

Wahlkampfparolen wie „Das WIR entscheidet“, „Gemeinsam erfolgreich“, „Damit es weiter aufwärts geht“, „Zukunft wagen“ sind Beispiele für Verwendung inhaltsleerer Worthülsen, die mit beliebigen Inhalten gefüllt werden. Der Publizist und Journalist Wolfgang Koschnick stellt solche Parolen sowie andere politische Slogans wie „Mehr Demokratie wagen“, „Der Islam gehört zu Deutschland“ oder „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“[2] auf die gleich Ebene wie Nonsense-Sprüche: „Die Bratwurst gehört zu Deutschland“ oder „Die Bratwurst gehört zu Österreich“:

„Eine der am meisten strapazierten Leerformeln ist ‘Populismus’. Populist ist jeder, der einem nicht in den Kram passt.“

Wolfgang Koschnick: Mehr Demokratie wagen. Leerformeln als Instrumente demokratischer Herrschaft, 2016[2]
aus Rechtsphilosophie und Theologie

Für den österreichischen Soziologen und Philosophen Ernst Topitsch sind auch „die scheinbar überzeitlich gültigen Naturrechtslehren[5]:

„Gebilde aus Leerformeln, die mit beliebigen moralisch-politischen Inhalten gefüllt werden können.“

Ernst Topitsch: Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts, 1994.[6]

In einer Schrift des deutschen Rechtsphilosophen und Juristen Wilhelm Raimund Beyer heißt es dazu:

„Gerade im außenpolitischen Kampfe kann das Naturrecht ständig einer bewussten Prävarikation überführt werden: es dient jedem und jeder Richtung, es hilft Freund wie Feind.“

Wilhelm Raimund Beyer: Rechtsphilosophische Besinnung. Eine Warnung vor der ewigen Wiederkehr des Naturrechts, 1947.

Selbst das oberste deutsche Verfassungsprinzip, der von Immanuel Kant übernommene Ausdruck der Menschenwürde, festgeschrieben in Artikel 1, Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, ist durch den inflationären Gebrauch und die Allgegenwart dieses Begriffs im öffentlichen Diskurs in den Verdacht geraten, eine bloße Leerformel zu sein.[1]

„Der Menschenwürdegedanke ist – trotz seiner in Deklarationen und Verfassungen quasi offiziell festgestellten Konsensualität und Unverzichtbarkeit – dem Verdacht ausgesetzt, lediglich eine ideologisch beliebig füll- und instrumentalisierbare ‚Leerformel’ zu sein, der sowohl ein rational ausweisbarer Inhalt wie auch die Möglichkeit der argumentativen Operationalisierung im ethischen Diskurs fehlt. […] Denn Begriffe bedürfen, um orientierend und sinnvoll verwendbar zu sein, einer ihren Anwendungs- und Geltungsbereich einschränkenden Grenzziehung (definitio).“

Armin G. Wildfeuer: Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke?, 2002[7]

Zum Begriff „Gott“ heißt es bei dem Philosophen und Religionskritiker Ludwig Feuerbach in dessen Schrift Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers. Ein Beitrag zum Wesen des Christentums:

Gott ist eine leere Tafel, auf der nichts weiter steht, als was Du selbst darauf geschrieben.

Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers, 1844, S. 69.[8]

Der Begriff „Gott“ ist nach Feuerbach „unbestimmt“, eine leere Formel, in welche Menschen ihre Wünsche projizieren.

Leerformelbegründungen in Verwaltung und Justiz

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Besonders problematisch sind Leerformeln, wenn diese in exekutiven und judikativen Entscheidungen mit erhöhten Begründungsanforderungen die erforderlichen fallbezogenen Gründe bzw. Begründungen ersetzen:

„In allen Rechtsgebieten gelten ‚Leerformeln‘ (oder ‚bloß formelhafte Wendungen‘) in exekutiven und judikativen Entscheidungen mit erhöhten Begründungsanforderungen als schwerwiegende Begründungsfehler, die die Richtigkeit der Entscheidung infrage stellen. In Verwaltungsentscheidungen sind Leerformelbegründungen sogar dem gänzlichen Fehlen einer Begründung äquivalent [...] Leerformelbegründungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie so allgemein sind, dass sie immer passen. Sie vereiteln dadurch die Überprüfbarkeit der Entscheidung und verletzen nicht nur den Justizgewährungsanspruch der Entscheidungsadressatinnen und -adressaten, sondern auch das Gewaltenteilungs- und das Rechtsstaatsprinzip.“

Beate Kutschke: Universell einsetzbare Leerformelbegründungen in Entscheidungen mit erhöhten Begründungsanforderungen, 2022[1]

So werden in den Meldeaufforderungen der Einrichtungen der Bundesagentur für Arbeit (Jobcenter und Agenturen für Arbeit) seit drei Jahrzehnten in der weit überwiegenden Mehrheit der erlassenen Meldeaufforderungen formelhafte, bundesweit einheitliche Textbausteine verwendet, die nicht auf den jeweils konkreten Fall eingehen und somit gemäß der einhelligen bundesgerichtlichen Rechtsprechung und Rechtslehre rechtswidrig sind. Allein zwischen 2009 und 2017 wurden rund 38 Millionen (mehrheitlich rechtswidrige) Meldeaufforderungen erlassen und auf dieser Grundlage Arbeitslose im Fall von Meldeversäumnissen sanktioniert.[1] Das Bundessozialgericht hat jedoch in mehreren Entscheidungen festgestellt, dass die (Leerformel-)Begründungen der Meldeaufforderungen, auf deren Grundlage die streitgegenständlichen Sanktionen wegen Meldeversäumnis verhängt wurden, rechtmäßig seien. Das Bundessozialgericht tat dies nicht, indem es „ausdrücklich judiziert[e], dass Leerformelbegründungen in Ermessensverwaltungsakten zulässig seien. Es hat vielmehr die in den streitgegenständlichen Meldeaufforderungen verwendeten Passepartout-Textbausteine, die seit mindestens 1994 in der weit überwiegenden Mehrzahl der Meldeaufforderungen deutschlandweit verwendet werden, als fallbezogene Begründungen und erfolgreiche Dokumentation pflichtgemäß ausgeübten Ermessens ausgelegt – und zwar, indem es beanspruchte, die Prüfkriterien für Ermessensentscheidungen anzuwenden.“[9]

Mit diesen Entscheidungen zu Meldeaufforderungen nach § 309 Abs. 2 SGB III divergiert die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Rechtsprechung anderer Bundesgerichte sowie zu sich selbst (Binnen- und Außendivergenz des Bundessozialgerichts[10]). Zwar wurde das Bundessozialgericht von einem Kläger im Rahmen einer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision auf seine divergierende Rechtsprechung hingewiesen. Das Bundessozialgericht wies die Beschwerde jedoch mit der sinngemäßen Begründung zurück, dass die Rechtsfrage bereits geklärt sei. Es sei „einhellige Auffassung in der Rechtsprechung“ dass „mit der Angabe des Meldezwecks eines Gesprächs über das Bewerberangebot bzw. die berufliche Situation hinreichend bestimmte, auch auf den einzelnen Leistungsberechtigten bezogene Aufforderungen vorliegen, die es ihnen ermöglichen, das ihnen abverlangte Verhalten zu erkennen.“[11]

Literatur

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  • Wilhelm Raimund Beyer: Rechtsphilosophische Besinnung. Eine Warnung vor der ewigen Wiederkehr des Naturrechts. Verlag C. F. Müller, Karlsruhe 1947.
  • Gert Degenkolbe: Über logische Struktur und gesellschaftliche Funktionen von Leerformeln. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 17. Jg., 1965, S. 327 ff.
  • Josef Klein: Leerformel. Artikel in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (HWR Online), herausgegeben von Gert Ueding, Berlin, Boston: De Gruyter, 2013. Zugangsbeschränkt bei De Gruyter: Leerformel . Accessed 2022-12-20.
  • Wolfgang Koschnick: (Abschnitt) Leerformeln als Instrumente demokratischer Herrschaft, In: Mehr Demokratie wagen, 13. Juni 2016.
  • Kurt Salamun: Perspektiven einer Ideologietheorie im Sinne des kritischen Rationalismus. In: Rudolf Haller (Hrsg.): Studien zur österreichischen Philosophie, Band XIV. Rodopi, Amsterdam 1989, ISBN 90-5183-091-2, S. 251–268 – eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  • Ernst Topitsch: Über Leerformeln. Zur Pragmatik des Sprachgebrauches in Philosophie und politischer Theorie. In: Probleme der Wissenschaftstheorie. Festschrift für Victor Kraft, Springer Verlag Wien 1960, Seiten 233–264, eingeschränkte Vorschau – auf der Webseite des Springer-Verlages.
    • Soziologie des Existentialismus. In. Merkur, 7. Jg., Heft 64, 1953, S. 501–518.
    • Die Menschenrechte. Ein Beitrag zur Ideologiekritik. In: Juristenzeitung, 18. Jg., Nr. 1 (4. Januar 1963), Seiten 1–7.
    • Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts. In: Aufklärung und Kritik, 1/1994.
  • Armin G. Wildfeuer: Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke? In: M. Nicht u. A. G. Wildfeuer (Hrsg.): Person – Menschenwürde – Menschenrechte im Disput, Arbeitsbücher für Schule und Bildungsarbeit, Bd. 5, Münster 2002, S. 19–116. PDF
  • Beate Kutschke: Universell einsetzbare Leerformelbegründungen in Entscheidungen mit erhöhten Begründungsanforderungen, in: Rechtswissenschaft – Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung, 13:2 (2022), S. 262–298.
  • Beate Kutschke: Binnen- und Außendivergenz der Sozialgerichtsbarkeit zu Ermessensverwaltungsakten mit universell einsetzbaren Leerformelbegründungen. In: Sozialrecht aktuell, 4 (2023), S. 185–192.
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Einzelnachweise

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  1. a b c d Beate Kutschke: Universell einsetzbare Leerformelbegründungen in Entscheidungen mit erhöhten Begründungsanforderungen, in: RW – Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung, Jg. 13 (2022) Heft 2, S. 206–298. Bei Nomos eLibrary: eingeschränkter Zugriff.
  2. a b c Wolfgang Koschnick: Mehr Demokratie wagen. Leerformeln als Instrumente demokratischer Herrschaft, In: Telepolis, 13. Juni 2016
  3. Ernst Topitsch: Soziologie des Existentialismus. In: Merkur, 7. Jg., Heft 64, 1953, Seiten 504/505, begrenzter Zugriff
  4. Josef Klein: Leerformel. Artikel in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (HWR Online), herausgegeben von Gert Ueding, Berlin, Boston: De Gruyter, 2013. Zugangsbeschränkt bei De Gruyter: Leerformel . Accessed 2022-12-20.
  5. Ernst Topitsch: Die Menschenrechte. Ein Beitrag zur Ideologiekritik. In: Juristenzeitung, 18. Jg., Nr. 1 (4. Januar 1963), Seiten 1–7
  6. Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts. In: Aufklärung und Kritik, 1/1994.
  7. Armin G. Wildfeuer: Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke? In: M. Nicht u. A. G. Wildfeuer (Hrsg.): Person – Menschenwürde – Menschenrechte im Disput, Arbeitsbücher für Schule und Bildungsarbeit, Bd. 5, Münster 2002, 19-116. S. 22/23
  8. Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers. Ein Beitrag zum Wesen des Christentums, 1844, S. 69. eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  9. Beate Kutschke: Universell einsetzbare Leerformelbegründungen in Entscheidungen mit erhöhten Begründungsanforderungen. In: Rechtswissenschaft - Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung (RW). Band 13, Nr. 2. Nomos, 2022, S. 267.
  10. Beate Kutschke: Binnen- und Außendivergenz der Sozialgerichtsbarkeit zu Ermessensverwaltungsakten mit universell einsetzbaren Leerformelbegründungen - Teil I. In: Sozialrecht aktuell. 4 und 5. Nomos, 2023, S. 185–192 und 226–231.
  11. BSG, Beschluss vom 23. Mai 2013, Az. B 4 AS 295/12 B (= BeckRS 2013, 70082), Rn. 8.