Neue Marx-Lektüre
Die Neue Marx-Lektüre im weiteren Sinne ist eine etwa Mitte der 1960er Jahre entstandene Rezeptionsweise der ökonomischen Theorie von Karl Marx, welche hauptsächlich an einer theoretischen Darstellung der Wertform interessiert ist. Die Neue Marx-Lektüre entstand in Abgrenzung sowohl zum Marxismus-Leninismus als auch zur Sozialdemokratie vor allem in West- und vereinzelt auch in Osteuropa.
Grundlagen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im engeren Sinne umfasst der Ausdruck Neue Marx-Lektüre eine lose Gruppe von Autoren hauptsächlich im deutschsprachigen Raum, die u. a. die sich bis auf Friedrich Engels zurückbeziehende, historisierende und empiristische Interpretation der marxschen Analyse ökonomischer Formen revidiert. Die Bezeichnung wird seit ca. 1997 verwendet und geht aus einem Werk von Hans-Georg Backhaus hervor.[1] Als weitere Bezeichnungen für diese innermarxistische Strömung finden sich auch „Neomarxismus“, „kritischer Marxismus“, „Kapitallogik“, „Hegelmarxismus“ oder „Marxismus als Sozialwissenschaft“.[2]
Ausgehend von den frühen Ansätzen von Jewgeni Bronislawowitsch Paschukanis und Isaak Iljitsch Rubin aus den 1920er Jahren, den Arbeiten, die durch Helmut Reichelt und Hans-Georg Backhaus in den siebziger und achtziger Jahren vorgelegt worden sind, sowie den Schriften von Michael Heinrich aus den neunziger Jahren hat sich eine teils akademisch, teils außerakademisch geführte Debatte um die Frage nach dem ökonomischen Wert entwickelt. Diese Autoren, die inzwischen mit dem Sammelbegriff der neuen Marx-Lektüre bezeichnet werden, grenzen sich in mehrfacher Hinsicht gegenüber den traditionellen Marxismen im Umfeld der Arbeiterbewegung und des Staatssozialismus ab. Die neue Marx-Lektüre verwirft
- prämonetare Theorien des Wertes, nach denen bereits die einzelne konkrete Arbeit wertschöpfend sei, und sich die Wertsubstanz direkt aus der verausgabten Arbeitszeit ergebe. Dagegen wird der gesellschaftliche Charakter der wertschöpfenden Arbeit betont.
- Auffassungen des Staates als manipulatives Instrument einer herrschenden Klasse. Dagegen begreift die Staatsableitungsdebatte den Staat als für den Kapitalismus strukturell notwendigen, von den Klassen relativ getrennten Bestandteil des Kapitalismus.
- geschichtstheoretische Erwartungen einer durch das Proletariat zu vollbringenden Revolution. Demgegenüber wird das Kapital als automatisches Subjekt betrachtet, welches sowohl in scheinhafter als auch realer Form existiert.
Des Weiteren bestehen die Autoren der neuen Marx-Lektüre aber gegenüber der akademisch herrschenden neoklassischen Ökonomie auf der Relevanz des Marxschen Ansatzes. Hier wird insbesondere darauf insistiert, dass die mikroökonomischen Ansätze der neoklassischen Wirtschaftstheorie die Konstitution, den Erhalt und die Dynamik des ökonomischen Wertverhältnisses nicht erklären können und für makroökonomische Konstrukte wie das Bruttosozialprodukt nur unzureichende theoretische Mittel vorweisen können. Demgegenüber wird darauf verwiesen, dass sich bei Marx zwar nicht Antworten auf diese Fragen finden, er aber ein höheres Reflexionsniveau und Problembewusstsein aufbringt, das es kritisch für die zeitgenössische Diskussion zu gewinnen gilt.
Die Positionen innerhalb der Vertreter der Neuen Marx-Lektüre sind dabei keineswegs homogen. Vielfach gibt es Dispute und Auseinandersetzungen über einzelne Spezialfragen der Marx-Analyse. Besonders im Fokus stehen hierbei die Interpretation des marxschen Begriffs der abstrakten Arbeit[3] sowie der von Reichelt aufgeworfene Blick auf den Geltungsbegriff.[4]
Hauptwerke
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Helmut Reichelt: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Zugleich: Dissertation vom 10. Juli 1968, Wirtschafts- u. sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Frankfurt am Main. Frankfurt, 1968, 265 S.; 4., durchges. Auflage, mit einem Vorwort von Iring Fetscher, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt, 1973 (Politische Ökonomie); Freiburg im Breisgau: Ça Ira, 2001, ISBN 3-924627-76-2. (Klappentext)
- Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie – Eine Einführung, Schmetterling Verlag, 3. Auflage 2005
- Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (Dissertation) VSA-Verlag, 1991; 7. erweiterte Auflage 2017, ISBN 978-3-89691-454-5.
- Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg i. Br. 1997, ISBN 3-924627-52-5.
- Helmut Reichelt: Neue Marx-Lektüre. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Logik, Hamburg 2008, ISBN 978-3-89965-287-1. (Inhaltsverzeichnis als PDF, Klappentext); 2. Auflage, Freiburg im Breisgau: Ça Ira, 2013, ISBN 978-3-86259-116-9. (Inhaltsverzeichnis)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Ingo Elbe: Neue Marxlektüre, in: Michael Quante, David P. Schweikard (Hrsg.): Marx-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. J.B. Metzler, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-476-02332-2, S. 343–349.
- Frank Engster, Jan Hoff: Die Neue Marx-Lektüre im internationalen Kontext, Berlin 2012 (Philosophische Gespräche 28, Helle Panke e. V.).
- Ingo Elbe: Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008, ISBN 978-3-05-004470-5.Inhaltsverzeichnis und Einleitung (PDF, 33 Seiten)[5].
- Michael Heinrich: Wie das Marxsche Kapital lesen? 1. Auflage. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 3-89657-051-X.
- Michael Heinrich/Werner Bonefeld (Hrsg.): Kapital & Kritik: Nach der „neuen“ Marx-Lektüre, Hamburg 2011, ISBN 978-3-89965-403-5.
- Hanno Pahl: Das Geld in der modernen Wirtschaft. Marx und Luhmann im Vergleich, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-593-38607-2.
- Jan Hoff, Alexis Petrioli, Ingo Stützle, Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Westfälisches Dampfboot, Münster 2006, ISBN 3-89691-605-X, ISBN 978-3-89691-605-1. Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis, Einleitung und Nachwort (34 Seiten pdf; 361 kB)[6]
- Lars Meyer: Absoluter Wert und allgemeiner Wille. Zur Selbstbegründung dialektischer Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, ISBN 978-3-89942-224-5.
- Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie – Eine Einführung, Schmetterling Verlag, 3. Auflage 2005.
- Christine Kirchhoff, Hanno Pahl, Christoph Engemann, Judith Heckel, Lars Meyer (Hrsg.): Gesellschaft als Verkehrung. Perspektiven einer neuen Marx-Lektüre. Festschrift für Helmut Reichelt, Freiburg 2004, ISBN 3-924627-26-6.
- Jan Hoff: Kritik der klassischen politischen Ökonomie. Zur Rezeption der werttheoretischen Ansätze ökonomischer Klassiker durch Karl Marx, Köln 2004, ISBN 3-89438-314-3.
- Dieter Wolf: Zur Methode in Marx’ „Kapital“ unter besonderer Berücksichtigung ihres logisch-systematischen Charakters. Zum Methodenstreit zwischen Wolfgang Fritz Haug und Michael Heinrich. (PDF; 1,1 MB) In: Ingo Elbe, Tobias Reichardt, Dieter Wolf: Gesellschaftliche Praxis und ihre wissenschaftliche Darstellung. Beiträge zur Kapital-Diskussion. Wissenschaftliche Mitteilungen. Heft 6. Argument Verlag, Hamburg, 2008. ISBN 978-3-88619-655-5 Hrsg.: Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl & Rolf Hecker.
- Karl Reitter (Hrsg.): Karl Marx – Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals? Zur Kritik der »neuen Marx-Lektüre«. Wien 2015, Mandelbaum Verlag, ISBN 978-3-85476-639-1 (freier Download des Buches auf mandelbaum.at, abgerufen am 8. April 2020).
- Uwe F. Findeisen: Die Marxsche Kapitalismuskritik – und was die neue Marx-Lektüre (nicht) dazu beiträgt. In: Johannes Schillo (Hrsg.): Zurück zum Original. Zur Aktualität der Marxschen Theorie. Hamburg 2015, ISBN 978-3-89965-675-6.
- Johann-Friedrich Anders: Die Neue Marx-Lektüre – Anspruch und Wirklichkeit. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 111, September 2017, S. 172–180. ISSN 0940-0648
- Jan Hoff: Antagonismen nach Marx – Einblicke in aktuelle Theoriedebatten außerhalb Europas. Philosophische Gespräche Heft 51. Helle Panke, 2018,. 40 S.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Ingo Elbe: Neue Marx-Lektüre (Artikel in „Information Philosophie“)
- Ingo Elbe: Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen – Lesarten der Marxschen Theorie (PDF; 141 kB)
- Ingo Elbe: Wertformanalyse und Geld. Zur Debatte über Popularisierungen, Brüche und Versteckspiele in der Marxschen Darstellung (2008, PDF)
- Wie man „Das Kapital“ nicht schon wieder neu lesen sollte. Zur „Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie“ von Michael Heinrich (PDF), GegenStandpunkt – Politische Vierteljahreszeitschrift Nr. 2/2008.
- Dieter Wolf: Die Wertform und die dialektische Methode. Zur Deutung der Dialektik der Wertform durch Hans-Georg Backhaus (PDF; 68 kB). In: Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie. Hamburg 2002, ISBN 3-87975-889-1, S. 151ff.
Textarchive
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ in H.-G. Backhaus: Dialektik der Wertform, Freiburg 1997, Seite 9
- ↑ I. Elbe: Marx im Westen, Berlin 2008, Seite 13
- ↑ http://www.dieterwolf.net/pdf/Abstrakte_Arbeit_Wert.pdf
- ↑ http://www.rote-ruhr-uni.com/texte/elbe_reichelt.pdf (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Dezember 2022. Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Hendrik Wallat: Theoriegeschichte der neuen Marx-Lektüre, Rezension zu Marx im Westen (PDF, 10 Seiten)
- ↑ Wolfgang Fritz Haug: Die »Neue Kapital-Lektüre« der monetären Werttheorie, Rezension zu Das Kapital neu Lesen (15 Seiten pdf; 259 kB)