MKL1888:Liebig
[773] Liebig, Justus, Freiherr von, Chemiker, geb. 8. Mai 1803 zu Darmstadt, arbeitete 1818 als Lehrling in der Apotheke zu Heppenheim und ging mit Unterstützung des Großherzogs nach Bonn und Erlangen, wo er Naturwissenschaft, besonders Chemie, studierte. 1822 ging er nach Paris und erwarb bei einem Vortrag über seine die Knallsäure betreffenden Untersuchungen vor der Akademie der Wissenschaften die Gunst A. v. Humboldts, der ihm das Privatlaboratorium Gay-Lussacs eröffnete, und auf dessen Empfehlung er 1824 außerordentlicher und 1826 ordentlicher Professor der Chemie in Gießen wurde. Hier errichtete er aus eignen beschränkten Mitteln das erste chemische Laboratorium für experimentellen Unterricht und erhob die Universität zu einem Zentralpunkt des chemischen Studiums. L. bethätigte eine außerordentliche Begabung als Lehrer, keiner hat es wie er verstanden, chemische Schule zu machen; aus allen Ländern strömten ihm Schüler zu, und eine große Zahl der hervorragendsten Chemiker der Gegenwart hat sich in Gießen unter ihm gebildet. Er errang in Deutschland der Chemie die Stellung, welche sie heute einnimmt, und durch sein Wirken hat sich die Überzeugung Bahn gebrochen, daß die Chemie mehr sei als Experimentierkunst, und daß sie als Wissenschaft gelehrt und gelernt werden müsse. Als Forscher ist L. auf dem Gebiet der Chemie, der Physiologie und der Landwirtschaft mehr als produktiv gewesen, er war für jede dieser Disziplinen Reformator. Er wandte sich in Gießen zunächst der organischen Chemie zu und schuf als mächtigstes Hilfsmittel für dies Studium eine verbesserte Elementaranalyse, die in den wesentlichsten Zügen noch heute gebräuchlich ist. Er untersuchte zahlreiche organische Säuren, studierte die [774] Einwirkung des Chlors auf den Alkohol, wobei er das Chloroform und das Chloral entdeckte; die Theorie der Ätherbildung suchte er durch eine neue Versuchsreihe aufzuklären, und bald darauf entdeckte er den Aldehyd. Auch über die Alkaloide, die Zuckerarten, viele Cyanverbindungen und über die Metallverbindungen hat er viele Untersuchungen angestellt, und ohne Zweifel muß er sowohl nach der Zahl seiner Entdeckungen als auch nach deren Bedeutung der fruchtbarste Chemiker seiner Zeit genannt werden. Epochemachend waren seine mit Wöhler angestellten Forschungen über die Benzoylverbindungen, von welchen die eigentlich rationelle Behandlung der organischen Chemie datiert. Seit 1839 wandte er sich hauptsächlich dem Studium der Ernährung des Pflanzen- und Tierkörpers zu. Er wies die Wichtigkeit der Mineralstoffe für die Pflanzen und besonders für den Ackerbau überzeugend nach, stellte die Bedeutung der organischen Substanz im Boden fest und wurde der größte Reformator des Feldbaues in diesem Jahrhundert. Über seine Lehren entspann sich ein langer und heftiger Streit, welcher endlich zu gunsten Liebigs entschieden wurde, nachdem dieser seine Theorien vielfach ausgebaut und modifiziert hatte. Auch für die Lehre von der Ernährung der Tiere schuf er eine neue Basis. Er zeigte, daß das Tier die Hauptbestandteile seines Bluts in der Nahrung fertig gebildet finden müsse; er unterschied zwei Gruppen von Nahrungsstoffen: die hauptsächlich der Blutbildung dienenden Eiweißkörper und die zur Wärmeerzeugung im Körper verwendeten stickstofffreien Substanzen; er lehrte, daß zur Fettbildung und Fettablagerung im Körper andre Stoffe, die nicht Fett sind, mitwirken müssen etc. Seine Untersuchungen über das Fleisch und über die Zusammensetzung der Muskelfaser wurden auch für das praktische Leben wichtig, insofern sich daran die Darstellung des Fleischextrakts knüpfte. Außer letzterm gab L. die Bereitung einer leichtverdaulichen und nahrhaften Fleischbrühe für Kranke, einer Suppe zur Auffütterung der Kinder und eines nahrhaften Brots an. Mit Rücksicht auf diese Arbeiten, die Entdeckung als Arzneimittel sehr wichtig gewordener Körper, die Bereicherung der chemischen Technik mit manchen Methoden und vor allem mit Rücksicht auf seine Entdeckung der Gesetze des Feldbaues kann behauptet werden, daß wohl nie ein Gelehrter sich so eingehend mit der praktischen Verbesserung des materiellen Menschenlebens befaßt hat wie L. 1845 war er in den Freiherrenstand erhoben worden; 1852 folgte er einem Ruf nach München, wo er, von der Leitung eines großen Laboratoriums befreit, fast ausschließlich seinen physiologischen Forschungen lebte. Er war dort lange Jahre Präsident der Akademie der Wissenschaften und starb 18. April 1873. In München wurde ihm 1883 ein Marmordenkmal (von Wagmüller), in Darmstadt 1877 eine Bronzebüste (von Bersch) gesetzt. Von Liebigs Schriften sind besonders hervorzuheben: „Anleitung zur Analyse organischer Körper“ (Braunschw. 1837, 2. Aufl. 1853); „Über das Studium der Naturwissenschaft“ (das. 1840); „Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie“ (das. 1840, 9. Aufl. 1875; Bd. 1: „Der chemische Prozeß der Ernährung der Vegetabilien“; Bd. 2: „Die Naturgesetze des Feldbaues“); „Die Tierchemie, oder die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie“ (das. 1842, 3. Aufl. 1847); „Handbuch der organischen Chemie, mit Rücksicht auf Pharmazie“ (aus der von ihm besorgten letzten Ausgabe von Geigers „Handbuch“, Heidelb. 1843); „Bemerkungen über das Verhältnis der Tierchemie zur Tierphysiologie“ (das. 1844); „Chemische Briefe“ (das. 1844; 6. Aufl., Leipz. 1878); „Chemische Untersuchungen über das Fleisch und seine Zubereitung zum Nahrungsmittel“ (Heidelb. 1847); „Über einige Ursachen der Säftebewegung im tierischen Organismus“ (Braunschw. 1848); „Die Grundsätze der Agrikulturchemie, mit Rücksicht auf die in England angestellten Untersuchungen“ (2. Aufl., das. 1855); „Herr Dr. Wolff und die Agrikulturchemie“ (das. 1855); „Über Theorie und Praxis in der Landwirtschaft“ (das. 1856); „Naturwissenschaftliche Briefe über die moderne Landwirtschaft“ (das. 1859); „Suppe für Säuglinge“ (3. Aufl., das. 1877); „Franz Bacon von Verulam und die Methode der Naturforschung“ (das. 1863); „Induktion und Deduktion“ (Münch. 1865); „Entwickelung der Ideen in der Naturwissenschaft“ (das. 1866); „Reden und Abhandlungen“ (Leipz. 1874). Mit Poggendorff und Wöhler und vielen andern Chemikern schrieb er das „Handwörterbuch der reinen und angewandten Chemie“ (Braunschw. 1837 bis 1864, 9 Bde.; 2. Aufl., Bd. 1 u. 2, 1857–63); mit Kopp begann er 1849 den „Jahresbericht über die Fortschritte der Chemie, Physik, Mineralogie und Geologie“ (Gießen); auch gab er mit Geiger u. a. die „Annalen der Pharmazie“ (Heidelb. 1832–39) heraus und als deren Fortsetzung mit Wöhler, später auch mit Kopp die „Annalen der Chemie und Pharmazie“. Mit seinem Sohn Georg, geb. 17. Febr. 1827, Badearzt in Reichenhall und Dozent in München, gab Liebigs Schwiegersohn M. Carriere „Reden und Abhandlungen von J. L.“ (Leipz. 1874) heraus; auch veröffentlichte G. v. L. mit Echtermayer den Briefwechsel seines Vaters mit Th. Reuning über landwirtschaftliche Fragen (Dresd. 1884). Vgl. Bischoff, Über den Einfluß des Freiherrn v. L. auf die Entwickelung der Physiologie (Münch. 1874); Erlenmeyer, Über den Einfluß des Freiherrn v. L. auf die Entwickelung der reinen Chemie (das. 1874); Vogel, Freiherr v. L. als Begründer der Agrikulturchemie (das. 1874); Kolbe, L. der Lehrer, Gelehrte und Reformator (in „Unsere Zeit“, Leipz. 1874); Hofmann, The life-work of L. in experimental and philosophic chemistry (Lond. 1876); Pohl, Justus v. L. und die landwirtschaftliche Lehre (Berl. 1885).
[529] Liebig, Justus, Freiherr von, Chemiker. Vgl. „Aus Justus Liebigs und Friedr. Wöhlers Briefwechsel“ (hrsg. von A. W. Hofmann, Braunschw. 1888, 2 Bde.).