Winter-Studien
In einer klaren Octobernacht, wenn die Sterne hell herniederfunkeln und wir von einer Kirmeß oder einem Beisammensein mit guten Freunden den Heimweg suchen, bemerken wir gewöhnlich zum ersten Male im Herbste ein eigenthümliches, tausendfältiges Flimmern und Glitzern auch vom Erdboden her, und die hölzerne Bachbrücke, Bohlen wie Geländer, erscheint mit einem leichten weißen Anstriche versehen.
Am Morgen sehen wir dann die ganze Landschaft mit Lappen und Streifen des weißen Winterpelzes ausgeziert, von der frischgrünen, kaum aufgegangenen Wintersaat an, bis zu dem entlaubten Gebüsche des Parkes, über dessen Aesten sich in Diamantenschnüre verwandelte Spinngewebe und Fäden des Altweibersommers hinziehen; nur der eiserne Staketenzaun und das Zinkdach der Laube haben vorläufig den weißen Besatz abgelehnt.
Wenn meine alte hustende Großmutter auf unser Thema zu sprechen kam und den Winter eine abscheuliche Jahreszeit schalt, die höchstens dazu gut sei, uns den Frühling werther und theurer zu machen, dann pflegte der Großvater in seiner poetischen Art zu erwidern: „Und ist das nicht auch ein Verdienst? Frühling, der holde, lächelnde Knabe, würde nicht halb so oft besungen, nicht entfernt so heiß ersehnt werden, wenn er nicht auf den gestrengen Herrn Winter folgte; aber was Deine Meinung von der Häßlichkeit und Langweiligkeit des Winters betrifft, da sind wir Nordländer so wenig urtheilsfähig, wie der Schweizer in Betreff der Gebirgsschönheit, und wir alten Leute, die nur noch seine Beschwerden empfinden, sind’s erst recht nicht. Man müßte einem Aequatormenschen – natürlich ganz mit Pelzen verwahrt – unsern Winter in seiner Pracht zeigen; der würde sicherlich in einem Feengarten zu wandeln glauben, wenn er Busch und Baum mit edelsteinblinkendem Rauhfroste neubelaubt sähe, und wie die Sonne in unendlicher Klarheit über das unabsehbare Schneefeld, auf die rüstigen Heere munterer Schlittschuhläufer und Schlittenfahrer und die Häuser mit den gastlichen Rauchsäulen strahlt.“
Die nachfolgenden Skizzen sollen den Beweis liefern, daß der Winter nicht nur der Augenlust, sondern auch dem Wissensdurste eine Quelle reicher Anregungen bietet. Wir werden uns in das warme Zimmer zurückziehen und durch eine Reihe leicht anstellbarer Versuche das Verständniß der Wunder draußen zu erleichtern suchen.
Wenn es kalt genug ist, können wir uns jeden Augenblick überzeugen, daß ein geheizter eiserner Ofen, lange bevor er die Zimmerluft über den Schmelzpunkt des Eises erwärmt hat, die Fensterscheibenblumen aufzuthauen beginnt. Es gehen also Strahlen von dem erhitzten Metallmantel aus, die ihre Wärme nicht an die kalte Luft verlieren, und solche Wärmestrahlen – wie die Lichtstrahlen eine Wellenbewegung des feinen, das ganze Weltall erfüllenden Stoffes – sind es, durch welche die Sonne mitten durch den ungeheuer kalten Weltraum hindurch (man rechnet auf zweihundert Grad Kälte in demselben) alles Leben unserer Erde weckt und erhält. Wenn wir uns unserer kleinen Zimmersonne, die wir bekanntlich mit verwandelter Sonnenkraft (Holz oder Kohlen) speisen, gegenüberstellen, so bläst sie uns ihre Hitze in recht aufdringlicher Weise entgegen, und wir möchten vorn verbrennen, während wir hinten Frost empfinden, bis die [45] ganze Zimmerluft auf dem langsamen Wege der Leitung eine behagliche Temperatur angenommen hat. Glücklicher Weise genügt schon ein ganz dünner Papierschirm, uns vor dieser „strahlenden Wärme“ vollkommen zu schützen; ein Thermometer zeigt vor diesem Schirme im Bereiche der Strahlungswärme mindestens zehn Grad mehr als unmittelbar hinter demselben. Das Vermögen der Wärmestrahlung richtet sich im Allgemeinen nach der Oberflächenbeschaffenheit der Körper, und zwar erkalten in Folge dieser Wärmeabgabe gegen entfernte Dinge rauhe Körper schneller als glatte oder glänzende, dunkelgefärbte schneller als hellfarbige, solche, welche die Wärme schlecht leiten, stärker als gutleitende. Sie haben dafür das Vermögen, genau in demselben Grade, wie sie die Wärme leichter abgeben, sich in dem Bereiche der strahlenden Wärme anderer Körper, z. B. der Sonne, schneller und stärker zu erwärmen. Wir benöthigen der Kenntniß dieses einfachen Gesetzes zum Verständnisse der Reifbildung. Reif ist gefrorener Thau und folgt daher in seinem Auftreten im Allgemeinen den Gesetzen der Thaubildung.
Man hat früher geglaubt, daß der Thau wie ein feiner Regen vom Himmel herabfalle, bis der Engländer Wells im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts durch im Grunde höchst einfache, aber mit großem Scharfsinn aneinander gereihete Experimente, die Hauptgesetze dieses Vorganges darthat. Ein Bäuschchen Wolle, welches er bald frei auf die Erde, bald auf Unterlagen mannigfacher Art unter Schutzdächer oder zwischen Schutzwänden der Bethauung aussetzte, und welches, wie das Fell Gideon’s in der Bibel, bald stark bethaut erschien, bald völlig trocken blieb, je nachdem seine Eigenwärme durch Ausstrahlung gegen den Nachthimmel mehr oder weniger tief unter die Lufttemperatur gesunken war, bildete sein Hauptbeweisstück. Wenn der Nachthimmel klar bleibt, strahlen alle Gegenstände der Erdoberfläche ihre von den Sonnenstrahlen empfangene Tageswärme mit verschiedener Schnelligkeit gegen die sichtbaren und unsichtbaren Weltkörper des Raumes aus, am schnellsten das mit feinen Rauhigkeiten begabte Pflanzenlaub. Da diese Gegenstände weder vom Boden her, wegen ihrer geringen Leitungsfähigkeit für die Wärme, noch aus der Luft, wenn nicht ein lebhafterer Wind geht, einen hinreichenden Ersatz der verlorenen Wärme erhalten, so sind sie bald stärker abgekühlt, als die umspülende Luft. Wenn aber wärmere, mit aufgelöstem Wasserdampf gesättigte Luft durch Berührung mit einem kalten Körper abgekühlt wird, so muß sie auf der Oberfläche desselben so viel Wassertropfen absetzen, als sie im kälteren Zustande weniger aufgelöst erhalten kann. Das ist eine sehr einfache und bekannte Erscheinung, die wir an dem Beschlagen der Stubenfenster, an dem Bethauen des Glases eines aus dem kühlen Keller in das warme Gastzimmer gebrachten Trunkes, an dem ärgerlichen Beschlagen der Brillengläser beim Betreten menschenerfüllter Räume und bei vielen anderen Gelegenheiten alltäglich wahrnehmen, die aber dessenungeachtet die Leute mitunter in Schrecken versetzt hat, wenn zum Beispiel beim Witterungswechsel ein Götterbild oder ein bronzener Heiliger zu schwitzen anfing. Die Alten dachten dann, der in der Bildsäule steckenden Gottheit sei etwas an ihrem Thun nicht angenehm und sie schwitze vor Angst oder Zorn.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß nur solche Gegenstände stark bethauen können, die den klaren Nachthimmel frei über sich sehen und auch von den Seiten her neue Luftmassen zugeweht erhalten können, um ihnen Feuchtigkeit zu entziehen, daß also z. B. der Rasen rings um einen Baumstamm, so weit der Mittagsschatten seiner Krone reicht, nicht ordentlich bethauen kann, daß Laub- und Holzwerk stärker als Steine und Erde, diese wiederum stärker als die gutleitenden Metalle, welche ihre an der Oberfläche abgegebene Wärme leicht wieder durch Leitung von innen her ersetzen können, bethauen, daß hervorragende Theile, zum Beispiel die Zähne der Blattränder, oder die erhabene Nervatur und die Härchen der Blattoberfläche, stärker bethauen und namentlich bereifen, als die dazwischen gelegenen tieferen Theile, und daß endlich ein leichter Luftzug die Erscheinung befördern, stärkerer Wind aber sie gänzlich verhindern wird, indem er es unmöglich macht, daß Erdboden oder Rasen beträchtlich kälter werden können, als die darüber befindliche Luftschicht.
Vor Allem ist es zu Thaubildung erforderlich, daß die Luft frei von Nebeldunst ist. Sobald sich das Firmament mit einer noch so dünnen Wolkenschicht bedeckt, wirkt dieselbe wie der Papierschirm vor dem eisernen Ofen, sie strahlt die sonst im Weltenraume verlorene Wärme zur Erde zurück, und die Thaubildung hat ein Ende. Manche Leute haben diese Rolle der Wolken durchaus nicht begreifen können, und der Naturforscher Sertürner, der ein Buch gegen die Wells’sche Theorie geschrieben hat, nahm ihnen das Wort aus dem Munde, indem er sagte: „Wie ein so zartes, leichtbewegliches, mit so großer Ausdehnungskraft begabtes Etwas wie die Wärme, durch ein meilenweit entferntes Hinderniß abgehalten werden könne, die Erde zu verlassen und jene weite Reise zu den Sternen aufzugeben, das können wir auch beim besten Willen nicht begreifen, wenn wir den Wärmestrahlen nicht einen hohen Grad von Verschlagenheit und Verstand beilegen wollen, so etwa, daß sie aus Furcht vor jenem fernen Gewölke ihren Hinterhalt nicht verlassen.“ Indessen die Sache ist so schwer begreiflich nicht, und man kann sich leicht von der Richtigkeit des Gesagten überzeugen, wenn man einen gut polirten Hohlspiegel, in dessen Brennpunkt die Kugel eines Thermometers angebracht ist, gegen den Himmel richtet. Das Quecksilber fällt dabei um so tiefer, je klarer der Himmel ist, und steigt sogleich wieder, wenn man den Spiegel auf eine Wolke richtet.
Was würde Sertürner erst gesagt haben, wenn er von den neuen Untersuchungen Tyndall’s und Garibaldi’s (natürlich nicht des Helden von Caprera, sondern eines italienischen Physikers dieses Namens) gehört hätte, nach denen sogar der unserm Auge unsichtbare, in der Luft aufgelöste Wasserdunst der strahlenden Wärme unüberwindliche Hindernisse in den Weg legen kann. Durch ihre in den letzten Jahren vollendeten Studien ist die Thau- und Reiffrage erst als wirklich aufgeklärt zu betrachten. Professor Garibaldi zeigte, daß die Luft, so lange sie Feuchtigkeit enthält, eine förmliche Schutzhülle um den Erdball zur Verhütung allzu starker Abkühlung durch nächtliche Strahlung bildet und daß sie namentlich die von Wasserflächen ausgehenden Wärmestrahlen unter keinen Umständen passiren läßt. Daher kommt es, daß der Thau die Pflanzen vor einer ferneren Abkühlung durch Strahlung, so lange die Luft einen gewissen Grad von Feuchtigkeit enthält, geradezu schützt. Innerhalb großer Continente, wo die Atmosphäre ungleich trockener ist als bei uns, gestaltet sich der Proceß anders. Die trocknere Lufthülle bietet dort der nächtlichen Wärmestrahlung nur verschwindende Hindernisse, und auf glühendheiße Tage folgen eisigkalte Nächte. In heißen Ländern, wie z. B. in Bengalen, wo die Lufttemperatur auch des Nachts niemals unter den Gefrierpunkt hinabgeht, benutzt man den außerordentlichen Grad der Strahlungskälte, um Wasser in offenen Schalen, die man, um sie vor der wärmenden Wirkung der Winde zu schützen, auf den Boden mit Stroh ausgelegter Erdgruben stellt, zum Gefrieren zu bringen. Hier ist auch die Ursache zu suchen, aus welcher unter den Leuten der französischen Expedition nach Constantine (October 1836) so viele an erfrorenen Gliedmaßen litten, obwohl die Lufttemperatur selbst des Nachts niemals unter den Nullpunkt herabgesunken war.
Bei uns tritt jener Grad der Lufttrockenheit, welcher zur Eisbildung durch nächtliche Strahlung erforderlich ist, erst mit Beginn der kälteren Jahreszeit ein; dann verharrt die an den erkälteten Theilen abgeschiedene Feuchtigkeit nicht mehr in Tropfengestalt, sondern geht durch allmähliches Auswachsen zu den zierlichsten Krystallformen in Reif über. Aus dem Obengesagten ergeben sich von selbst die Mittel, Culturpflanzen vor den schädlichen Einflüssen des Früh- oder Spätreifs zu schützen. Mancher, der es nicht versteht, lächelt über die dünnen Strohhüllen, mit denen der Gärtner seine edlen Obstbäume etc. vor dem Erfrieren zu schützen sucht. Er hält es mit Recht für unmöglich, daß solch undichter Mantel die Luftkälte abhalten könne; er soll aber auch nur vor der viel gefährlicheren Strahlungskälte schützen, und dazu würde selbst eine noch dünnere Hülle genügen. In Ländern, wo die Reifnächte jungen Culturpflanzen gefährlich werden, hat man längst ein anderes Mittel gefunden, die Felder zu beschützen, bestehend in der Erzeugung „künstlicher Wolken“.
Der spanische Geschichtsschreiber Garcilaso de la Vega berichtet, daß die Peruaner in den Zeiten der Inkas ein besonderes Fest feierten, bei welchem sie der Sonne opferten, damit sie dem Froste gebiete, die Maisfelder zu verschonen. Dieses Fest [46] wurde natürlich in einer Jahreszeit begangen, in welcher solche Reiffröste, wie bei uns unter dem Regimente der drei „gestrengen Herren“ im Mai, besonders häufig sind. Wenn dann, erzählt Garcilaso, bei hereinbrechender Nacht der Himmel unbedeckt blieb und die Indianer deshalb Frost befürchteten, verbrannten sie Mist, um Rauch zu machen, und jeder von ihnen im Besondern bemühte sich, über seinem Grundstücke auf solche Art zu räuchern. Dabei erklärten sie, der Rauch verhindere den Frost (auf die Pflanzen herabzusteigen), indem er gleich den Wolken eine Decke über die Erde breite. Die ankommenden frommen Väter verboten in ihrer Bornirtheit den Peruanern, solche heidnischen Rauchopfer ferner zuzurichten; aber ihre Gebete mögen schwerlich eine gleich wirksame Hülfe gebracht haben.
Auch die alten römischen Landwirthe kannten, wie man aus Plinius ersieht, den Nutzen des Rauches gegen Reifschaden, den sie übrigens den erkältenden Strahlen des Mondes zuschrieben, weil er allerdings häufig genug dazu leuchtet. Die Pflanzen erfrieren aber jedenfalls noch leichter im Dunklen, denn der Mondschein ist, wie Graf Rossi kürzlich von Neuem gezeigt, keineswegs ohne alle Wärme. In den letzten Jahren hat man in Frankreich eine große Anzahl erfolgreicher Versuche in derselben Richtung angestellt, um die Weinberge gewisser dem Reiffroste sehr ausgesetzter Striche zu schützen. Die Reifbildung ist an locale Verhältnisse gebunden, im Thale stärker als an Bergabhängen, in trockenen Gegenden häufiger als in feuchten, am Rheine zum Beispiel so gering, daß man die Reben im Winter vielfach nicht einmal zudeckt. Eine Anzahl französischer Berichte aus dem vorigen Frühjahre wies auf den allerseits bewährten Nutzen solcher künstlichen Wolken hin und rieth den Weinbauern, eine sich nach der Größe des zu schützenden Grundstückes richtende Anzahl Pechpfannen bereit zu halten, um in stillen und ruhigen Nächten mit Steinkohlentheer oder einem ähnlichen billigen und stark rußenden Feuermaterial zu räuchern. Wenn ein starker Wind geht, ist dieses Verfahren natürlich aus doppeltem Grunde überflüssig, denn einmal ist dann keine Gefahr vorhanden, und zweitens würden sich die Wolken über den betreffenden Grundstücken nicht halten.
Auf die im vergangenen Jahre von V. Wartha gemachte Beobachtung, daß der Schwefelkohlenstoff sehr leicht durch seine eigene Verdunstungskälte zum Gefrieren gebracht werden kann, habe ich einige Experimente begründet, mit deren Hülfe man jeden Augenblick im warmen Zimmer den Proceß der Reifbildung in seiner ganzen Schönheit beobachten kann. Ich bitte alle meine Leser, den nachfolgend beschriebenen einfachen Versuch selbst anzustellen; er wird sie durch seine ungemeine Zierlichkeit reichlich für die geringe aufzuwendende Mühe belohnen. Man bilde aus einigen wenigen vollkommen getrockneten, möglichst reichbeblätterten Moospflänzchen einen Miniaturstrauß und stecke ihn in einen Fingerhut, der zu drei Viertel mit Schwefelkohlenstoff (aus der Apotheke) gefüllt und in einer Schachtel mit Sand festgestellt wurde. In Ermangelung eines geeigneten Moossträußchens kann man, wiewohl mit geringerem Erfolge, aus einem Dreieck von grünem Seidenpapier oder weißem Filtrirpapier, dessen eine Seite blattartig ausgezackt oder eingeschnitten wird, ein etwa anderthalb Zoll hohes Kunstbäumchen rollen, wobei die Auszackungen, spiralig um den Cylinder laufend, die Blätter vorstellen müssen, und dieses in den improvisirten Blumentopf stecken. Wenn das Sträußchen einige Secunden in jener leider übel duftenden Flüssigkeit gestanden und dieselbe emporgesogen hat, so bemerkt man, daß sich die Blättchen allmählich mit einem körnigen schneeweißen Reife bedecken, der immer weiter aus den Blatträndern hervorwächst, sich in außerordentlich zarte Fiederchen zertheilt und endlich das ganze Gebilde einem dichtbereiften Pflanzenreife zum Verwechseln ähnlich macht. Die Kälte wird zwar bei diesem Versuche nicht durch Strahlung, sondern durch die schnelle Verdunstung der Schwefelkohlenstoffflüssigkeit erzeugt; im Uebrigen aber ist der Vorgang der natürlichen Reifbildung sehr ähnlich. Die abgekühlte Oberfläche des Sträußchens schlägt Feuchtigkeit aus der umgebenden Luft auf sich nieder; diese vereinigt sich mit dem Schwefelkohlenstoffe zu einem überaus zarten, blumenkohlartigen Reife. Wenn nach einigen Minuten sämmtlicher Schwefelkohlenstoff emporgesogen ist, erreicht das Gebilde seine höchste Pracht, dieselbe dauert aber nur wenige Augenblicke, denn wenn keine weitere Kälte erzeugende Flüssigkeit mehr nachsteigt, schmilzt der Reif plötzlich von oben herunter, und das Sträußchen erscheint, seines Schmuckes entkleidet, gänzlich von geschmolzenem Reife durchnäßt. Daß dieser Reif eine ziemliche Kälte besitzt, davon kann man sich leicht durch das Gefühl überzeugen, wenn man das Gebilde in der hohlen Hand zusammendrückt, oder sich damit über die Wange streicht. Bei der leisesten Berührung so wie beim Anhauchen schmilzt er sofort. Wer einen sogenannten Rafraicheur besitzt, kann das Experiment leicht abändern und einen beliebigen Strauß aus frischem Grün durch Aufblasen eines Schwefelkohlenstoffnebels sofort mit weißem Reife bedecken; man kann auch zum Scherze Jemandem den Bart ohne Schaden auf einige Augenblicke schneeweiß anreifen: dieser künstliche Reif hält sich im warmen Zimmer beinahe so lange wie der natürliche. Nur die einzige Vorsicht wolle man beobachten, diese Versuche am Tage anzustellen, da der Schwefelkohlenstoff äußerst brennbar ist und wegen seiner Flüchtigkeit schon aus einiger Entfernung Feuer fängt.
Mit dem Thaureif wird öfter der sogenannte Rauhreif oder Rauhfrost verwechselt, obwohl dieser eine ganz verschiedene Entstehungsweise hat, und deshalb auch nicht die Eigenheit des Reifes theilt, nur die oberen Seiten der Zweige und Blätter zu bekleiden und unter keine Bedachung zu treten. Er steigt vielmehr bis in die Wipfel der Bäume empor und bekleidet die gesammten Winterreste der Vegetation mit dem brillantesten, in allen Regenbogenfarben funkelnden Krystallschimmel, im Sonnenschein ein zauberhaftes Bild hervorrufend. In den meteorologischen Handbüchern liest man, daß diese Festdecoration der Reifriesenpaläste eintreten soll, wenn nach einem sehr starken Frost eine wärmere Luftströmung ihren Wassergehalt auf den tief unter Null abgekühlten Zweigen und Blättern in Form langwachsender Krystalle absetze, wie man in jedem Winter die Thür- und Fensterritzen der mit warmem Dunst gefüllten Viehställe mit ähnlichen Eisschimmelgebilden umkränzt findet. Ich kann in einem solchen Zusammentreffen höchstens den ersten Anlaß der Erscheinung erkennen, denn ich habe solche Rauhfrostkrystalle mehrere Tage wachsen sehen, nachdem die vorausgesetzte innere Kälte der Baumzweige längst ausgeglichen sein mußte, und suche die Veranlassung, dem Sprachgenius trauend, in der Rauhigkeit der Baumäste und Blätter, welche einen gerade auf Null abgekühlten Winternebel veranlassen, Eisnadeln auf den dargebotenen Rauhigkeiten abzusetzen. Alle Substanzen neigen dazu, wenn sie aus gasförmiger oder flüssiger Gestalt Krystallform annehmen, sich auf rauhen Flächen anzusiedeln, vor Allem aber haben fertiggebildete Krystalle der eigenen Art die Eigenschaft, weitere krystallinische Abscheidung, das heißt Weiterwachsen anzuregen. Wenn man so viel Glaubersalz in heißem Wasser auflöst, wie sich auflösen will, so bleibt die Auflösung, wenn man sie ruhig stehen läßt, auch nach dem Erkalten flüssig. Sobald man aber einen festen Körper, zum Beispiel einen Glasstab, der aber nicht vorher ausgeglüht sein darf, hineinsteckt, krystallisirt die ganze Masse im Nu. Noch sicherer bewirkt ein hineingeworfenes Glaubersalzkrystallchen die Einleitung des Gestaltungsprocesses. Ich nehme an, daß beim Rauhfrost eine ähnliche Einwirkung, wenn die anderen Bedingungen günstig sind, die Hauptrolle spielt. Zur Bildung der ersten Eiskrystalle auf den Zweigen mag eine niedrige Temperatur derselben förderlich sein; sobald aber diese einmal vorhanden sind, wachsen sie im Nullgrad warmen Nebels immerfort, wenn dieser so lange anhält, bis zu einer Ausdehnung, daß zuweilen die Aeste unter dem Gewichte brechen.
Da ich dem Leser Experimente versprochen habe, so will ich auch zeigen, wie man die Rauhfrostbildung im Zimmer studiren kann. Wir wollen ihn zur Abwechselung auf warmem Wege erzeugen und schütten ein paar Messerspitzen Benzoesäure auf den Boden eines eisernen Töpfchens oder einer genieteten Blechpfanne, die über einer Spiritusflamme langsam erhitzt wird. Bedecken wir nun das Gefäß mit einem Stück Pappe, an welches wir ein hartblättriges Sträußchen, zum Beispiel aus Buchsbaumzweigen oder Wachholder, so aufgehängt haben, daß es die heißen Wandungen nirgends berührt, so sehen wir es nach wenigen Augenblicken dicht mit den prachtvollsten silberweißen Krystallnadeln überzogen, die im Sonnenschein ebenfalls in allen Regenbogenfarben funkeln. Hat man das Sträußchen nicht zu lange in dem angenehm riechenden, aber zum Husten reizenden Dampfe [47] gelassen, so gewahrt man ganz die Eigenthümlichkeit des Rauhfrostes, daß sich die Krystalle hauptsächlich an den hervorstehendsten Theilen, z. B. auf den Rändern der dütenförmig zusammengerollten Buchsbaumblätter angesetzt haben. Ein gut gerathenes Sträußchen mit künstlichem Rauhfrost bietet ebenfalls einen hübschen Anblick, und wenn es nicht ganz so zierlich ist, wie das Reifsträußchen, so hat es dafür den Vorzug der Dauerbarkeit.
[149]Bei uns giebt das Wetter bekanntlich ein ebenso beliebtes, wie verpöntes Gesprächsthema, und die meisten Unterhaltungen beginnen mit demselben. Das kommt daher, weil unsere Heimath sich mehr als andere Länder einer unberechenbaren, an Wechsel und Ueberraschungen reichen Witterung erfreut. Unberechenbar bleibt sie, als Resultat des Kampfes zweier Gegner, deren Streitkräfte wir nicht kennen, weil sie aus fernen Himmelsstrichen herkommen; wir können deshalb mit Gewißheit in keinem Falle vorhersehen, welcher von ihnen dem Andern für die nächste Zeit das Feld und die Oberherrschaft einräumen wird. In Ländern, wo es alle Tage zur selben Zeit ein Gewitter giebt, zu einer anderen Stunde ein bestimmter Wind sich erhebt, spricht man nicht vom Wetter, denn nur das Unbestimmbare regt uns auf, und nur in ungewissen Zeiten und Lagen werden die Propheten aufgesucht.
Jene beiden Gegner sind die Passatwinde der nördlichen Halbkugel, der vom Aequator nach dem Nordpol gerichtete Südwind, und der in entgegengesetzter Richtung wehende Nordwind. Seinem Entstehungsherde näher fließt der Aequatorialstrom ungehindert über den Rücken des Polarstroms hinweg, je mehr er sich aber unseren Breiten nähert, desto mehr senkt er sich und steigt in das Gebiet des letzteren hinab, so daß ein Kampf unvermeidlich wird, wobei Einer den Anderen aus seinem Bette zu verdrängen sucht. Die ursprünglich rein nördliche, respective südliche Richtung der beiden Winde wird durch die Erdumdrehung abgelenkt. Der Nordstrom kommt fortschreitend beständig in Breiten, die eine größere Umdrehungsgeschwindigkeit besitzen, als er selbst; er trifft deshalb zurückgeblieben in mehr nordöstlicher Richtung, der Südstrom wegen umgekehrten Verhältnisses von Südwesten her bei uns ein. Wir müssen uns diese beiden Winde ein wenig genauer ansehen, da sie und nicht die Hexen auf dem Blocksberg, wie man vor Zeiten glaubte, unser Wetter brauen. Der heiße Aequatorwind beladet sich, indem er sich über die großen Meeresbecken im Südwesten Europas hinabsenkt, dort stark mit Feuchtigkeit; er bringt uns warmes Wetter und läßt das Barometer sinken, weil diese warme und feuchte Luft leichter ist, als die kalte und trockene des Nordstroms, welche die Quecksilbersäule durch ihre Last in die Höhe gedrückt hatte. Wenn man sich einen Augenblick die Meridiane als Mauern vorstellt, die gegen den Pol spitz zusammenlaufen, so begreift man leichter, warum der Südwind in seinem schmaler werdenden Bette wie in lauter hohle Gassen hineinrast, während der Nordwind sich langsamer in sein immer breiter werdendes Bett ergießt. Dieser verschiedene Charakter der beiden herrschenden Winde unserer Heimath trägt viel dazu bei, daß die Natur im Herbste, wo letzterer die Oberhand gewinnt, wie Dove sagt, „langsam einschläft, um im Frühjahr fieberhaft zu erwachen.“
So oft nun diese beiden Winde ihre Richtung ändern und dabei aufeinandertreffen, giebt es in der Regel einen Niederschlag der Feuchtigkeit des Südwindes, im Sommer oft unter Begleitung von Donnerwetter, im Winter meist ohne dieses in Gestalt von Schnee. Der Schneefall bezeichnet deshalb in der Mehrzahl der Fälle den Wendepunkt der vielen kleinen Winter, die wir in jedem größeren durchzumachen haben; er erinnert uns, das Barometer zu befragen. Beim Beginne eines Schneegestöbers ist es, wenn nicht schon vorher niedrig stehend, in der Regel gefallen; steigt es nun während des Niederschlages allmählich, so ist zu erwarten, daß der Nordstrom die Oberhand [150] gewinnen und der Schnee liegen bleiben werde, im anderen Falle giebt es Schmutzwetter. Der Gang der Winterwitterung ist bei uns in der Regel folgender. Während des Septembers und der ersten Hälfte des Octobers, im sogenannten Altweibersommer, hat uns Nordostwind anhaltend schönes, klares Wetter gebracht, in welchem freilich als erstes Zeichen des Winters bereits Reif auftrat. Im November kommt dann wieder der Südstrom zur Geltung und erzeugt im Zusammentreffen mit jenem die dicke, nebelige Luft, welche Jedermann verstimmt und in dazu neigenden Gemüthern sogar Selbstmordgedanken reifen soll. Setzt sich aber in dieser Zeit der Nordoststrom gehörig zur Wehre, so giebt es den ersten Schnee, der in der Regel in der zweiten Hälfte des Novembers fällt, indessen in seiner Ankunft so wenig pünktlich ist, daß der Volkswitz bei uns die unerfüllbaren Wünsche der Kinder auf „drei Tage vor dem ersten Schnee“ vertröstet. Es ist gewöhnlich ein so dichtes Gestöber, daß man kaum über die Straße sehen kann, wobei die großen Flocken wie Flaumfedern umherfliegen, und uns an das Volksmärchen erinnern, nach welchem Frau Holle dann ihre Betten ausschüttelt. Diese Auffassung mag sehr alt sein, denn schon Herodot kannte den Vergleich, bei dessen Mittheilung er bedächtig hinzusetzt, daß unter den Federn, die bei den Scythen die Luft verdunkeln, Schneeflocken zu verstehen seien.
Der erste Schnee bleibt selten liegen, aber nach seinem Hingange wiederholt sich dieses Scharmützel zu unseren Häuptern, das „Müllergeprügel“ wie der Volksmund es getauft hat, häufiger, und in der zweiten Hälfte des Decembers pflegt dann der Nordost dauernd die Herrschaft zu behaupten. Das Resultat seines Kampfes um den Thron deckt als weißer, flimmernder Prachtteppich den Boden. Wir freuen uns allemal, wenn dieser liegenbleibende Schnee vor dem Weihnachtsabend angekommen ist, denn wir haben immer noch so viel heidnisches Blut in den Adern, daß wir den Julblock nicht vergessen können, und das Wintersonnenwendefest auch gern mit winterlicher Decoration begehen, wenn auch immerhin aus der schneienden Frau Holle eine „Maria zum Schnee“ geworden, die in unzähligen Kirchen und Capellen verehrt wird. Es ist ein wunderbares Bild, wenn die Flocken ruhig herniederschweben und sich drunten anhäufen und in immer dickerer Schicht die Landschaft langsam einhüllen, uns das letzte darunter hervorblinkende Grün, sei es nun Fichte, Stechpalme oder Krauskohl, zur symbolischen Weihnachtspflanze heiligen, und den Boden für die himmelblauen Schatten bereiten, die in der Dämmerung mit dem gelbrothen Licht der erleuchteten Fenster so malerisch wetteifern. Wir abgestumpften Nordländer empfinden in der Mehrzahl den Reiz dieses Schauspieles nicht, aber der römische Dichter hat ihn festgehalten in jenem Epigramm, welches den Schneefall im Amphitheater schildert und beginnt:
„Sehet, wie dicht ein Vließ von geräuschlos fallendem Wasser
Sich auf des Kaisers Gesicht und auf den Busen ergießt.“
Zum großen Bedauern des Landmanns, der in dieser Decke den sichersten Schutz der schlummernden Keime des Bodens begrüßt, wird auch sie gewöhnlich im Januar noch einmal vom Südwinde aufgelöst; und erst im dritten Winter, „wenn die Tage anfangen zu langen“, tritt der Nordost, von kurzen Revolten unbehelligt, ein längeres Regiment an und häuft Schnee auf Schnee, ohne daß sein Fall einen Wetterwechsel in Aussicht stellte. Es ist die Zeit, wo der Kamin mit dem knisternden Feuer jene unwiderstehliche Anziehungskraft gewinnt, für welche uns Horaz empfänglich machen will, wenn er beginnt:
„Siehst du, wie dort im Glanze von hohem Schnee
Soracte steht, wie mühsam der schweren Last
Die Wälder fast erliegen und von
Schneidender Kälte die Flüsse starren?“
Wenn es in dieser Zeit bei mäßig verhülltem Himmel und ruhiger Luft spärlich schneit, dann ist die beste Gelegenheit da, sich mit den entzückenden Gestalten des Schnees bekannt zu machen. Man fängt die einzelnen Sternchen, die sich jetzt nicht mehr zu dichteren Flocken verbinden, auf dem Aermel eines dunkeln Ueberrockes oder auf einer Schiefertafel auf, welche aber beide vorher Lufttemperatur angenommen haben müssen. Man hat nur nöthig, den Athem etwas anzuhalten, um ohne Vergrößerungsglas Sternbildungen zu gewahren, deren Schönheit uns noch in der Zeichnung überrascht. Die Alten haben nichts von dem Wunder der Schneeflocke geahnt, aber auch den Meisten unter uns ist sie nur aus den Abbildungen physikalischer Werke bekannt, und doch geht selten ein Winter vorüber, in welchem uns nicht wiederholt Gelegenheit geboten würde, dieses wahrhaftige Wunder mit eigenen Augen zu schauen. Unser Johann Kepler, dessen Gedächtnißfeier wir vor zwei Jahren begingen, hat zu seinem offenkundigen Verdienste, das Geheimniß des Weltbaues ergründet zu haben, auch das heimlichere gefügt, seine Mitmenschen auf den herrlichen Bau der Schneeflocke zuerst aufmerksam gemacht zu haben. Zu Neujahr 1611 schenkte er seinem Freunde, dem kaiserlichen Geheimrathe Wackher von Wackhenfels, als Angebinde eine kleine Schrift über den sechseckigen Schnee. In der Einleitung dieser seltenen Neujahrskarte malt sich uns der sinnende, überall sein Empfinden in die Natur hineintragende Deutsche, wie er leibt und lebt, wenn er erzählt, wie er in Verlegenheit, für den philosophischen Freund, der so tief von der Nichtigkeit aller Dinge überzeugt sei, und so viel Forschungen über das Nichts angestellt, eine passende Neujahrsnichtigkeit ausfindig zu machen, und ärgerlich nichts zu finden, über eine Brücke gegangen sei, und wie dort hin und wieder frische Schneeflocken auf seine Kleider gefallen seien, alle sechseckig. „Siehe da! ein Ding kleiner als ein Tröpfchen und mit vollendeter Gestalt begabt, gewiß ein erwünschtes Angebinde für den Liebhaber des Nichts, und nicht weniger passend für den mathematischen Geber, der Nichts hat und Nichts empfängt.“ Der Crösus in der Welt des Geistes und Habenichts in der anderen spielt dabei in anmuthiger Weise mit dem Wörtchen Nix, welches in der lateinischen Abhandlung bald als ein niederdeutsches, bald als lateinisches Wort genommen wird und dann Schnee bedeutet.
Allein so viele Mathematiker und Physiker sich seither mit der Schneeflocke beschäftigt haben, das Geheimniß ihrer Bildung hat noch keiner ergründet. Wohl weiß man, daß alle Elemente derselben sechsseitige Säulchen sind – entweder lange dünne [152] Nadeln oder zur breiteren sechsseitigen Platte verkürzt – und daß diese Theile sich stets unter Winkeln von sechszig, respective einhundertzwanzig Graden zu regelmäßigen sechs- (seltener drei-) theiligen Sternfiguren vereinigen, aber der Grund dieser Mannigfaltigkeiten ist noch von Niemandem ergründet worden. In der Regel sind die sechs Strahlen des Sternes beiderseits mit unter sechszig Graden angesetzten Seitenkrystallen verziert, aber in der Zahl und den Abständen und Verbindungen derselben herrscht die größte Abwechselung, da dem Grundgesetze genügt ist, wenn die Bildung der sechs Strahlen untereinander gleich ausfällt. Bald stehen die Seitenkrystalle in dichter Folge, und der Stern scheint aus sechs Federn zusammengesetzt, bald sind sie von kürzeren Fiedern unterbrochen und jeder Theil gleicht einem gezähnten Blatte, dann stehen sie wieder in größeren Abständen oder einzeln, verbinden und kreuzen sich endlich mit den entsprechenden Fiederchen des Nachbarstrahls. Sehr häufig ist auch ein kleinerer Stern wie eine erhabene Arbeit auf einen größeren aufgelegt, so daß die Mittelrippen im Relief hervortreten. Es giebt in der Natur nicht zum zweiten Male, und weder in der Pflanzen- noch in der Thierwelt eine so erschöpfende Variation einer einfachen Grundform, die so viel Eleganz mit so viel gesetzmäßiger Starrheit verbände. Scoresby, der berühmte Walfischfänger, hat sechsundneunzig Stück durchweg verschiedene und in sich vollendete Gestalten, eine immer schöner als die andere, abgebildet, und andere Beobachter haben mindestens noch ein zweites Hundert hinzufügt.
Kein anorganischer Stoff, dessen Krystallformen beobachtet sind, hat einen annähernden Formenreichthum aufzuweisen wie das Wasser, wenn die Kälte der in ihm schlummernden Gestaltungskraft zu Hülfe kommt und – ich möchte sagen – seine Gedanken festhält. Wer die Schneeflocke aufmerksam betrachtet, wird sich bald der Anschauung zuneigen, daß die anorganischen Körper doch nicht so ganz jener Zusammenwirkung innerer Kräfte ermangeln, die wir bei Pflanzen und Thieren als Seele bezeichnen, das heißt als jene unbekannte Kraft, welche das Entstehen, Gestalten, Wachsen und Sein des Individuums bedingt und mit ihm vergeht. Vergleicht man die Schneesterne gemeinschaftlicher Bildung, so findet man, daß sie alle einer und derselben oder einigen wenigen nahestehenden Formen angehören, während die des nächsten Tages vielleicht ganz und gar abweichend gebaut sind. Daraus läßt sich schließen, daß jede dieser Gestalten der genaue Ausdruck eines besonderen Mischungsverhältnisses von Feuchtigkeit, Bewegung, Druck, Temperatur, Belichtung, elektrischer Spannung und chemischer Mischung der Luft sein mag, das bei ihrer Bildung vorhanden war. Es ginge hier also umgekehrt zu, wie im Menschenleben nach astrologischen Ansichten: hier sollen die Sterne die Verhältnisse regeln, dort regeln die Verhältnisse den Stern. Wer weiß, ob die Schneeflocken für den durchdringenden Blick des Naturforschers nicht dereinst die Zeichenschrift werden, aus welcher er die Vorgänge und Zustände der höhern Luftregionen entziffert?
Ueber den vermuthlichen Bildungsvorgang des Schnees sind die Naturforscher nichts weniger als einig. So viel ist gewiß, daß der Schnee niemals, wie man mitunter liest, gefrorener Regen sein kann – den umgekehrten Fall beobachtet man im Gebirge häufig – sondern direct wie Reif und Rauhfrost aus dem Wasserdampfe der Luft abgeschieden wird, darin verschieden von Graupeln und Hagel, die zum Theil wenigstens aus gefrierendem Wasser geballt werden. In nordischen Ländern bemerkt man nicht selten, daß in Räumen, die mit sehr feuchter Luft gefüllt sind, z. B. in Ballsälen oder Viehställen, ein wirbelnder Schneefall entsteht, wenn die eiskalte Luft von draußen plötzlich Gelegenheit findet, stürmisch einzudringen.
In neuerer Zeit hat man Maschinen gebaut, welche künstliche Kälte für fabrikmäßigen Betrieb dadurch erzeugen, daß die Luft in ihnen auf engen Raum zusammengepreßt und, nachdem sie ihrer bei der Verdichtung freiwerdenden Wärme durch Wasserkühlung beraubt, wieder ausgedehnt wird. Wenn diese verdichtete Luft viel Feuchtigkeit enthält, so entsteht bei ihrer mit starker Wärmebindung verbundenen Ausdehnung eine dichte weiße Wasserdampfwolke, und wenn die Ausdehnung recht plötzlich geschieht, ein Schneeschauer. Wahrscheinlich wird man das künftig benutzen, um für die Bretter, die die Welt bedeuten, künstliche Schneegestöber zu erzeugen; indessen bei solchen improvisirten Schneefällen im Zimmer können sich keine regelmäßigen Schneerosetten bilden, dazu gehört gleichsam Bedacht und Ueberlegung. Der Vorgang ist vermuthlich ein zusammengesetzter und hat mehrere Bildungsstufen.
In sehr hohen und kalten Luftschichten nimmt der Wasserdampf im Sommer wie im Winter nicht selten die Form mikroskopischer sechsseitiger Säulchen und Plättchen an, die aber so staubklein sind, daß sie, unterstützt von ihrer Durchsichtigkeit, mit bloßem Auge gar nicht wahrgenommen werden können. Auf ihre Gegenwart zu gewissen Zeiten aber haben die Physiker seit vielen Jahren aus einigen optischen Erscheinungen – den großen Höfen um Sonne und Mond, Nebensonnen – mit eben der Sicherheit geschlossen, mit welcher wir bei Erscheinung eines Regenbogens schließen, daß sich, wo er erscheint, Wassertropfen in der Luft befinden. Arago hat sich daraus die öfter beobachtete Thatsache erklärt, daß es zuweilen einige Minuten bei völlig klarem Himmel regnen kann, wenn nämlich solche Krystallchen in Masse niedersinken und schmelzen. In nordischen Breiten bildet sich ein solcher unsichtbarer oder fast unsichtbarer Staubschnee auch in niedern Schichten der kalten und trockenen Atmosphäre, und macht, durch alle Ritzen der Kleider und Wohnungen dringend, den Aufenthalt sehr unbehaglich. Der spätere Präsident der Berliner Akademie Maupertuis, welcher im Jahre 1736 im nördlichen Lappland Gradmessungen anstellte, hat von den Belästigungen dieses unentfliehbaren Staubschnees Schilderungen hinterlassen, bei denen Einem das Herz im Leibe friert, wenn auch Einiges davon auf Rechnung des frostigen, zu Uebertreibungen geneigten Franzosen zu setzen sein mag. In unseren Breiten haben die französischen Luftschiffer Barral und Bixio bei ihrer Auffahrt am 27. Juli 1850 zum ersten Male eine solche Eisnadel-Wolke angetroffen und durchschifft. Sie bestand unten aus Wasserdampf, der unter den Gefrierpunkt abgekühlt war, ohne zu erstarren, und erst bei achtzehntausend Fuß Höhe, bei einer Temperatur von zehn Grad in Eisnadeln überging, die sie nicht sahen, aber die auf ihren Wangen ein sehr schneidendes Gefühl hervorbrachten. Wenn auf eine solche Eisnadelwolke ein feuchterer Luftstrom einfällt, so wird ein ähnlicher Vorgang in hoher Luft stattfinden, wie bei der Rauhfrostbildung auf der Erde. Der Wasserdampf wird sich in strahlig krystallinischer Form auf den Eisplättchen abscheiden, wenn die Einwirkung eine allmähliche ist.
Man kann sich durch ein zierliches Experiment ein Bild des Vorganges machen, wenn man gleiche Gewichtstheile Bittersalz, Wasser und Gummischleim mit geringem Glycerinzusatz warm auflösen läßt und mit einem Haarpinsel davon im warmen Zimmer auf weißes Papier streicht, als wenn man dasselbe dick lackiren wollte. Wirft man nun sogleich einige ganz kleine, vereinzelte Sandkörnchen auf die bestrichene Fläche, oder berührt sie hier und da mit einer Nadelspitze, so werden diese Eindrücke die Mittelpunkte einer aus vielen hundert Strahlen sonnenartig gebildeten Krystallisation, die immer weiter wächst, bis sich die einzelnen Rosetten begrenzen. So bereitetes Krystallpapier, welches bei Anwendung des giftigen Bleizuckers statt des Bittersalzes besondere Schönheit erlangt, kam bekanntlich vor einigen Jahren als Material für Visitenkarten vielfach in den Handel. Seine Darstellung lehrt uns, daß feste Körperchen in einer krystallisirenden Flüssigkeit leicht sternförmige Abscheidungen bewirken, allein das sechsseitige Plättchen des Staubschnees, welches wir zuweilen gewachsen im Centrum des Schneesternes erkennen können, wirkt entschiedener bestimmend auf den Ansatz des Wassers ein. Seine sechs Ecken oder Kanten wirken wie eben so viele Magnetpole, wie ein Grundriß, nach dem der fernere Bau auszuführen ist. In seinen Strahlungsachsen vergrößert sich das Gebilde allmählich und verliert, schwerer werdend, die Fähigkeit zu schweben, indem es, immer noch wachsend, herabsinkt. Wenn die Lufttemperatur in den untern Schichten ebenfalls niedrig ist, so gelangt das Sternchen unversehrt bis auf unsere Mütze, ist sie aber daselbst höher, so ballen die einzelnen Sternchen aus Gründen, die uns der nächste Aufsatz darlegen wird, zusammen.
Daß diese Erklärung wahrscheinlich die richtige ist, können wir daraus schließen, daß jene durch schwebende Eisnadeln hervorgebrachten optischen Erscheinungen bei starker Winterkälte [153] oftmals die Vorboten des nahen Schneefalles sind. Nach langen heiter-kalten Tagen sieht man am Ende des Februars hoch am Himmel ein zartes Federgewölk sich bilden, und am Abende erscheint der Mond mit einem Ringhofe umgeben. Das sind die ersten Zeichen von der Ankunft des „leichten Südländers“ da oben, den das Barometer bereits mit einem Fallen begrüßt, während die Wetterfahne auf dem Dache noch gar nichts merkt und immerfort Nordost anzeigt. Aber dann fängt es bald an zu schneien, und es wird wärmer.
Auch die einfache Erscheinung der Eiszapfen hat ihre Sonderbarkeiten. Zuerst könnte man fragen, wie das Schmelzwasser des Schnees frieren kann, wenn die Luft zum Thauen warm ist. Bei thauwarmer Luft werden die Eiszapfen nicht lange fortwachsen, desto mehr aber, wenn die Sonne warm auf den Schnee und den Kopf des Eiszapfens brennt, während das Thermometer im Schatten weit unter Null steht. Die Eiszapfen sind Kinder der strahlenden Wärme, obwohl sie nur hinter ihrem Rücken wachsen. Geben weitere Schneefälle abwechselnd neues Material zum Schmelzen, so können diese Zapfen zu erschreckender Größe fortwachsen, bis sie die Aeste der Bäume niederziehen und abbrechen. Es kann dann lebensgefährlich werden, im Walde spazieren zu gehen.
Eine meisterhafte Schilderung eines jener höchst unheimlichen Eiszapfenwinter, in welchem sich die Leute kaum mehr aus den Wohnungen getrauten, hat Stifter in der „Mappe des Urgroßvaters“ gegeben. Dabei tritt zuweilen eine Erscheinung ein, die dem Laien beim ersten Anblicke ein vollkommenes Räthsel zu sein scheint: die Bildung sichelförmig gekrümmter Eiszapfen an den Baumästen. Sie entstehen sehr einfach dadurch, daß die zunehmende Schwere des Eises die Baumäste immer tiefer herunterzieht und dadurch die Verlängerungsaxe der Zapfen aus ihrer ursprünglichen Richtung bringt.
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Die Edda, die Bibel unserer heidnischen Vorfahren, hat uns den im Nordosten hausenden Frostriesen Hymir, der alljährlich die Natur in Schlaf versetzt, bis Freyr, der Sonnengott, mit seinen strahlenden Waffen den Eispanzer zertheilt und die Schlafende mit seinem Kusse erweckt, in seiner ganzen Majestät geschildert, in jenem Sange, welcher die Abgesandten der Asen zu ihm kommen läßt, um seinen großen Braukessel zu borgen. Die furchtsamen Boten hatten sich hinter den Säulen seines Saales und hinter den Kesseln versteckt, als der grimmige Reifriese heimkam:
Er trat in den Saal, die Gletscher dröhnten,
Ihm war, da er kam, der Kinnwald gefroren.
Da er wußte, wo sich die Abgesandten versteckt hatten, so brauchte er blos einen seiner eiskalten Blicke auf diese Hüllen zu richten, und
Die Säule zersprang von des Riesen Sehe,
Und entzweigebrochen sah man den Balken,
Acht Kessel fielen und einer nur,
Ein hart gehämmerter, kam heil herab.
Die im Norden bis zur Verwendbarkeit in der poetischen Schilderung bekannte, Alles zersprengende Macht des Frostes, die wir zu unserem Leidwesen so oft an geborstenen Wasserleitungsröhren studiren müssen, war den Griechen so auffallend, daß man ein vom Froste gesprengtes Erzgefäß im Tempel des Aeskulap zu Pantikapäum als große Merkwürdigkeit aufbewahrte. Ein Dichter besang es in Versen, welche die gelehrten Geographen Eratosthenes und Strabo der Aufbewahrung würdig gehalten haben:
Wenn der Sterblichen Einer nicht glaubt, was bei uns sich ereignet,
Nun, so lern’ er es selbst, schauend dies Wassergefäß,
Welches nicht als schönes Geschenk den Göttern der Priester
Stratios, sondern als Mal grimmiger Kälte gesetzt!
In der That ist die unwiderstehliche Ausdehnungskraft des Wassers im Augenblicke seines Erstarrens nicht nur eines der wirksamsten Zerstörungsmittel, mit welchem die Natur ihre eigenen Schöpfungen bedroht, sondern auch eine der merkwürdigsten Ausnahmen von der Regel, daß sich die Stoffe um so mehr zusammenziehen, je kälter sie werden. Immerfort arbeitet der Keil des gefrierenden Wassers in den Felsritzen der Alpen, um sie abzutragen, wie er die Gefäße der Pflanzen auseinandertreibt, in denen der Frühjahrssaft vorzeitig pulsirte. Doch sind die Gewächse in ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Frost und in ihrem Wärmebedürfniß außerordentlich verschieden. Einige keimen mitten im Eise; die Christwurz drängt um Weihnachten ihre großen weißen Blüthen durch den Schnee; die handlangen Triebe der Polarweide entfalten ihre Blüthenkätzchen, während der untere Theil des Stengels im starren Frost liegt. Den weit verbreiteten Glauben, daß der Frost die Gewächse nicht im Augenblicke des Gefrierens, sondern in dem des allzu schnellen unvorsichtigen Aufthauens tödte, hat Professor Göppert vor zwei Jahren als Irrthum erwiesen, und dies sehr augenfällig an den Blüthen einiger tropischen Orchideen gezeigt, die sich in Folge ihres Indigogehalts beim Absterben blau färben, diese Färbung aber zur Zeit des Erfrierens und nicht erst beim Aufthauen annehmen.
Man hat in älteren Zeiten zahlreiche Versuche angestellt, um die große Sprenggewalt des gefrierenden Wassers darzuthun. Die Physiker der Florentiner Akademie brachten eine kupferne Kugel mit 0,67 Zoll dicken Wandungen, Huygens im Winter 1667 ein sehr starkes eisernes Kanonenrohr, der Artilleriemajor William zu Quebeck sogar Bomben von acht Zoll Wandstärke durch gefrierendes Wasser zum Zerspringen; ich habe im Gegensatze hierzu eine mit Wasser gefüllte Medicinflasche ganz bleiben sehen, während ein dünner Eiscylinder zwei Zoll hoch über die Mündung emporgetrieben wurde. Der französische Naturforscher Boussingault beschloß im Winter 1870 bis 1871 sich zu überzeugen, wie weit die Ausdehnungskraft des gefrierenden Wassers gehen werde. Er wählte ein Gefäß aus dem widerstandsfähigsten Material, das er auftreiben konnte, eine Gußstahlkanone, deren Wandungen einen Druck von mehreren hundert Atmosphären aushalten konnten, füllte das Rohr bis zur Mündung mit Wasser und verschloß es mit einem Schraubenstöpsel, nachdem er eine kleine Stahlkugel hineingeworfen hatte. Und wie er vorhergesehen, so geschah es: das Wasser in diesem Rohre blieb flüssig, obwohl es einer Kälte bis zu zwanzig Grad Celsius ausgesetzt wurde. Er vermochte zwar nicht, sich hiervon durch den Augenschein zu überzeugen, da das Wasser beim Lüften des Stöpsels natürlich sofort erstarrte, aber die Stahlkugel verrieth durch ihr völlig unbehindertes Rollen während des Versuchs den Zustand des Wassers im Rohre.
Man ersieht hieraus, daß der Gefrierpunkt des Wassers durch mechanischen Druck erniedrigt werden kann, daß er also keineswegs unveränderlich ist. Bei einem Körper, der sich im Augenblick des Erstarrens ausdehnt, konnte man dies eigentlich nicht anders erwarten, aber man hat sonst nicht daran gedacht, bei der Bestimmung des Gefrier- und Schmelzpunkts des Wassers, wie bei seinem Siedepunkt üblich, zu sagen: „Null Grad unter gewöhnlichem Atmosphärendruck“. In neuerer Zeit ist aber die Wandelbarkeit des Gefrier- und Schmelzpunktes zum Ausgangspunkte zahlreicher Versuche und Betrachtungen geworden, die zur Erklärung wichtiger Naturerscheinungen dienen. Schnee, der bei großer Kälte fällt, ballt sich, wie wir gesehen haben, nicht nur nicht zu Flocken, sondern er verhält sich auch den Versuchen, einen Schneeball daraus zu machen, gegenüber wie trockener Sand. Auf der Straße wirkt er wie aufgestreutes Colophonium, um die Wagenräder ein quietschendes Concert vollführen zu lassen, welches sich vom warmen Ofen aus leidlich gut anhört. Der Schnee hingegen, welcher in Flocken bei einer nicht unter Null herabgegangenen Temperatur fällt, läßt sich schon durch einen einfachen Händedruck in ein Mittelding von Schnee und Eis verwandeln, „er ballt“, wie die liebe Jugend mit Freuden und Schmerzen empfindet, letzteres wenn so ein wohlgezielter Eisball ein Loch in den Kopf geschlagen hat. Wer eine Presse und entsprechende Formen besitzt, kann aus solchem Schnee Gestalten beliebiger Art, Weingläser, Schalen und dergleichen pressen, die aus klarem Eise gefertigt scheinen, und unter dem Drucke ihre Form ändern. Dasselbe gelingt mit gröblich zerschlagenem Eise, wenn es nicht kälter als Null ist, am besten also in einem geheizten Zimmer. Das Eis und der aus lauter Eisnadeln bestehende Schnee erweist sich als scheinbar völlig plastisch. Aehnliche Erscheinungen hatte man längst mit großem Erstaunen an dem Gletschereise bemerkt, welches bekanntlich aus dem Schnee entsteht, der sich in den Einsattelungen im Gebirge in ungeheuer hohen Schichten ansammelt. Unter dem Einflusse der wärmeren Luft und Sonnenstrahlen sickert der anfangs lockere Schnee allmählich [185] zusammen, die einzelnen Eisnadeln und Sternchen verbinden sich zu größeren Körnern, zu einer zusammenhängenden härteren Masse, die der Gebirgsbewohner Firnschnee (von fern, vorjährig) nennt. Aus dieser Masse entsteht bei fortdauernder Einwirkung wärmerer Luft das klare Gletschereis, welches sich in seinem abschüssigen Bette ganz wie eine zähflüssige Masse abwärts bewegt, obwohl es an seiner Oberfläche durch das Entstehen zahlreicher krachender Sprünge von seiner Sprödigkeit Zeugniß ablegt.
Das Räthsel dieses scheinbaren Widerspruches löst sich durch den Einfluß des mechanischen Druckes auf den Schmelzpunkt des Eises, wie wir ihn eben in dem Boussingault’schen Versuche kennen gelernt haben. Erstarrt das Wasser unter seinem Einflusse schwerer, so muß fertig gebildetes Eis durch Druck wieder zum Schmelzen gebracht werden können. Professor Mousson in Genf hat dies umständlich nachgewiesen und gezeigt, daß man noch bei achtzehn Grad Kälte Eis schmelzen könne, wenn man einen Druck von mehreren tausend Atmosphären anwendet. Was durch starken Druck noch bei großer Kälte möglich ist, muß bei geringerem vor sich gehen, wenn das Eis bereits auf den Schmelzpunkt erwärmt ist. Dies ist der Fall des ballenden Schnees, dessen Eisnadeln schon unter dem Einflusse des Handdrucks eines Kindes oberflächlich schmelzen. Da das entstandene Schmelzwasser aber genau Null Grad oder gar ein klein wenig kälter ist, so gefriert es in den Zwischenräumen, wo es dem Drucke entweichen kann, augenblicklich von Neuem und verkittet die einzelnen Nadeln dadurch zu einer glasigen Masse. Im Innern des Gletschers geschieht dasselbe unter dem Einflusse des eigenen gewaltigen Druckes; die Eismasse kann sich allen Unebenheiten des Bodens anpassen, da in ihrem Innern ähnliche Verschiebungen der Theile durch Schmelzung und Wiederzusammenfrieren wie in dem Innern des Schneeballes vor sich gehen.
Diese zuerst von Faraday studirte Erscheinung, welche der englische Physiker Hooker das Wiedergefrierungsvermögen (Regelation) des Eises genannt hat, und welches zu einer scheinbar vollkommenen Plasticität des Eises führt, kann besonders leicht an einigen ohne Vorrichtungen und Apparate anstellbaren Versuchen studirt werden, die Bottomley vor etwa zwei Jahren bekannt gemacht hat. Diese Versuche gelingen, richtig angestellt, immer, und da sie wie ein paar Zauberstücke aussehen, werden sie vielen Leuten besonderes Vergnügen machen. Man legt in einem geheizten Zimmer ein cylindrisches Stück Blockeis als Brücke auf die Ränder zweier nahe zusammengerückten Holzschemel, so daß der mittlere Theil des Eises sich frei über einem darunter gestellten Holzeimer befindet. Eine Schlinge von feinstem Eisen- ober Messingdraht, wie er in jeder Eisenwaarenhandlung zu kaufen ist, wird darauf um das Eis gelegt und unten das Gewicht mehrerer Kilogramme (je dünner der Draht, je weniger brauchen es zu sein) daran gehängt. Man wird darauf die Schlinge allmählich in das Eis einschneiden und tiefer sinken sehen, wie wenn der Seifensieder mit einem Draht die Seife in kleinere Blöcke zerschneidet, und endlich wird Gewicht und Schlinge in den Eimer fallen. Das wäre nun nicht weiter auffallend, denn man wird sagen, der Draht habe sich einfach durchgeschmolzen, aber das Sonderbare ist, daß der Eisblock nach dem Versuche ebenso unzerschnitten erscheint, wie zuvor, und an jeder andern Stelle gerade so leicht zu zerbrechen sein würde, wie in der Durchgangsebene des Drahtes, die übrigens durch eine Menge ganz feiner Luftbläschen sehr deutlich bezeichnet bleibt.
Zu einem anderen Versuche, der noch lehrreicher ist, bedürfen wir eines sogenannten Durchschlages, dessen Boden von einem recht feinfädigen Drahtsiebe gebildet wird, wie es sich in den meisten Haushaltungen finden dürfte. Wir legen dasselbe gleichfalls über die beiden Schemelränder, auf den Drahtboden ein passendes Stück Eis, auf dem ein Brett mit mehreren Kilogrammen lastet. Wir werden sodann das Eis allmählich unterhalb des Drahtnetzes wie einen Brei hindurchgedrückt sehen, aber es dabei stets als hartes mit dem oberen Theile fest zusammenhängendes Stück befinden. Wenn es ganz hindurch ist, sieht man, daß es aus so vielen Eiscylindern wieder zusammengefroren ist, als es Maschen des Netzes passirt hat; es erscheint in seiner ganzen inneren Masse durch seine Luftbläschenröhren gleichsam gemustert, einem Fliegenauge unter dem Mikroskope ähnlich. Das Eis schmilzt also überall, wo es gegen die Drahtfäden drückt; das Schmelzwasser entweicht in die Rinnen und verkittet dieselben da, wo es dem Drucke nicht weiter ausgesetzt ist, durch Gefrieren. Mit Fäden oder Haarsieben lassen sich, beiläufig bemerkt, wegen der geringen Wärmeleitungsfähigkeit derselben diese Versuche nicht ausführen. In dem Versuche mit dem Drahtsiebe gewahren wir ganz besonders deutlich, wie das Eis in Folge einer Reihe von Schmelzungs- und Wiedergefrierungsprocessen unter dem Einflusse mechanischen Druckes das Verhalten eines weichen Breies annimmt, und werden es nun nicht mehr auffallend finden, daß sich die Gletschermasse, einem solchen ganz ähnlich, bei warmer Sommertemperatur thalwärts bewegt und sich dabei fortwährend allen Unebenheiten ihres Bettes anschmiegt.
Wir dürfen nicht verhehlen, daß die obige Erklärung der Regelationserscheinungen ihrem Entdecker Faraday nicht hat genügen wollen, namentlich in Anbetracht der Leichtigkeit, mit welcher Eisstücke unter Wasser bei Anwendung des geringsten Druckes zusammenfrieren. Wenn man in einer Schale mit heißem Wasser, so heiß, daß es die Hand eben noch ertragen kann, zwei Eisstücke – man darf sie nicht zu klein nehmen, da sie sehr schnell abschmelzen – einander nähert, so genügt ein sehr geringer Druck, um sie mitten im heißen Wasser zusammenfrieren zu lassen. Auf diese Weise frieren Eisberge, in wärmeres Meer gelangt, zu ganzen Ketten zusammen, und das Aneinanderhängen der Schneeflocken in warmer Luft hat denselben Grund. Da nun die Erniedrigung des Eisschmelzpunktes durch einen ganzen Atmosphärendruck noch nicht den hundertsten Theil eines Thermometergrades beträgt, so glaubte Faraday dieses unter warmem Wasser beinahe schon durch bloße Berührung erfolgende Zusammenfrieren nicht auf Rechnung des mechanischen Druckes setzen zu dürfen, und suchte die vereinigende Kraft vielmehr in einer Art Oberflächenwirkung des Eises, welche das Erstarren des Schmelzwassers bewirkt, ähnlich wie ein in überkältetes Wasser geworfener Eiskrystall augenblicklich dessen Erstarren bewirkt. Es ist aber nicht abzusehen, warum ein kleiner Druck nicht dieselbe Wirkung wie ein größerer ausüben sollte, besonders wenn durch das warme Wasser die Eisoberfläche genau auf den Schmelzpunkt erwärmt worden ist.
Man hat bis vor Kurzem geglaubt, daß das Flußeis eine in seinem Innern gestaltlose Masse sei; allein neuere von Tyndall angestellte Versuche haben das Gegentheil wahrscheinlich gemacht. Wenn man ein kräftiges Brennglas so gegen ein dickes Stück Flußeis richtet, daß der Brennpunkt in das Innere der durchsichtigen Masse fällt, so sieht man auf dem Wege des Lichtstrahls kleine metallglänzende Punkte entstehen. Beobachtet man diese Pünktchen, während die Sonnenstrahlen weiter in die für die Wärmestrahlen sehr durchlässige Eismasse geworfen werden, mit einer starken Loupe, so bemerkt man, daß es linsenförmige Höhlungen sind, um welche sich sechs Blätter bilden, deren Ränder zackig werden wie Farnkrautblätter. Der ganze Weg des Lichtes im Eise erscheint mit sehr kleinen, aber nicht weniger zierlichen Eisblumensternchen bedeckt, deren Bildung man verfolgen kann, und die sich alle in Flächen ausbreiten, welche den beiden Gefrierungsflächen des Eises parallel sind. Die metallglänzenden Linsen im Mittelpunkte dieser Eisblumen sind luftleere Räume, welche dadurch entstehen, daß das Schmelzwasser einen geringern Raum einnimmt als das vorher dort vorhandene Eis, wovon man sich überzeugen kann, wenn man solches mit Eisblumen gefüllte Eisstück unter heißem Wasser zergehen läßt; es steigen dann kleine Luftbläschen unter diesen Hohlräumen empor. Man nimmt an, daß diese Eisblumen, die hierbei gleichsam aus der ganzen Masse einzeln herausgeschmolzen werden, schon vorher in demselben vorhanden seien und nicht erst entstehen, sondern nur sichtbar gemacht werden.
Auch die gefrorne Fensterscheibe gebietet uns, zu schließen, daß das Flußeis nicht gestaltlos sein könne. Denn die dünne Schicht des Wassers, welche sich auf die Fenster unserer Wohnung niederschlägt, gefriert immer und zuweilen in überraschend schönen Krystallbildungen. Man muß hier übrigens zwei Fälle unterscheiden, nach denen dieser Fensterschmuck sehr verschieden ausfällt, den Fall nämlich, in welchem der Wasserdampf der Luft spärlich vorhanden ist, und sich direct in fester Form auf die [186] den Winden ausgesetzte und daher kältere Tafel abscheidet, und den häufigeren, wo sich der Dampf in Masse als Flüssigkeit niederschlägt und erst dann gefriert. Im ersteren Falle, der nur in ungeheizten Zimmern bei stärkerer Kälte eintritt, gleichen die Krystallbildungen dem Reife, zierliche Bäumchen auf trockenem Glasgrunde bildend. Im zweiten häufigeren Falle sind die Eisblumen glasiger und aus längeren Nadeln gebildet. Man sieht dieselben häufig auf dem feuchten Grunde ziemlich schnell vorwärtswachsen, und kann hier recht studiren, wie die ersten Krystallnadeln die Lage und Richtung der folgenden bestimmen. Da diese Krystallisation gewöhnlich am untern Fensterrande, wo sich die erste Feuchtigkeit sammelt, beginnt, so wachsen die Eispflanzen hübsch vom Grunde aus, wie es sich gehört, und nicht von den Seiten, und obwohl es nicht ein und dieselben Krystallnadeln sind, die vom Grunde bis zum obern Rande der Scheibe wachsen, so scheinen sie doch alle von diesen untern auszustrahlen, da sie von ihnen in ihrer Bildung und Lage bestimmt wurden. Daraus entstehen dann oft überraschend schöne Palmen- und Schilfdickichte, der Traum des Winters vom Frühling, wie Gaudy singt:
Der Blumen Dolden schmiegen sich an’s Fenster
Starr, wunderseltsam, silberhell am Saum,
Sie sind der todten Blüthen Eisgespenster,
Sie sind des Frühlings, des verschlafnen, Traum.
Oder wie es ein österreichischer Dichter ausgedrückt hat:
Der Schmuck, den unsrer Fenster
Befrorne Scheiben tragen,
Das sind der Blumen Gespenster,
Die ihren Mörder verklagen.
Man hat diesen Schmuck so schön gefunden, daß es in Mode gekommen ist, statt der Fenstervorsetzer, die untern Scheiben mit künstlichen Eisgespenstern zu verzieren, die im Sommer aushalten. Das Geheimniß besteht darin, eine starke Auflösung von Glaubersalz in Wasser, der etwas Dextrin und Glycerin zugesetzt wird, auf die Scheibe zu gießen, und dann abtropfen und krystallisiren zu lassen. Trifft man das Verhältniß gut, so kann man eine solche Scheibe von einer echten gefrorenen gar nicht unterscheiden, und man sieht den Krystallisationsproceß in wenigen Minuten vollendet.