Rezensierte Publikation:
Blair, Ann; Duguid, Paul; Goeing, Anja-Silvia; Grafton, Anthony (Hrsg.). – Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2021. Ann Blair Paul Duguid Anja-Silvia Goeing Anthony Grafton. – Princeton and Oxford Princeton University Press, 2021. xx+881 S.; 25,4x17,5 cm; 1800 g; ISBN 978-0-691-17954-4 (hardb), ISBN 978-0-691-20974-6 (ebook); USD 65,00.
Wiederentdeckung der Informationsgeschichte?
Man kann den Eindruck gewinnen, dass die historische Dimension in den Informationswissenschaften gerade wiederentdeckt wird. Michael Buckland legte unlängst eine spannende japanisch-amerikanische Nachkriegsgeschichte der „Library Diplomacy“ vor[1] und David Lankes beschreibt die Informationsgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine vom Krieg getriebene[2]. Der vorliegende schwergewichtige Band will ein historischer Wegbegleiter, bzw. Handbuch zur Information in geschichtlicher Perspektive sein. „Schwer“ ist dabei nicht nur als physische Größe gemeint, sondern auch im übertragenen Sinn – zumindest, was das Renommee der verantwortlichen Herausgeber angeht. Ann Blair (Harvard) hat sich verdient gemacht mit der ebenfalls sehr umfangreichen Monographie zur Wissenschaftskommunikation zu Beginn der Moderne[3]. Paul Duguid (iSchool, UC Berkeley), der die Einleitung zu dem Band schreibt, ist in der engeren Informationswissenschaft und -praxis bekannt geworden mit seiner im Jahre 2000 zusammen mit John Seely Brown veröffentlichten, unlängst re-editierten wunderbaren Studie zum „sozialen Leben der Information“, die insbesondere große Wirkung für das Wissensmanagement gezeitigt hat[4]. Anja-Silvia Göing (Harvard/Zürich) machte auf sich aufmerksam durch bildungsgeschichtliche Untersuchungen zur Informationsmanagementpraxis an Züricher Hochschulen des 16. Jahrhunderts[5]. Und der als profunder (Wissenschafts-)Historiker bekannte Anthony Grafton (Princeton) schließlich könnte Informationswissenschaftlerinnen und Informationswissenschaftlern untergekommen sein mit seinem Buch über die Fußnote seit Pierre Bayle und Leopold von Ranke[6].
Doch nicht nur das Herausgebergremium, auch die weiteren Autoren dieses Großprojektes sind illustre und verdiente Experten der Buch-, Medien-, Informations- und Wissenschaftsgeschichte. Neben den vier Herausgebern sind 103 weitere Autorinnen und Autoren zu einem großen Teil aus den führenden Universitäten der Vereinigten Staaten wie Harvard, Princeton und Berkeley, aber auch aus England, Australien, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland. Es fällt jedoch schwer, das Werk und seine Autorinnen und Autoren in eine Fachdisziplin einzuordnen: vertreten sind neben klassischen Informationswissenschaftlern wie Paul Duguid und Michael Buckland, Medienwissenschaftler wie Markus Krajewski, Archivwissenschaftler und Kulturhistoriker wie Eric Ketelaar und Peter Burke auch Vertreterinnen und Vertreter der Orientalistik, Asienkunde, Technikgeschichte oder Kommunikationswissenschaft. Kurz, es handelt sich um ein genuin interdisziplinäres Unternehmen, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Phänomen „Information“ unter allen Gesichtspunkten einer historischen Analyse zu unterziehen. Dass dabei vorwiegend Buch- und Mediengeschichte herauskommt ist erwartbar. Schade ist nur, dass die Zielsetzung weder eine genuin informationswissenschaftliche noch eine medienkritische à la Kittler ist und auch der buchhistorische Diskurs nicht unbedingt einem Paradigma oder einer Schule (wie etwa den französischen Annales) zuzuordnen wäre. Um die Abschlussbewertung vorwegzunehmen: es bleibt ein sich gegenseitig befruchtendes Unterfangen, das versucht, die Vielstimmigkeit des Themas ‚Information‘ zu Gehör zu bringen. Bemerkenswert an dem Handbuch ist deshalb gerade der disziplinär offene Ansatz, der neben der historischen vor allem auch die globale Sicht ernst nimmt. Es erlaubt somit den üblicherweise europäischen, Buch lastigen Blick der Informationsgeschichte zu relativieren.
Konkret beinhaltet das über 900 seitige, fast DIN A 4-formatige Werk auf den ersten 284 Seiten 13 chronologisch angeordnete, längere Kapitel und im zweiten Teil 101 alphabetisch sortierte „short entries“. Beides rechtfertigt die Bezeichnung als Companion und erinnert an viele in letzter Zeit zu beobachtende „Handbücher“ mehr oder weniger großen Umfangs[7].
Bemerkenswerterweise beginnt der historische Gesamtüberblick nicht bei der Ur- und Frühgeschichte, sondern reicht insbesondere in Bezug auf den abendländischen Kulturkreis nur selten in die ersten Jahrhunderte nach Beginn unserer Zeitrechnung oder gar davor. Es scheint also eine gewisse anthropologische Sicht auf Information zu fehlen, wie sie in letzter Zeit in der Informationswissenschaft stärker diskutiert wird. Dagegen stehen eher das Objekt (Dokument) und die Infrastruktur (Wissen und Information als Wirtschafts- und Machtinstrument) im Vordergrund.
So wird über die Rolle der Seidenstraße und ähnlicher geographischer Beziehungen für die frühen Imperien von China bis Rom berichtet (Kap. 1) oder die Leserschaft erfährt, wie sehr die frühe Islamische Kultur auf Kontrolle und Transfer von Wissen und Wahrheit gründete – die „Häuser der Weisheit“ von Bagdad bis zur iberischen Halbinsel waren Übersetzungszentren und gleichzeitig Bibliotheken – (2), und dass die Herrscher verschiedener Länder in Ostasien durch Austausch von Praktiken der Dokumentation, des Archivwesens und der Wissensorganisation voneinander profitierten (3). Die Erfindung des Buchdruck in Europa und die dadurch bedingte Verbreitung von Renaissance und Reformation wird ebenso beschrieben (4) wie die Entstehung von Globalisierung und Kapitalismus im 16. Jahrhundert durch die Informationsflüsse der Handelskompanien (5), die Entstehung neuer Regierungsformen und der Nationalstaaten in Europa auf der Basis von Akten (6), der wirtschaftliche Durchbruch des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens im 18. Jahrhundert (7), die bürokratische Dokumentation und Personenidentifikation in Zeiten der industriellen Revolution (8), die neuen Informations- und Kommunikationsmedien im 19. Jahrhundert (Telegrafie, Fotografie etc.) (9), die ersten Effekte der Informationsvernetzung durch Massenmedien Anfang des 20. Jahrhunderts (10) und die Manipulationen der (öffentlichen) Meinung in Radio und Fernsehen in Kriegs- und Krisenzeiten (von der Titanic-Berichterstattung zum Ungarn-Aufstand 1956) (11). Die Geschichte des Computers wird schließlich von Charles Babbage bis zur Blockchain geführt (12) und die Revolution der Informationssuche von der Encyclopédie der französischen Aufklärung bis zu OCLC und Google (13). Auch wenn die Kapitel in sich unabhängig Etappen der Informations- und Mediengeschichte darstellen, beziehen sie sich immer wieder aufeinander und ergeben damit ein Gesamtbild, ohne dass es eine durchgehende Argumentation wie in einer Monografie gäbe.
Ähnlich verhält es sich bei den folgenden 101 alphabetisch geordneten, kürzeren Artikeln, die eingangs in einer Übersicht in neun Themenbereiche aufgeteilt werden: Konzepte (z. B. Urheberrecht, Daten, Wissen), Formate (Datenbank, Diagramm, Buch, Schriftrolle), Gattungen (Fälle, Listen, Karten, Social Media), Objekte (Glocken, Münzen, Regierungsdokumente), Personen (Archivare, Spione, Korrekturleser), Praktiken (Vorhersagen, Beobachten, Fälschen, Indexieren), Prozesse (Digitalisierung, Quantifizierung, Vermarktung), Systeme (Bürokratie, Landschaft und Stadt, Bibliotheken und Kataloge) und Technologien (Algorithmen, Umfragen/Zensus, Verschlüsselung, Holzschnitt). Und auch hier herrscht eine dezidiert historische Perspektive vor. Beispielsweise wird im Eintrag „Indexierung“ über die Entwicklung der formalen Gliederung und Erschließung von Büchern (etwa in Plinius Naturgeschichte) und frühen Bibliographien wie den Pinakes des Kallimachos berichtet, die unterschiedlichen Facetten asiatischer Klassifikation beschrieben, aber nur kurz auf das Indexieren in Datenbanken wie Google eingegangen. Auch der Eintrag „Information, Disinformation, Misinformation“ konzentriert sich stärker auf Aspekte der Propaganda in Kriegszeiten und geht vollkommen an den intensiven Diskussionen unserer Disziplin (z. B. zur Desinformation (!) mit Floridi, der an keiner Stelle erwähnt wird) vorbei. Der Eintrag „Appraising“ von Anja-Silvia Göing kommt nicht auf Archival Appraisal und der Eintrag „Archivists“ beschäftigt sich mit dem Berufsbild von Archivarinnen und Archivaren, aber eben nicht mit deren Tätigkeit, während es keinen Eintrag zum Thema „Archives“ gibt, wohl aber zu Regierungsdokumenten (verfasst von Eric Ketelaar). Der sogar etwas längere (über zehn Seiten) Text zum Thema „Libraries and Catalogs“ von Paul Nelles hingegen gibt eine recht gut lesbare Gesamtgeschichte von Institution und Tätigkeit in aller Kürze. Das Interessante der alphabetischen Einträge ist neben der historischen Sicht der longue durée vor allem ihre Vielfalt und Heterogenität. Die war ja auch schon das Prinzip der Encyclopédie von Diderot: Wissen und kritische Reflexion zu aktivieren durch Vernetzung und Gegenüberstellung.
Das Buch wird abgeschlossen und erschlossen durch ein acht-seitiges Glossar mit 107 Begriffen unterschiedlicher Spezifität und auf den letzten 40 Seiten durch ein zweispaltiges, engbedrucktes, mehrstufiges Kreuzregister. Diese Art der Erschließung eines voluminösen gedruckten Buches hat zwar (in Zeiten von E-Books) etwas Anachronistisches, sie hilft aber doch, das editorische Unternehmen als Ganzes etwas zu charakterisieren. So geht z. B. der Register-Eintrag „china“ (mit Unterbegriffen) über eine ganze Spalte, „computer“, „islamic world“, „libraries“, „networks“, „news/newspapers“ oder „printing“ sind ebenfalls sehr umfangreich, während „archives“ auch im Index ganz fehlt (nur einige Einträge zu „archivists“), obwohl in den Texten häufig davon die Rede ist. Andererseits finden sich im Glossar Begriffe wie „Skeuomorphismus“, obwohl dieser ansonsten nur zweimal vorkommt. An Personennamen werden im Register Francis Bacon, Cicero, Columbus, Erasmus, Conrad Gessner, Claudius Ptolemäus und Claude Shannon hervorgehoben (mehr als einzeilige Einträge). Die Vielzahl unterschiedlicher Personen, Werktitel und Konzepte, mit denen das Handbuch erschlossen wird, zeugt von der Breite des kulturgeschichtlichen Ansatzes einerseits und der Zentralität des Phänomens „Information“ in der Weltgeschichte andererseits.
Jedes Kapitel, ob kurz oder lang wird abgeschlossen mit Literaturhinweisen als „further reading“. Die im Buch kondensiert dargestellten Hinweise finden sich detaillierter auf der Website des Buches bei Harvard: https://infohist.fas.harvard.edu (unter den jeweiligen Autorennamen). Hier ist auch die Publikation von Updates und weiteren News vorgesehen. Eine integrierte Literaturliste vermisst man hier jedoch ebenfalls. Und es bleibt abzuwarten, ob diese hybride Form der Publikation dauerhaft gelingt: bisher (Stand November 2021) gibt es noch recht wenig „Traffic“ auf der Website. In den Texten selbst gibt es bewusst keine Fußnoten, Referenzen oder Quellenbelege. Eine Praxis, die ggf. der Lesbarkeit zuträglich sein mag, die aber für fachlich Interessierte in diesem Studiengebiet unüblich ist und unbefriedigend bleibt.
Das bringt Leserinnen und Leser auch schließlich zu der Frage, um welche Art Buch es sich tatsächlich handelt: „Companion“ wäre ja eigentlich ein „Begleiter“, „Handbuch“ oder „Vademecum“. Aber für wen? In einem Kompendium oder vernetzt? Wissenschaftlich Tätige der hier angesprochenen Disziplinen wären mit Sicherheit interessiert, auch von den neu zu erschließenden Randgebieten zu profitieren, während Laien vielleicht an dem Buch als „Coffee table book“ interessiert sein könnten. Für erstere fehlt der wissenschaftliche Apparat und für die zweite Funktion die Anschaulichkeit. Die knapp 40 schwarz-weiß Illustrationen (ohne Abbildungsverzeichnis) fallen in der Menge des Textes nicht ins Gewicht.
Auch wenn das Kompendium auf diese Weise eigenartig hermetisch wirkt, ist es dennoch eine wertvolle Basis für die Bereicherung der fortschreitenden Wiederentdeckung der historischen Dimension des Hauptuntersuchungsgegenstands der Informationswissenschaft und sei dieser genauso empfohlen wie umgekehrt die „genuine“ Informationswissenschaft mehr Raum einnehmen könnte in der Fortsetzung des Diskurses, den dankenswerterweise die Herausgeberinnen und Herausgeber angestoßen haben.
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