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S i e g m u n d : Alt, Odontologische Verwandtschaftsanalyse 989 und unteres Inntal. Ber. Naturwiss.-Medizin. Ver. Innsbruck 71, 1984, 19–56. – N. Wahlmüller, Beiträge zur Vegetationsgeschichte Tirols V: Nordtiroler Kalkalpen. Ebd. 72, 1985, 101–144). Bei der Recherche nach ähnlichen Resultaten haben die Autoren also die aktuelle und recht junge Grenze zwischen der Schweiz und Österreich nicht überschritten, die in prähistorischer Zeit natürlich keinerlei Bedeutung hatte. Dies ist leider ein Mangel an einer Publikation, die wichtige Ergebnisse zu der in allen Alpenländern geführten Diskussion um die früheste Besiedlung des Hochgebirges bringt. Doch leider wird auf diese Diskussion, die seit Jahrzehnten zwischen Archäologen und Pollenanalytikern geführt wird, nicht eingegangen. Sie muß an anderer Stelle weitergeführt werden, doch muß sie dann die Publikation der drei Basler Wissenschaftler unbedingt berücksichtigen. Ziel muß es doch sein, die Untersuchung des gesamten Alpenraumes im Visier zu haben! Es werden also wichtige Ergebnisse vorgelegt, die in äußerst mühevoller Arbeit gewonnen worden waren; sie hätten aber eine noch eingehendere Diskussion verlangt und verdient. D–30167 Hannover Nienburger Straße 17 Hansjörg Küster Universität Hannover Institut für Geobotanik Kurt W. Alt Alt,, Odontologische Verwandtschaftsanalyse. Individuelle Charakteristika der Zähne in ihrer Bedeutung für Anthropologie, Archäologie und Rechtsmedizin. Unter Mitarbeit von Werner Vach. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, Jena, Lübeck und Ulm 1997. ISBN 3-437-25248-8. 333 Seiten, 75 Abbildungen und 127 Tabellen. Verwandtschaft gilt als grundlegendes Organisationsprinzip aller einfachen menschlichen Gesellschaften. Ein Wissen, das der Archäologie Probleme bereitet, denn ihre Quellen lassen meist keine direkten Rückschlüsse auf diese wichtige soziale Dimension zu. So sind innovative Ansätze in der physischen Anthropologie mit höchstem Interesse zu verfolgen, die uns immerhin die biologische Verwandtschaft zwischen Individuen aufdecken. Recht offensichtlich ist das Potential, das derzeit durch die Analyse alter DNA erschlossen wird, wenn auch einstweilen offen bleiben muß, ob angesichts des beträchtlichen Laboraufwandes jenseits exemplarischer Versuche jemals größere Serien, etwa ganze Gräberfeldpopulationen, in hinreichender Anzahl einer Analyse zugeführt werden können. Zudem beruhen diese Aussagen zur genetischen Verwandtschaft einstweilen auf der sog. Mitochondrien-DNA, die nur die Verwandtschaft in der weiblichen Linie erkennen läßt, doch darf hier auf weitere Fortschritte gehofft werden. Kurt W. Alt beschreitet einen anderen Weg: Verwandtschaft zwischen Individuen wird anhand der vererbbaren Merkmale im Skelett untersucht. Nachdem er in den vergangenen Jahren mehrfach Vorberichte zu ersten Anwendungen publizierte, legt er nun sein Wissen und seinen methodischen Ansatz in einem Lehrbuch dar. Das sehr systematisch angelegte Buch beginnt mit einer Entwicklung der Fragestellung, die die kulturhistorische Problematik ausdrücklich einschließt, und einer Schilderung von Forschungsgeschichte und Forschungsstand. Hierbei werden verschiedene Ansätze vor allem in den 1980er Jahren samt umfangreicher Literaturverweise skizziert, die meist anhand generell seltener Merkmale am Skelett Verwandtschaft diagnostizieren. Insgesamt scheint man sich hier im Stadium der tastenden Versuche zu befinden; als ausgereift benennt Alt nur die Untersuchungen von Szilvassy über die Nebenhöhlen des Schädels. Die Problematik der meisten Ansätze liegt wohl letztlich in 990 S i e g m u n d : Alt, Odontologische Verwandtschaftsanalyse der noch ausstehenden Grundlagenforschung an Populationen bekannter Verwandtschaft, die verläßliche Auskunft über den Grad der tatsächlichen genetischen Bedingtheit der einzelnen Merkmale geben. Kurt W. Alt wählte daher die Zähne als Grundlage seiner Untersuchungen aus. Hier stehen bereits vielerlei rezente, letztlich medizinisch orientierte Reihenuntersuchungen zur Verfügung, die auch der Frage der Vererbbarkeit der Merkmale gelten. Zudem wären bei Bedarf zusätzliche Reihenuntersuchungen mit geringerem Aufwand möglich, da hier die Befunderhebung am lebenden Menschen einfacher ist. Für Anwendungen in der Archäologie ist auch die meist bessere Überlieferung gerade der Zähne ein gewichtiges Argument für die Konzentration gerade auf diesen Aspekt. So bildet der anschließende Merkmalskatalog einen Hauptteil dieses Buches (S. 25–184). Systematisch wird die Nomenklatur der Zähne erläutert, ihr Aussehen und ihre vielen möglichen unterschiedlichen Ausprägungen und Anomalien geschildert, anschließend die Anomalien des Gebisses insgesamt. Daraus ergeben sich die zu erhebenden diskreten Merkmale, die die Grundlage der weiteren Untersuchung bilden. Die Erläuterungen sind verständlich geschrieben und so reich durch anschauliche Schemazeichnungen bebildert, daß der anthropologisch nicht ausgebildete Rezensent bei der Lektüre den Wunsch verspürte, zu einem Schädel zu greifen und eine Befundung zu versuchen. Zu den meisten Merkmalen kann Alt aufgrund umfangreicher Literaturrecherchen ihre Häufigkeit in verschiedenen rezenten Populationen zusammenstellen. Hier geht es auch um die systematische Überprüfung der Nützlichkeit der diskutierten Merkmale für weitere Untersuchungen. Nur Merkmale, die gut beobachtbar, generell selten und weitgehend unbeeinflußt von Alter und Geschlecht sind und zugleich eine hohe Heritabilität (Erblichkeitsanteil) besitzen, sollten in die Verwandtschaftsanalyse einfließen. Als Ergebnis dieser Bemühungen, aber auch seiner Erfahrungen aus vielen praktischen Untersuchungen, legt Alt dann einen Merkmalskatalog von 137 Merkmalen fest (Anhang, S. 296–300), auf die die Individuen bei einer odontologischen Untersuchung hin betrachtet werden sollten. Erst ein solcher klar umrissener, genormter und in der Praxis erprobter Katalog verhindert einen denkbaren naiven Ansatz, bei dem nur unsystematisch einzelne Auffälligkeiten konstatiert würden. Daran anschließend werden die Grundlagen und methodischen Ansätze der auf diesen Merkmalen basierenden odontologischen Verwandtschaftsanalyse beschrieben (S. 187–209). Alt unterscheidet drei Möglichkeiten. Im ersten Ansatz werden recht einfach die Merkmalshäufigkeiten untersucht. Tritt ein Merkmal in einer Teilpopulation relativ zur üblichen Frequenz in einer Vergleichpopulation markant häufig auf, kann es eine gruppeninterne genetische Nähe anzeigen. Im zweiten Ansatz werden Individuen aufgrund ihrer Merkmale paarweise verglichen und eine Ähnlichkeit bestimmt, die unter bestimmten Voraussetzungen Verwandtschaft anzeigen kann. Im dritten Ansatz wird die gesamte Information einer Population gesichtet, d. h. alle Individuen mit allen Merkmalen. Ziel ist es, zusammengehörige Teilblöcke innerhalb der Gesamtmatrix zu umreißen, d. h. innerhalb dieser Population Gruppen von Individuen zu erkennen, bei denen mehrere Merkmale auffallend übereinstimmen. Die Wahl des Ansatzes hängt von der Problemstellung ab; so ist der erste Ansatz nur bei kleinen Gruppen unter 20 Individuen sinnvoll, während ab 50 Individuen stets der dritte Ansatz zu verfolgen ist. Was zunächst einfach klingt, erweist sich in der konkreten Praxis als durchaus schwieriges Unterfangen. Denn die einzelnen Merkmale müssen klassifiziert werden als ‘vorhanden’, ‘nicht vorhanden’ oder ‘nicht beobachtbar’. Die letztgenannte Kategorie ist aufgrund der eingeschränkten Erhaltung bei prähistorischem Material häufig und bereitet allerlei Unannehmlichkeiten. Es bedarf komplexer Rechenverfahren und sorgsamer Interpretation der Ergebnisse, um diese Problematik zu umschiffen. S i e g m u n d : Alt, Odontologische Verwandtschaftsanalyse 991 Im dritten Hauptteil des Buches (S. 210–284) hat Alt exemplarische Anwendungen seiner Verwandtschaftsanalysen zusammengestellt, in denen am konkreten Beispiel vor allem die notwendigen Rechenverfahren und die Interpretationsmöglichkeiten erläutert werden. Die einzelnen Fallstudien beruhen meist auf bereits publizierten bzw. im Druck befindlichen Untersuchungen Alts, doch hilft die systematische Zusammenstellung, die Unterschiede der Ansätze und auch die Berechnungen besser zu verstehen. Der räumliche und zeitliche Rahmen ist weit gesteckt. In Bestattungen einer villa rustica bei Regensburg wird versucht, die Familie des Hofbesitzers zu erkennen, für eine bronzezeitliche Siedlungsgrube in Tschechien mit acht Skeletten kann die Hypothese einer zusammengehörigen Familie abgesichert werden; ein anderes Beispiel führt uns zu Kollektivgräbern des 3. Jahrtausend v. Chr. auf die arabische Halbinsel, wo jedoch mangels moderner Grabungs- und Dokumentationsmethoden kaum griffige Ergebnisse zu erwarten waren. Eine aus mitteleuropäischer Sicht ungemein wichtige Studie stellt die Untersuchung der Hallstatt-D1-zeitlichen Grabhügelgruppe von Dattingen im Schwarzwald dar (S. 224–240; vgl. Germania 73, 1995, 281–316), wo aus vier Hügeln insgesamt 32 Körpergräber stammen. Der individuelle Paarvergleich (Ansatz 2) führt zur konkreten Benennung von jeweils zwei Individuen, die in auffallend vielen epigenetischen Merkmalen übereinstimmen. Diese Paare finden sich selten im gleichen Hügel, sondern verbinden meist separierte Hügel miteinander. Die Suche nach Teilblöcken (Ansatz 3) erweist sich vor allem für den Hügel II, der als einziger vollständig erhalten war und die meisten Gräber aufweist, als ergebnisträchtig. Hier sind vier erwachsene Frauen untereinander, vier erwachsene Männer untereinander und beide Gruppen jeweils mit den Kindern und Jugendlichen verwandt. Dies macht wahrscheinlich, daß der Hügel der gemeinsame Bestattungsplatz einer sozialen Kleingruppe (’Familie‘) ist, bei der nach festen Regeln die Ehepartner jeweils aus zwei unterschiedlichen Abstammungslinien stammen. Schwache Indizien deuten als Residenzregel Matrilokalität an. Diese These, später viel umstritten, hatte schon Ludwig Pauli aufgrund rein archäologischer Argumente anhand dreier nordbadischer Grabhügel geäußert (L. Pauli, Untersuchungen zur Späthallstattkultur in Nordwürttemberg. Hamburger Beitr. Arch. 2, 1972). Es wäre für unser Bild der späthallstättischen Gesellschaft von großem Nutzen, wenn das sich nun erneut andeutende Bild an weiteren Fällen durch eine odontologische Verwandtschaftsuntersuchung gestützt werden könnte. Zwei weitere Fallstudien gelten merowingerzeitlichen Reihengräberfeldern, Eichstätten am Kaiserstuhl und Kirchheim im Nördlinger Ries (S. 251–283). Anhand von Eichstätten, das in seinem archäologischen Teil leider noch nicht greifbar ist, führt Alt ausführlich seine Berechnungen vor, die zur Aufdeckung von markanten Teilblöcken in der großen Matrix aller Individuen und Merkmale führen (Ansatz 3). Hier wird deutlicher, welche Probleme durch die am jeweiligen Individuum nicht beobachtbaren Merkmale entstehen. Die Berechnung exakter ’Auffälligkeitswahrscheinlichkeiten‘ für einen genetischen Zusammenhang erweist sich auch für moderne Rechner als zu aufwendig, weshalb ein effizienteres Schätzverfahren gewählt wird, das auf Simulationen beruht. Die Kartierung der vermutlich verwandten Individuen im Gräberfeldplan zeigt anschaulich, daß im Einzelfall zwar verwandte Individuen nah beieinanderliegend bestattet wurden, generell jedoch einander Verwandte in Streulage auf dem ganzen Gräberfeld bestattet sind. Hier unterstreicht die Verwandtschaftsanalyse die bislang allein archäologisch begründete Hypothese, daß auf den frühmittelalterlichen Reihengräberfeldern zumeist die zeitliche Dimension den konkreten Bestattungsplatz stärker bestimmt als die Familienzugehörigkeit. Die umfassende Auswertung der Erhebung für das Gräberfeld von Kirchheim befindet sich in der abschließenden Phase, hier stellt Alt nur exemplarisch erste Ergebnisse vor. Auch hier läßt sich nach den oben geschilderten komplizierten Berechnungen zumindest eine Familie herausstellen. Der Versuch, auch archäologische In- 992 S i e g m u n d : Alt, Odontologische Verwandtschaftsanalyse formationen in die Verwandtensuche einzubeziehen, wird nicht ganz plausibel – doch bleibt hier die Gesamtpublikation des Vorhabens abzuwarten. Knappe Zusammenfassungen in deutscher und englischer Sprache sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Sachregister runden das Buch ab. Die odontologische Verwandtschaftsanalyse erschließt uns ein neues Fenster in die Vergangenheit und wird das Verständnis ur- und frühgeschichtlicher Gesellschaften wesentlich erhellen helfen. Das Lehrbuch von Kurt W. Alt signalisiert, daß die notwendige Phase der Methodenentwicklung zu einem ersten Abschluß gekommen ist und regt an, nun auf diesem Standard verstärkt Anwendungen in die Wege zu leiten. Zugleich erklärt es in verständlicher Weise auch dem Nicht-Anthropologen die Grundlagen solcher Untersuchungen, so daß man ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Probleme besser versteht. D–37073 Göttingen Nikolausberger Weg 15 Frank Siegmund Georg-August-Universität Seminar für Ur- und Frühgeschichte