Z Außen Sicherheitspolit (2021) 14:49–55
https://doi.org/10.1007/s12399-021-00835-y
FORSCHUNGSNOTIZ
Somalia am Scheideweg
René Brosius
Eingegangen: 7. Januar 2021 / Angenommen: 25. Januar 2021 / Online publiziert: 16. Februar 2021
© Der/die Autor(en) 2021
Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit stellt ein Zwischenergebnis eines Forschungsprojektes zur Frage der Übertragbarkeit deutscher Staatsstrukturprinzipien
auf clan-basierte Gesellschaften am Beispiel Somalias dar. Ziel der Forschungsnotiz
ist es, anlässlich des Endes der turnusmäßigen Amtszeit des aktuellen Präsidenten im
Februar 2021 zu erörtern, wie die Übertragung der Strukturprinzipien bislang vorangeschritten ist und wie die Ergebnisse zu bewerten sind. Diese Einschätzung der
aktuellen Lage in Somalia erfolgt unter Einbezug historischer und gesellschaftlicher
Hintergründe und Entwicklungen.
Schlüsselwörter Somalia · Präsidentschaftswahlen · Konflikt · Verfassung ·
Mohamed Abdullahi Mohamed (Farmajo) · Clan · Gesellschaft · Föderalismus
Somalia at a Crossroads
Abstract This paper presents an interim result of a research project on the question
of the transferability of German state structure principles to clan-based societies,
using Somalia as an example. Against the backdrop of the end of the presidential
term in February 2021, the research note discusses how the transfer of structural
principles has progressed so far and how the results are to be assessed. This assessment of the current situation in Somalia takes into account historical and social
backgrounds and developments.
Keywords Somalia · Presidential Elections · Conflict · Constitution · Mohamed
Abdullahi Mohamed (Farmajo) · Clan · Society · Federalism
R. Brosius ()
Lehrstuhl für African Legal Studies, Universität Bayreuth, Universitätsstr. 30, 95447 Bayreuth,
Deutschland
E-Mail: Rene.Brosius@uni-bayreuth.de
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R. Brosius
1 Einleitung
Somalia steht kurz vor dem Ende der turnusmäßigen Amtszeit des Präsidenten Mohamed Abdullahi Mohamed (genannt Farmajo) am Scheideweg. Das Land ist polarisiert und befindet sich an der Schwelle zu einem gewaltsamen Konflikt. Die
vorliegende Arbeit stellt ein Zwischenergebnis eines Forschungsprojektes zur Frage
der Übertragbarkeit deutscher Staatsstrukturprinzipien auf clan-basierte Gesellschaften am Beispiel Somalias dar. Die aktuelle Verfassung Somalias wurde seit 2004
mit Unterstützung der Global Knowledge Transfer Working Group des Max Planck
Institute for Comparative Public Law and International Law erarbeitet und im Oktober 2012 verabschiedet. In der Folge gibt es deutliche Parallelen zwischen der
deutschen und somalischen Verfassung. So ist Art. 1 der vorläufigen Verfassung
Somalias nahezu wortlautidentisch mit Art. 20 des deutschen Grundgesetzes. Das
Dissertationsprojekt geht der Frage nach, welche Wirkungen die Übertragung der
Strukturprinzipien erzielen. Eine der Hoffnungen war es zum Beispiel, mit der Einführung eines Föderalismus die staatliche Stabilität und politische Kooperation zu
stärken.
Ziel der Forschungsnotiz ist es, anlässlich des Endes der turnusmäßigen Amtszeit
des aktuellen Präsidenten am 8. Februar 2021 zu erörtern, wie die Übertragung der
Strukturprinzipien bislang vorangeschritten ist und wie die Ergebnisse zu bewerten
sind. Diese Einschätzung der aktuellen Lage in Somalia erfolgt unter Einbezug
historischer und gesellschaftlicher Hintergründe und Entwicklungen.
2 Gesellschaftliche Verhältnisse
Somalia war in den letzten Jahrzehnten ein ausgesprochen schwieriger Partner für die
internationale Gemeinschaft. Vieles von dem, was man sich (entwicklungs-)politisch
erhoffte, blieb aus oder wurde nur sehr zögerlich erreicht. Das lag insbesondere auch
an den komplizierten gesellschaftlichen Verhältnissen in Somalia.
Ein markantes Merkmal der somalischen Gesellschaft ist das Verständnis
von Abstammung und Tradition. Dabei werden grundsätzlich vier große Clans
unterschieden1, die Dir, die Hawiye, die Darod und die Digil-Rahaweyn. Binnenmigration, gewaltsame Verdrängungen, aber auch traditionelle Allianzen, familiäre
Netzwerke und (Heirats-)Bündnisse prägen die Beziehungen der Clans untereinander. Mit der Geburt tritt ein Somali damit in ein jahrhundertealtes Beziehungsgeflecht seiner Familie ein, welches seine eigene (Clan-)Identität und viele (Freund-/
Feind-)Beziehungen zu seiner Umwelt bereits vorherbestimmt (Bradbury 2008,
S. 18). Diese gesellschaftlichen Bedingungen prägen die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen der Somalier*innen, insbesondere
auch mit Blick auf Staatlichkeit und Politik. Sie können Auslöser und Lösungsansatz
für politische Konflikte sein.
1 Darunter finden sich zahlreiche weitere Abstammungsgruppen und Subclans. Im sog. 4.5 System werden
neben den vier noblen Clans unter .5 die Nachfahren früherer Sklav*innen, Bantu-Gruppen, aber auch
Gruppen früherer arabischer, indischer, portugiesischer oder persischer Einwanderer*innen erfasst.
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3 Jüngere Geschichte
Somalia hat eine konfliktreiche jüngere Geschichte, die die politischen Akteure im
Land stark beeinflusst. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts befand sich das Land faktisch in einem Dauerzustand gewaltsamer Konflikte. Religiös motivierte antikoloniale Bewegungen2 (Issa-Salwe 1996, S. 29–36), britische und italienisch-faschistische
Kolonialzeit (Issa-Salwe 1996, S. 40–45), eine kurze zivile Administration, eine brutale Militärdiktatur (Ingiriis 2016) sowie Bürgerkrieg und Staatsfragilität kennzeichneten die vergangenen 120 Jahre. Die Machtbasis vieler Akteure waren religiöse
Bewegungen, Clan-Allianzen und/oder die Unterstützung von äußeren Mächten.3
So kann etwa die islamistische Terrorgruppe Al Shabab auf eine clanübergreifende
Zusammensetzung ihrer Anhänger und auf finanzielle und technische Unterstützung
aus Teilen der arabischen Welt bauen. Die Militärdiktatur von 1969 bis 1991 konnte
sich anfangs auf die militärische und finanzielle Unterstützung der Sowjetunion stützen. Als diese nach dem Ogadeen-Krieg von 1977/1978 ihre Unterstützung entzog,
hielt sich das System des Machthabers Siad Barre noch bis 1991 aufgrund der sogenannten MOD-Clan-Allianz4, einer Verbindung verschiedener Gruppen seines eigenen Darod-Clans, der Marehaan sowie den Ogadeen- und Dulbahande. Durch seine
aggressive Teile-und-herrsche-Politik, die Angehörige anderer Clans systematisch
und gewaltsam benachteiligte sowie alle Schlüsselpositionen des Staates mit clanoder familienverbundenen Personen besetzte, baute sich ein großer gesellschaftlicher Druck auf. Nach dem Sturz des Regimes entlud sich dieser in gewaltsamen
Auseinandersetzungen entlang der Clangrenzen5 mit zehntausenden Toten und löste
internationale Interventionen6 aus, die bis heute im Land aktiv sind.
Nur vor diesem Hintergrund ist die gegenwärtige politische Stimmung in Somalia
zu verstehen. Nach der Militärdiktatur war es für über zwei Jahrzehnte nicht denkbar, dass ein Repräsentant der Darods, geschweige denn der Marehaan7, Präsident
von Somalia mit einem Regierungssitz in Mogadishu werden könnte. Doch vor vier
Jahren gelang dies. Mit Mohamed Abdullahi Mohamed kam ein Mann mit Diasporageschichte, US-Pass und Darod-Zugehörigkeit ins Amt. Die Wahl galt als Aufbruch
in eine neue Epoche des Wiederaufbaus und der Versöhnung. Mit ihr verbunden
war der Auftrag, die Versöhnung der Clans voranzutreiben, die Überarbeitung der
vorläufigen Verfassung abzuschließen, demokratische Wahlen zu organisieren und
die Sicherheitslage im Land zu verbessern.
2 Noch heute steht ein Reiterdenkmal des Anführers dieser Bewegung, Sayyid Muhammad Yusuf, im
Zentrum Mogadishus.
3 Zunächst Kolonialmächte, später Supermächte im Kalten Krieg. Heute unterstützen Finanziers aus dem
arabischen Raum verschiedenste Politiker*innen und Gruppierungen.
4 Es gab auch US-amerikanische Unterstützung, die aber einen deutlich geringeren Umfang und zivileren
Charakter hatte.
5 Der Begriff clan cleansing, wie ihn Lidwien Kapteijns (2014) verwendet, ist nicht nur umstritten, sondern nach Auffassung des Autors auch unzutreffend.
6 Die Interventionen sind völkerrechtlich legitimiert durch die UN- Resolution 751 (UNSC 1992) und
Resolution 814 (UNSC 1993). Der immer noch andauernde Einsatz, der auch die AMISOM-Präsenz der
Afrikanischen Union beinhaltet, basiert auf der Resolution S/RES/2365 (UNSC 2017).
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Der Clan des Militärmachthabers Siad Barre.
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4 Aktuelle Lage
Wenige Wochen vor Ende der Amtszeit des Präsidenten ist die Stimmung im Land
gänzlich ausgetauscht. Somalia steht an einem gefährlichen Scheideweg. Trotz zahlreicher Bemühungen und Unterstützungen durch die internationale Gemeinschaft
wurden in den letzten vier Jahren kaum Fortschritte erreicht. Die Wirtschaftsleistung stagniert, die Korruption ist exorbitant8 und die Lebensverhältnisse der meisten Somalier*innen haben sich deutlich verschlechtert. Viele Schlüsselbereiche der
Staatlichkeit wie die Justiz, die öffentliche Verwaltung und der Sicherheitsapparat sind schlecht organisiert und leiden unter massiver politischer Einflussnahme.
Ein Wahlgesetz, welches eine Direktwahl des Parlaments nach dem Gleichheitsprinzip (one person, one vote) sicherstellen sollte, wurde bis zum Februar 2020
verschleppt (Olad Hassan 2020). Da die Legislaturperiode des Parlamentes bereits
am 27. Dezember 2020 ablief, war eine fristgerechte organisatorische Umsetzung,
mithin die Einteilung von Wahlkreisen, die Einrichtung einer unabhängigen Wahlkommission und eine Wählerregistrierung zu diesem Zeitpunkt bereits unmöglich.
Der in der vorläufigen Verfassung von 2012 festgeschriebene Föderalismus (Art. 1
Abs. 1) sollte für Stabilität und Power-Sharing sorgen – ein Gegenmodell zum Teileund-herrsche-Prinzip der Vergangenheit. Er wurde in den letzten Jahren systematisch von der Regierung in Mogadishus untergraben und dazu genutzt, politisches
Dominanzverhalten zu exerzieren. Die Rolle der derzeit fünf Bundesländer wurde
dadurch gezielt geschwächt. Hilfsgelder der internationalen Gemeinschaft wurden
als Erpressungs- und Züchtigungsinstrument durch die Regierung eingesetzt.
Außenpolitisch hat die Regierung die Ressentiments mit den Nachbarn Kenia9
und Äthiopien10 gepflegt und damit die Sicherheitslage der Schutztruppen der Afrikanischen Union im Land verschlechtert. Zwei Jahre ist es her, dass die somalische Regierung den Sondergesandten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen
für Somalia, Nicholas Haysom, aus dem Land verwies (Hujale 2019). Hintergrund
waren seine kritischen Fragen zur Einflussnahme der somalischen Regierung auf
Landtagswahlen sowie zu zahlreichen Festnahmen und Toten bei Demonstrationen. Unter anderem wurde kurz vor der Wahl einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidentenamt des Bundeslandes festgenommen und von der Wahl
ausgeschlossen.11
8 Laut Corruption Perception Index (CPI) 2019 rangiert Somalia auf Platz 180 von 180 untersuchten Ländern (Transparency International 2019).
9 Beispielsweise hat Somalia die diplomatischen Beziehungen zu Kenia im Dezember 2020 abgebrochen
(DW 2020b). Zudem trat bei der Wahl um den Afrikanischen Platz im Weltsicherheitsrat ab 2021 Somalia
gegen Kenia an und unterlag.
10 Das Verhältnis zu Äthiopien ist ambivalent. Auf der einen Seite gilt der Präsident als Marionette des
äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed. Auf der anderen Seite wird politisch von einer Besetzung
des Landes durch christliche Truppen gesprochen und die Grenzziehung zwischen Somalia und Äthiopien
immer wieder in Frage gestellt.
11 Dabei handelt es sich um Sheikh Mukhtar Robow. Eine schillernde Persönlichkeit und Funktionär der
frühen Al-Shabab. Er wurde während der Amtszeit der Regierung begnadigt und kann als Kandidat der
Herzen vieler Digil-Rahaweyn bezeichnet werden. Kurz vor den Wahlen Ende 2018 in South West State
wurde er festgenommen. Seitdem ist das Schicksal unklar. Es gab weder öffentliche Erklärungen noch ein
rechtsstaatliches Verfahren.
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Aus heutiger Sicht war dies ein Menetekel für die weitere Entwicklung. Denn
die Regierung hat seitdem eine Strategie des ungenierten Rückfalls in die alte Teileund-herrsche-Ideologie betrieben. Ein Blick auf die aktuelle Auseinandersetzung
über den Wahlprozess bestätigt dies. Gem. Art. 89 Abs. 1 der vorläufigen somalischen Verfassung wählen die Abgeordneten beider Kammern den Präsidenten. Wer
die Zusammensetzung der beiden Kammern kontrolliert, kontrolliert mithin auch
die Wahl des Präsidenten. Der Vorwurf der Opposition ist, dass die Regierung die
Durchführung der Parlamentswahlen gezielt sabotiert bzw. manipuliert und daran
arbeitet, auch nach dem Ende ihrer Amtszeit das Land weiter zu regieren. Die Ankündigung der Regierung vom 9. Januar 2021, die Wahlen nur in einigen Teilen des
Landes stattfinden zu lassen (Brosius 2021), scheint diesen Vorwurf zu bestätigen
und hat die Lage weiter zugespitzt (allAfrica 2021). Der Sprecher der Opposition,
der frühere Präsident Somalias Hassan Sheikh Mohamud, bezeichnete dies als Versuch, „die Wahl zu stehlen“ (Mohamud 2021, eigene Übersetzung). Der Vorwurf
scheint nicht unbegründet. Auch nach dem Ende der Amtzeit ist die Situation nahezu unverändert. Erst im Nachgang der Sitzung des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen am 9. Februar 2021 und aufgrund intensiver internationaler Bemühungen
wurde eine weitere Verhandlungsrunde für den 15. Februar 2021 durchgesetzt.
5 Fazit
Derzeit finden die Auseinandersetzungen in Somalia im Wesentlichen (noch) auf
politischer und gesellschaftlicher Ebene statt. Das zeigt, dass es noch eine Grundlage für eine friedliche Lösung gibt. Aber: Es wird zunehmend riskant, Demonstrationen zu organisieren oder an diesen teilzunehmen. Erst kürzlich erschienen bei
einer Versammlung eine zivil gekleidete Sicherheitskraft und schoss knapp über die
Köpfe der Teilnehmer*innen12 – ein offener Einschüchterungsversuch. Wer sich politisch äußert, muss mit Repressionen bis hin zur Bedrohung von Leib und Leben
rechnen. Somalia ist mittlerweile nicht nur eines der weltweit gefährlichsten Länder für Journalist*innen (Reporter ohne Grenzen 2020; DW 2020a), sondern auch
für demokratisch, menschenrechtlich13 oder umweltpolitisch Engagierte geworden.
Die Regierung zeigt mit Blick auf die Wahlen und Kritik an ihr selbst zunehmend
autokratische Tendenzen und versucht dafür den Militär- und Sicherheitsapparat
einzusetzen.14
Die Tragik dieser Entwicklung ist, dass das Ziel der Versöhnung und die Stärkung
verfassungsrechtlicher Strukturen nicht erreicht wurde. Bekannte Dominanzmuster,
12
Der Vorfall wurde von Passant*innen gefilmt. Dabei handelte es sich wohl um eine Versammlung
zu Gunsten des Präsidentschaftskandidaten Abdirahman Abdishakur Warsame. Einige Tage zuvor wurde
auf einer Demonstration ein junger Mann erschossen. Gegenstand der Demonstration war die allgemeine
schlechte Lage im Land, für die die Regierung verantwortlich gemacht wurde.
13 So zum Beispiel im November 2019 die Schwester der Preisträgerin des Deutschen Afrika-Preises von
2020 Ilwad Elman, die mit ihrem Fahrzeug bereits in der Green-Zone auf dem Weg zum internationalen
Flughafen war, von Unbekannten erschossen.
14 Dies zeigt sich zum Bespiel an gezielten Truppenverlegungen in die Gedo-Region, zuvor nach Dusamareb und aktuell in die Hiran-Region.
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systematische Benachteiligungen und eine unheilvolle Verbindung von Politik, Sicherheitsapparat und Wirtschaft haben das Land in den letzten vier Jahren massiv
polarisiert und destabilisiert. So wurden etwa Generäle aus der Zeit der Militärdiktatur zu militärischen Beratern des Präsidenten ernannt15 oder Institutionen des
Rechtsstaats wie das oberste Gericht oder die Position des Generalstaatsanwalts mit
Personen ohne nachgewiesene Fachkenntnis besetzt. Viele fühlen sich an die Zeit
der Militärdiktatur erinnert. Ein gefährliches Déjà-vu, denn im Unterschied zu 1991
verfügen nahezu alle somalischen Haushalte heute über Schusswaffen. Das Scheitern
der Vorbereitung und Durchführung von direkten Parlamentswahlen war ein Rückschlag. Das Scheitern des indirekten Wahlprozesses, wie er 2012 und 2016/2017
stattfand, wäre mehr als das. Es wäre ein gesellschaftlicher und sicherheitspolitischer
Sprengsatz. Darauf scheint es hinauszulaufen. Trotz entsprechender Vereinbarungen
im September 202016 gibt es keine Einigung, wie die Wahlen durchgeführt werden
sollen. Bereits mehrfach wurde die Bestimmung von Abgeordneten aufgrund von
Konflikten verschoben, bei denen die Bundesregierung selbst Beteiligte oder Anlass
ist.17 Nach zahlreichen Aufforderungen anderer Clans trafen sich am 5. und 6. Januar 2021 die Hawiye in Mogadishu (allAfrica 2021). Diese stellen, je nach Schätzung,
zwischen 25 und 35 % der Gesamtbevölkerung Somalias. Ihre Botschaft war deutlich: Ohne geordneten Wahlprozess wird die Regierung nach dem 8. Februar 2021
nicht weiter anerkannt. Damit haben sie sich ähnlichen Verlautbarungen der Darods,
anderer Clangruppen sowie entsprechender Communiqués der vereinten Opposition
angeschlossen (Heritage Institute 2021).18 Dies zeigt zweierlei: erstens, dass es in
Somalia kaum politischen Spielraum ohne die sehr gut organisierten Clans gibt, und
zweitens, dass die gegenwärtige Verfassung diese starken Strukturen nicht abbildet.
Die gegenwärtige Krise ist deshalb auch eine Verfassungskrise. Somalia steht vor
einer Zerreißprobe – politisch wie gesellschaftlich. Die Hoffnungen auf Stabilität
und geordnete politische Prozesse haben sich nicht erfüllt. Das Land riskiert erneut
in Gewalt zu versinken und dringend benötigte Unterstützung der internationalen
Gemeinschaft zu verlieren. Eine Tragödie für ein Land mit so enormem Potenzial.
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15
Darunter General Mohamed Said Hersi Morgan, der unter anderem für die blutige Bekämpfung der Widerstandsbewegung im heutigen Somaliland verantwortlich war. Er ließ Wasserstellen und Städte zerstören
sowie Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung fliegen. Teilweise trägt er den Beinamen Butcher of Hargeisa. Seine Ernennung zum wichtigen Militärberater des Präsidenten hat die Beziehungen zu Somaliland
erheblich belastet.
16
Konferenz von Dusmareb/Galmudug.
17
Aktuell zum Beispiel die Streitigkeiten um die Regierungsbildung im Bundesland Hir Shabelle oder in
der Gedo-Region. Auch in den Bundesländern, die am 9. Jan. 2021 angekündigt haben, an den Wahlen
teilzunehmen, gibt es noch keine Wahlmänner.
18 Vgl. Ergebnisse der Garowe-Conference vom 29. Dez. 2020 bis 2. Jan. 2021 zur Zukunft Somalias.
Darin wurde explizit auf die Fortführung der (ausgesetzten) Verfassungsüberprüfung und auf einen geordneten Wahlprozess gedrungen.
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