Die Revision der Roten Liste der Flechten der Schweiz
Silvia Stofer, Michael Dietrich, Markus Gabathuler, Christine Keller,
Gesa von Hirschheydt, Mathias Vust & Christoph Scheidegger
Meylania 63 (2019): 30-34
Rote Listen zeigen die aktuelle Gefährdungssituation einheimischer Arten an. In
der ersten offiziellen Roten Liste der Flechten der Schweiz (Scheidegger et al.
2002) wurden 37 % der baum- und erdbewohnenden Flechten entweder als regional ausgestorben (RE), vom Aussterben bedroht (CR), stark gefährdet (EN) oder
verletzlich (VU) beurteilt. Haben diese Einstufungen immer noch ihre Gültigkeit?
Gibt es Arten, die aktuell häufiger anzutreffen sind als noch Ende des letzten
Jahrhunderts, oder umgekehrt solche, denen man seltener begegnet? Bei einigen
Arten sind die Veränderungen offensichtlich. Zum Beispiel konnten erfreulicherweise Chaenotheca cinerea (Pers.) Tibell (Dietrich & Bürgi 2008, Abb. 1), Teloschistes chrysophthalmus (L.) Th. Fr. (Spinelli 2015), Psora vallesiaca (Schaer.) Timdal
und Toninia lutosa (Ach.) Timdal (Vust 2007, Abb. 2) alle wiedergefunden werden,
nachdem sie in der Roten Liste 2002 als ausgestorben eingestuft waren. Leider ist
auch der gegenteilige Fall eingetreten. Die wenigen bekannten Vorkommen von
Sticta limbata (CR) oder Cladonia portentosa (CR) konnten bei einer Überprüfung
nicht mehr bestätigt werden (Dietrich & Bürgi 2008, Gabathuler et al. in prep.).
Zurzeit sind somit keine aktuellen Vorkommen dieser beiden Arten in der Schweiz
mehr bekannt. Wie ist der aktuelle Zustand von Parmotrema perlatum (Buds.)
M. Choisy (P. chinense (Osbeck) Hale & Ahti; VU), einer Flechte, die als Zeigerart
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Abb. 1. Makroaufnahme von Chaenotheca cinerea. Ihre Fruchtkörper zeigen auf der Unterseite
der Köpfchen und im oberen Teil des Stiels eine relativ grobkörnige, weisse Bereifung. Foto:
C. Scheidegger.
Abb. 2. Toninia lutosa konnte in inneralpinen Felsensteppen im Mittel- und Unterwallis wieder
nachgewiesen werden. Foto: M. Vust.
für Auswirkungen lokaler Klimaveränderungen gilt und die von der Bryologischlichenologischen Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa (BLAM) zur Flechte des
Jahres 2019 gewählt wurde (www.blam-bl.de)? Trifft die in Nordrhein-Westfalen
beobachtete Zunahme der Populationsgrösse auch für die Schweiz zu?
Nur noch eine Rote Liste
Rote Listen sind in der Schweiz rechtswirksam. Im Artikel 14, Abs. 3 der Natur- und Heimatschutzverordnung (NHV) sind sie als Werkzeuge zum Ausscheiden
von schützenswerten Biotopen aufgeführt. In der Artenförderung bilden sie eine
wichtige Grundlage bei der Prioritätensetzung (BAFU 2011). Entsprechend wichtig
ist eine periodische Überarbeitung der Roten Listen. Im vergangenen Jahr hat das
Bundesamt für Umwelt (BAFU) das Nationale Daten- und Informationszentrum der
Schweizer Flechten SwissLichens an der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee
und Landschaft WSL beauftragt, die Rote Liste der baum- und erdbewohnenden
Flechten zu aktualisieren. Wie schon bei der ersten Ausgabe verlangt das BAFU,
dass die Gefährdungseinstufungen auf den von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) vorgeschlagenen Kriterien zur Erstellung von Roten Listen
(IUCN 2012) beruhen. Zudem sollen die Daten zu den baum- und erdbewohnenden
Flechten – im Gegensatz zur ersten Roten Liste – methodisch einheitlich erhoben
werden. Dieser integrative Ansatz garantiert eine konsistente Einstufung über die
beiden Artengruppen hinweg, erlaubt die Nutzung von Synergien im Feld und
eliminiert das von der Praxis bemängelte umständliche Arbeiten mit zwei Roten
Listen für Flechten.
Aktuell
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Verbesserte Datengrundlage
Um die IUCN-Kriterien anwenden zu können, braucht es Daten zur Verbreitung
der Arten sowie über die Grösse und Entwicklung ihrer Populationen. Seit dem Erscheinen der ersten Roten Liste haben sich die Kenntnisse über die Flechten in der
Schweiz weiter verbessert. Lagen nach der Kartierung für die Rote Liste 2002 etwas
über 60‘000 georeferenzierte Fundmeldungen vor, so verzeichnet die Datenbank von
SwissLichens heute doppelt so viele. Die Herkunft der Daten ist mannigfaltig. Sie
stammen beispielsweise vom Inventar und der Roten Liste der Flechten von Genf
(Vust 2015, Vust et al. 2015), vom Artenschutzkonzept des Kantons Luzern (Dietrich
2009), von aufgearbeiteten Sammlungen und Herbarien (Dietrich & Danner 2014,
www.flechten-kaufmann.ch), von Inventaren ausgewählter Gebiete (u.a. Vust 2004,
Vust 2007, Mombrial et al. 2013, Groner 2016, Kiebacher et al. 2018), aus wissenschaftlichen Projekten wie der Arbeit zu den Bergahornweiden im Alpenraum
(Kiebacher et al. 2018) oder der Studie über die Biodiversität und Habitatsstrukturen im Wildnispark Sihlwald (Healer et al. 2018), aus Bachelor- und Masterarbeiten,
diversen Tagen der Artenvielfalt sowie von unzähligen Einzelbeobachtungen durch
Privatpersonen. Über viele Populationen von seltenen und hochgradig gefährdeten
Flechten wissen wir zurzeit zudem relativ gut Bescheid. Während der vergangenen
vier Jahre wurde der Zustand von mehr als 600 Populationen von über 100 national
prioritären, stark gefährdeten oder vom Aussterben bedrohten Flechten überprüft
und dokumentiert. Die Resultate dieser Arbeit (Gabathuler et al. in prep.) können
vollumfänglich für die Revision der Roten Liste verwendet werden.
Erneut gezielte Datenerhebungen
Leider werden in keinem schweizweiten Monitoring des BAFU, wie z.B. dem Biodiversitätsmonitoring Schweiz (Koordinationsstelle BDM 2014) oder der Wirkungskontrolle Biotopschutz Schweiz (Boch et al. 2018), Flechten erhoben. Es existieren also keine standardisierten, periodisch erhobenen Daten auf Dauerflächen, die
statistische Rückschlüsse über Verbreitung und Veränderung zulassen würden. Die
Erhebung einer für die Schweizer Landschaft repräsentativen Stichprobe ist deshalb ein wichtiger Bestandteil der Feldarbeit für die Revision der Roten Liste der
Flechten. Es wird dazu auf einem Subset der 826 Probeflächen der repräsentativen
Erhebung der ersten Roten Liste der epiphytischen Flechten (A-Erhebung) (Abb. 3)
gearbeitet. Sie umfassen je eine Fläche von 500 m2 und liegen auf Schnittpunkten
des schweizerischen Koordinatensystems. Neben den Arbeiten auf diesem Stichprobennetz werden in festgelegten 20 x 20 km grossen Flächen Exkursionen zu wichtigen Lebensräumen von Flechten durchgeführt (B-Erhebung) (Abb. 1, S. 39). Es
wäre sehr hilfreich, wenn uns Personen beim Kartieren von B-Flächen unterstützen
würden (von Hirschheydt et al., diese Ausgabe der Meylania).
Meylania
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Publikation für 2022 vorgesehen
Die Arbeit zur Revision der Roten Liste ist in zwei Phasen aufgeteilt: 1) die Feldkampagne zur Erarbeitung der Datengrundlage und 2) die Auswertung der Daten,
die Gefährdungseinstufung und das Verfassen der Roten Liste. Im Herbst 2018 fiel
der Startschuss zur Feldkampagne. Die Kartierungsarbeiten werden bis 2021 an-
Abb. 3. Die geplanten Probeflächen der Erhebung A. Die Probeflächen sind proportional auf
die biogeografischen Regionen verteilt: Jura (blau), Mittelland (grün), Voralpen (hellgrün),
Zentralalpen (weiss), Südalpen (beige). (https://www.wsl.ch/de/projekte/rote-liste-der-baumund-erdbewohnenden-flechten.html, A-Flächen).
dauern. Die Publikation der revidierten Roten Liste ist für 2022 geplant. Bis dahin
liegt noch viel Arbeit vor uns. Wir freuen uns darauf und hoffen auf eine rege
Beteiligung aller Flechtenfreunde und Flechtenfreundinnen der Schweiz.
Literatur
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und Förderung Stand 2011. Bundesamt für Umwelt, Bern. Umwelt Vollzug Nr. 1103. 132 S.
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in der Schweiz erloschen, Neufund von Chaenotheca cinerea. Meylania 41: 21–27.
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Dietrich M., Danner E. 2014. Flechten. Faszinierende Vielfalt in der Bergwelt um Engelberg.
Auf den Spuren von Pater Fintan Greter (1899–1984). Naturforschende Gesellschaft Obwalden und Nidwalden, Band 5. 240 S.
Gabathuler M., Dietrich M., Dymytrova L., Groner U., Scheidegger C., Vust M., Stofer S. (in
prep.). Zustand national prioritärer, stark bedrohter Flechtenpopulationen in der Schweiz.
Groner U. 2016. Flechten und assoziierte nicht lichenisierte Pilze des Bödmerenwald-Silberen-Gebietes im Muotatal, Kanton Schwyz. Cryptogamica Helvetica 22: 1–156.
Haeler, E., Lachat, T. & Hindenlang K. 2018. Biodiversität und Habitatstrukturen im Wildnispark Zürich Sihlwald: Einrichtung eines intensiven Naturwald-Untersuchungsstandorts.
Aktuell
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Schlussbericht für das Bundesamt für Umwelt, BAFU. Mit Kapitelbeiträgen von: Stefan
Blaser: Pilze, Ariel Bergamini, Thomas Kiebacher: Moose, Christoph Scheidegger, Christine Keller: Flechten. Berner Fachhochschule BFH-HAFL, Stiftung Wildnispark Zürich,
Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, Universität Zürich. 159 S.
IUCN. 2012. IUCN Red List Categories and Criteria: Version 3.1. Second edition. IUCN, Gland,
Switzerland and Cambridge. 32 S.
Kiebacher T., Bergamini A., Scheidegger C., Bürgi M. 2018. Bergahornweiden im Alpenraum.
Kulturgeschichte, Biodiversität und Rudophis Trompetenmoose. Bern, Haupt. 235 S.
Koordinationsstelle BDM. 2014. Biodiversitätsmonitoring Schweiz BDM. Beschreibung der
Methoden und Indikatoren. BAFU, Bern.
Mombrial F., Bäumler B., Clerc P., Habashi C., Hinden H., Lambelet-Haueter C., Martin P.,
Price M., Palese R. 2013. Flore en Ville – sites et espèces d’intérêt en Ville de Genève –
Plantes à fleurs, fougères, mousses, lichens. Hors-série n° 15. Conservatoire et Jardin
botaniques de la Ville de Genève. 276 S.
Scheidegger C., Clerc P., Dietrich M., Frei M., Groner U., Keller C., Roth I., Stofer S., Vust M.
2002. Rote Liste der gefährdeten baum- und erdbewohnenden Flechten der Schweiz.
BUWAL, WSL & Conservatoire et Jardin botaniques de la Ville de Genève. BUWAL-Reihe:
Vollzug Umwelt. 124 S.
Spinelli A. 2015. Ricomparsa di Teloschistes chrysophthalmus (L.) Th. Fr. nella Svizzera. Meylania 55: 5–7. Vust M. 2004. Inventaire des lichens terricoles des milieux azonaux de
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Vust M. 2015. Inventaire des lichens du canton de Genève. Boissiera 69: 1-144.
Vust M., Clerc P., Habashi C., Mermilliod J.-C. 2015. Liste rouge des lichens du canton de Genève. Hors-série n° 16. Conservatoire et Jardin botaniques de la Ville de Genève. 160 S.
Silvia Stofer1, Michael Dietrich2, Markus Gabathuler3, Christine Keller4,
Gesa von Hirschheydt5, Mathias Vust6 & Christoph Scheidegger7
Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf;
silvia.stofer@wsl.ch
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Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf;
michael.dietrich@wsl.ch
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Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf;
markus.gabathuler@wsl.ch
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Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf;
christine.keller@wsl.ch
5
Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf;
gesa.vonhirschheydt@wsl.ch
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mathias.vust@wsl.ch
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Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf;
christoph.scheidegger@wsl.ch
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