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Unterschiedenheit („mit sich [identisch]“) darstellt. Unglücklicherweise ist aber der Begriff
des Vertrauens durchaus konnotiert mit a) einem Prozess des Entwickelns von Vertrauen
(also gerade nicht ursprünglich), b) einem Wissen (von den Eigenschaften) des VertrautheitsObjekts (auch und gerade wenn es sich um eine Person handelt) und c) der Nicht-Identität des
Vertrauten mit dem Vertrauenden. Die von Frank gewählte Terminologie scheint somit gar
nicht geeignet, sein theoretisches Anliegen adäquat zum Ausdruck zu bringen.
Ansichten der Subjektivität bietet einen guten Einblick in Manfred Franks Bemühungen
um eine Verteidigung seiner Präferenz für die Theorie vom Selbstbewusstsein als Vertrautheit
des Bewusstseins mit sich, indem Beiträge zu verschiedenen ‚Perspektiven‘ auf das Selbstbewusstseins-Thema, die in den letzten 25 Jahren entstanden sind, systematisch schlüssig
miteinander verknüpft werden. Trotz der exponierten Stellung, die das SelbstbewusstseinsThema in den Schriften Franks immer eingenommen hat, hat es an einer solchen systematischen Zusammenstellung seiner ‚Ansichten‘ zum Thema bislang gefehlt.
Die in diesem Band zusammengestellten Texte greifen zum großen Teil Auseinandersetzungen und Argumentationsansätze auf, die in zahlreichen anderen Veröffentlichungen Franks
ebenfalls – in mehr oder weniger relevanten Abweichungen – zu finden sind. Ansichten der Subjektivität wäre eine Gelegenheit gewesen, aus den zahlreichen Vorarbeiten eine Quintessenz zu
bilden, die tatsächlich eine Gesamtansicht der Theorie Franks mit scharfen Konturen und präzise
gegliedertem Inhalt bietet. Aber auch wenn es das nicht geworden ist, liest man die material- und
gedankenreichen Abhandlungen dieses Buches doch auch wieder mit Gewinn. Und: Frank hat
einen kurzweiligen, von persönlichen Reminiszenzen garnierten ‚Erzähl‘-Stil, der es gleichzeitig
an theoretischem Material wie auch an philosophischer Argumentation in sich hat.
Die Ungerechtigkeit der globalen Ordnung
Individuelle Pflichten und das Problem der realisierbaren Alternative
Von CORINNA MIETH (Bochum)
ThOMAS POGGE: WElTARMUT UND MENSchENREchTE. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen. Walter de Gruyter, Berlin 2011, 389 S.
Im Jahr 2002 ist von Thomas Pogge der Band World Poverty and Human Rights bei Polity Press erschienen. Er setzt sich aus überarbeiteten Zeitschriftenaufsätzen des Autors von
1992 bis 2002 zusammen, die schon in den 1990er Jahren die internationale Debatte um das
Weltarmutsproblem entscheidend geprägt haben. Das Buch ist in den letzten zehn Jahren
zu einem Bezugspunkt der philosophischen und politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Weltarmutsproblem geworden. Inzwischen liegt die längst überfällige deutsche
Übersetzung dieses Standardwerks vor. Sie ergänzt die englische Fassung um ein Kapitel zum
health Impact Fund, in dem Pogge einen konkreten Vorschlag zur Verbesserung der lage der
Menschen, die von gravierender Armut betroffen sind, vorlegt. Ich werde drei Schlagpunkte
der Debatte um Pogges Position beleuchten. Erstens die These, dass das Armutsproblem kein
hilfs-, sondern ein Gerechtigkeitsproblem ist. Zweitens die These, dass es sich hier um ein
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corinna Mieth, Die Ungerechtigkeit der globalen Ordnung
Menschenrechtsproblem handelt, das auf eine ungerechte institutionelle Ordnung zurückgeht.
Drittens die Frage, welche realisierbaren Alternativen es zu der bestehenden ungerechten
Ordnung gibt.
Die neuere internationale innerphilosophische Debatte um das Weltarmutsproblem
hat ihren Ausgangspunkt 1972 bei Peter Singers Aufsatz Famine, Affluence and Morality
genommen.1 Singer betrachtet das Armutsproblem als hilfsproblem. Er vergleicht die lage
der Armen mit einem Kind, das in einen Zierteich gefallen ist und zu ertrinken droht. hier
wäre für einen Passanten, der das Kind retten könnte, die hilfe dringend geboten. Umgekehrt
wäre die unterlassene hilfeleistung als gravierendes moralisches Übel, als schwerwiegende
Pflichtverletzung, zu betrachten. Diesen Fall analogisiert Singer mit dem Verhältnis, in dem
die reiche Bevölkerung der westlichen länder zu den vom Tod durch armutsbedingte Ursachen Bedrohten stehe. Durch Spenden könnten die Reichen nach Singers Auffassung zumindest einigen Armen das leben retten. Dazu müssten sie lediglich auf luxusgüter verzichten,
was moralisch zumutbar wäre. Singers These ist, dass die Reichen den von extremer Armut
Betroffenen gegenüber genauso weit reichende Hilfspflichten haben wie der Passant gegenüber dem ertrinkenden Kind. Das Armutsproblem wurde in der an Singers Publikationen
anschließenden Debatte daher zumeist als individuelles hilfsproblem diskutiert.
Thomas Pogges Ansatz bietet hierzu eine zweifache Alternative. Er schlägt vor, das
Armutsproblem erstens nicht als hilfs-, sondern als Gerechtigkeitsproblem und zweitens nicht
als individuelles, sondern als institutionelles Problem zu verstehen. In der liberalen philosophischen Tradition ist die Auffassung weit verbreitet, dass positive Pflichten normativ schwächer sind als negative Pflichten. Dabei werden unter positiven Pflichten zunächst Pflichten
verstanden, die aktive Leistungen verlangen, während negative Pflichten nur Unterlassungen
fordern. Eine weitere grundlegende Idee ist, dass negative Pflichten als Schädigungsverbote
zu verstehen sind und positive Pflichten als Hilfsgebote. Verständlicherweise haben Schädigungsverbote größere Verbindlichkeit.2 Ferner ist unter Philosophen und Juristen hochumstritten, ob man durch Unterlassen schädigen kann. Singer und die Rechtssysteme der meisten
europäischen länder gehen davon aus, dass man durch unterlassene hilfeleistung schädigen
kann, und betrachten diese als Straftatbestand. In den Rechtssystemen Englands, der meisten
Bundesstaaten der USA und Australiens ist dies jedoch nicht der Fall.
Pogge geht an vielen Stellen in seinem Buch so vor, dass er um der Argumentation willen
diejenige Position einnimmt, die am wenigsten voraussetzungsvoll zu sein scheint und daher
von den meisten geteilt werden kann. Während der Verbindlichkeitsgrad von positiven hilfspflichten moralphilosophisch und juristisch umstritten ist, ist die universelle Geltung von Schädigungsverboten normativ unumstritten. Unter einer negativen Pflicht versteht Pogge die Pflicht,
anderen Menschen keinen Schaden zuzufügen. Er teilt die libertäre Intuition, dass es moralisch
schwerwiegender ist, andere aktiv zu schädigen, als ihnen keine oder weniger hilfe zu leisten.
Damit weist er Singers Konzeption starker positiver Pflichten, dass wir nämlich durch unterlassene hilfeleistung schädigen können, zurück. Wie Kant und viele andere geht Pogge davon aus,
dass positive Pflichten einen schwächeren Verbindlichkeitsgrad haben als negative Pflichten.
Ferner lassen sie Abstufungen in der Verbindlichkeit zu: Es ist legitim, Familienmitgliedern und
Landsleuten eher zu helfen als Fremden. Negative Pflichten lassen dagegen keine Abstufungen
im Verbindlichkeitsgrad zu: Das Schädigungsverbot gilt universell.
1
2
P. Singer, hunger, Wohlstand und Moral, in: B. Bleisch u. P. Schaber (hg.), Weltarmut und Ethik,
Paderborn 2007, 37–51.
Vgl. C. Mieth, Positive Pflichten. Über das Verhältnis von Hilfe und Gerechtigkeit in Bezug auf das
Weltarmutsproblem, Berlin 2012.
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Pogges innovative empirische These lautet, dass die BürgerInnen der reichen und mächtigen
Staaten die Armen schädigen, indem sie zu einer ungerechten globalen Ordnung beitragen und
von ihr profitieren, die die Armen systematisch schädigt, indem ihre Menschenrechte in dieser
Ordnung vermeidbarerweise unerfüllt bleiben. Wir sind also keine unschuldigen „bystander“,
wie der Passant in Singers Beispiel, sondern mitverantwortlich für das Weltarmutsproblem:
„Wir sind nicht bloß ferne Zeugen eines Problems, zu dem wir in keiner Verbindung stehen
und angesichts dessen wir nur schwache positive Hilfspflichten haben. Vielmehr sind wir kausal und moralisch tief in das Elend der Armen verstrickt, weil wir ihnen eine globale institutionelle Ordnung aufzwingen, die fortwährend massive Armut erzeugt.“ (263, vgl. 148) Da wir
die Armen durch unsere Verstrickung in eine ungerechte institutionelle Ordnung schädigen,
müssen wir diese Verletzung einer negativen Pflicht durch Hilfs- und Reformanstrengungen
kompensieren. Insofern sind es auch bei Pogge letztlich die Individuen in den reichen ländern,
die bei der Armutsbekämpfung gefragt sind, doch ist seine Begründung der Pflichten zu Hilfe
und politischen Reformen als Kompensationspflichten, die aus der Verstrickung in die Ungerechtigkeit der globalen Ordnung folgen, so umstritten wie innovativ.
Die Frage, ob Pogges Konzeption negativer Pflichten überzeugen kann, war in den letzten
zehn Jahren vielfach Gegenstand der Auseinandersetzung.3 Dabei geht es hauptsächlich um
zwei Probleme. Erstens ist fraglich, ob seine Konzeption wirklich ohne starke positive Pflichten auskommt. Denn die Argumentation, dass wir die Armen schädigen, indem wir eine globale Ordnung aufrechterhalten, in der vermeidbarerweise wirtschaftliche und soziale Menschenrechte unerfüllt bleiben, impliziert, dass wir die Armen schädigen, indem wir die diesen
positiven Rechten entsprechenden positiven Pflichten nicht erfüllen. Zweitens ist unabhängig
von der engeren moralphilosophischen Debatte um positive und negative Pflichten die empirische These umstritten. Ich werde mich im Folgenden mit zwei Aspekten der zweiten Frage
befassen, da sie für Pogges Position letztlich ausschlaggebender ist: Inwiefern ist die globale
Ordnung ungerecht? Und: Was ist eine realisierbare Alternative?
Auch was seine Konzeption der Menschenrechte betrifft, bleibt Pogge der Methode treu,
mit möglichst schwachen Voraussetzungen zu arbeiten. So geht er davon aus, dass Menschenrechte sich auf den Zugang zu grundlegenden Gütern beziehen. Ferner kommen diese Rechte
als moralische Rechte jedem Individuum unabhängig von kontingenten Faktoren zu. Die erste
Besonderheit an Pogges Ansatz besteht darin, dass er das weit verbreitete maximalistische,
interaktionale Menschenrechtsverständnis ablehnt, dem zufolge dem Menschenrecht eines
jeden Individuums entsprechende Pflichten jedes anderen Individuums korrespondieren würden.4 Alternativ schlägt er ein minimalistisches, institutionelles Menschenrechtsverständnis
vor.5
3
4
5
Vgl. R. cruft, human Rights and Positive Duties, in: Ethics & International Affairs, 19.1 (2005),
29–37; A. Patten, Should We Stop Thinking about Poverty in Terms of helping the Poor?, in: Ethics
& International Affairs, 19.1 (2005), 19–27; D. Satz, What do We Owe the Global Poor?, in: Ethics
and International Affairs, 19.1 (2005), 47–54; c. Mieth, World Poverty as a Problem of Justice?
A critical comparison of Three Approaches, in: Ethical Theory and Moral Practice, 11.1 (2008),
15–36; P. Gilabert, The Duty to Eradicate Poverty. Positive or Negative, in: Ethical Theory and Moral
Practice, 7.5 (2005), 537–550; A. M. Jaggar (hg.), Thomas Pogge and his critics, cambridge 2010;
S. Daskal, Confining Pogge’s Analysis of Global Poverty to Genuinely Negative Duties, in: Ethical
Theory and Moral Practice (im Erscheinen).
Vgl. A. Gewirth, Duties to Fulfill the Human Rights of the Poor, in: Th. Pogge (Hg.), Freedom from
Poverty as a human Right. Who Owes What to the Very Poor?, Oxford 2007, 11–53.
Vgl. auch Th. Pogge, Severe Poverty as a Violation of Negative Duties (Reply to the critics), in:
Ethics and International Affairs, 19.1 (2005), 55–83.
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corinna Mieth, Die Ungerechtigkeit der globalen Ordnung
Worauf es ankommt, ist also zunächst nicht die Ungerechtigkeit von Einzelhandlungen,
sondern die Gerechtigkeit beziehungsweise Ungerechtigkeit der die Einzelhandlungen einrahmenden Institutionen. Pogges These lautet, dass die Ungerechtigkeit der globalen Ordnung
für die Ungerechtigkeit innerhalb einzelner Staaten hauptverantwortlich ist. Er erläutert dies
am Beispiel des Rohstoff- und des Kreditprivilegs. Viele ressourcenreiche länder werden von
brutalen Diktatoren regiert, die sich mit Gewalt an die Macht geputscht haben. Diese Diktatoren
erfreuen sich nichtsdestotrotz internationaler Anerkennung, auch durch unsere Regierungen,
die sie als legitime Eigentümer der Ressourcen ihrer länder betrachten und ihnen diese abkaufen, ohne Rücksicht darauf, dass die Diktatoren den Erlös selbst behalten, während ihre Bevölkerung arm bleibt. „Eine Gruppe von leuten, die das Sicherheitspersonal eines Warenlagers
überwältigt und selbiges unter ihre Kontrolle bringt, kann natürlich einen Teil dieser Ware verkaufen. Der hehler aber, der sie bezahlt, wird dadurch nicht zum Eigentümer, sondern nur zum
Besitzer der Beute.“ Im Fall des internationalen Rohstoffprivilegs wird der Käufer „nicht nur
zum Besitzer dieser Rohstoffe, sondern erwirbt all die weltweit anerkannten Rechte und Privilegien eines Eigentümers, die auch die Gerichte und Polizeikräfte anderer Staaten schützen müssen (und tatsächlich schützen)“ (143). Das Kreditprivileg erlaubt Diktatoren, „im Namen der
gesamten Bevölkerung Kredite aufzunehmen und somit dem ganzen land international rechtsgültige Zahlungsverpflichtungen aufzubürden“ (145). Beide Privilegien sind massiv ungerecht
und wirken sich verheerend auf das Wohlergehen der Bevölkerung in den armen, aber ressourcenreichen ländern aus. Ungerechte institutionelle Rahmenordnungen auf globaler Ebene können so die Ungerechtigkeit von Einzelhandlungen und ungerechten innerstaatlichen Ordnungen
ermöglichen. Da diese ungerechten institutionellen Rahmenbedingungen auf globaler Ebene
von den Regierungen der reichen und mächtigen länder entscheidend bestimmt werden und
wir unsere Regierungen demokratisch legitimiert haben, fallen die Ungerechtigkeit der globalen
Ordnung und ihre Auswirkungen auf diejenigen, die von gravierender Armut betroffen sind, auf
uns zurück. Durch die Aufrechterhaltung und Durchsetzung einer globalen Rechtsordnung, die
diese Privilegien enthält, tragen wir, die BürgerInnen der reichen Staaten, zu einer ungerechten
Ordnung bei, uns trifft „eine kausale und moralische Mitverantwortung“ (146). Die ungerechte
Rahmenordnung ermöglicht und verstärkt nämlich die ungerechten nationalen Faktoren. Durch
den Kauf von billigen Rohstoffen profitieren wir von dieser ungerechten Ordnung.
Diese These Pogges ist mehrfach untersucht worden. Sie gerät erstens dadurch unter
Druck, dass unter sehr komplexen Bedingungen die höhe des individuellen Beitrags nicht
ermittelt werden kann, zweitens dadurch, dass moralische Übel auch unabhängig vom individuellen Beitrag zu Stande kämen6 und dass drittens keine Alternative dazu besteht, da wir
nicht intentional schädigen oder dies in Kauf nehmen, sondern durch unseren alltäglichen
lebensstil in Schädigungen verstrickt sind, die wir nicht vermeiden können.7 Die These, dass
wir von Unrecht profitieren, ist erfolgversprechender, da Restitutionspflichten unabhängig
von der moralischen Verantwortung für das Übel, von dem man profitiert hat, bestehen können.8 Gleichwohl bleibt auch hier unterbestimmt, wie viel profitiert wird und wodurch dafür
kompensiert werden sollte.
6
7
8
Vgl. etwa S.-M. Shei, World Poverty and Moral Responsibility, in: A. Follesdal u. Th. Pogge (hg.),
Real World Justice. Grounds, Principles, human Rights and Social Institutions, Dordrecht 2005,
139–155.
Vgl. J. lichtenberg, Negative Duties, Positive Duties, and the ,New harms‘, in: Ethics, 120.3
(2010), 557–578.
Vgl. hierzu N. Anwander u. B. Bleisch, Beitragen und Profitieren. Ungerechte Weltordnung und
individuelle Verstrickung, in: B. Bleisch u. P. Schaber, Weltarmut und Ethik, a. a. O., 171–194.
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Für die These der Ungerechtigkeit der globalen Ordnung ist die Annahme von realisierbaren Alternativen notwendig. Wenn es keine realisierbaren Alternativen gibt, dann könnte
nur von Unglück, nicht von Ungerechtigkeit die Rede sein. Ferner muss die realisierbare
Alternative einforderbar sein. letzteres erreicht Pogge durch den Menschenrechtsbezug seines Ansatzes. Wenn ein institutionelles Arrangement realisierbar ist, das die Übereinstimmung mit den Menschenrechten verbessert, dann muss es umgesetzt werden, sonst ist der
Status quo als „ungerecht“ zu bezeichnen. Dabei baut er auch ein Kriterium der Zumutbarkeit
ein: Den Status quo bezeichnet er nur dann als ungerecht, „wenn wir die lebensumstände der
Armen dieser Welt verbessern können, ohne unsere eigenen lebensumstände bedeutend zu
verschlechtern“ (255). Pogge arbeitet zwei konkrete Reformvorschläge heraus: eine globale
Rohstoffdividende (Kapitel 8) und den health Impact Fund (Kapitel 9). Der Vorschlag der
globalen Rohstoffdividende geht von folgendem Gedanken aus: „Wer die Rohstoffe unseres
Planeten überproportional nutzt, sollte diejenigen entschädigen, die unfreiwillig nur sehr
wenig verbrauchen.“ (255) Die Rohstoffe bleiben Eigentum der nationalen Regierungen.
Diese zahlen zum Beispiel bei der Erdölförderung die Dividende und geben die Unkosten an
die Verbraucher weiter. Dabei soll die Belastung der Verbraucher zumutbar bleiben. So würde
der „Preis für Erdölprodukte […] um nur ca. $ 0,2 pro liter ansteigen“ (256). Ein „anfänglicher Betrag von 300 Milliarden US-Dollar pro Jahr“ würde Pogge zufolge ausreichen, um
„die Situation der Armen bereits innerhalb weniger Jahre gewaltig [zu] verbessern, ohne die
Menschen in den wohlhabenden ländern stark zu belasten: der erforderliche Betrag beläuft
sich auf rund 40 Prozent des jährlichen Verteidigungsetats der USA“ (256). Dabei könnte
man sich auf ausgewählte Rohstoffe wie Erdöl beschränken, die ökologisch fragwürdig sind.
Der Einsatz der Mittel soll nach Effizienzgesichtspunkten erfolgen. Nur Regierungen, die sie
der Bevölkerung zu Gute kommen lassen, werden damit bedacht, sodass ein Anreiz für die
Verbesserung der Situation der Armen geschaffen wird. Ferner sollte die globale Rohstoffdividende durch Sanktionen gestützt werden. Dafür wäre es „im langfristigen Interesse aller
Beteiligten vernünftiger, auf die Gründung supranationaler Institutionen und Organisationen
hinzuwirken, die die Souveränitätsrechte aller Staaten gleichermaßen einschränken“ (267).
Der health Impact Fund ist ein weiterer Reformvorschlag auf internationaler Ebene. Das
TRIPS-Abkommen von 1994 räumt neu entwickelten pharmazeutischen Produkten einen
zwanzigjährigen Patentschutz ein. Das führt dazu, dass in den Entwicklungsländern keine
kostengünstigen Generika erworben werden können, sodass viele Menschen ohne Zugang zu
Medikamenten sterben. „Der Health Impact Fund ist ein von Staaten finanzierter Mechanismus leistungsbasierter Ausschüttungen, der forschenden Pharmaunternehmen die Möglichkeit (aber keinerlei Verpflichtung) gibt, ein neues Medikament zu melden“; dieses wird dann
„während der ersten zehn Jahre nach seiner Markteinführung überall zugänglich“ gemacht,
„wo es benötigt wird, und zwar zu einem Preis, der die geringsten möglichen Produktionsund Vertriebskosten nicht übersteigt“ (275). Für das Unternehmen soll sich dies durch den
Erhalt von Prämien lohnen, die sich nach den globalen Gesundheitsauswirkungen des Produktes (health impact) richten. Dies soll auch einen Anreiz geben, die Entwicklung von Medikamenten gegen Krankheiten, von denen viele arme Menschen betroffen sind, rentabel zu
machen.
Beide Reformvorschläge sind richtungweisend. Pogge bringt moralische und strategische
Argumente für ihre Umsetzung an. Gleichwohl ist es innerhalb des bestehenden internationalen Rechts- und Wirtschaftssystems und seiner politischen Rahmengestaltung schwierig,
diese Vorschläge umzusetzen. Insofern sind diese Alternativen nicht unmittelbar realisierbar
und auch nicht durch die Entscheidungen einzelner Akteure herbeizuführen. Gleichwohl sind
sie es prinzipiell, und es ist, wie Pogge argumentiert, unsere aus der Verstrickung in die ungeUnauthenticated
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corinna Mieth, Die Ungerechtigkeit der globalen Ordnung
rechte bestehende Ordnung erwachsende Pflicht, darauf hinzuwirken, auch wenn dies ein
langer Marsch durch die Institutionen sein wird.
Wer was wovon lernen könnte
Von ANTON LEIST (Zürich)
hERBERT SchNäDElBAch: WAS PhIlOSOPhEN WISSEN UND WAS MAN VON
IhNEN lERNEN KANN. c. h. Beck Verlag, München 2012, 237 S.
In gewisser Weise handelt die Philosophie vom durchschnittlichen leben, ihre Themen behandeln das Allgemeinste, dem sich im leben begegnen lässt. Einige ihrer zentralen Themen, wie
Geist, Sein, Erkennen, Bedeutung, sind im Alltag präsent, denn wie anders könnte ein Alltag
ein menschlicher sein ohne sie? Wenn hingegen ein Phänomen, wie etwa lautsprache, Sozialisation oder Farbwahrnehmen, nicht mehr auf derselben Allgemeinheitsstufe steht, bemächtigen sich auch bereits Wissenschaften seiner. Die Philosophie ist unumstritten die Disziplin
von den „elementaren“ – sollen wir sagen „Inhalten“, „Rahmenbedingungen“, „Gegenständen“ des menschlichen lebens? Aber, wie eigenartig, eben dadurch wird sie zugleich dem
menschlichen leben am Fernsten. Denn im Unterschied zu den „Themen“ sind die entsprechenden „Begriffe“ im alltäglichen leben nicht präsent. Und mehr noch: Die „allgemeinste
Wissenschaft“ wird, so scheint es, im konkreten leben nicht gebraucht, ja sie scheint mit ihm
sogar unvereinbar. Eine „Alltagsphilosophie“ steht im Verdacht, keine Philosophie zu sein.
Damit wirft sich nicht nur die Frage auf, warum die Philosophie durchschnittliche Alltagsmenschen interessieren sollte, sondern auch, wie sich philosophische Erkenntnis legitimiert,
wenn sie keine Verbindung mit der Alltagserfahrung hat. Die in Anführungszeichen gesetzten
Wörter („Inhalte“, „Rahmenbedingungen“ etc.) werden unverständlich, wenn sie auf eine
nicht-alltägliche Weise gebraucht werden sollen. Die sich damit andeutende Kluft ist an der
klassischen, vorrangig an Erkennen und Geist orientierten europäischen Philosophie – beginnend mit der zweiten hälfte des 19. Jahrhunderts – zunehmend kritisiert worden. Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard, Marx, Dilthey stehen auch für eine Veralltäglichung der Philosophie, die dann im 20. Jahrhundert von den klassischen amerikanischen Pragmatisten, den
deutschen philosophischen Anthropologen und von heidegger und Sartre fortgeführt wurde.
Den Nichtphilosophen die Philosophie näher zu bringen wird deshalb, sollte man meinen, am
besten mit dieser Bewegung gegen die klassische Philosophie ansetzen.
Bereits das Aufscheinen des Begriffs „Wissen“ im Titel von herbert Schnädelbachs Buch,
das mindestens auch für philosophische laien gedacht ist, deutet an, dass es diesen Weg nicht
gehen will. Natürlich könnte es sich bei dem von ihm zitierten „philosophischen Wissen“
auch um eines vom Wollen, vom lebensernst, vom praktischen Erfolg oder vom Tod handeln.
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt aber schnell, dass in 14 Kapiteln vorrangig der rein
kognitive Mensch behandelt wird (Kap. 2–9), knapp ergänzt mit dem wertenden und handelnden (Kap. 10–12). Insgesamt finden Heidegger, Plessner und Gehlen in den begriffsgeschichtlichen Skizzen an nötiger Stelle durchaus Erwähnung. Aber Schnädelbachs „philosophisches
Wissen“ ist im Endeffekt ein sprachphilosophisch geläutertes „Wissens-Wissen“, und nicht
ein Wissen vom vielleicht interessanteren Rest im menschlichen leben. Eigenartigerweise
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