Matthias Kettner
Wahn, Sinn, Sprache und Analyse
Kritische Notizen zu Wolfgang Tress' " Vorklärungen zu einer
psychologischen Medizin der Person"
Abstract: I discuss Wolfgang Tress' attempt to apply analytic philosophy to
the heid of psychiatry and psychological medicine. According to Tress the
concept of a person as a rational intentional system is fundamental for
psychological medicine and irred ucible to concepts of the natural sciences .
But the rationality assumptions that are c r ucial for the concept of a person
need much more clarification than Tress provides. Furthermore, Tress'
concept of schizophrenia as a disorder of 'semantic coherence of the
person' is seriously flawed empirically. Pragmatics rather than semantics
should provide the methodological framework for the reconstruction of
psychopathological concepts, such as "schizophrenia" and "delusion".
I.
Einleitung
Anfang der achtziger Jahre wehte im Heidelberger philosophischen Seminar
ein frischer Wind. Mit Gästen wie Richard Rorty, Hilary Putnam, Donald
Davidson und Willard von Orman Quine, einem der Gründungsväter der
amerikanischen analytischen Philosophie, wurde in kurzer Zeit der Diskurs
der Sprachanalyse in e in Milieu eingepflanzt, wo bislang nahezu aus schließlich die kontinentale Philosophie gepflegt worden war. Die etwas hemdsärmelige Forschheit von Rorty, dessen Philosophy and the Mirror of Nature
gerade erschienen war, die erstaunliche Manier des Sichabarbeitens an anschaulich-konkreten Beispielen, der beeindruckende logische Scharfsinn
ohne allzu prätentiöses Begriffsgeklappere, all dies tat eine kräftige Wirkun g, polarisierte die Geister, schuf 'aus dem Nichts' Gruppen von begeisterten Sympathisanten, ja sogar einen harten Kern von Matadoren der
analytischen Philosophie. Mir hat jene Zeit sehr gefallen, und auch Wolfgang Tress gesteht gerne, daß die Antriebe fUr sein 1987 vorgelegtes
Buch Sprache- Person- Krankheit (s. Tress 1987a) in diese bewegte Phase
einer hitzigen Rezeption zurückreichen.
Aber all dies ist lange her. Obwohl ich Anlaß und Anliegen von Wolfgang
Tress' Vorklärungen zu einer psychologischen Medizin der Person teile, er scheinen mir die Resultate, die Tress sieben Ja hre später vorgelegt hat,
Analyse & Kritik 12 (1990), S. 67-88
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unbefriedigend, seien sie auch als bloße 'Vorkehrungen' deklariert. Die
meisten der Kritikpunkte, die ich im folgenden entwickele, sind ebensosehr
Einwände wie An regungen zu nötigen Präzisierungen und Klärungen für
ein, wie mir scheint, prima facie sinnvolles Unter"nehmen.
Tress, ausgewiesen als klinischer Psychologe, Psychiater und Psychoanalytiker, versucht Bausteine oder BruchstUcke der analytischen Philosophie
der Sprache und des Geistes fur eine Rekonstruktion von Grundbegriffen
der psychiatrischen Krankheitslehre zu verwenden. Solche Grundbegriffe
sind der Begriff der Person, der des Wah ngedankens, der Schizophrenie,
überhaupt der Psychosen und Neurosen. Ihnen sind einzelne Kapitel des
Buches gewidmet. Die benutzten Bausteine oder Bruchstücke analytischer
Philosophie sind im wesentlichen die folgenden:
Dennetts Idee, daß 'Intentionalität' als eines von mehreren speziellen
Sprachspielen des Erklärens (wie 'Mechanismus' und 'Funktionalismus')
angesehen werden kann (Dennett 1981, bes. 3-22, 'Intentional
Systems').
Dennetts Versuch, e1mge notwendige Bedingungen fUr Gebrauchsfälle
unseres vertrauten Begriffs der Person anzugeben ( Dennett 1981, 267285, 'Conditions of Personhood' ).
Tugendhats Begriff des Quasiprädikats (Tugendhat 1976, bes. 208-2xo,
213, 229, 331 - 334, 344), sowie
T ugendhats Analyse der Bedeutung psychologischer Prädikate (z.B.
"deliriert"), derzufolge die Verifikationsbeding ungen solcher Prädikate
an öffentlich zugängliche Verhaltenskriterien gebunden sind ( "veritative
Symmetrie" aus den Beurteilerperspektiven von x. und 3· Pe rson), obwohl Kenntnis des betreffenden mentalen Zustandes fUr die Person, die
ihn hat, auf eine andere Weise zustandekommt als fur die Person, die
ihn nicht selber hat ("epistemische Asymmetrie") ( Tugendhat 1979, 4·
Vor!., bes. 89).
-
McTaggarts Unterscheidung einer subjektiven und einer objektiven Zeitordnung, der sogenannten "A-Reihe" von "vergangen", "ihtzt" ( "~
rä~g"),
"zukünftig" und aus der " B-Reihe" von "frU er", "später"
Mc aggart 1927, bes. Book V, Ch. 33).
Diverse auf Wittgenstein und Davidson verweisende Begriffe wie "Lebensform", "Sprach spiel", "radical interpretation", die fur sprachphTIO-"
sophisches Flair sorgen, besonders im ersten Kapitel von Tress' Buch.
Das erste Kapitel ("Radical Interpretation") wirft ohne großen argumentativen Anspruch und leider auch ohne engen Bezug zum Rest des Buchs ein
Licht auf die sprachphilosophischen Glaubensbekenntnisse des Verfassers
(z. B. "alles Erkennen ist symbolisch strukturiert"; "alle Erfahrung ist
Interpretation" (Tress 1987a, 1, 3); eine "Sprachgemeinschaft erfährt ihre
Welt im Medium und nach den Regeln der Sprache, ihrer Sprachspiele und
ihrer Konventionen zur Beschreibung von Situaon~
und Handlungskontex-
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ten" (s); unsere Welt ist, was wir uns als unsere Welt "erschließen, indem
wir von ihr und wie wir von ihr sprechen ... Welt erfahren wir, indem wir
sie interpretieren" (8); es "gibt keine Möglichkeit, Worte zu erklären,
ohne schon Sätze vorauszusetzen" (u) u .a.m.). Das erste Kapitel ist sicher geeignet, Nichtphilosophen neugierig zu machen. 1
Es ist sicher reizvoll, wenn man ein neues Vokabular, eine neue Heuristik,
einen neuen inspirierenden Jargon auf ein Feld anwendet, das wie die
medizinische Psychiatrie notorisch von dogmatischer Erstarrung bedroht
ist. Glaubt man Tress' Vorwort, so wäre dieser Reiz des 'new Iook' auch
schon alles, was Tress intendiert. Tress' erste Schreibabsicht ist demzu folge eine inspirative, die ihr Ziel erreicht, wenn sie den Leser auf interessante Gedanken bringt.
Tatsächlich aber verfolgt Tress ein weit ehrgeizigeres Anliegen, dessen
Ernst er im Nachwort unumwunden durch die folgende Alternative ausdrUckt: "Entweder begreifen wir unsere wissensc haftlich zu fundierende
Tätigkeit als ärztliches Bemühen um abnorme und kranke Personen und besinnen uns darauf, daß gesunde menschliche Organismen als Personen sehr
krank sein können, oder die psychologische Medizin proklamiert mit dem
Verzicht auf den Begriff der intentionalen Person ihre Selbstauflösung. An
ihre Stelle treten dann körpermedizinische Fächer und das außermedizinische technokratische Management psychosozialer Devianz." (148) Tress'
zweite und gewichtigere Schreibabsicht ist demnach eine präskriptive:
Tress hofft, auf dem Wege einer sprachanalytischen Einführung und F undierung eines Personenbegriffs, der unserem alltagsprakti schen Selbstverständnis entspricht oder dieses zumindest in entscheidenden Punkten nicht
unterbietet, den Diskurs der Psychiatrie humanistisch zu orientieren und
von szientistisch-reduktionistischen Irrwegen abzubringen.
Mich irritieren diese zwei Schreibabsichten, weil sie, wie mir scheint,
schwerlich miteinander zu vereinbaren sind: Sein Buch sei keine "Einfüh rung in die analytische Philosophie des Geistes für Ärzte", sondern eine
"sehr persönliche Arbeit" (IX) bemerkt Tress, und stimmt allen Kritikern,
die ihm "mangelhaftes Literaturstudium" oder "dürftige Kenntnisse der
sprachanalytischen Tradition" vorwerfen wollen ( vgl. X), "bereits vorab
nachdrucklieh zu" (ebd.). Solche Selbstbescheidung, der ersten Schreibabsicht angemessen, setzt Kritiker freilich apriori ins Unrec ht - beckmes serisch, wer das persönliche Anliegen von Tress nicht obenanstellt! Die
Haltung, die Tress einem hier nahelegt, ist aber ganz unvereinbar mit sei ner ambitionierten zweiten Schreibabsicht. Denn wenn es Tress im Ernst
darum geht, die Autorität der (sprach)analytischen Tradition einzubringen,
um hierdurch einen auf breiter Front bedrohten Personbegriff im Feld der
Psychiatrie abzusichern, reichen eben keine sehr persönlichen Oberzeugun gen aus, sondern die ersehnte Autorität kann dann nicht anders entfaltet
werden als nach dem internen Maß der Philosophietradition, in der sie
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lebt . (FUr alles, was ich im folgenden sage, setze ich Tress' zweite, präskriptive Schreib- und Argumentationsabsicht voraus.)
Meine Haupteinwä nde kann ich in zwei Punkten z usamme nfassen :
( 1) Tress Ubersieht wegen seiner unkritischen Obernahme der l ntentionalitätstheorie von Danlei Dennett deren interne Schwierigkeiten sowie einige
P robleme, die diese Theorie fur Tress' präskriptive Argumentationsabsicht
a ufwirft.
( 2 ) Tress' sprachanalytische Reformulierung des Schizophreniebegriffs halte
ich fUr unzut reffend (also empirisch falsch) oder zumindest fUr unhaltba r
vereinfachend (also empir isc h zu eng). Ober haupt scheint mir der spezifisch sprachanalyt ische Ertrag fUr die Rekonstruktion psychopathologischer
Gr undbegriffe (Wahngedanke, Schizophrenie, endogene Psychosen, Neurosen ) bisher nich t besonders g roß . 2
Im letzten Kapitel seines Buches unternimmt Tress d ie Klärun g der "Str uktur" der Wisssensc haft Psychoanalyse, wiederum im wesentlichen mit Hilfe
der Annahmen De nnetts Uber Intentionalität. Die Bedeutu ng dieses Themas
und die Tatsache, daß T ress seine hochkontroverse Meinung (vgl. Grün baum 1988, 146-16o), die Psychoanalyse mUsse als eine rad ikal hermeneutische Erfahrungswissenschaft aufgefaSt werden, in meh reren Publikationen
(u.a. T ress 1985; 1987b; 1989) auf nicht immer gleichsinnige Weise dargelegt hat , erlauben mi r im Rahmen dieses Artikels keine angemessene Diskussion: sie erforder ten einen eigenen Aufsatz .
2.
Zur intentionalitätstheoretischen Fu ndierung eines Persone nbegriffs fur
die psychologische Medizin
FUr Tress' P roje kt sind die Kapitel 5, 6 und 7 seines Buc hs sicher die
wichtigsten. Hier fUhrt Tress den Personbegriff ein, setzt "Intentionalität
und Funktionalität, die zwei Sprachen der medizinisch-psychologischen Wissenschaften" im Licht des Personbegriffs zueinander ins Verhält nis und bestimmt den "Krankheitsbeg riff der psychologischen Medizin". T ress' Position
läßt sich thesenhaft folgendermaßen umreißen.
Als Person verstehen wir uns "immer dann, we nn wir uns u nd anderen unser Reden und Handeln im Rü ckgriff auf Mein unge n und Wü nsche erklären" , also innerhalb eines Sprachspiels von Intentionalität, Rationalität,
Freiheit und Verantwortlichkeit.3 Ohne Inte ntionalität kein Per son konze pt: Personen, gesunde oder kranke, "gibt es nur im Horizont intentionaler Beschreibungen". 4 Und da intentionale Besch reibunge n nicht mit
nicht-intentionalen Begriffen , wie sie in Nat urwissenschaften verwendet
we rden , wiedergegeben werde n können, gibt es gesunde und kra n ke Per-
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sonen "nicht ... in einem naturwissenschaftlich-kausalen Kontext".s In
nicht-intentionalen Kontexten (z. B. in naturwissenschaftlich-kausalen) gibt
es allenfalls die gesunden oder kranken Körper oder Organe von Personen.6
Mit der Kontrastierung zweier inkommensurabler Sprachspiele bzw. Begriffskontexte läßt sich nun Tress' Programmformel fUr eine "psychologische Medizin der Person", die sich darauf z u besinnen habe, "daß gesunde
menschliche Organismen als Personen sehr krank sein können" (95; Hervorh. M.K.) besser verstehen: 'Person' und 'Organismus' sind Aspekte,
unter denen psychologische und physiologische Medizin jeweils den kranken
Menschen wahrnehmen und betreuen. (Klare Fälle dieser Kontrastierung
sind z.B. Herzchirurg und Psychoanalytiker.) Nun ist zwar auch schon die
herkömmliche Psychopathologie (als ein Teil der Medizin) ihrem Selbstverständnis nach die medizinische Wissenschaft von gestörtein Erleben, Wahrnehmen, Denken und Verhalten (vgl. bspw. Spitzer/Uhlein/Oepen (eds.)
1988, 6), von Tätigkeitsdimensionen also, deren logisches Subjekt die
Person, nicht der Organismus, ist: nicht die neokortikalen grauen Zellen
haben Wahnwahrnehmungen, sondern die Person; nicht das limbisehe
System wird von Aggressionsimpulsen Uberflutet, sondern die Person , etc.
Aber die Psychopathologie, so meint Tress, kann ihren personzentrierten
Aspekt weder wissenschaftsinter n noch praktisch (nämlich den zu behandelnden kranken Menschen gegenUber) in dem Maße, wie es wUnschenswert
wäre, aufrechterhalten, wenn sie Uber keinen ausgearbeiteten Grundbegriff
verfUgt, der es mit dem des 'Organismus' in der physiologischen Medizin
aufnehmen könnte. Daher möchte Tress den Begriff der 'intentionalen Person' als (philosophisch) gut ausarbeitbaren Grundbegriff einfUhren (von
dem ausgehend dann gängige, aber unbestimmtere psychopathoiogische
'Subjekt-', 'Selbst-', 'Ich'- Begriffe bestimmt werden könnten) und die herkömmliche Psychopathologie als eine 'Medizin der Person' vertiefen.
Soweit die interessante Position von Tress. Ich markiere nun drei Probleme
diese Position. Das erste Problem ist die Präzisieru ng des Verhältnisses
von Personaspekt und Organaspekt bzw. der Sprachspiele, die diese
Aspekte jeweils konstituieren.
2.1
Erstes Problem: Gibt es eine Rangordnung im Sprachspielpluralismus?
Unklar geblieben ist mir das Verhältnis von intentionalen und nichtintentionalen ('funktionalen' und 'materialen') Beschreibungen/Sprachspielen/Wissensformationen in Tress' Entwurf der psychologischen Medizin. Sind sie
(I) gleichursprUnglieh und koordiniert, oder (2) ist das eine dem anderen
subordiniert, oder (3) ist jeweils eines dem je anderen in Abhängigkeit von
bestimmten Kontexten (Wissenschaft, Behandlung) sub- bzw. superordiniert? An mehreren Stellen scheint Tress einer Version von Position (2)
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zuzuneigen, nämlich der Oberordnung intentional spezifizierbaren Wissens
nichtintentional
spezifiziertes
('naturwissenschaftliches')
Wissen
Uber
innerhalb seiner projektierten 'Medizin der Person'.
Mir scheint aber: Zumindest im Kontext Wissenschaft kann die psychologische Medizin auf nicht-intentional spezifiziertes Wissen, wie Naturwissenschaften es produzieren, nicht verzichten. Denn daß auch psychisch
gesunde Personen als menschliche Organismen sehr krank sein können dies die Umkehrung von Tress' Spruch - trifft gleichfalls zu, und ebenso,
daß Menschen als Personen und zudem auch als Organismen krank sein
können. 7 In diesen Fällen verlangt professionelles ärztliches Handeln eine
Ausschließung bzw. Abklärung eventueller organischer Störungen ( bzw.
Krankheiten) als integralen Teil einer psychopathologischen Diagnostik.
Denn einem Patienten z. B., der als akut depressiv eingestuft und behandelt wUrde, während er in Wirklichkeit einen Hirntumor hat, geschähe, um
es milde zu sagen, Unrecht.
Organbezogenes, naturwissenschaftlich vedaßtes ('funktionales') Wissen ins
Spiel zu bringen kann sich in dem Maße als notwendig erweisen, wie die
Schwere der Psychopathologie einer Person das Sprachspiel der Intentionalität gegenUber d ieser Person auf immer defizientere Modi herabzwingt oder
im Grenzfall sogar ausschließt.
"Das Kranksein von Personen", sagt Tress (95), "gilt es aufzuklären als
Abwandlung gesunder, normativer Personalität. Das Kranksein der Person
muß sich genau dem Zugriff erschließen, der auch die gesunde Person erfaßt" - und das ist der · intentionale Zugriff, die intentionale Sprache. Wenn
"aufklären" sowohl wissenschaftliches Aufklären von Erkrankungen und
Krankheitssymptomen wie auch praktisches, fallbezogenes (diagnostisches
und therapeutisches) Aufklären heißen kann, dann hat demzufolge fUr
Tress der Personaspekt das Primat vor dem Organaspekt und den Sprachspielen der Nichtintentionalität, und zwar sowohl innerhalb der psychologischen Medizin als Wissenschaft wie auch als Therapiepraxis.
Was heißt es dann aber, daß Tress auch fordert, die "gesamte psychologische Medizin ... muß als Wissenschaft" und "als kurative Disziplin" "in
beiden Sprachen zuhause sein" (91), d. h. in der "intentionalen Sprache
der Person" und in "der funktionalen des Organismus" (90)? Keine der
beiden habe dabei "den Vorrang oder wäre die eigentliche" (90). Diese
Nivellierung, die eher fUr ein Beiordnungs- als ein Unterordnungsverhältnis von Organ - und Personaspekt spricht, erscheint mir unvereinbar mit
Tress' Auszeichnung der intentionalen Sprache und dem geforderten Ausgang beim "Normalen" (90). 8 Keinem der . beiden Sprachspiele komme "allein Wissenschaftlichkeit zu" (90). Die physiologische Medizin soll also
nicht allein das Prestige des Wissenschaftlichen monopolisieren. Tress setzt
hierbei freilich einfach voraus, daß auch unter dem Personaspekt, d. h.
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strikt in ne r halb des intentionalis t ischen Sprachspiels, Uberhaupt Wissenschaft betrieben werden kann. Hier wUrde ein Skeptiker wohl nach dem
Ausweis der Wissenschaftlichkeit fragen fUr das, was sich nur in intentionaler Sprache Uber Personen sagen läßt.9
Ich g laube, daß hier eine Achillesferse jeder personalistischen Psychopathologie (z.8. auch der Feeudsehen Neurosenlehre) liegt. Die Frage, die
Uber Tress' petitio principii hinausfuhrend diskutiert werden mUß te, ist
eine wissenschaftstheoretische: Welcher Methoden bedarf, und welche Art
von Wissenschaft ist eine 'psychologische Medizin der Person', wenn sie
keine Naturwissenschaft ist? Wicht ig finde ich diese Frage, weil es schon
einmal innerhalb der Psychopathologie eine einflußreiche Richtung gab, die
sich als Alternative zur organismusfixierten naturwissenschaftlichen Medizin
anbot und die kranke Person in den Mittelpunkt r uckte: d ie P hänome nolo~
vo n Karl Jaspers ( vgl. bes. Jaspers 1911, 252- 313). Diese verstand
sich aber dezidiert als atheoretisch, also als Nichtwissenschaft. Ande r s als
Jaspers , postulier t Tress eine psychologische Medizin, die zugleich den
Charakter einer Wissenschaft haben soll.
2.2 Zweites Problem: Was heißt Rationalität?
Als Per sonen beschreiben wir uns selbst sowie andere niemals nur als
Dinge in der Welt, mit denen sich dies und jenes zuträgt, sonder n als
Wesen, die handeln können; als Handlung zählt ein Ereignis (das den
Handlungsvollzug ausmacht) aber nur dann, wenn wir es auf intentionale
Weise beschreiben und spezifizieren können , d.h. als von Wünschen und
Meinungen rational geleitet. Innerhalb dieses Sprachspiels, in dem wir uns
als handelnde (rationale, freie u nd verantwortliche) Personen (selbst-)beschreiben, erklären wir nun zwa r Handlungen - wer die Handlungsgr Unde
ei nes Akteurs A kennt, kann ja (zumindest pa.rtiell) erklären, warum A
tut, was A tut - , aber wir erklären Handlungen nicht kausal. Intentionale
Erklärungen (Erklärungen von Handlungen von Personen durch Grunde der
handelnden Personen) und kausale Erklärungen (Erklärungen von Ereignis sen als (naturgesetzliche) Wirkungen von anderen Ereignissen als deren
Ursachen) sind zwei aufeinander irreduzible Sprachspiele des Erklärens
( 14) . Das eine Sprachspiel "beruht notwendig auf der Idee der Rat ionali tät" ( 16), das andere (so dürfen wir ergänzen) beruht notwendig auf der
Idee des Naturgesetzes. - Wer soweit zustimmt, wird auch Tress' Schlußfolgerung z ustimmen, daß "Handlungserklärungen • • • nicht naturwissen schaftlich" ( 16) sein können. Das heißt, aus kategorialen Gründen ist die
Idee zu ve rwerfen, es könnte einmal (oder sollte sogar) eine Wissenschaft
geben, die so Gesetze Uber handelnde Personen formu liert wie die Physik
Gesetze z. 8 . Uber attrahierende Massen im Raum formuliert, oder wie die
medizi nische Chemie z . 8. Gesetze Uber diffundierende Stoffe in organischen
Geweben formuliert. 10
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Aber damit wird Tress den Geist des eliminativen Materialismus, den er in
die Schranken weisen will, nicht los. Den n e in überzeugter, eliminativer
Materialist könnte (mit Wittgen stein , Davidson, und Tress) dem irreduziblen Dualismus zweier Erklärungssprachspiele zustimmen, aber gleichwohl
darauf bestehen, daß wir nur mit dem ersten ( = dem kausalen) wirklich
unsere Einsicht erweitern. Hier treffen wir wieder auf die oben schon bemerkte Fragestellung nach dem Wissenschaftscharakter, den e ine Medizin
der Person haben könnte.
Rationalitätstheoretische Fragen ergeben sich fUr Tress' Projekt von zwei
Seiten : Einmal durch Tress' Berufung auf D. Da vidsons Prinzip der gutmUtigen Auslegung ('principle of charity') als auf "die Grundoperation •.• ,
auf deren Basis die Interpretation (auch von psychopathologisch verzerrten
Äußerungen) allein nur möglich ist" (Io). Zweitens durch das l ntentionalitätsmodell D. Dennets. Ich beschreibe im nächsten Absatz eine sich aus
diesem Doppelbezug ergebende Schwierigkeit , die Tress' präskriptive Argumentationsabsicht (s.o.) gefährdet.
Das Prinzip der gutmUtigen Auslegung besagt, daß wir befremdliche Äußerungen anderer nicht versuchen können zu verstehen, wen n wir den andern nicht zu nächst eine rationale Grundverfassung ähnlich der unsrigen
unterstellen wUrden. Um jemanden, mit dessen Äußerungen wir Schwierigkeiten haben , zu verstehen, mU ssen wir ihm soviel Rationalitätskredit wie
möglich geben. 11 FUr Tress' Uberlegungen wichtig ist das Prinzip der
gutmUtigen Au slegung vor allem deshalb, weil es normative lmplikationen
haben könnte fUr den Respekt, den der psychologische Mediziner der
kranken Person schuldet, auch wo deren Unverständlichkeit ihn bedrängt.
Mit dem Prinzip der gutmütigen Auslegung könnte man nämlich begründen ,
daß der Arzt den Geisteskranken sowenig Irrationalität wie möglich unterstellen sollte , solange er ihn so verstehen will, wie Personen Personen
verstehen. Da Tress aber das Prinzip der gutmUtigen Ausleg ung nicht weiter entwickelt oder mit einer Theorie des lnterpretierens verbindet (wo es
hingehören wUrde), entgeht ihm, daß er sich mit der Berufung auf
Dennetts Theorie der Intentionalität ein gegensinniges Rationalit.ä tsprinzip
einhandelt, das im Feld des Arzt- Patient-Verhältnisses genau gegenseitige
normative Konsequenzen unte rstützen könnte. Denn nach Dennetts lntentionalitätstheorie, die Tress unkritisch übernimmt, sollten wir als Interpreten stets möglichst die rational am wenigsten anspruchsvollen Intentionen
zuschreiben. 12
Ich denke, die angezeigte, von Tress nicht bemerkte Schwierigkeit ist ver meidbar. I3 Zentraler scheint mir der folgende Einwand: Der Rationali tätsbegriff ist fUr Tress der Schlüssel zur Abwehr szientistischer Ober griffe auf das Terrain einer psychologischen Medizin der Person; aber
Tress erläutert diesen Schlüsselbegriff nur beiläufig, uninformativ und sogar mißverständlich . Daß Rationalität "den sich entwickelnden Begriff der
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Erkenntnistugend unter der regulativen Idee eines gerechten und ausgeglichenen Intellekts" meine, erfahren wir zwar gleich mehrfach ( 10, 134,
u.a.a.O.), aber das macht die Sache keineswegs klarer. Worin besteht 'Erkenntnistugend'? Wann ist ein Intellekt 'ausgeglichen'? Wieweit ist es Uberhaupt sinnvoll, die Rationalitätseinbußen im Verhalten eines derangierten
Geisteskranken in Begriffen von intellektueller Ausgeglichenheit/Unausgeglichenheit zu beschreiben? Was hat Rationalität spezifisch mit Gerechtigkeit zu tun, und diese wiederum mit psychopathologiespezifischen Rationalitätseinbußen?
An anderen Stellen deutet Tress freilich einen anderen, relativistischen,
nur {Ur je bestimmte Lebensformen verbindlichen Rationalitätsbegriff an:
Rationalität meine "keinen dogmatischen Kanon von Denkvorschriften", sondern Angemessenheitsurteile darUber, was "richtig nach unseren Standards", den "Standards . . . unserer Sprachgemeinschaft" sei ( vgl. 10).
Mir ist diese vorgebliche Alternative (Kanon von Denkvorschriften vs.
gruppengebundene Richtigkeitsstandards) unklar. We nn z. B. das Prinzip
vom zu vermeidenden Widerspruch als eine kanonische 'Denkvorschrift' angesprochen werden darf, dann gehören kanonische Denkvorschriften doch
gewiß zum Rationalitätsbeg riff , - und zwar zu unserem Rat ionalitätsbegriff,
wobei wir aber nicht zögern, diesen fUr alle vernUnftigen Wesen als verbindlich zu betrachten. Was soll, wenn von Rationalität als solcher die
Rede ist, die Rede von "unserer Sprachgemeinschaft" ausdrUcken? Einen
Unterschied etwa zu anderen Sprachgemeinschaften? Oder meint Tress mit
Rationalitätsstandards etwas , das derart tief mit dem sozialanthropologischen Faktum der Sprachlichkeit des Menschen zusammenhängt, daß 'unsere' Sprachgemeinschaft (und ihre Rationalität) alle Menschen (unerachtet
ihrer je partikularen Einzelsprachen) umfaßt? Und was zählt bzw. was
zählt nicht zu derartigen Standards?
Hier liegt ein dringendes ungelöstes Problem in den Grundlagen von Tress'
Ansatz. Ein Problem, weil ohne Klärung des Rationalitätsbegriffs das Verhältnis des intentionalen Erklärungssprachspiels (in welchem es Personen
gibt) und des nicht- intentionalen Erklärungssprachspiels (in welchem Personen nicht als Personen thematisiert werden können) normativ offener
bleibt, als Tress recht sein kann. Ein dringendes Problem, weil in Dennetts (und Tress') Intentionalitätstheorie die Zuschreibung von Intentionalität eo ipso die Zuschreibung von Rationalität impliziert. l4 Ein ungelöstes dringendes Problem schließlich, weil Dennett, Tress' Gewährsmann in
Sachen Intentionalität, den Rationalitätsbegriff elegant unterbestimmt, also
offen läßt. I S Das kann Dennett sich leisten, nicht aber Tress. Denn im
Feld der Psychiatrie ist jeder auf common sense, GruppenUblichkeiten oder
sonstwie relativierbare Rationalitätsbegriff schon im Bund mit der Ausgrenzung der Geistesgestörten. 16 Die medizinische Einstufung einer Person
als 'psychisch krank', weil ihr Verhalten im Lichte ortsUblicher Rationalitätsstandards als 'schwer irrational' zählt (man denke an Dissidenten in der
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noch stalinistischen UdSSR), ist dann ununterscheidbar von der strategischen Du r c hsetzuns sozialer Konformität.
Daß psychische Störungen und Rationalitätseinbußen irge ndwie miteinander
verknUpft sind, steht kaum in Zweifel; die theoretische Aufgabe ist die
genaue Explikation der Beziehungen zwischen beiden . Ob dies Uberhaupt
auf der Basis einer formalen Rationalitätsdefinition gelingen kann, ist frei lich fraglich (siehe den Beitrag von B. Gert in diesem Heft). B. Gert
empfiehlt als Ausgangspunkt stattdessen einen materialen, nämlich auf die
Vermeidung gewisser GrundUbel bezogenen Begriff von .!!_rationalität. Eine
andere Möglichkeit, die mir aussichtsreich erscheint, wäre der Rekurs auf
Theo rien der o ntogenetischen (kognitiven) Entwicklung in der Tradition
von Piaget und Kohlberg. Da sich altersabhängige Strukturniveaus des
Denkens identifizieren lassen (so daß man z. B. von einer 'kindlichen Logik', einer 'intuitiven Physik' etc. nicht i. S . von verkappten Werturteile n ,
sondern deskriptiv sprechen kann ), ist zu e rwarten, daß besonders bei
einer ganzen Reihe von psychopathologischen Regressionsphänomenen die
Wiederbelebu ng von längst Uberwundenen Strukturnivea us eine Rolle
spielt.
2. 3 Drittes Problem: Ist der Personbegriff mehr als eine Fiktion?
Tress entlehnt seinen Begriff intentionaler Beschreibungen Daniel Dennett.
Aber sensu Dennett sind intentionale Beschreib ungen keineswegs nur auf
Personen anwendbar. Sie sind Erklärungsstrategien, die als explanans Zuschreibungen von GrUnden enthalten, in dene n Meinungen , Absichten,
Strebungen, WUnsche, Ängste, BedUdnise etc. vorkommen. Intentionale
Beschreibungen sensu Dennett sind Erklärungsstrategien des Als -Ob: Ihre
Berechtigung liegt einzig und allein im pragmatischen Erfolg, d . h . sie sind
'berechtigt' anwendbar nicht insoweit, wie es etwas gibt, das die zugeschriebenen Meinungen, Absichten, Strebungen, WUnsche, Ängste, BedUrfnisse etc. wirklich hat, sondern insoweit, wie es etwas gibt, dessen Verhalten sich unter solchen Beschreibungen gut (oder zumindest besser als
unter anderen Beschreibungen) vorhersagen (oder erwarten) läßt - sei es
ein Schachcomputer, der gute ZUge macht, eine Katze, die eine Maus bela uert oder eine Weinrebe, die sich um die Mauerecke windet, um ans Licht
zu gelangen. Daher formuliert Tress, Dennetts versuchsweiser Formulierun g folgend, zu sätzliche, den formalen Begriff des 'intentionalen Syst ems'
zum Begriff der Person anreichernde Stufungen von lntentionalitäts zuschreibungen ( vgl. Dennett rg8r, Kap. 14). Diese sind: Wechselseitigkeit,
Gegenseitigkeit und Selbstbewußtsein. Zuschreibung von Wechselseitigkeit
heißt Zuschreibung der Fähigkeit, "intentionale Beschreibungen vorzuneh men und derart die intentionale Haltung zu erwider n" (97) . Zuschreibung
von Gegenseitigkeit heißt Zuschreibuns der Fähigkeit, Reziprozität "als
solche zum Gegenstand eines vernUnftigen Gesprächs zu machen" (g8).
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Selbstbewußtsein schließlich (dessen Grundlage Tress , etwas naiv, fü r
sprachanalytisch geklärt hält 17) heißt Zusc hreibung der Fähigkeit, mit
sich zu argumentieren und empfänglich für Ergebnisse solcher reflexiver
Monologe zu sein. Auf jeder Ebene dieser Stufungen von l ntentionalitätszuschreibungen (sowie auf den präintentionalen Ebenen von funktionalen und
materialen Beschreibungen) können Abweich unge n vom üb licherweise Erwartbare n auftauchen, Abnormitäten, deren Bewertu ng als Krank heit von den
gesellschaftlichen Gepflogenheiten abhängt. - FUr das Hauptproblem hier bei
halte ich, daß Tress den radikalen Als-Ob - Charakter der Dennettsehen
l ntentionalitlitstheorie zu übersehen scheint. FUr Dennett ist es nie faktisch
auszumachen, ob x eine Person ist, WUnsche und Meinungen hat, etc., ja
sogar, ob ich selbst eine Person bin, WUnsche und Meinungen habe, etc.
(s. Dennett 1981, 285). Daher nennt Dennett konsequ enterwei se seinen Per sonenbegriff einen 'normativen', d. h. d urc h faktische Bedingungen nie hinreichend bestimmten Begriff. Daß wir einander als Personen anerkennen solk!l, und wie der kontrafaktische Spielraum restringiert ist, innerhalb dessen wir dies sollen, begründet Dennett nicht. Dennetts Begr Undung ist nur
zu entnehmen, daß es sich empfiehlt, Menschen insoweit und solange als
Personen anzuerkennen, wie sich mit Hilfe dieser Konzeptualisierung ein befriedigender Reim auf ihr Ve rhalten machen läßt. Mit d iesem Begründungsstand kann jeder Apparatemediziner, Pharmapsychiater und Geh irnchirurg
leben: man wUrde ab einer gewissen Mass ivitlit störu ngs bedingter Inkohärenz einfach dafür plädieren, Geistesgestörte nicht als inkohärente Personen, sondern überhaupt nicht mehr als Personen aufzufassen. Dies liegt
aber quer zum Hauptanliegen von T ress. T ress müßte daher, Uber Dennett
hinausgehend, normative BegrUndungen zum Personbegriff beisteuern. 18
3·
Der sprachanalytische Beitrag zu psychiatrischen Grundbegriffen
Im folgenden kommentiere ich kurz Tress' originär sprachanalytische Beiträge zum Verständnis einiger psychopathologisch-psychiatrischer Grundbegriffe. Nur den Schizophreniebegriff kann ich hier diskutieren; den des
Wahngedanken s kann ich leider nur sehr knapp vorstellen.
3. I Zum Schizophreniebegriff
Tress gibt im Kapitel 2 (" Was heißt schizophren") zunächst e inen dichtgedrängten Abriß der Bedeutungsgeschichte der Schizophreniebegriffe bzw .
der unterschiedlichen Verwendungsregeln des Adjektivs "schizophren" in
der klinischen Praxis. Den n: " Im 8. Jahrzehnt nach seiner Einf ühr ung
durch E. Bleuler ( 1908, I9II), vorbereitet von More! um x86o, Hecker
(x87I), Kahlbaum (1874) und v.a. von Kraep elin (1899), existieren weiter hin mehrere Bedeutungen des Begriffs 'Schizophrenie', mehrere Gepflogenheiten seines Gebrauchs nebeneinander. Die Konventionen • • . unter -
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scheide n sich nicht allein durch ihre Enge und Weite in Quer- und Längsschnitt, sondern auch hinsichtlich ihrer Nähe zur Erfahrung, z ur Begegnung mit Menschen , die wir vor Ubergehend oder dauerhaft, insgesamt oder
nur in begrenzter Hinsicht 'schizophren' ne nnen . " ( 18)
FUr Nichtpsychologen ist das Ausmaß definitorischer Schwankungen einer
nosologischen Kategorie wie der "Schizophrenie" schwer vorstellbar. Schon
in den wenigen Jah ren zwischen Kraepelins Bestimmung der Dementia praecox und Bleulers EinfUhrung des Terminus "Schizophrenie" ändert sich der
Begriffsgehalt massiv , nämlich von frUhzeitigen Denkstörungen ( Verblödung) zu mangelhafter Erfahrungseinheit, Zersplitterung und Aufspaltung
des Denkens, FUhlens und Wolle ns und des subjektiven Gefuhls de r Persönlichkeit ( vgl. Tölle 1988, r8off.). Viele nach-Bleulersche Definitionen
unterscheiden sich oft wesentlich du rch ihre Foku ssieru ng auf jeweils
unterschiedliche Störungsdimensionen (kognit iv, affektiv , volitiv, motor isch); ferner unter scheiden sie s ich danach, ob sie Bleulers diagnostisc he
Hierarchisierung nach 'Grundsymptomen' (Störungen der Affe ktivität, des
Denkens, des Antr iebs, in erster Linie: Zerfahrenheit, Ambivalenz und
Autismus ) und 'akzessorischen Symtompen' (Wahn, Halluzinationen , katatone
Störungen) verändern oder , wie es im DSM- 111 geschieht (vgl. DSM- 111 ,
191-203), ganz aufgeben.
Von der historisc h aufgerissenen Vielfalt des Clusters von Schizop h reniebegriffen zieht T ress ei n Uberraschend einfaches Fazit: "l n all der geschichtlichen Bewegtheit der Begriffe wurde indessen nie zweifelhaft, daß
eine - in zeitgenössischer Terminologie - kognitive Störung in Rede stand"
(zs), "e ine recht kennzeichnende Störung im Realitätsbezug des Patien ten." ln diesem Zusammen hang bestimmt Tress einen Schizophreniebegriff ,
den ich den 'weiten Schizophreniebegriff' (WSB) nennen möchte.
WSB: " Die Abnormität liegt .•. in der Verbindung der Wo r te, Gebärden
und Handlungen, der Ver hältnisse und äußeren Umstände miteinande r ."
(p) ( Dies entspricht in etwa de r umfassenden Schizophreniedefinition
Bleulers.)
"Dieser . . • die Schizophrenie beschreibende Tatbestand wird in seinem
ganzen Umfang mi t 'Denkstörungen' nur unvollkommen getroffen" (32).
Gleichwohl möchte T ress bei der kogn itiven Pers pektive bleiben und daran
festhalten , daß "in den Denkstörungen doch noch am reinsten aufscheint,
was wir 'schizophren' heißen" (ebd., Hervorh. M. K.). Diese Auffassungen
enthalten noch nichts originär Sprachanalytisches . 19 J e mehr Tress nun
in den Schizophreniebegriff spezifisch sprachanalytische Elemente einzu bringen versucht, desto mehr verengt er den WSB: Als Ausdruck der
schizophrenen Denkstörung sei die "schizophrene Sprache" (35) zu betrachten, fUr die e in "Versagen basaler Konzeptuali sierung" (36 ) ty pisch
ist.
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Wahn, Sinn, Sprache und Analyse
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Bereits dieser erste bedeutungsverengende Schritt vom WSB zum Konzept
der 'schizophrenen Sprache' scheint mir empirisch so fragwUrdig, daß er
guter Argumente bedurft hätte. Viele Forschungsergebnisse lassen sich
nämlich dahingehend interpretieren, daß s ich das heuristische Konzept
einer 'schizophrenen Sprache' als leer oder unspezifisch herau sgestellt hat.
Einer der renommiertesten Forscher resUmierte die Negativerfahrungen mit
dem Forschungsparadigma 'schizophrener Sprache' bereits 1982 folgende rmaßen:
"Schizophrenics are sometimes difficult to understand. So are nonschizophrenic patients, poets, and even 'normals' , but perhaps not quite so often
• . • Although virtually all observers agree that schizophrenics sometimes
say bizarre things, it has not been clearly demonstrated that their problern
is the result of a language deficit. They appear to use syntactic rules
appropriately (the evidence with regard to semantic ru les is unclear ), they
do not have peculiar word association hierarchies, and their speech errors
are similar to those made by nonschizophrenics. - Schizophrenics often
ignore the pragmatic rules underlying conversations. They may fail to
provide sufficient context for their listeners; they may also tallc in a
strange voice, grimace, or gesture inappropriately. Naturally, all this
makes them hard to follow, but it does not reflect on their language
competence - only on their pedormance. Schizophrenics' speech ist
disturbed, but their language competence appears intact." (Schwartz 1982,
sss>
Demzufolge wltre es aussichtsreicher, schizophreniespezifische Störungen im
Rahmen von Theorien der Pragmatik der Rede (parole, discou rs, verbal
interaction, performance) zu untersuchen als in terms von Theorien der
Syntax oder Semantik der Sprache (Iangue, language). Die sprachphilosophische Tradition im weiteren Sinne böte hierzu reichhaltige Hilfsmittel 20
- weit mehr als die auf die Struktur des Aussagesatzes und die Funktionen
des Gegenstandsbezugs und der Prädikation abstellende .Theorie Tugendhats oder als die auf Wahrheitsbedingungen fixierte Sprachphilosophie
Davidsons, an denen Tress sich orientiert. Alle mir bekannten empirisch
gehaltvollen Versuche, schizophrene Störungen im Ausgang von einer
Analyse sprachlicher Eigenheiten der Schizophrenen her zu charakterisieren, betten Feststellungen von semantischen und syntaktischen Eigenheiten
in pragmalinguistische, interaktionistische oder psychodynamische Analyseperspektiven ein. So korrrnt beispielsweise Susanne Schmidt- Knaebel in
ihrer Untersuc hung Uber Schizophrene Sprache in Monolog und Dialog
( 1983 , vgl. bes. 1-5, 171 , 341, 346f.) zu Hypothesen der Form, daß Schizophrene Negation und die Aktiv -Passiv-Konstruktionen eigenwillig zur
Dialogsteuerung einsetzen, und zwar psychodynamisch als Schutzmechanismen und interaktiv als latente Metakommunikation (von Protest). 21
In einem zweiten bedeutungsverengenden Schritt weg vom WSB kommt
Tress zum folgenden ( sprachanalytisch inspirierten) Schizop hreniebegriff,
den ich den 'engen Schizophreniebegriff' (ESB) nennen möchte:
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So
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ESB: Schizophrenie meint eine "gut zu umschreibende Alteration der
semantischen Konstitution der abnormen Person ( .• . ) . Die Störung o r dnet
sich am ehesten (ih r em) Denken zu und ist als ein Versagen der relationale n Verweisungen zu charakterisieren ( •• • )" - eine " Dissolution der r elationalen Bezugnahme von Einzeldin gen und Sachverhalt en aufei nander"
(37), ei n Versagen, "vorübergehend oder dauerhaft", de r " Identifikation
des gemeinten Gegenstandes" (38), "das scheint uns "schizop hr en" zu
bedeuten" (ebd., alle Hervorh. in d iesem Absatz von M. H.).
Tress glaubt, der ESB lasse sich auf folgenden Punkt bringen: Inbegriff
des Schizophrenen ist, so Tress, die erschUtterte "Deixis". 22 Wenn dieser der sprachanalytischen Referenztheorie entlehnte Begr iff de r Deixis
Oberhaupt informativ sein soll, muß T ress mit ihm etwa soviel meinen wie:
"die unser Alltagsreden formenden und prlizisierenden Verweisungszusammenhänge in ihrer globalen Funktion der Sinnpräz isierung" (Mundt 1988,
86). 2 3 Ich halt e es fUr aussichtslos, (pathologische) Veränderungen der
"globalen Funk tion der Sinnpräzisierung" in einem semantischen, d. h. auf
Sprache-Welt- Beziehungen abstellenden T heorierahme n anal ys ieren zu wollen . Aber selbst wenn man den kommunikativen Sinn von Deixis im erweiterten Rahmen von Sprecher-Hörer-Sprache-Welt Beziehungen , also pragmalinguistisch analysiert, kön nte sich die Fokussierung auf Sprache , auf
verbale Äu ßerungen, als ein Textbegriff herausstellen, der zur Aufhellung
schizophrener InteraktionsauffäHigkeiten zu eng ist ( vgl. Steiner - Krause/
Krause/Wagner 1990; Villenave-Cremer /Kettne r /Krause 1989). Ich betrachte
die Erarbeitung des Textbegriffs, de r 'Text' nicht mehr nur mit verbalen
oder par averbalen Verlautungen (oder deren Protokollen) identifiziert, als
eine dringliche Aufgabe der Kooperation von Psychologie, Soziologie und
(hermeneutischer und analytischer) Philosophie.
Meine Einwände gegen ESB sind: Beide bedeutungsverengende Au slegungsschritte, die Tress vom WSB zum Konzept der sch izophrenen Sprache und
dann zum ESB fUhren, sind empirisch schlecht fundiert. Zudem bleibt der
Status der Schritte selber ungeklärt: Soll ESB einfach ein weiterer Vo r schlag in de r kaleidoskopischen Bedeutungsgeschichte des Ausdrucks "schizophren" sein? Oder soll ESB alle anderen oder zumindest einige der gängigen Vorschläge ersetzen? Wegen der Einseitigkeit der in ESB eingehenden
sprachanalytischen Mittel erweist sich angesichts empirischer Untersuchun gen , daß ESB kein notwendiges Bestimmungsmoment von Schizophreniebegriffen ist.
3.2 Zum Wahngedanken
"Ein in der Nacht unter dramat ischen Umstlinden a ufgenommene r 28jähriger
Patient liegt des morgens giUckselig und gelassen in seinem Bett und
erwidert auf die BegrUßung des Stationsarztes: ' Ich bin der Papst'. ( .•. )
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Wahn , Sinn, Sprache und Analyse
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Er wiederholt seine Behauptung mehrfach, bezeichnet sich auch als Heiliger
Vater und verweist beiläufig zum Beleg auf die aus den Schornsteinen des
Klinikums aufsteigenden Rauchfahnen, die das Ende der Konklave anzeigten. Insbesondere aber beruft er sich auf eine Stimme aus seinem Herzen,
welche ihn der g roßartigen Botschaft versichert." (47)
Tress' sprachphilosophische Analyse von Wahngedanken (wie " Ich bin der
Papst" im obigen Beispiel) besagt: Der Wahngedanke "besitzt die semantische Struktur eines Quasiprädikats, nicht eines Aussagesatzes" (s6). Das
Charakteristische von Quasiprädikaten (sensu Tugendhat) ist, daß sie,
ähn lich wie kindliche Ein-Wo rt- Sätze ("Mama! ", "Mama?") und im Unte r schied zu richtigen Prädikaten , (noch) nicht situationsunabhängig verwendet werden: ihre Verwendungs- bleibt an ihre Erklärungs- oder Einführ ungssituation gebunden. Im Wahngedanken wird "die individuell abgeschattete, biographisch gewordene emotive Tö nung des Quasiprädikats zu r
dominierenden Regel des Gebrauchs " (s8). "Die Quasiprädikatensprache
u nter scheidet nicht zwischen emotionalem Ausdruck und objektiver Situationsaussage, sondern operiert auf eine r d iesen gemeinsamen physiognomischen Vorstufe ." (s8) Dieser Analyse zufolge gilt : Der Patient will nicht
aussagen, daß er der Papst ist, sondern ausdrUcken, wie er sich situativ
füh lt , und die emotionale Bedeutung, die das Prädikat " .•• ist der Papst"
lebensgeschichtlich fUr ih n gewonnen hat, macht, daß er sei n situatives
Gefühl mit den Worten ausd rUckt, e r sei der Papst.
Mit der Annahme, das Unterh alten und AusdrUcken von Wah ngeda n ken falle
g leichsam sprachregressiv ( Quasiprädikate statt Prädikate!) hinter die
Regeln zurück , die Behauptungen konstituieren, möchte Tress erklä ren,
daß die "Auffor derung zur argumentativen Begr ündung" dem Patienten
gegenüber verfehlt sei, und daß der Wahnkranke seinerseits "die Situation
selbst" als den unhintergehbaren Beleg fUr die Akzeptabilität seiner Äußer un g hält (s6) . Mit der weite ren Annahme, die regelgeleitete Erzeugung
einer Ausdrucksgestalt von Wahngedanken weiche gleichsam idiosy nkratisch
von den Standard- EinfUhr ungssituationen, in denen wir die betreffenden
Quasiprädikate lernen, ab (emotionale Bedeutsamkelt statt Standardbedeu tung der Quasiprädikate!), möchte T ress er klären, wie der bizarre Inhalt
solcher Äußerungen zustandekommt.
Ich finde diese Analyse ausgesprochen interessant. Sie ließe sich m.E. sogar empirisch UberprUfen, wenn man die Standar dbedeutung von (Quasi-)
P rädikaten P, Q, R (z . B. von " ... ist der Papst") explizieren und verg leichen könnte mit de r individuelle n affektiven Bedeutsamkeit, die P, Q, R
fUr eine bestimmte wahnhaft sich äuße r nde Per son S haben.
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Allerdings sehe ich nicht, wie die individuelle affektive Bedeutsamkelt die
P, Q, R fUr eine bestimmte wahnhaft sich äußernde Person S haben,
anders ermittelt werden könnte als durch aufwendige Interpretationen z.B. mit den Mitteln der Psychoanalyse. Daher kann ich Tress nicht zustimmen, wenn er den Status seines Analysevorschlags wie folgt einschätzt:
"Die sprachanalyt isc he lnterpret.a tion des Wahngedankens legt seine Sinnstruktur innerhalb der denkbar schlichten Semantik expressiv gewendeter
Quasiprädikate frei, und das tiefschUrfende Gr Ubein Uber die 'eigentliche
Bedeutung' der Rede im Wahnsinn hat ein Ende." (s8) Es ist ja eine empirische offene Frage, ob mit dieser "denkbar schlichten Semantik" die Sinnstruktur von Wahngedanken Oberhaupt wirklich zutreffend erfaßt ist. Und
um diese Frage zu beantworten, mUßte man anfangen, die eigentlichen Bedeutungen von Rede n im Wahnsinn allerer st zu entziffer n.
Nicht aufrechterhalten läßt sic h m.E. Tress' kategorische Trennung von
Ausdruck und Aussage im Hinblick auf Wahngedanken. Gegen die Richtig keit der Annahme, Äußerungen von Wahngedanken seien keine Behauptun gen, sondern Ausdruck ("Verweigerung des Verifikationsspiels" (48)),
scheint mir das von Tress selber angefUhrte Beispiel zu sprechen (s.o.).
Schließlich beruft sich ja der Patient dem Skeptiker gegenOber auf äußere
Evidenzen (Rauch aus dem Schornstein) und auf andere Belege (innere
Stimme)! Es ist nicht so, daß er auf Nachfrage Oberhaupt keine GrUnde
fur die Wahrheit dessen, was er sagt, anfUhren wUrde, sonder n seine an gefUhrten Grunde sind einfach aus unserer Sicht sehr schlechte Grunde.
Er verweigert uns gegenOber also nicht das Verifikationsspiel ; aber was ~
flir Oberzeugende GrUnde hält, halten wir fUr absurd . - Ich schließe frei lich nicht die Existenz von Fällen aus, wo S einen Wahngedanken unter hält, ohne die geringste Bereitschaft, auf Nachfrage oder Einwände zu
reagieren. Hier greift T ress' Trennung von Ausdruck und Aussage. Es
gibt aber auch Fälle, wo das Unterhalten eines Wahngedankens mit einer
Sensibilität fUr Ev idenz einhergeht. Das Wahnhafte zeigt sich in solchen
Fällen nicht in der Substitution von Prädikaten durch Quasiprädikate, son de r n in der Bewertung und Auswahl der GrUnde, die der Wahnkranke fUr
triftige Evidenzen hält.
4·
Schlußbemerkung
Ich habe gezeigt, wie das sehr sinnvolle Unternehmen einer philosophischen
Fundierung der psychologischen Medizin im Begriff der intentionalen Person
an der engen bzw. unkritischen Auswahl der analytischen Ansätze (bei
Tress: Davidson, Dennett, Tugendhat) leidet. Besonders die semantizistische und kognitivistische Ausrichtung eines Ansatzes (bei Davidson die
Fixierung auf Wahrheitsbedingungen, bei Dennett die Fixierung auf prognostisch Verhaltenserklärung, bei Tugendhat die Fixierung auf die P ragmatik von Aussagesätzen) erweist sich in dem Maße als Scheuklappe, wie
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Wahn, Si nn, Sprache und Analyse
die ps ychopathologischen Phänomene selber ( intrapersonal) affektive und
( interpersonell) interaktive Komponenten aufweisen. Als weiterführende
t heoretischen Probleme, die mit Mitteln der pragmatisch aufgeklärten analytischen Philosophie in Zusammenarbeit mit der Psychopathologie /Psychiatrie
geklärt werden sollten, habe ich herausgestellt: die Klärung psychopathologiespezifischer Irrationalität und die Fassung eines Textbegriffs, der
Text nicht auf die ( para- )verbalen Äußerungen von Sprechern reduziert.
Anmerkungen
FUr eine intern sprachphilosophische Kritik hingegen erscheint mir
Tress' Position nicht klar ge nug ausgeführt und daher zu wenig greifbar: Gegen die Common Sense Vorstellung von einer fertig gegebenen
Welt, die wir mit wa hren Aussagen dann in unserer Sprache abbilden
könnten, setzt Tress die von Davidson, Rorty und anderen geltend
gemachte Grundvorstellung von der unhintergehbaren Sprachvermitteltheit unseres Weltverhältnisses selber. Diese Grundvorstellung kann nun
freilich in ganz unterschiedlich starken Thesen entwickelt werden. Eine
moderate These wäre etwa die, daß wir kein Wissen von etwas in der
Welt haben könnten, wenn wir keine intersubjektiv verbindliche Sprache hätten, die Formulierungen über etwas in der Welt erlaubt. Eine
sehr viel anspruchsvollere und daher argumentationsbedürftige These
(wie etwa Goodman und Rorty sie vertreten wUrden, vgl. Goodman
1978 und Rorty 1988) wäre hingegen die These , daß wir das, was uns
als Welt gilt, kraft der Vokabulare, die wir in Umlauf bringen, e rzeu~·
Tress kokettiert rhetorisch mit dieser These, aber es bleiDtüii"="
klar, genau wieweit und mit welchen Gründen er ihr zustimmen wUrde.
Bei Tress wird die intuitiv faszinierende Gru ndvorstellung, daß die
Sprachlichkeit des Menschen den menschlichen Weisen, in der Welt zu
sein, nicht ä u ßerlich sein könne, an keiner Stelle präzisiert, sondern
immer nu r unidar variiert: "Die Strukt ur unserer Welt ist die Struktur
der Sprache, in der wir sie beschreiben" (Tress 1987a, 8). Ähnlich:
"Realität ist immer schon in symbolischen Konzepten nach Art einer
Sprache strukturiert" ( 13), und die "alltägliche Praxi s, unser Handeln
und Erleben, ist gleich der Semantik unserer Sprache und Texte organisiert" (42). Auf S. 13 erwähnt Tress auch "die nach Art der Sprache gestaltete Lebensform der lnterpretationsgemeinschaft", auf S. 31
behauptet er: "Unser gesamtes Wissen von den Dingen und Tatbeständen ist ••. nach Art einer Sprache konstituiert" (31). Ich b reche das
Zu sammenstellen von Versionen der These von der Sprachförmigkeit
der Welterfahrung hier ab . Nirgends versucht Tress zu bestimmen, um
welche (von allen möglichen) Struktu ren de r Welterfahrung und um
welche (von allen möglichen) Strukturen 'der Sprache' es geht. So
I>Iei'6t völlig unklar, was es ist, nach Art einer Sprache strukturiert,
organisie rt, . gestaltet und konstituiert zu sein.
2
Sehr deutlich wird dies im Kapitel 4, wo Tress "Typen gestörter Zeitlichkeit in den Psychosen" erörtert und dazu McTaggarts zwei Zeitrei hen als Einteilungsschema benutzt, inhaltlich aber nicht mehr und
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nichts anderes beschreibt, als was sprachanalytisch unbedarfte LehrbUchet der Psychiatr ie Uber psychotische und neurotische Veränderungen des Erlebens zu sagen haben. Auf Tress' Verwendung des McTaggartschen Zeitreihenschemas (s.o.) als Einteilungsraster für eine Teilklasse psychopathologischer Symptome werde ich daher im folgenden
nicht e ingehen.
3 S. 68. Und: "Der Begriff der Person bezeichnet ... einen intentionalen
Akteur, dem wir die Fähigkeit zuschreiben, vernUnftig und rational zu
handeln und der deshalb fu r dieses Handeln verantwortlich ist" (69 );
"Person impliziert Freiheit" ( 73).
4
S. 79· Und: "Was immer den Begriff 'die Person' darUber hi naus noch
kennzeichnen mag, jener der Intentionalität ist sein Fundament." ( 75)
5 S. 71. Und : "Intentionalität ... schließt sofort fUr den Fall der Person
aus, daß ihr entgegengesetzte Begriffe, wie der des Determinismus,
der willkUrliehen Wiederholbarkeit, des Naturgesetzes oder ähnliche
positivistisch-nomologische Konzepte der empirischen Naturwissenschaften mit der Rede von der Person in einen wesentlichen Denkzusammenhang gestellt werden können." (75)
6
T ress plädiert fUr einen Begr iff psychischer Krankheit, der kulturalistisch ist, d.h. Aussagen Uber den Organismus einer Per son (z. B.
Uber statistisch anormale Hormon - oder Transmitterwerte) sin d weder
notwendig noch hinreichend fUr Aussagen Uber Krankheit oder Gesundheit der Person qua Person. "Die Rede von der Krankheit einer
Person gewinnt zunächst ihren Sinn aus dem Kontrast zur normativen
urcJiili'"ng einer Lebenswelt." (94) Sind demnach Verbrecher eo ipso
Kranke? Speziell fUr die Psychiatrie beruft sich Tress auf J. Glatze!
(1980) fU r den angeblichen Nachweis, "daß alle ihre Diagnostik, sogar
im Falle der exogenen Psychosen, auf psychopathalogischen Tatbestän den jenseits der Körperlichkeit beruht" (95). Ich konnte diesen Hin weis (der mir prima facie freilich kaum glaubhaft e r scheint ) noch nicht
UberprUfen.
7 Medizinstudenten lernen dies mit dem despektierlichen Spruch: "Man
kann auch Läuse und Flöhe haben!".
8 Außerdem spricht Tress andernorts (83) selber von einem unhi nter gehbaren epistemologischen "Primat der intentionalen Einstellung".
9
In diesem Zusammenhang ist an die breite Diskussion Uber den Wissensstatus der sogenannten 'folk psychology' zu denken, die Tress
leider völlig ignoriert.
10
NatUrlieh folgt nicht, da ß es Ube r haupt keine Wissenschaft von Personen geben kann. Nur wer noch an die Identität von Wissenschaft =
Naturwissenschaft glaubt (wie dies den Positivisten von einst nachgesagt wird ... ) , wurde so schließen.
Il
Dieses wichtige Rationalitlitsprinzip ist gleichsam ein Prinzip der Beweislastverteilung, es ist keine Operation des lnterpretierens, was
Tress aber zu glauben scheint . Das Prinzip läßt (leider) völlig im
Dunkeln, wj~
wir wirklich zu Interpretationen von nicht-selbstverständlichen Außerungen kommen.
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Wahn, Sinn, Sprache und Analyse
8s
12
Dennett 1981, bes. 274, wo Dennett Lloyd Morgan's Canon of Parsimony
diskutiert.
13
Das Prinzip der gutmUtigen Auslegung mUßte m. E. nicht nur mit einer
Theorie des lnterpretierens verzahnt, sondern überdies in medizinethi sche Uberlegungen eingebettet werden, um Uberz~ugnd
begrUnden zu
können, daß wir psychoa~lgi
verzerrte Außerungen so lange
und so weit wie möglich als Außerungen von tendenziell rationalen Per sonen auffassen sollen - nämlich auch da noch, wo bei Einnahme einer
depersonalisierenCJeilRaltung (einer Haltun g z.B. wie gegenüber einem
reparaturbedürftigen Automaten) pragmatisch alles viel leichter gi nge.
14
"The assumption that something is an intentional
assumption that it is rational. " ( Dennett 1981, 11)
15
"The assumption that something is an intentional s ystem is the
assumption that it is rational; that is, (!) one gets nowhere with the
assumption that entity !. has beliefs ~·
9, r, . • • unless one also
surposes that !. believes what follows rom p 9, r. II ( Dennett 198 1,
11
Die Zuschreibung von Rationalität zu x ieißt also soviel wie die
Erwartung, daß x s ich konform damit verhält, wie wir uns verhalten
wUrden, wenn wir die betreffenden Meinungen hätten und deren Konse uenzen entwickeln wU rden. Damit meint Dennett gewiß mehr als die
ege n es orma ogisc en chließens; wieviel mehr, das läßt er freilich offen.
16
Tress umgeh t die normativen Probleme, die in der Definition psychologischer Krankheitsbegriffe liegen, mit dem formalen Hi nweis auf fakti sche Aushandlungsprozesse relativ zu je bestimmten Gesellschaften
( vgl. 103).
17
"Sp rachanalytisch ist die Grundlage des Selbstbewußtseins nicht sonderlich spektakulär , eben weil eine Per son von sich und mit sich sinnvoll nur so sprechen kann wie sie von allen anderen Dingen der Welt
als Partizipant ihrer Sprachgemeinschaft spricht. " (99) Hier klingt besonders T ugendhats Analyse der epistemischen Asymmetrie und veritativen Symmetrie psychologischer Prädikate an. - Aber selbst wenn das
Gespräch Uber andere und von ande ren Uber einen die (ontogenetische) Grundlage des Auftretens von Selbstbewußtsein wäre (wie man
vermuten darf), so ist damit nicht gezeigt, daß sich die Verfassung
des Selbstbewußtseins, das auf jener Grundlage auftritt, so beschreiben läßt wie die Gru ndlage . Ich kann diese weitläufige Problematik des
Verhältnisses von verinnerlichtem Selbstgespräch und Selbstbewußtsein
hier nicht weiter ausfUh ren und begnüge mich mit dem Hinweis, daß es
einfach falsch ist, daß "eine Person von sich •• • nur so sprechen kann
wie sie auch von alle n anderen Di ngen der Welt .•. spricht". Wenn ich
z. B. den Gedanken Es ist 'etzt
Uhr· um
Uhr wollte ich das Radio
einschalten; also los. er asse, so sprec e 1c
unter
erwen ung
indexikalischer AusdrUcke ("jetzt", "ich") ; wie ich weder von irgendeinem Ding in der Welt noch von einer anderen Person in meiner
Sprachgemeinschaft gleichsinnig sprechen könnte.
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S. 71 - Außerdem wäre es empfehlenswert, realistische I ntentionalitätstheorien zu erkunden, z.B. Searle 1983.
system is
the
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Ähnliche Lehrmeinungen werden von Psychiatern unterschiedlicher
couleur ve rtreten; sie finden sich auch bei phänomenologisch orientierten und sprachanalytisch ganz uneaffinierten Psychiatern wie H .J.
Bochnik ( Bochnik 1986). Zu Bochniks präanalytischer Sprach- und
Begriffslehre siehe bes. 21-24 und 98-104. Zur Bestimmung des Schizophre nen, des Wahns und der Denkstörungen bei endogenen Psychosen
siehe bes. 130ff. und 93f.
20
Ich denke hier an die konversationsanalytischen Ansätze von P. Grice,
die kommunikationstheoretischen Ansätze von P. Watzlawick, die uni versalpragmatischen Ansätze von J. Habermas, die struktural-hermeneutischen Ansätze von U. Oevermann, die sprechakt- und intentionalitätstheoretischen Ansätze von J. Searle.
21
Weitere empirische Untersuchungen, die meine These von der Insuffizienz des kognitiv-syntaktisch-semantischen Ansatzes und die Fruchtbarkeit pragmatischer Ansätze belegen, sind Käsermann 1983; Käsermann/Foppa 1986; Villenave-Cremer/Kettner/Krause 1989.
22
S. 43· Gleichsinnig 44: "Schizophrenes Kolorit rührt ••• von der Auflösung vornehmlich deiktischer Dimensionen innerhalb der Textphorik • II
23
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