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Nervenarzt 1999 · 70:987–992 © Springer-Verlag 1999 Originalien R. Bottlender1 · A. Buchberger1 · P. Hoff2 · H.-J. Möller1 1Psychiatrische Universitätsklinik (Direktor:Prof.Dr.H.-J.Möller) der LMU München 2Psychiatrische Universitätsklinik (Direktor:Prof.Dr.H.Saß) der RWTH Aachen Urteilsbildung und Wahn Eine Studie zum Urteilsverhalten von wahnhaften, depressiven und gesunden Probanden Zusammenfassung Das Phänomen Wahn steht seit jeher im Zentrum des psychiatrischen Interesses.Die in der Vielzahl von Hypothesen zur Wahnentstehung diskutierten Ursachen reichen von Störungen der Wahrnehmung oder des Affektes bis hin zu kognitiven Störungen.In unserer Untersuchung mit 20 wahnhaften, 20 depressiven und 20 gesunden Probanden gingen wir der Frage nach, ob sich zwischen den drei genannten Gruppen Unterschiede im Urteilsverhalten während einer neutralen Testsituation aufzeigen lassen.Unsere Hypothese dabei war, daß wahnhafte Probanden zur Urteilsbildung deutlich weniger Information heranziehen und an ihren einmal gefällten Urteilen rigider festhalten, als dies bei einer gesunden und depressiven Kontrollgruppe der Fall ist.Zur Überprüfung der Hypothesen wurde eine modifizierte Version des “Probabilistic Inference Task”von Philips and Edwards eingesetzt.Zusammenfassend zeigte sich, daß die Gruppe der wahnhaften Probanden zur Entscheidungsfindung signifikant weniger Informationen als die beiden Kontrollgruppen benötigte.Das Urteilsverhalten insgesamt erschien bei den wahnhaften Probanden deutlich impulsiver und weniger auf formallogisch nachvollziehbaren Kriterien beruhend als dies in den beiden anderen Probandengruppen der Fall war. Schlüsselwörter Wahn · Wahnentstehung · Urteilsverhalten D as “Urphänomen” Wahn [9] steht seit jeher im Brennpunkt des psychiatrischen Interesses. Erklärungsansätze bezüglich der Wahngenese umfassen propositionale (Freud, [4]) und funktionale Wahntheorien, wobei bei letzteren neben Störungen der Wahrnehmung [11, 14, 15] oder des Affektes [7, 18] vor allem auch Störungen im Bereich kognitiver Prozesse als ursächlich für die Entstehung des Wahns diskutiert werden. So wurde z.B. bei wahnhaften schizophrenen Probanden bei der Vorgabe von Syllogismen eine Störung des deduktiven Schlußfolgerns gefunden [2, 19]. Diese Ergebnisse konnten in anderen Studien nicht bestätigt werden [20, 21]. Maher merkte in diesem Zusammenhang an, daß sich die Unterschiede zwischen wahnhaften und nichtwahnhaften Probanden aufheben würden, wenn man Bildungs- und Intelligenzunterschiede berücksichtigen würde, und daß auch gesunde Probanden Fehler im syllogistischen Schlußfolgern begehen [11]. In die gleiche Richtung deuten neuere Untersuchungen zum Urteilsverhalten von gesunden Probanden, die zeigen, daß “irrationales” Urteilsverhalten ein häufigeres Phänomen ist, als man dies gemeinhin annehmen würde [3, 12]. Die hier vorliegende Studie orientiert sich konzeptionell an den Studien der Gruppe um Garety et al. [5] und untersucht das Urteilsverhalten anhand von Wahrscheinlichkeitsschätzungen in einer neutralen Testsituation. Konkret werden dabei z.B. Kugeln aus einem von zwei mit jeweils 100 Kugeln gefüllten Behältern verdeckt gezogen, wobei der Proband weiß, daß sich in einem Behälter z.B. 85 rote und 15 grüne und in dem zweiten Behälter 85 grüne und 15 rote Kugeln befinden. Nachdem dem Probanden die Farbe einer gezogenen Kugel mitgeteilt wurde, muß er eine Wahrscheinlichkeitsausage darüber machen, aus welchem der beiden Behälter die Kugel entnommen wurde. Diese Wahrscheinlichkeitsschätzung wird dann mit einer auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeitstheorie mathematisch begründeten Wahrscheinlichkeitsschätzung verglichen, wobei ursprünglich davon ausgegangen wurde, daß wahnhafte Personen auf dem Boden der gleichen Informationen die Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse im Vergleich zu gesunden Personen eher höher einstufen. Die Hypothese, die wir diesbezüglich verfolgten, war, daß wahnhafte Probanden zur Urteilsbildung aufgrund von Wahrscheinlichkeitsschätzungen weniger Information heranziehen und an ihren einmal gefällten Urteilen rigider festhalten, als dies bei einer gesunden bzw. depressiven Kontrollgruppe der Fall ist. Dr. R. Bottlender Psychiatrische Klinik der LMU München, Nußbaumstraße 7, D-80336 München Der Nervenarzt 11·99 | 987 Nervenarzt 1999 · 70:987–992 © Springer-Verlag 1999 Originalien Methodik R. Bottlender · A. Buchberger · P. Hoff · H.-J. Möller Decision-making and delusion. A study on decision-making in deluded, depressive and healthy subjects Summary Delusion as a phenomenon was always in the focus of psychiatric interest.Explanations for its origin reach from disturbed perception or affect to deficits in cognition.In our study we investigated 20 deluded, 20 depressive and 20 healthy subjects in order to find out differences in decision making, while a neutral test situation.Our hypothesis was that deluded subjects need less information for decision making and tend less to change their decision, made before, than both control groups will do this.For examination our hypothesis a modified version of “Probabilistic Inference Task”by Philips and Edwards was performed.In summary we found that deluded subjects need less information for decisions making than the control groups.Furthermore, decision making of deluded subjects seems more impulsive and less referring to formal logical criteria than it was found in depressed and healthy volunteers. Key words Delusion · Origin of delusion · Decision making besteht darin, daß sich das Farbverteilungsverhältnis der Kugeln zwischen den Behältern unterscheidet. Das bedeutet z.B., daß sich in Behälter A 85 rote und 15 grüne und in Behälter B 85 grüne und 15 rote Kugeln befinden. In Testkondition 1 wurden die Kugeln in der in Tabelle 1 angegebenen pseudorandomisierten Reihenfolge gezogen. Die Aufgabe des Probanden bestand bei dieser Testkondition darin, anhand der ihm nach jeder Ziehung mitgeteilten Farben, zu entscheiden, aus welchem von den zwei möglichen Behältern die Kugeln gezogen wurden. Dabei mußte der Proband nach jedem Zug angeben, ob er für seine Entscheidung noch weitere Züge benötige oder nicht. Die Aufgabe war beendet, sobald der Proband sich auf einen der beiden Behälter festgelegt hatte und auch bei nochmaligem Nachfragen an seiner Entscheidung festhielt. Die Reihenfolge, in der die Kugeln in Testkondition 2 gezogen wurden, ist ebenfalls Tabelle 1 zu entnehmen. Der Unterschied zu Testkondition 1 bestand darin, daß hier insgesamt 20 Ziehungen erfolgten und der Proband nach jeder Ziehung und Kenntnisnahme der Farbe der gezogenen Kugel die Wahrscheinlichkeit einschätzen mußte, aus welchem der beiden Behälter (Behälter A bzw. Behälter B) die Kugeln gezogen wurden. Nach Beendigung beider Testkonditionen wurden die Probanden aufgefordert den Grad ihres subjektiv empfundenen Stresserlebens während der jeweiligen Testdurchführung auf einer visuellen Analogskala (von “0=kein Stresserleben” bis “100=maximales Stresserleben”) einzustufen. Gruppenunterschiede wurden mit dem zweiseitigen t-Test auf ihre Signifikanz hin überprüft (Signifikanzniveau: 5%). Bei den dargestellten nonparame- Es wurden jeweils 20 stationäre Patienten der psychiatrischen Klinik der LMU München mit einem das akute psychopathologische Erscheinungsbild dominierenden wahnhaften bzw. depressiven Syndrom in die Untersuchung eingeschlossen.Als Kontrolle dienten die Untersuchungsergebnisse von 20 gesunden Probanden. Die psychopathologischen Daten wurden unter Verwendung des AMDP-Systems [1] erhoben. Die entsprechenden AMDP-Syndrome wurden nach Gebhardt et al. [6] berechnet. Zur Einschätzung des Bildungs- und Intelligenzniveaus wurden die Schul- und Berufsausbildung dokumentiert sowie der Wortschatztest [17] durchgeführt. Zur Überprüfung der o.g. Hypothesen wurde eine modifizierte Version des “Probabilistic Inference Task” von Philips u. Edwards [16] eingesetzt. Hierbei müssen Probanden in einer bezüglich einer potentiellen Affekt- oder Wahninduktion möglichst neutralen Testsituation Wahrscheinlichkeitsschätzungen bezüglich bestimmter Ereignisse abgeben. Der Testaufbau untergliedert sich in zwei Konditionen, die bei jeweils unterschiedlicher Aufgabenstellung auf einem ähnlichen Grundprinzip beruhen. Vor der Testdurchführung erhielten die Probanden zunächst die folgenden Informationen: Bei den jeweiligen Aufgabenstellungen werden Kugeln aus einem von zwei mit jeweils 100 farbigen Kugeln gefüllten Behältern gezogen. Die Ziehung der Kugeln erfolgt verdeckt, also ohne Einsichtsmöglichkeit des Probanden. Nach Ziehung einer Kugel wird die Farbe dieser Kugel dem Probanden mitgeteilt, woraufhin die Kugel wieder in den Behälter, aus dem sie gezogen wurde, zurückgelegt wird. Der Unterschied zwischen den beiden Behältern Tabelle 1 Reihenfolge der Ziehungen der Kugeln in Kondition 1 (K1) und Kondition 2 (K2) Zug 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 K1 r r r g r r r r r g g r r r r r r r r g K2 p p p b p p p p b p b b b p b b b b p b r, rote Kugel; g, grüne Kugel; p, pinkfarbene Kugel; b, blaue Kugel 988 | Der Nervenarzt 11·99 Tabelle 2 Patientencharakterisierung gesunde P. N f/m Alter (Jahre) t-Test (Alter) PARHAL (Mean±SD) t-Test (PARHAL) DEPRES (Mean±SD) t-Test (DEPRES) WST (Mean±SD) t-Test (WST) wahnhafte P. depressive P. gesunde P. 20 15/5 42,55±14,53 20 20 20 11/9 15/5 15/5 41,55±12,44 50,30±14,16 42,55±14,53 p=0,816 p=0,045 p=0,096 9,70±4,09 0,35±0,99 p=0,001 2,40±3,07 13,15±5,59 p=0,001 35,75±2,22 30,13±7,13 31,40±3,27 35,75±2,22 p=0,007 p=0,515 p=0,001 PARAHL, paranoid-halluzinatorisches Syndrom; DEPRES, depressives Syndrom; WST,Wortschatztest trischen Korrelationen handelt es sich um den Spearman’sche Rang-Korrelationskoeffizienten (Signifikanzniveau: 5%). Ergebnisse Patientencharakterisierung Bei den 20 Probanden mit einem wahnhaften Syndrom lag in 13 Fällen eine schizophrene Störung (F20.xx) und in 5 Fällen eine wahnhafte Störung (F22.0) vor. Bei 2 weiteren Probanden wurde eine schizoaffektive (F25.0) bzw. eine akute psychotische Störung (F23.3) diagnostiziert. Von den 20 Probanden mit einem depressiven Syndrom wiesen 5 Patienten die Diagnose einer erstmalig aufgetretenen depressiven Episode auf (4 Patienten F32.1, 1 Patient F32.2). Bei 10 Patienten lag eine rezidivierende depressive Störung vor (jeweils 5 Patienten F33.1 und F33.2). Insgesamt 4 Patienten hatten die Diagnose einer bipolaren affektiven Störung (je 2 Patienten mit der Diagnose F31.3 und F31.4). Ein Patient wies die Diagnose einer Somatisierungsstörung mit depressiver Verstimmung (F45.0) auf. Bei beiden Patientengruppen stand zum Untersuchungszeitpunkt jeweils eine depressive oder wahnhafte Symptomatik im Vordergrund des psychopathologischen Erscheinungsbildes. Die diesbezüglich in Tabelle 2 aufgeführten durchschnittlichen Summenscores entsprechen denen, die auch allgemein von Patienten, die wegen einer akuten depressiven bzw. wahnhaften Symptomatik in unserer Klinik stationär aufgenommen werden, erreicht werden. Die Kontrollgruppe der gesunden Probanden bestand aus 20 freiwilligen Teilnehmern ohne positive psychiatrische Eigen- oder Familienanamnese. Die weiteren Charakteristika der Probanden wie z.B. die Ergebnisse bezüglich des Wortschatztestes etc. können Tabelle 2 entnommen werden. Ergebnisse zur Testkondition 1 In dieser Testkondition mußten die Probanden herausfinden, aus welchem von 2 möglichen Behältern die Kugeln während der Testdurchführung gezogen wurden. Das Zielkriterium war dabei die Anzahl der zur Entscheidungsfindung benötigten Züge. Hierbei zeigte sich, daß die wahnhaften Probanden hochsignifi- kant weniger Züge (Anzahl der Züge: 3,30±1,72; N=20) zur Entscheidungsfindung benötigten als die gesunden (Anzahl der Züge: 5,75±2,67; N=20) und depressiven Probanden (Anzahl der Züge: 4,70±1,84; N=20), die sich untereinander nicht signifikant unterschieden [p (gesund vs. wahnhaft)=0,001, p (depressive vs. wahnhaft)=0,017]. Nach 3 Zügen hatten sich bereits 65% der wahnhaften (15% bereits nach dem ersten Zug) jedoch nur 35% der depressiven und lediglich 25% der gesunden Probanden für einen Behälter entschieden (s.Abb. 1). Bis auf 2 wahnhafte Probanden, die sich beide nach drei Zügen für Behälter B entschieden, entschieden sich alle übrigen Probanden für den richtigen Behälter A. Signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen im subjektiven Stresserleben während der Durchführung der Testkondition 2 zeigten sich nicht. Tabelle 3 Ergebnisse des auf einer visuellen Analogskala (0, kein Stress; 100, maximaler Stress) angegebenen subjektiven Stresserlebens während der Testkondition 1 und 2 gesunde P. Kondition 1 Stress (Mean±SD) t-Test 6,30±8,05 Kondition 2 Stress (Mean±SD) t-Test 8,05±10,04 wahnhafte P. depressive P. 10,35±16,91 0,34 14,40±23,86 0,54 16,25±17,51 0,08 Gesunde P. 6,30±8,05 0,16 23,95±26,22 0,28 8,05±10,04 0,02 Der Nervenarzt 11·99 | 989 Originalien Abb.1 b Verteilung der benötigten Züge zur Urteilsfindung in Kondition 1 bei den verschiedenen Probandengruppen Ergebnisse zur Testkondition 2 Die Wahrscheinlichkeitsschätzungen bezüglich der Aufgabenstellung in Testkondition 2 sind in Abb. 2 dargestellt. Hier wird zunächst einmal deutlich, daß die Gruppe der wahnhaften Probanden bezüglich ihres Urteilsverhaltens ein deutlich heterogeneres Verteilungsmuster aufweist als die Gruppen der depressiven und gesunden Probanden. Zu einer genaueren Analyse des Urteilsverhalten der verschiedenen Probandengruppen wurden die folgenden Zielkriterien definiert und zwischen den Gruppen verglichen. Das erste Zielkriterium war die Häufigkeit drastischer Urteilsänderungen, die als Urteilsänderungen um mehr als 50% im Vergleich zum Vorzug definiert wurden. Das zweite Zielkriterium betraf die Logik der Wahrscheinlichkeitsschätzung, wobei eine Wahrscheinlichkeitsschätzung dann als logisch galt, wenn auf einen konfirmatorischen Zug (Anmerkung: konfirmatorisch bedeutet, daß die Farbe einer gezogenen Kugel, der Farbe der Kugel des vorangegangenen Zuges entspricht) mit einer Höher- bzw. Gleichbewertung der Wahrscheinlichkeit im Vergleich zum vorausgegangenen Zug reagiert wurde. Entsprechend wurde die Logik bezüglich eines diskonfirmatorischen Zuges beurteilt. Bezüglich dieser Zielkriterien zeigte sich, daß drastische Urteilsänderungen in der Gruppe der wahnhaften Probanden signifikant häufiger auftraten als in den beiden andern Probandengruppen. Im Detail trat dieses Verhalten bei 50% der wahnhaften Probanden, bei 5% der depressiven Probanden und in keinem einzigen Fall bei gesunden Probanden auf [p (gesund vs. wahnhaft) <0,001, p (depressive vs. wahnhaft)=0,022, p (depressiv vs. ge- 990 | Der Nervenarzt 11·99 sund)=n.s.].Auch hinsichtlich der Logik der Entscheidungen unterschieden sich die wahnhaften Probanden signifikant von den beiden anderen Probandengruppen. Unlogisches Verhalten im Sinne der Definition trat bei 55% der wahnhaften, bei 20% der depressiven und bei lediglich 5% der gesunden Probanden auf [p (gesund vs. wahnhaft) <0,001, p (depressive vs. wahnhaft)=0,001, p (depressiv vs. gesund)=n.s.]. Die Ergebnisse des subjektiv empfundenen Stresserlebens bei der Durchführung dieser Testkondition sind in Tabelle 3 aufgeführt. Bis auf ein signifikant höheres Stresserleben der depressiven Probanden im Vergleich zu den gesunden Probanden, waren die Gruppenunterschiede nicht statistisch signifikant. Diskussion und Schlußfolgerung Die Befunde beider in der Studie durchgeführten Testkondition zeigten, daß wahnhafte Probanden ein im Vergleich zu depressiven und gesunden Probanden deutlich unterschiedliches Urteilsverhalten aufweisen. In Testkondition 1 benötigten wahnhafte Probanden zur Entscheidungsfindung signifikant weniger Züge als beide Kontrollgruppen. In Testkondition 2 erschien das Urteilsverhalten der wahnhaften Probanden deutlich impulsiver, worauf die Neigung zu drastischen Urteilsänderungen hinweist, und weniger auf formallogisch nachvollziehbaren Kriterien beruhend, als dies in den beiden anderen Probandengruppen der Fall war. Huq et al. [8] fanden für Testkondition 1 ähnliche Ergebnisse, wobei diese Gruppe in einer vergleichbaren Versuchsanordnung drastische Urteilsänderungen vorwiegend nach nichtkonfirmatorischen Informationen fand und dieses Phänomen als Ausdruck einer größeren Irritierbarkeit interpretierte. Unsere Ergebnisse zeigen hingegen, daß die Tendenz zu drastischen Urteilsänderung bei wahnhaften Probanden ein durchgängiges Verhaltensmuster darstellt, welches nicht in einen Zusammenhang zu den vorgegebenen Informationen gebracht werden kann. Die entscheidende Frage, die sich bei der Interpretation der Ergebnisse stellt, ist die, ob die Unterschiede zwischen den Probandengruppen wahnbedingt sind oder ob sie sich überwiegend durch andere Faktoren erklären lassen. So wurde von verschiedener Seite der Einfluß von Bildung und Intelligenz auf das Urteilsverhalten ins Feld geführt: Es wurde argumentiert, daß die gefundenen Unterschiede im Urteilsverhalten vorwiegend Unterschiede in der Intelligenz der untersuchten Probandengruppen reflektieren und nicht auf das Vorhandensein eines Wahns zurückzuführen seien [11]. In der Tat erzielten die überwiegend schizophren wahnhaften Probanden in vielen Studien bezüglich ihres Intelligenzniveaus niedrigere Ergebnisse als die entsprechenden Kontrollgruppen. Auch in unserer Studie waren die Ergebnisse des Wortschatztests, der als Maß für die verbale Intelligenz gelten kann, für beide psychiatrischen Probandengruppen signifikant niedriger als für die gesunde Probandengruppe. Die Ergebnisse im Wortschatztest und die Zahl der in Kondition 1 zur Entscheidungsfindung benötigten Züge korrelierten jedoch nicht signifikant miteinander (Spearman’s Korrelationsindex=0,144, p=0,291), was bei einem diesbezüglich hypostasierten Zusammenhang zu erwarten wäre. Desweiteren zeigten sich die dargestellten Unterschiede im Urteilsverhalten nicht nur zwischen wahnhaften und gesunden, sondern auch zwischen wahnhaften und depressiven Probanden, die sich jedoch in ihren Ergebnissen des Wortschatztestes nicht signifikant voneinander unterschieden. Somit kann in unserer Studie insgesamt nicht davon ausgegangen werden, daß die gefundenen Gruppenunterschiede im wesentlichen durch ein unterschiedliches Intelligenzniveau erklärt werden können. Ein ebenfalls zu berücksichtigender Faktor stellt der Grad des subjektiven Stresserlebens während der Testdurch- führung dar. Diesbezüglich fanden Keinan et al. [10], daß Probanden, die unter einer Streßexposition standen, rascher Lösungsvorschläge anboten als Probanden, die keinem Streß ausgesetzt waren. In unserer Studie zeigten die wahnhaften Probanden jedoch, verglichen mit den Kontrollgruppen, in beiden Testkonditionen keine signifikanten Unterschiede im subjektiven Stresserleben, so daß auch dieser Faktor für die Gruppenunterschiede nicht primär verantwortlich gemacht werden kann. Allerdings erlebten die depressiven Probanden in Testkondition 2 signifikant mehr Streß als Gesunde und erreichten in beiden Testkonditionen auch insgesamt die höchsten Durchschnittswerte Abb.2a-c m Urteilsverhalten der Einzelprobanden der drei Gruppen in Testkondition 2. a Gesunde Probanden; b depressive Probanden; c wahnhafte Probanden für das subjektive Stresserleben.Auf diesem Hintergrund und im Hinblick auf den oben genannten Befund von Keinan et al. [10] könnte das für uns unerwartete Ergebnis in Testkondition 1, daß sich nämlich die Depressiven - wenn auch nicht signifikant, so doch tendenziell - schneller entschieden als die Gesunden, zumindest teilweise erklärbar sein. Zusammenfassend konnten wir mit unserer Studie zeigen, daß sich das Urteilsverhalten wahnhafter Probanden bezüglich des hier gewählten Entscheidungsfindungsparadigmas deutlich vom Urteilsverhalten depressiver und gesunder Probanden unterscheidet, wobei sich die gefundenen Unterschiede nicht durch Unterschiede in der Intelligenz oder des subjektiv empfundenen Stresserlebens erklären lassen. Die Hypothese, daß wahnhafte Probanden zur Urteilsbildung weniger Information benötigen, findet hier also eine empirische Stütze. Nicht bestätigt fand sich dahingegen die Hypothese, daß wahnhafte Probanden rigider an ihren einmal gefällten Urteilen festhalten, worauf die bei diesen Probanden offenbar stark ausgeprägte Neigung zu drastischen Urteilsänderungen in Testkondition 2 hindeutet. Dieser letzte Befund widerspricht zwar der allgemeinen klinischen Erfahrung, könnte aber dadurch erklärt werden, daß durch die neutrale und insofern “bedeutungslose” Testsituation eine affektive Beteiligung in bezug auf mögliche Wahninhalte bei der Urteilsbildung verhindert wird, die zur Fixierung eines Urteils in einem tatsächlichen Wahngeschehen jedoch eventuell wesentlich beiträgt. Auf dem Hintergrund, daß sich die beschriebenen Auffälligkeiten im Urteilsverhalten der wahnhaften Probanden in einer neutralen, “wahnfernen” Testsituation aufzeigen ließen, wäre es sicherlich interessant zu untersuchen, welchen Einfluß diese Auffälligkeiten, ungeachtet des Einflusses der psychopathologischen Symptomatik an sich, auf die Bewältigung allgemeiner Lebensaufgaben wahnhafter Menschen besitzen. Diesbezüglich spezifische Untersuchungen existieren bislang jedoch noch nicht. Anhaltspunkte, die jedoch auf eine mögliche Relevanz solcher Untersuchungen hinweisen, ergeben sich aus den Ergebnissen verschiedener mit schizophrenen Patienten durchgeführten Der Nervenarzt 11·99 | 991 Originalien Studien, die belegen, daß die bei diesen Patienten beobachteten Einschränkungen der sozialen Kompetenz weniger auf das Vorliegen von wahnhaften oder allgemein produktiv psychotischen Symptomen an sich zurückzuführen sind, sondern vielmehr auf dem Vorliegen von kognitiven Beeinträchtigungen beruhen, wobei der Zusammenhang dieser Störungen mit den von uns gefundenen Auffälligkeiten im Urteilsverhalten bislang allerdings nicht untersucht ist [13]. 992 | Der Nervenarzt 11·99 Literatur 1. Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (1997) Das AMDP System: Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto 2. Chapman LJ, Chapman JP (1988) The genesis of delusions. 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