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Wer sind wir?

2017

Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2017 Wer sind wir? Gockel, Bettina Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-145544 Newspaper Article Published Version Originally published at: Gockel, Bettina. Wer sind wir? In: UZH Magazin : die Zeitschrift der Universität Zürich : die Wissenschaftszeitschrift, 3, 2017, p.9. KUNSTSTÜCK von Bettina Gockel Setzt starke Akzente: Fotohistoriker Andrés Mario Zervigón. Wer sind wir? Was haben Marcel Duchamp (1887–1968) und Adolf Hitler (1889–1945) gemeinsam? Beide wur­ den im Münchner Studio von Heinrich Hoffmann (1885–1957) porträtiert, Duchamp 1912, Hitler Ende der 1920er­Jahre, als Hoffmann längst ex­ klusiv als dessen Fotograf agierte. Das ist eine Koinzidenz, die der Künstler und Wissenschaft­ ler Rudolf Herz (*1954) in einer schachbretthaft angelegten Installation von Siebdrucken mit bei­ den Konterfeis 1995 in seiner Arbeit «Zugzwang» thematisierte. Ist der Grat zwischen dem avant­ gardistischen Bilderstürmer und dem national­ sozialistischen Diktator so schmal, wie die Foto­ grafien dies suggerieren? Sicher nicht. Eher gilt es, in den Abgrund zwischen beiden zu blicken. Aber wie geht das? Kontexte sind schnell ver­ gessen und automatische Stereotype noch schnel­ ler gebildet. Solche komplexen Bildpolitiken und deren künstlerische Bearbeitungen interessieren den amerikanischen Fotohistoriker Andrés Mario Zervigón in seinem neuen Buch «Photo­ graphy and Germany» (Reaktion Books, 2017). Der Autor, der sein Buch im vergangenen Mai im Züricher Cabaret Voltaire vorstellte, setzt starke Akzente. Zum Beispiel wenn er über die «belated nation», die zu spät gekommene Nation Deutsch­ Bilder: zvg/PD RÜCKSPIEGEL 1832 land im Reigen der Nationalstaaten im 19. Jahr­ hundert schreibt, oder sich kritisch mit dem be­ rühmten Fotobuch «Dresden, eine Kamera klagt an» (1950) auseinandersetzt, das bis heute unser Bild von kriegszerstörten Städten wie Aleppo prägt. Sind die Fakten, die Zervigón in Erinnerung ruft, wirklich noch bekannt? Das Buch, das einem englischsprachigen Publikum einen Überblick über Fotografie in und über Deutschland geben soll, sei auch allen ans Herz gelegt, die die genau­ en historischen Kontexte von Fotopublikationen nicht mehr präzise kennen, die man aber kennen sollte, um Fotografie zu verstehen. Wer lieber zu einem Buch in deutscher Sprache greift, dem sei Wolfgang Kemps «Wir haben ja Deutschland nicht gekannt. Das Deutschlandbild der Deut­ schen in der Zeit der Weimarer Republik» (Print on demand) empfohlen, der wie Zervigón in der Vortragsreihe «Made in Germany? Photography and Photographers» an der UZH sprach. Das Fo­ tobuch und die Fotozeitschrift will Kemp als Leit­ medien einer modernen Gesellschaft verstehen. Der berühmte Hamburger Kunsthistoriker und Pionier der Fotogeschichtsforschung, der die schöne Aula im UZH­Gebäude an der Rämistras­ se 59 mit seiner Aura und hunderten von Fans fast zum Bersten brachte, identifizierte so ein noch in den Kinderschuhen befindliches For­ schungsfeld, das ein spezifisches Mikro­Makro­ System von Region, Nation und Welt zu untersu­ chen hätte. An der UZH wird dem Rechnung getragen – mit einem Projekt über die amerika­ nische Kunst­ und Fotozeitschrift «Camera Work» (1903–1917) und deren weltweiter Bedeutung als Vor­ und Nachbild in Geschichte und Gegenwart der Fotografie (siehe www.khist.uzh.ch). Das Nationale hat in Zeiten der Globalisierung nicht ausgedient, sondern im Gegenteil Konjunk­ tur. Fotografie als national kondensiertes Me­ dium, das zugleich von allem Anfang an global ausgerichtet war, macht das klar. Darum geht es Andrés Mario Zervigón und Wolfgang Kemp, die klären wollen, wie Fotografie das nationale und das eigene Selbstverständnis so stark hergestellt hat, dass man sich – frei nach Paul Gauguin – fragen kann: «D’où venons­nous? Que sommes­ nous? Où allons­nous?» Bettina Gockel ist Professorin für Geschichte der bildenden Kunst am Kunsthistorischen Institut der UZH. Sakrale Drittmittel Der Wille war da, die Kassen leer. Im Jahre 1832 liefen die Vorbereitungen zur Gründung der Universität Zürich auf Hochtouren. Es soll­ te die erste Universität Europas werden, die nicht von einem Landesfürsten oder von der Kirche, sondern von einem demokratischen Staatswesen geschaffen wird. Allerdings gab es ein Problem: Der Kanton Zürich war nach der Umwälzungsphase der Helvetik finanziell ausgeblutet. Die nötigen Mittel für die neue Universität holte sich der Grosse Rat des Kan­ tons Zürich deshalb aus der Kasse der Kirche. Das Parlament beschloss deshalb 1832, das Chorherrenstift des Grossmünsters aufzuhe­ ben. Das Stift war im Mittelalter eine Gemein­ schaft von Geistlichen, die ähnlich wie Mön­ che zusammenlebten und am Grossmünster unter anderem für Gottesdienst und Seelsorge zuständig waren. Während der Reformation waren im Kanton Zürich bereits alle Klöster aufgehoben worden. Mit der liberalen Umge­ staltung des Staates in den 1830er­Jahren war auch die Zeit des Chorherrenstifts abgelaufen. Im entsprechenden Gesetz legte das Parlament fest, dass die finanziellen Mittel des Chorher­ renstifts insbesondere für das höhere Unter­ richtswesen zu verwenden sind – für die neu gegründete Universität und die gleichzeitig neu geschaffenen Kantonsschulen. Als die Universität 1833 mit 46 Dozenten ihr erstes Gebäude an der heutigen Bahnhofstrasse bezog, betrug ihr Jahresbudget rund 27 000 Franken. Finanziert wurde die Universität in den ersten Jahrzehnten massgeblich über die jährlichen Einkünfte aus dem Fonds des auf­ gelösten Chorherrenstifts – mit sakralen Dritt­ mitteln also. Ist es daher kein Zufall, dass das Gross­ münster bis heute das Siegel der UZH prägt? Die Gründungsdokumente der Universität schweigen sich darüber aus. Das Grossmüns­ ter mag als Sinnbild gewählt worden sein für das Zürcher Bildungswesen, das dort im Mit­ telalter mit einer Lateinschule seinen Anfang nahm. Wer weiss, vielleicht ist das Gross­ münster im Siegel aber auch als Dankeschön für das Startkapital der Hochschule zu verste­ hen. Adrian Ritter UZH MAGAZIN 3/17 9