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Der Sozialpsychiatrische Dienst

2019

Der Sozialpsychiatrische Dienst Lehrbücher für den Öffentlichen Gesundheitsdienst Herausgegeben von Ute Teichert & Peter Tinnemann Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf Version 1.0 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst ist im Rahmen des psychosozialen Versorgungssystems in Deutschland der bekannteste Baustein. Er ist in der Regel Teil der kommunalen öffentlichen Gesundheitsversorgung. Basierend auf rechtlichen Grundlagen bieten Sozialpsychiatrische Dienste fachärztliche und sozialarbeiterische Hilfen für Menschen mit psychischen Störungen und seelischen Behinderungen sowie Suchterkrankungen an. Seine Arbeit setzt da an, wo Menschen notwendige Hilfen und Schutzmaßnahmen, die sie wegen einer Krankheit oder einer Behinderung benötigen - noch - nicht vorfinden oder krankheitsbedingt nicht nutzen können. Der Dienst arbeitet multiprofessionell und setzt sich in den Gesundheitsämtern zumeist aus Ärzten/innen, Sozialarbeiter/innen, Sozialpädagogen/innen und Psychologen/innen zusammen. Die in diesem Lehrbuch erstmals zusammengefassten Inhalte beruhen auf jahrelanger theoretischer Auseinandersetzung und praktischer Erfahrung der Autoren/innen im ÖGD. Das vorliegende Lehrbuch ist ein Gemeinschaftswerk aller beteiligten Autorinnen und Autoren. Es gibt nicht die Meinung einzelner Institutionen oder einzelner Autoren und Autorinnen wieder. Dieses Lehrbuch soll fortlaufend aktualisiert und erweitert werden. Wir freuen uns daher, wenn Sie uns Ihre Anregungen, Kommentare und Ergänzungen mitteilen. Senden Sie diese bitte an lehrbuch@akademieoegw.de Wir nutzen Hypothes.is für Ihre Kommentare und Ergänzungen unseres Lehrbuches. Impressum Der Sozialpsychiatrische Dienst Lehrbuch für den Öffentlichen Gesundheitsdienst ISBN 978-3-9812871-6-5 DOI 10.25815/aacp-4461 Datum 2020 Ort Berlin © 2020 die Autoren/innen. Creative Commons: Namensnennung Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0) https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de Druck Lightning Source, Ingram Content Group Inc. Kontaktangaben Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf Kanzlerstr. 4 40472 Düsseldorf Telefon: +49 (0) 211 - 310 96 10 www.akademie-oegw.de Steuernummer: 106/5773/0023 Die Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf ist eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts. Gesetzlich vertreten durch die Direktorin Dr. med. Ute Teichert, MPH Rechtsaufsicht: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NordrheinWestfalen Abteilung IV/Gesundheit Fürstenwall 25, 40219 Düsseldorf Verantwortlich für die Inhalte gemäß § 55 Abs. 2 RStV: Dr. med. Ute Teichert MPH Telefon: +49 (0) 211 - 310 96 20 E-Mail: teichert@akademie-oegw.de Haftung für Inhalte Die Betreiber dieser Webseite übernehmen keine Gewähr für die Aktualität, Richtigkeit oder Vollständigkeit der von ihnen bereitgestellten Informationen. Alle Angebote sind freibleibend und unverbindlich. Haftungsansprüche gegen die Betreiber, welche sich auf direkte oder indirekte Schäden materieller oder ideeller Art beziehen, die durch die Nutzung oder Nichtnutzung der dargebotenen oder verlinkten Informationen verursacht wurden, sind grundsätzlich ausgeschlossen. Durch die Nutzung werden auch keine Rechte oder Pflichten zwischen den Betreibern und der Nutzerin oder dem Nutzer der Onlineangebote oder Dritten begründet. Die Betreiber behalten sich ausdrücklich vor, Teile der Angebote oder die gesamten Angebote ohne vorherige Ankündigung zu verändern, zu ergänzen, zu löschen oder die Veröffentlichung zeitweise oder endgültig einzustellen. 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Open Access Dieses online kostenfrei zugängliche Lehr- und Handbuch soll Ihnen als Arbeitshilfe im Praxisalltag dienen. Um Forschung und Lehre zur Verbesserung der Öffentlichen Gesundheit zu fördern, ist es wichtig, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ÖGD, die interessierte Fachöffentlichkeit und die Öffentlichkeit jederzeit Zugang zum bestverfügbaren Wissen zum Thema Öffentliche Gesundheit haben. Die aktuellste Version des Lehr-und Handbuchs ist on-demand gedruckt erhältlich. Urheberrechtserklärung & Lizenz Das Lehrbuch ist eine Open Educational Resource (OER), daher verfügbar unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0) (mehr: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de). Sie dürfen das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten, es remixen, verändern und darauf aufbauen, und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell. Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen, solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten: Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders. Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technischen Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt. Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte, wie Persönlichkeits- und Datenschutzrechte, zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken. Helfen Sie uns, das Lehrbuch zu verbessern Wir freuen uns über Kommentare und Feedback von allen, unabhängig von ihrem Fachwissen oder Hintergrund. Schreiben Sie eine E-mail an lehrbuch@akademie-oegw.de Das Lehrbuch wird als GitHub-Repository zur Verfügung gestellt. Nachhaltigkeit und Weiterentwicklung Das Ergebnis des gemeinsamen Schreibprozesses wurde und wird kontinuierlich ergänzt und verbessert. Hierbei können auch Leserinnen und Leser selbst durch Feedback und Ergänzungen aktiv werden. Den Autorinnen und Autoren aller Texte ist bewusst, dass mit den bisher abgedeckten Themenbereichen nur Teile des gesamten Tätigkeitsspektrums des ÖGD dargestellt werden. Da es sich um ein agiles Projekt handelt, das in Anbindung an die Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen stetig weiterentwickelt werden soll, ist neben einer fortlaufenden Aktualisierung der bestehenden Kapitel auch eine Ergänzung durch weitere Themengebiete möglich. Methode Alle Texte wurden mit der sogenannten Book Sprint Methode erarbeitet und verfasst. Ein Book Sprint ist eine agile Methode, um in kurzer Zeit gemeinsam längere und komplexere Texte zu erstellen. . Alle Book Sprints wurden gemeinsam von der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen und dem Open Science Lab der Technischen Informationsbibliothek (TIB) organisiert und durchgeführt. Die Methode Book Sprint erlaubt eine zielorientierte Erstellung digitaler Inhalte. Die Methode beruht auf den Prinzipien der Weitergabe (Sharing), der gemeinsamen Entwicklung (Co-Development), der Vernetzung der Teilnehmenden (Community Building) und einer geteilten Verantwortung für das gemeinsame Produkt (Collective Ownership). Diese offene, transparente Methode wurde an mehreren Institutionen, unter anderem der TIB, mehrfach erfolgreich angewendet. Dabei wird sich an zuvor definierten Ziel-Kompetenz-Profilen, in der bisherigen Lehre erprobten Lehrmodulen und an praktischen Anwendungsbeispielen (Use Cases) orientiert. Autorinnen und Autoren verfassen ihre Texte unter Nutzung digitaler Technologien. Diese ermöglichen einen gemeinsamen, parallelen Schreibprozess an Texten, die in vollem Umfang und bis zum Endergebnis als gemeinsames Produkt konzipiert und verstanden werden. Auf diese Weise entstehen Buchkapitel oder ganze Bücher. in intensiven dreitägigen Book Sprints mit bis zu zehn Fachleuten zu einem ausgewählten Thema. Dabei entwickeln die Teilnehmenden unter moderierter Anleitung eines/einer medienpädagogisch erfahrenen Book Sprint Moderators/-in gemeinsam Inhalte zu ausgewählten, für die Arbeit im ÖGD relevanten Themen. Entstehungsprozess Dieses Lehr- und Handbuch ist ein gemeinsames Projekt der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen und des Open Science Lab der Technischen Informationsbibliothek des Leibniz-Informationszentrums Technik und Naturwissenschaften. Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen im ÖGD, gemeinsam mit Lehrenden der Akademie, haben ab 2019 in sogenannten Book Sprints in gemeinsamer Autorenschaft Texte für diese Lehrbuchreihe verfasst. Auf die Phase des initialen kollaborativen Schreibprozesses folgte eine Lektoratsphase, wobei inhaltliche Ergänzungen und Überarbeitungen kontinuierlich eingefügt wurden. Die Textbeiträge wurden auf der Basis einschlägiger Literatur, praktischerErfahrungen langjähriger ÖGDMitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Erfahrungen und Anregungen von Nachwuchs-Fachkräften mit Interesse an dem Bereich Öffentliche Gesundheit estellt. In den Lehrbüchern finden Sie umfangreiche Beschreibungen, u.a. Kapitel zu Geschichte, Zielen, Aufgaben und Strukturen des jeweiligen Themas sowie Begriffsdefinitionen Jedes Buch wurde als in sich geschlossene Abhandlung aufgebaut und kann sowohl in Ergänzung zu den anderen Büchern gelesen als auch isoliert als Nachschlagewerk behandelt werden. Die gesamte Lehrbuchreihe ist als Open Educational Resource (OER) angelegt und unter einer offenen Lizenz veröffentlicht, die kostenlosen Zugang sowie die kostenlose Nutzung, Bearbeitung und Weiterverarbeitung durch Andere ohne oder mit geringfügigen Einschränkungen ermöglict. Das Lehrbuch ist in aktualisierter Form auch als gedrucktes Lehrbuch kostengünstig on-demand erhältlich. Haftungsausschluss (Disclaimer) Die in diesem einzigartigen Lehrbuch zusammengefassten Inhalte beruhen auf der theoretischen Auseinandersetzung und praktischen Erfahrung der Autoren/innen im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Die enthaltenen sollen hilfreiche Informationen zu den besprochenen Themen liefern. Das vorliegende Lehrbuch ist ein Gemeinschaftswerk aller beteiligten Autorinnen und Autoren und ist somit nicht die Meinung einzelner Institutionen, für die die beteiligten Autoren/innen arbeiten. Die Autoren/innen, Herausgeber/innen und die Akademie für Öffentlichs Gesundheitswesen bemühen sich nach bestem Wissen und Gewissen, dass die über dieses Buch zugänglichen Informationen korrekt, vollständig und aktuell sind, übernehmen hierfür jedoch keine Gewähr. Sie stellen dieses Lehrbuch und seinen Inhalt ohne Mängelgewähr zur Verfügung. Es werden keine Zusicherungen oder Garantien jeglicher Art in Bezug auf dieses Buch oder seinen Inhalt gegeben. Weder die e Autoren/innen, die Herausgeber/innen, die Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen noch andere Mitwirkende haften für Schäden, die sich aus oder im Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches ergeben. Dies ist eine umfassende Haftungsbeschränkung, die für Schäden jeglicher Art gilt, einschließlich (ohne Einschränkung) entschädigend; direkte, indirekte oder Folgeschäden; Verlust von Daten, Einkommen oder Gewinn; Verlust von ? oder Sachschäden und Ansprüche Dritter. Verweise auf andere Seiten im Internet, Referenzen oder andere Quellen werden lediglich zu Informationszwecken bereitgestellt und stellen keine Billigung von Websites oder anderen Quellen dar. Die Leser sollten sich bewusst machen , dass sich die in diesem Lehrbuch aufgeführten Websites ändern können. Autoren/innen Dr. med. Matthias Albers Gesundheitsamt, Stadt Köln Alexandra Dippel Gesundheitsamt, Stadt Frankfurt am Main Dr. med. Hermann Elgeti Stabsstelle Sozialplanung, Dezernat für soziale Infrastruktur der Region Hannover Annette Fröhmel Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen, Berlin Dr. med. Detlev Gagel Gesundheitsamt, Bezirksamt Pankow zu Berlin Dr. med. Kristin Haase, MPH Zentrum für Tuberkulosekranke, Bezirksamt Lichtenberg von Berlin Dr. med. Dipl. Psych Lothar Lindstedt Donauwörth (Bayern) Klaus Petzold Fachdienst Gesundheit, Kreis Ostholstein Dr. med. Peter Tinnemann, MPH Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen, Berlin Anerkennung & Danksagung Lambert Heller für die Unterstützung bei der Entwicklung des Projektes und der Durchführung der Book Sprints. Dr. med. Jakob Schumacher und Simon Worthington für die Unterstützung bei der Umsetzung des Projektes und die technische Umsetzung auf GitHub. Bernd Schiller und Petra Münstedt für die sorgfältige Durchsicht und umsichtigen Korrekturen des Textes im gesamten Werk. Johannes Wilm und das FidusWriter.org Team für die technische Unterstützung. Dem Bundesministerium für Gesundheit, das die gemeinsame Erarbeitung unseres Lehrbuches gefördert hat. Ohne diese Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Dr.med. Ute Teichert für den Enthusiasmus und die tatkräftige Unterstützung des Projektes. Inhalt Einführung 17 Grundlagen 39 Grundlagen der praktischen Arbeit 119 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste 125 Aspekte aus der Praxis 157 Ausblick 201 Annex-Abkürzungen 205 Annex-Websites 211 Literaturverzeichnis 217 Einführung Einführung Begriffsbestimmung Sozialpsychiatrie und Gemeindepsychiatrie Für die Begriffe Sozialpsychiatrie und Gemeindepsychiatrie gibt es zurzeit keine allgemein anerkannten Definitionen. Mal werden sie synonym verwandt, mal wird Sozialpsychiatrie mit Soziotherapie gleichgesetzt; einige halten die Sozialpsychiatrie generell für überflüssig. Beide Begriffe spielen jedoch in der Diskussion um die psychiatrische Versorgung eine zentrale Rolle, sodass wir hier einen Klärungsversuch unterbreiten möchten. Sozialpsychiatrie (engl. social psychiatry) ist eine Schwerpunktbildung in der Auseinandersetzung mit den psychiatrischen Aufgaben. Sie betont in ihrer theoretischen und praktischen Arbeit die soziale Dimension psychischer Störungen. Sie engagiert sich für die Verwirklichung einer gemeindepsychiatrischen Organisation der Versorgung und bewahrt dabei gleichzeitig die Fähigkeit zur kritischen Infragestellung ihrer Praxis. Gemeindepsychiatrie bzw. kommunale Psychiatrie (engl. community psychiatry) Der Begriff wird benutzt zur Bezeichnung einer wohnortnahen Versorgung gerade auch schwer und chronisch psychisch erkrankter Menschen, bei denen häufig auch eine seelische Behinderung im Sinne des § 2 SGB IX vorliegt. Charakteristisch dafür ist ein Vorgehen, bei dem präventive, kurative sowie rehabilitative Angebote für die hilfsbedürftigen Menschen in dem von ihnen gewünschten Lebensumfeld leicht zugänglich und fallbezogen gut koordiniert zur Verfügung stehen. Dabei werden auch nicht-fachspezifische Angebote und Hilfen aus dem sozialen Umfeld einbezogen. Von diesem Idealzustand sind die meisten Regionen derzeit noch weit entfernt. Für Personenkreise mit einem erschwerten Zugang erfüllt der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) hier eine wichtige subsidiäre Funktion. Gemeindepsychiatrie setzt sich ein für mehr Toleranz und 18 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst soziale Unterstützung zugunsten der Betroffenen und ihrer Angehörigen und dient damit dem Ziel der Inklusion. Sozialpsychiatrische Grundhaltung und Arbeitsfelder Der Begriff Sozialpsychiatrie bezeichnet eine Grundhaltung, die sich bei der Arbeit in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen bewähren muss (Elgeti 2010). Diese Grundhaltung hat drei Aspekte: Betonung der sozialen Dimension psychischer Störungen in der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit psychiatrischen Fragestellungen Einsatz für die Verwirklichung einer gemeindepsychiatrischen Organisation der Hilfen für Menschen mit psychischen Erkrankungen Verpflichtung zu einem offenen Dialog und einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Fachleuten und Hilfsbedürftigen, Angehörigen und sonstigen Beteiligten Als Bestandteil jeder psychiatrischen Tätigkeit bei der Beratung und Behandlung, Betreuung und Begutachtung hilfsbedürftiger Personen richtet Sozialpsychiatrie ihre besondere Aufmerksamkeit auf die sozialen Bedingungen der Entstehung und des Verlaufs, der Therapie und Rehabilitation psychischer Störungen. Das gilt für die Arbeit auf der Station, in der Tagesklinik oder Institutsambulanz einer psychiatrischen Klinik genauso wie in der ambulanten kassenärztlichen Versorgung, in einer Behörde oder einer Einrichtung der Eingliederungshilfe für Menschen mit seelischen Behinderungen. Als spezialisierte Disziplin bildet Sozialpsychiatrie eigene Institutionen, wobei eigene Profilbildung und partnerschaftliche Kooperation mit dem Umfeld Hand in Hand gehen. Solche Institutionen existieren sowohl in der Lehre (z.B. Sozialpsychiatrische Zusatzausbildungen) und Forschung (z.B. Sozialpsychiatrische Universitätsabteilungen), als auch in der Krankenversorgung (z.B. Sozialpsychiatrische Hilfsvereine) und im Öffentlichen Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 19 Einführung Gesundheitsdienst (z.B. Sozialpsychiatrische Dienste). Sozialpsychiatrische Dienste (SpDi) gibt es inzwischen für jede kommunale Gebietskörperschaft. Aufgrund heterogener landesgesetzlicher Regelungen und lokaler Traditionen weisen sie allerdings in ihrem Aufgabenspektrum und in ihrer jeweiligen Zuständigkeit große Unterschiede auf. In Bayern und BadenWürttemberg übernehmen in der Regel freie Träger diese Aufgaben. In den anderen Bundesländern arbeiten sie meistens in kommunaler Trägerschaft und übernehmen hier auch hoheitliche Aufgaben. Als gesundheitspolitische Bewegung streitet Sozialpsychiatrie für die Rücknahme sozialer Ausgrenzungsprozesse gegenüber psychisch kranken Menschen und greift damit weit über den fachlichen Rahmen psychiatrischen Handelns hinaus. 1970 verbündeten sich sozialpsychiatrisch gesinnte Fachleute, Betroffene und Angehörige in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP). Ein Jahr später wurde die Aktion Psychisch Kranke (APK) e.V. gegründet, in der führende Reformkräfte gemeinsam mit Repräsentanten der Gesundheits- und Sozialpolitik auf Bundesebene seitdem der Psychiatriereform immer wieder neue Impulse geben. Die allmählich stärker werdende Selbsthilfebewegung der Betroffenen und ihrer Angehörigen führte zur Gründung des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker (BApK) e.V. im Jahre 1989 und des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE) e.V. im Jahre 1991. Klinische und psychosoziale Sichtweisen Die Sozialpsychiatrie wendet sich in besonderer Weise den sozialen Belangen psychischer Störungen zu. Das erfordert einen genauen Blick auf psychosoziale Zusammenhänge, was den vorwiegend somatisch-medizinisch geschulten Professionellen oft schwerfällt. Der ihnen geläufige “klinische Blick” bemüht sich um eine differenzierte Erfassung der psychopathologischen Symptomatik und bestimmt nach der diagnostischen Einordnung die indizierte Therapie und die wahrscheinliche Prognose. 20 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Ohne den Wert eines solchen Vorgehens zu leugnen, fordert der “psychosoziale Blick” dagegen auch eine Besinnung auf die Persönlichkeit des psychisch Kranken in seinen eigenen lebensgeschichtlichen und sozialen Kontexten. Nur über diesen Weg ergibt sich ein Zugang zum Verständnis der Lage des hilfsbedürftigen Menschen, und nur so lassen sich therapeutische Perspektiven mit ihm und für ihn erschließen. Dies kann auch für die damit befassten Fachleute eine Quelle besserer Selbstkenntnis und wachsender beruflicher Befriedigung sein. Wichtige Impulse für die Entwicklung psychosozialer Sichtweisen in der Psychiatrie setzen die seit den 1990er Jahren vielerorts entstandenen Psychose-Seminare. Hier tauschen sich psychiatrische Fachleute außerhalb therapeutischer Kontexte mit Betroffenen und Angehörigen “auf Augenhöhe” über ihre jeweiligen Erfahrungen in psychiatrischen Krankheitsphasen aus. Dieser “Trialog” genannte Austausch bereichert die daran beteiligten Personen durch ein besseres Verständnis der jeweils anderen Perspektiven und fördert auch allgemein die Einsicht in die Notwendigkeit einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit in der psychiatrischen Krankenversorgung, Lehre und Forschung. Psychiatriereform Meilensteine der Psychiatriereform Im Auftrag des Deutschen Bundestages erarbeitete 1971-1975 eine unabhängige Expertenkommission einen Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1975). Diese sogenannte Psychiatrie-Enquete von 1975 stützte sich auf eine umfassende Bestandsaufnahme der psychiatrischen Versorgungssituation in Deutschland, ausländische Vorbilder, eigene Praxismodelle und Planungskonzepte. Sie beschrieb vier grundlegende Probleme und gilt als erster Meilenstein der Psychiatriereform in Westdeutschland (Abbildung E1). In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 21 Einführung verfassten psychiatrische Fachleute schon 12 Jahre vorher mit den Rodewischen Thesen von 1963 eine Reformagenda, deren Wirkung in der Folgezeit aber begrenzt blieb (Internationales Symposium über psychiatrische Rehabilitation 1963). Tabelle 1: Die vier zentralen Themen der Psychiatrie-Enquete von 1975 1 Die unzureichende Unterbringung psychisch Kranker und Behinderter in den psychiatrischen Krankenhäusern und das Fehlen alternativer Einrichtungen, welche die stationäre Versorgung im Krankenhaus ergänzen. 2 Der Mangel an Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, für Alkoholkranke und Drogenabhängige, für psychisch kranke alte Menschen und erwachsene geistig Behinderte. 3 Die unzureichende Kapazität an Psychotherapie für die große Zahl seelisch bedingter und seelisch mitbedingter Krankheiten. 4 Die mangelhafte Koordination aller an der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter beteiligten Dienste, insbesondere der vielfach unzulänglichen Beratungseinrichtungen und sozialen Dienste. Nach 1975 versuchte die westdeutsche Bundesregierung, über Modellvorhaben die Umsetzung dessen voranzutreiben, was die Enquete empfohlen hatte: Ein “kleiner” Modellverbund förderte von 1976 bis 2003 viele einzelne Dienste, die neue Arbeitsweisen und Organisationsstrukturen entwickeln und erproben wollten. Außerdem wurde für die Jahre 1981 bis 1985 ein “großes” Modellprogramm „Psychiatrie“ aufgelegt, um in ausgewählten Regionen eine nahtlose, gut abgestimmte Gesamtversorgung psychisch erkrankter und seelisch behinderter Menschen modellhaft zu erproben. Nach Auswertung der Ergebnisse dieses Modellprogramms im Auftrag der Bundesregierung wurden die Empfehlungen der Expertenkommission von 1988 zum zweiten Meilenstein der 22 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Psychiatriereform. Darin wurde die Lage der chronisch psychisch erkrankten Menschen in den Blickpunkt gerückt und Wert gelegt auf die Funktionen eines bedarfsgerechten Versorgungssystems, statt sich nur auf dessen Strukturen zu konzentrieren (Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1988). Bei chronischen und schweren psychischen Beeinträchtigungen (Severe Mental Illness; SMI) gibt es häufig einen komplexen Hilfebedarf, der individuell sehr unterschiedlich ist und in seiner Art und seinem Umfang schwanken kann. Das erfordert eine sorgfältige und flexible personenzentrierte Planung und Koordination der Hilfen im Einzelfall. Psychiatrische Institutionen stützen sich jedoch traditionell auf ein begrenztes und oft genau definiertes Versorgungsangebot für die dort betreuten hilfsbedürftigen Personen, an das diese sich dann anpassen müssen. Für den umgekehrten Prozess der Anpassung der institutionellen Angebote an den individuellen Hilfebedarf hat die APK 1994 bis 1996 Standards für eine personenzentrierte Hilfeplanung entwickelt und damit einen dritten Meilenstein der Psychiatriereform gesetzt (“Individuelle Hilfeplanung (IBRP) Arbeitshilfe 11” 1996). Den bisher letzten Meilenstein der Psychiatriereform setzte die Ende 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK). Nachdem die UN-BRK von genügend Staaten gezeichnet wurde, trat sie im Mai 2008 international in Kraft, nach Ratifizierung durch die Bundesregierung am 26.03.2009 auch in Deutschland. Sie gilt damit auch in Deutschland als innerstaatliches Recht, an das entgegenstehendes Recht anzupassen ist. Zu den Grundsätzen, die in Artikel 3 dieses Übereinkommens niedergelegt wurden, gehört die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft – so steht es in der offiziellen deutschen Fassung. Der englische Text lautet „full and effective participation and inclusion in society“; das bedeutet: „Alle sind willkommen“ (Inklusion) und „Alle sind beteiligt“ (Partizipation). Inklusion ist die Weiterentwicklung und Neuausrichtung der lange Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 23 Einführung Zeit unter dem Begriff „Integration“ laufenden Bemühungen: Integration meint die Eingliederung von Außenstehenden in die bestehenden Verhältnisse; diese müssen nun aber ihrerseits veränderungsbereit werden, um Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten gleichberechtigt in ihrer Mitte aufzunehmen. Entwicklung Sozialpsychiatrischer Dienste Die Vorgeschichte der SpDi reicht weit zurück ins 19. Jahrhundert (Haselbeck 1985). Schon Wilhelm Griesinger forderte 1868 die Schaffung sogenannter Stadtasyle als Ergänzung zu den psychiatrischen Anstalten. Deren Leiter blockten seine Initiative damals allerdings ab. Aus Angeboten kommunaler Gesundheitsfürsorge und anstaltsbezogener Familienpflege entwickelte sich in der Weimarer Republik ein gemeindenahes System der “Offenen Fürsorge” an städtischen Gesundheitsämtern. Es wurde im Nationalsozialismus als Instrument einer fanatischen Rassenideologie vereinnahmt und auf “die Erkennung und Ausmerzung der Gemeinschaftsunfähigen” eingeschworen. Diese Perversion einer eigentlich präventiv und rehabilitativ ausgerichteten “Psychohygiene” in eine “Rassenhygiene” hat zum Schattendasein der kommunalen Daseinsvorsorge für psychisch erkrankte Menschen nach 1945 beigetragen. Erst mit der beginnenden Psychiatriereform ab Mitte der 1960er Jahre erhielten gemeindepsychiatrische Ansätze wieder mehr Aufmerksamkeit. Vorreiter bei der Einrichtung der SpDi in den Bundesländern waren Berlin (1969) und Nordrhein-Westfalen (1969). Die Expertenkommission der Bundesregierung von 1988 definierte den “Baustein Sozialpsychiatrischer Dienst” als Bestandteil kommunaler gemeindepsychiatrischer Verbünde. Dabei beschrieb sie auch die Zielgruppe, das Aufgabenspektrum und die Organisationsprinzipien. Zusammen mit den psychiatrischen Versorgungskliniken sind SpDi die einzigen psychiatrischen Hilfsangebote, die flächendeckend in ganz Deutschland eine 24 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst regionale Versorgungsverpflichtung haben. Als wohnortnaher ambulanter Dienst ist er seit über 20 Jahren in jeder Kommune verfügbar. Die Auftragslage, das Leistungsspektrum und die Personalausstattung der SpDi sind in Deutschland nicht einheitlich geregelt; große Unterschiede gibt es nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern auch zwischen den kommunalen Gebietskörperschaften eines Bundeslandes (Elgeti and Erven 2018). Um den berufsgruppen- und länderübergreifenden fachlichen Austausch zu fördern, spezifische Fortbildungsangebote zu organisieren und Arbeitskonzepte zu entwickeln, gründete sich 2010 ein bundesweites Netzwerk Sozialpsychiatrischer Dienste. Die dort kooperierenden Verbände formulierten 2012 ein Thesenpapier zu Kernaufgaben der SpDi und entwickelten darauf aufbauend fachliche Empfehlungen zu Leistungsstandards und Personalbedarf (Albers and Elgeti 2018). Perspektiven einer kommunalen Psychiatrie Eine recht verstandene kommunale Psychiatrie baut sich kein abgeschlossenes eigenes Versorgungssystem, sondern bringt ihre spezifische ethisch-fachliche Expertise in den verschiedenen Handlungsfeldern kommunaler Daseinsfürsorge mit ein (Elgeti 2015). Die dabei hauptsächlich zu berücksichtigenden Handlungsfelder lassen sich wie folgt gruppieren: Lebensphasen mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf: Kinder und ihre Eltern stärken, Jugendliche und junge Erwachsene bei der Verselbständigung unterstützen, Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter sichern; Kernbereiche gesellschaftlichen Lebens: Teilhabe durch Arbeit und Beschäftigung ermöglichen, bedarfsgerechtes und bezahlbares Wohnen fördern; Grundformen sozialer Ungleichheit: Inklusion von Menschen mit Behinderung fördern, Menschen mit Migrationserfahrung integrieren, Armutsfolgen mildern. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 25 Einführung Eine integrierte Fach- und übergreifende Sozialplanung der Kommune unterstützt die Koordination und Steuerung solcher Handlungsfelder im Rahmen eines sinnvoll abgestuften Hilfesystems (stepped care). Es sollte eine klare Abgrenzung geben zwischen der Selbst- und Laienhilfe der Bürgergesellschaft, den allgemeinen Anlaufstellen (z.B. Hausarztpraxen und psychosoziale Beratungsstellen, ambulante Pflege und kommunale Sozialarbeit) und den Angeboten der psychiatrischen „Spezialisten“. Dabei geht es nicht nur um die Entwicklung und regelmäßige Fortschreibung von Konzepten und Plänen. Genauso wichtig sind ein handlungs- und wirkungsorientiertes Berichtswesen zur Qualitätssicherung von Hilfsangeboten sowie eine Vernetzung der Akteure und deren Beteiligung an den Planungsprozessen. Die Netzwerkgremien sind mitverantwortlich sowohl für den trialogisch zu gestaltenden Diskurs, als auch für eine praktikable und aussagekräftige regionale Psychiatrieberichterstattung. Abbildung 1: Regionalmodell für ein abgestuftes Hilfesystem sozialer Infrastruktur Wesentlich für den Erfolg kommunaler Psychiatrieplanung ist die Verknüpfung der Ebenen individueller, institutioneller und regionaler Planung (Elgeti 2019): Aus den kumulierten Erfahrungen bei der Planung und Durchführung von Einzelfallhilfen (Case Management) lassen sich wertvolle Erkenntnisse für die Versorgungsplanung in der Region (Care Management) gewinnen. Dabei geht es einerseits um die Identifizierung von guten Beispielen (best practice) und Lücken im Hilfesystem (unmet needs), andererseits aber auch um datengestützte Vergleiche verschiedener Hilfsangebote 26 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst innerhalb einer Angebotsform und zwischen einzelnen Teilregionen (Benchmarking). Für alle, die den Anspruch der UNBehindertenrechtskonvention auf Inklusion ernst nehmen, ist Transparenz und Partizipation dabei oberstes Gebot. Deshalb gehört es zu einer guten Planung in der Psychiatrie, die beteiligten Akteure – einschließlich der Selbsthilfe-Organisationen – konsequent und in allen Phasen zu beteiligen: bei der Situationsanalyse, Konzeptentwicklung und Planung sowie bei der Umsetzung geplanter Maßnahmen und der Ergebnisprüfung. Zusammenarbeit Therapeutischer Dialog Für eine wirksame Hilfe bei psychischen Erkrankungen ist die gute Zusammenarbeit zwischen den helfenden Fachleuten und dem betroffenen Menschen sowie seinen näheren Bezugspersonen die notwendige Basis und das wichtigste Element. Deshalb benötigen alle in der psychiatrischen Fallarbeit eingesetzten Berufsgruppen ein Grundverständnis für die Bedeutung vertrauensvoller Beziehungen zu den hilfsbedürftigen Personen. Ihre Bereitschaft und Fähigkeit, sich für einen tragfähigen therapeutischen Dialog einzusetzen, wird als psychotherapeutische Grundhaltung bezeichnet. Sie ist abzugrenzen von einer psychotherapeutischen Qualifikation im engeren Sinne, die man für bestimmte Psychotherapieverfahren erwerben kann, z.B. in der Verhaltenstherapie, tiefenpsychologischen Psychotherapie, Psychoanalyse oder systemischen Familientherapie. Chancen und Risiken für das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung eines therapeutischen Dialogs liegen nicht nur in der Hand der beteiligten Fachleute, sondern auch bei den Hilfsbedürftigen, und sie sind mitbedingt durch die Lage, in der diese sich befinden. Ihre Dialogfähigkeit kann je nach Art und Ausmaß der psychischen Beeinträchtigungen mehr oder weniger beeinträchtigt sein, und ihre Lebensumstände erzeugen oder verstärken womöglich Misstrauen gegen die angebotene Hilfe. Wer Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 27 Einführung unter einem Verfolgungswahn leidet und das Erstgespräch mit dem hinzugerufenen Fachpersonal auf der Polizeiwache in Handschellen führen muss, tut sich schwer, in eine vertrauensvolle Beziehung einzutreten. Die Professionellen müssen sich in jedem Einzelfall ein unvoreingenommenes Bild über die aktuelle Situation machen und brauchen Einfühlungsvermögen, um mit ihrem Verhalten dazu beizutragen, dass auch unter ungünstigen Ausgangsbedingungen ein therapeutischer Dialog gelingt. Im Sinne des Prinzips „Hilfe zur Selbsthilfe" kommt es in der sozialpsychiatrischen Arbeit darauf an, die hilfsbedürftige Person dabei zu unterstützen, ihren Alltag möglichst eigenverantwortlich zu gestalten und auftretende Konflikte konstruktiv zu bewältigen. Anders als in der klassischen Psychotherapie geht es in der Sozialpsychiatrie nicht nur um die Reflexion der bestehenden Beeinträchtigungen und die Ermutigung, neue Möglichkeiten des Fühlens, Denkens und Handelns zu erproben. Vielmehr braucht es hier je nach individueller Problemlage oft auch eine sorgfältig zu dosierende aktive Fürsorge, um durch Kompensation von Beeinträchtigungen erst einmal die Chancen für mehr Selbstbestimmung und Teilhabe zu verbessern. Um die therapeutische Beziehung wirksam gestalten zu können, ist auf Seiten des Fachpersonals eine kontinuierliche persönliche Zuständigkeit für den hilfsbedürftigen Menschen auch bei längerfristiger und wiederholter Inanspruchnahme sinnvoll. Für einen gelingenden Dialog muss die zuständige Fachkraft eine individuell angemessene Balance aus professionell bedachter Nähe und Distanz finden, mit einer den Umständen angepassten Mischung aus Tun und Lassen (Abbildung: Typologie therapeutischer Haltungen bei misslingendem Dialog). Hinweise für einen aus therapeutischer Sicht misslungenen Dialog sind ein grenzenloses Verständnis oder eine fürsorgliche Belagerung genauso wie eine konfrontative Zuspitzung oder die Aufgabe der Beziehung zur hilfsbedürftigen Person. 28 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Abbildung 2: Typologie therapeutischer Haltungen bei misslingendem Dialog Interdisziplinäres Team Für eine wirksame Hilfe bei psychischen Störungen ist nur in bestimmten Fällen ein interdisziplinäres Team mit Fachleuten aus mehreren Berufsgruppen nötig. Oft sind die Beeinträchtigungen nicht so schwerwiegend und klingen auch bald wieder ab, sie lassen sich dann oft mit Selbst- und Laienhilfe gut kompensieren. Möglicherweise verfügt die betroffene Person über gut funktionierende Bewältigungsmechanismen und soziale Unterstützung durch Partnerschaft, Angehörige bzw. Freunde oder geht zu einer Selbsthilfegruppe. Mangelt es an solchen Ressourcen oder reichen diese nicht aus, sollten Fachleute hinzugezogen werden. Hier kommt in erster Linie eine psychosoziale (Lebens-, Familien-, Sucht-) Beratungsstelle oder eine (hausärztliche, psychiatrische, psychotherapeutische) Kassenarztpraxis in Frage. Sind diese Hilfsangebote mit dem erforderlichen Arbeitsaufwand und der Komplexität des Falles überfordert, kommen interdisziplinär besetzte Fachdienste zum Einsatz. Das gilt besonders für akute Krisen mit drohender Selbst- oder Fremdgefährdung und für chronische Krankheitsbilder, bei denen ausgeprägte psychische, körperliche und/ oder soziale Problemlagen ineinandergreifen. Deshalb gibt es interdisziplinäre Teams in Sozialpsychiatrischen Diensten, in ambulanten, teil- und vollstationären Angeboten psychiatrisch-psychotherapeutischer Kliniken und bei Leistungserbringern von Eingliederungshilfen. Zumindest die ambulanten Dienste können und sollten auch aufsuchend und nachgehend tätig werden. Die dort eingesetzten Fachkräfte kommen Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 29 Einführung hauptsächlich aus den Berufsgruppen der Sozialen Arbeit, Krankenpflege, Medizin, Psychologie und Ergotherapie, sie sollten möglichst zusätzlich (sozial-) psychiatrisch oder psychotherapeutisch qualifiziert sein. Die Zusammensetzung des Teams und das Mischungsverhältnis der verschiedenen Berufsgruppen richten sich nach dem jeweiligen Schwerpunkt der Arbeit. In der letzten Zeit wächst die Einsicht, dass die Teams ihre Arbeit mit Hilfe qualifizierter Psychiatrie-Erfahrener, die Peer-Beratung und Genesungsbegleitung anbieten, noch wirksamer gestalten können. Die Zusammenarbeit im interdisziplinären Team ermöglicht die Analyse komplexer und unübersichtlicher Problemlagen aus unterschiedlichen Perspektiven. Das betrifft in der Fallarbeit die Situationsklärung und Diagnostik beim Erstkontakt im Dienst oder während des Hausbesuchs ebenso wie bei Einzel- und Gruppentherapien im weiteren Verlauf. Eine wesentliche Bedeutung hat die kollegiale Beratung in regelmäßigen Teamkonferenzen: Der wechselseitige Austausch und die Unterstützung in schwierigen Fallkonstellationen tragen auch zur Relativierung und Bereicherung der je eigenen Sichtweisen bei. Die gute Organisation eines interdisziplinären Teams in der psychiatrischen Versorgung ist eine anspruchsvolle Aufgabe: Um ein aufgabengerechtes breites Kompetenzspektrum abzusichern und auch in Urlaubs- oder Krankheitszeiten funktionsfähig zu bleiben, muss das Team eine Mindestgröße haben. Um den kollegialen Zusammenhalt zu bewahren, darf es auch nicht zu groß werden. Die Arbeitsbelastung ist gerecht zu verteilen, die informelle Kommunikation zu fördern. Unter diesen Bedingungen ist die Zusammenarbeit im interdisziplinären Team für die darauf angewiesenen Menschen eine wirksame Hilfe und für die dort eingesetzten Fachkräfte ein attraktiver Arbeitsplatz. 30 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Tabelle 04: Zehn Regeln für die interdisziplinäre Teamarbeit in der Psychiatrie 1 Die Teammitglieder sollen ein breites Spektrum persönlicher und fachlicher Kompetenz repräsentieren. Ihre beruflichen Qualifikationen sollten eine Integration psycho-, pharmako- und soziotherapeutischer Verfahren erlauben. 2 Die optimale Teamgröße liegt zwischen 8 und 16 Mitgliedern, um genügend Vielfalt und eine gegenseitige Vertretung zu gewährleisten, ohne die Wirksamkeit der Kommunikation durch zu viele Teilnehmer zu gefährden. 3 Zentrum der interdisziplinären Zusammenarbeit sind regelmäßige Teamkonferenzen, je nach erforderlicher Intensität der Kommunikation mindestens 1x wöchentlich, mit einer Dauer zwischen 30 und 90 Minuten. 4 Eine gute Kommunikation unter den Teammitgliedern wird gefördert durch informelle Kontaktmöglichkeiten zwischen Terminen oder in der Mittagspause, aber auch auf Teamabenden, jährlichen Konzepttagen und Betriebsausflügen. 5 Für jede Klientin und jeden Klienten sollte es ein festes BetreuungsTandem geben mit einer Hauptansprechperson für den therapeutischen Dialog und einem zweiten Teammitglied aus einer anderen Berufsgruppe als Vertretung im Hintergrund. 6 Eine angemessene Begrenzung der Zahl aktuell betreuter Personen soll den einzelnen Teammitgliedern genügend Zeit für den direkten Klientenkontakt ermöglichen und zu einer gerechten Verteilung der Arbeitsbelastung im Team beitragen. 7 Alle Teammitglieder müssen wissen, wie viel Zeit sie welchen Dienstaufgaben widmen. Der Anteil direkter Einzel- und Gruppenkontakte aller Teammitglieder in der Fallarbeit (inkl. Fahrzeiten bei Hausbesuchen) sollte nicht unter 50% der Gesamtarbeitszeit sinken. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 31 Einführung 8 Die Teamleitung soll in ihrem Führungsverhalten nach Möglichkeit Verantwortung delegieren, Teammitglieder an Entscheidungen beteiligen und eine Balance zwischen Beständigkeit und Veränderung der Arbeit im Team fördern. 9 Für die Sicherung der Rahmenbedingungen der Arbeit (personell, sachlich und finanziell) sind nicht die einzelnen Teammitglieder, sondern die Führung des Einrichtungsträgers in Rückkoppelung mit der Teamleitung verantwortlich. 10 Alle Bemühungen um Organisation und Reorganisation sollten sich auf das ausrichten, was mit dem französischen Verb organiser gemeint ist: planvoll gestalten und zu einem lebendigen Ganzen zusammenfügen. Regionaler Verbund Psychisch beeinträchtigte Menschen sind gerade bei einem chronischen Verlauf ihrer Erkrankung und einem komplexen Hilfebedarf meist gleichzeitig oder nacheinander auf Leistungen verschiedener Einrichtungsträger angewiesen. Die Zusammenarbeit aller beteiligten Personen und Institutionen ist deshalb eine unverzichtbare Voraussetzung für die Koordination und Planung, Evaluation und Steuerung gemeindepsychiatrischer Hilfen, sowohl im Einzelfall, als auch auf der regionalen Ebene (Tabelle 05). Im Zuge der Psychiatriereform hat sich das Versorgungssystem in Deutschland stark ausdifferenziert. Bei der Entwicklung der unterschiedlichen Hilfsangebote kam es allerdings zu erheblichen regionalen Ungleichheiten, verbunden mit deutlichen Anzeichen für Unter-, Über- und Fehlversorgung. 32 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Abbildung 3: Akteure und Zentren der Zusammenarbeit in der Gemeindepsychiatrie Die zahlreichen Leistungsträger und Anbieter von Hilfen befinden sich in einer zunehmend marktwirtschaftlich geprägten Konkurrenz und arbeiten oft neben- oder gar gegeneinander; das ist ein großes Hindernis für eine gute Kooperation. Unter diesen Voraussetzungen wächst die Bedeutung einer verbindlichen psychiatriepolitischen Rahmensetzung für die Koordination und Planung gemeindepsychiatrischer Versorgungssysteme. Das ist die Aufgabe der Sozial- und Gesundheitspolitik auf den Ebenen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Die dafür Verantwortlichen werden dieser Herausforderung bisher jedoch oft nicht gerecht. Eine fallbezogene Zusammenarbeit im regionalen Verbund ist erforderlich bei der Hilfeplanung und bei der Koordination mehrerer Leistungen unterschiedlicher Einrichtungsträger für eine Person mit komplexem Hilfebedarf. In solchen Fällen hat es sich bewährt, im Einvernehmen mit dem betroffenen Menschen eine ihn betreuende Fachperson damit zu beauftragen, bei weiteren, andernorts erbrachten Leistungen die Koordination der Hilfen zu übernehmen (Clinical Case Management, koordinierende Bezugsperson). Dieser Standard sollte auch für die rechtzeitige Nachsorgeplanung im Anschluss an einen Klinikaufenthalt gelten, selbst wenn keine Eingliederungshilfen erforderlich sind. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 33 Einführung Die Träger der Eingliederungshilfe (EGH) sind nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) verpflichtet, einen Gesamtplan zu erstellen; falls bei komplexem Hilfebedarf mehrere Rehabilitationsträger in Frage kommen, ist ein Teilhabeplanverfahren durchzuführen. Die Anzahl der möglichen Rehabilitationsträger beträgt inzwischen acht, und dazu kommen noch die Integrationsämter. Der hilfsbedürftige Mensch ist in jedem Fall aktiv in die Hilfeplanung einzubeziehen, auf seinen Wunsch zusätzlich auch Personen seines Vertrauens, z.B. Angehörige, Freunde, betreuendes Fachpersonal von Leistungserbringern oder Selbsthilfe-Vertretung. Falls eine gesetzliche Betreuung mit entsprechendem Wirkungskreis besteht, muss auch die Betreuerin oder der Betreuer dabei sein. Die Leistungsträger sollten im Planungsverfahren immer einen vertrauenswürdigen Fachdienst mit spezieller Expertise hinzuziehen, z.B. den kommunalen Sozialpsychiatrischen Dienst. Bei einem Neuantrag, einer Hilfeplanfortschreibung mit wesentlicher Änderung des Leistungsspektrums oder auf Wunsch einer am Verfahren beteiligten Person ist die Durchführung einer gemeinsamen Hilfeplankonferenz angezeigt. Nach § 12 SGB IX sind die Rehabilitationsträger verpflichtet, die frühzeitige Erkennung des Rehabilitationsbedarfs zu unterstützen, insbesondere durch die Bereitstellung und Vermittlung von geeigneten barrierefreien Informationsangeboten. Dazu muss es eine schon im Vorfeld des Planungsverfahrens wohnortnah verfügbare, niederschwellig zugängliche und fachkundig besetzte Ansprech- und Beratungsstelle geben, die diese Funktion im Auftrag der Rehabilitationsträger übernimmt und verbindlich mit der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabe-Beratungsstelle (EUTB) nach § 32 SGB IX zusammenarbeitet. Die EUTB ihrerseits benötigen eine spezielle Expertise für die Peer-Beratung bei psychischen Beeinträchtigungen und seelischen Behinderungen, die durch die 34 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Beschäftigung von entsprechend qualifizierten psychiatrieerfahrenen Genesungsbegleitern gewährleistet werden kann. Tabelle 05: Leistungsgruppen und die dafür zuständigen Träger Träger der gesetzlichen Rentenversicherung X Alterssicherung der Landwirte X Träger der gesetzlichen Unfallversicherung X Bundesagentur für Arbeit Unterhaltssichernde u. and. ergänz. Leistungen Leistungen zur sozialen Teilhabe X Leistungen zur Teilhabe an Bildung Träger der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Rehabilitationsträger Leistungen zur med. Rehabilitation (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) e.V. 2019) X X X X X X X X X X Träger der öffentlichen Jugendhilfe X X X X Träger der Eingliederungshilfe X X X X X X Träger der Kriegsopfer-Versorgung und Fürsorge Integrationsämter (nicht Reha-, aber Sozialleist.-Träger) X X X Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 35 Einführung Für die fallunabhängige Zusammenarbeit der Akteure im regionalen Verbund wurden im Laufe der Psychiatrie-Reform in Deutschland verschiedene Vorschläge gemacht, ohne dass sich daraus eine allseits anerkannte einheitliche Struktur entwickelt hätte. Die PsychiatrieEnquete von 1975 empfahl zur Koordination und Planung eines sogenannten Standardversorgungsgebietes (150.000‒350.000 Einwohner) einen Psychosozialen Ausschuss zur Beratung des Kommunalparlaments (Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1975). Er sollte bestehen aus Delegierten ebenfalls einzurichtender Koordinationsgremien, und zwar getrennt für Dienste (Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft; PSAG), Einrichtungsträger, Kostenträger und kommunale Ämter bzw. Behörden. Dieses Organisationsmodell war vorher nirgends ausprobiert worden und scheiterte in der Folgezeit. Allenfalls die Dienste fanden in einer regionalen PSAG zusammen, die anderen Systempartner sahen in der Regel keinen Bedarf, verbindlich miteinander zu kooperieren. Das nach der Psychiatrie-Enquete aufgelegte Modellprogramm wurde von einer Expertenkommission der Bundesregierung ausgewertet, die in ihren Empfehlungen von 1988 einen neuen Vorschlag zur Koordination und Steuerung machte (Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1988). Nun ging man von den kommunalen Gebietskörperschaften als maßgeblichen Planungseinheiten aus, obwohl diese vielerorts dafür eigentlich zu klein sind. Allen Kommunen wurde empfohlen, eine Stelle zur Psychiatriekoordination einzurichten, die ihrerseits einen Beirat zu ihrer Unterstützung berufen sollte, bestehend aus Vertretungen verschiedener Systempartner. Man setzte also ganz auf die Initiative und Autorität der Kommunen, denen aber in der Regel die Kompetenzen und Instrumente fehlten, ein so komplexes System zu dirigieren (Elgeti and Machleidt 1990). Die seit den 1990er Jahren zu beobachtende Infragestellung des Wohlfahrtsstaates beinhaltet auch das Risiko einer Vernachlässigung der besonders schwer beeinträchtigten Menschen. Dagegen steht die 36 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst UN-BRK, die seit 2009 in Deutschland geltendes Recht ist. Sie fordert für alle Menschen, unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit: Inklusion und Partizipation, Vermeidung von Zwang und Bevormundung Selbstbestimmung und Teilhabe mitten in der Gesellschaft. Danach müssen die Selbsthilfe-Organisationen der PsychiatrieErfahrenen und ihrer Angehörigen im Sinne einer trialogischen Psychiatrie auch an der Zusammenarbeit im regionalen Verbund und an der Versorgungsplanung gleichberechtigt beteiligt werden. Um die Zusammenarbeit im regionalen Verbund zu verbessern, haben in vielen Landkreisen und kreisfreien Städten psychiatrisch engagierte Einrichtungsträger Gemeindepsychiatrische Verbünde (GPV) gegründet. Einige von ihnen schlossen sich mit Unterstützung der APK 2004 in einer Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG GPV) zusammen und definierten bestimmte Qualitätsstandards als Voraussetzung für die Mitgliedschaft eines GPV in der BAG. Das Land Baden-Württemberg setzt Anreize für GPV-Gründungen und hat sich in seinem PsychKHG von 2015 dazu verpflichtet, entsprechende Zusammenschlüsse von Einrichtungsträgern unter bestimmten Voraussetzungen finanziell zu fördern. Einen anderen Weg hat das Land Niedersachsen gewählt: Dort wurden die kommunalen Gebietskörperschaften 1997 im NPsychKG gesetzlich verpflichtet, zur besseren Zusammenarbeit der Akteure Sozialpsychiatrische Verbünde (SpV) zu gründen. Die Teilnahme ist allerdings bisher freiwillig und praktisch ohne Mitwirkungspflichten, es sei denn, die Kommune vereinbart diese gesondert mit denjenigen Hilfsangeboten, für die sie Leistungsträger ist. Der SpDi führt die Geschäfte des SpV und muss im Benehmen mit ihm einen Sozialpsychiatrischen Plan (SpP) über den Bedarf und das gegenwärtige Angebot an Hilfen erstellen bzw. regelmäßig fortschreiben. Seit 2007 wurde eine LandespsychiatrieBerichterstattung aufgebaut, auch um mit jährlich ausgewerteten Kennzahlen zu wichtigen Bausteinen der Versorgung die Kommunen Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 37 Einführung bei der Erstellung ihres SpP zu unterstützen. Eine kommunale Psychiatrieberichterstattung und Versorgungsplanung könnten Motoren für die Zusammenarbeit im regionalen Verbund sein, wenn man sie verbindlich machen und partizipativ organisieren würde. 38 Version 1.0 Grundlagen Grundlagen Psychiatrische Grundlagen Einleitung Das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie befasst sich mit den psychischen Erkrankungen in Bezug auf Prävention, Diagnostik und Behandlung. Formale Grundlage der Diagnosestellung bildet das Kapitel V (F) der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (international classification of diseases) in der 10. Revision (ICD-10; dimdi.de). ICD 10 ist ein multiaxiales System. Von früheren Versionen der ICD unterscheidet sie sich dadurch, dass das Kapitel F Diagnosekriterien enthält, die weltweit eine einheitliche psychiatrische Diagnostik ermöglichen sollen. Multiaxial bedeutet, dass mehrere Diagnosen nebeneinandergestellt werden können und sollen, sofern das in den Diagnosekriterien für bestimmte Diagnosen nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. Das betrifft z. B. das Nebeneinanderbestehen von sogenannten Achse 1 - Störungen (wie z.B. Depression, Angsterkrankungen, schizophrenen Störungen) und sog. Achse 2 - Störungen (wie Persönlichkeitsstörungen). Aber es betrifft auch das Vorliegen mehrerer Achse 1- (z.B. soziale Phobie, mittlere depressive Episode, Alkoholabhängigkeit, Essstörung) oder Achse 2 - Störungen (z.B. Histrionische Persönlichkeitsstörung und Borderline-Persönlichkeitsstörung). ICD 10 unterstützt damit sehr stark das Erkennen und Dokumentieren von Komorbiditäten. Die 11. Revision ist aktuell in Vorbereitung und soll am 01.01.2022 zur Verfügung stehen (Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2020). Basierend auf dem biopsycho-sozialen Modell wird die rein symptomorientierte Beschreibung ohne Lebensweltbezug der ICD um eine weitere Klassifikation, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF-mentale Funktionen; rehadat-icf.de) ergänzt. 40 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Abbildung 4: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF Insbesondere durch die Novellierung des SGB IX (Bundesteilhabegesetz ab 01.01.2020) ist die Beschreibung der Teilhabestörung mit Hilfe der ICF obligat. Die ICF entspricht in ihrer Beschreibung der Wechselwirkungen der Umfeldfaktoren mit personalen Faktoren und Gesundheitsstörungen der sozialpsychiatrischen Herangehensweise. Zur vertiefenden Einordnung einer Diagnose kann das in den USA und zum Teil in der wissenschaftlichen Forschung gebräuchliche DSM-System dienen, auf dessen Erläuterung aufgrund der mangelnden praktischen Relevanz im sozialpsychiatrischen Kontext des ÖGD verzichtet wird. Im Folgenden wird, versehen mit praxisnahen Tipps, ein leitliniengerechter, strukturierter Untersuchungsablauf zur ersten Diagnose-Einordnung beschrieben, dann folgt die weiterführende Zusatzdiagnostik. Im gesamten Vorgehen gilt es, die besondere Patientengruppe im ÖGD stets im Blick zu haben. Daher befassen wir uns am Schluss nach einem allgemeinen kurzen Überblick der Behandlungsmöglichkeiten mit häufig auftretenden Symptomatiken Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 41 Grundlagen des sozialpsychiatrischen Alltags und umfasst die Diagnosegruppen der schizophrenen Störungen, der Abhängigkeitserkrankungen, der relevanten Untergruppen der Persönlichkeitsstörungen sowie kursorisch den affektiven Störungen. Psychiatrische Untersuchung Die psychiatrische Untersuchung gliedert sich in mehrere, durchaus zeitlich parallel durchgeführte Schritte: der strukturierten Befragung mit Erheben des psychopathologischen Befunds, der sogenannten Exploration, sowie der Verhaltensbeobachtung, der biographischen Anamnese und der Fremdanamnese. Der psychiatrische Untersucher muss sich ganz besonders - mangels objektivierbarer, reproduzierbarer (apparativer) Diagnostik - der Gefahr der subjektiven Einordnung des Gesagten bewusst sein, hilfreich ist ein Vorgehen mittels halbstrukturierter Interviews. Der Untersucher ist im psychiatrischen Bereich auf Sprache und deren Verstehen in besonderem Maße angewiesen. Bei Sprachbarrieren zwischen Patient und Untersucher ist, auch bei für den somatischen Bereich möglicherweise ausreichenden Sprachkenntnissen, ein unabhängiger psycho-sozial vorgebildeter Sprachmittler (z.B. Dolmetscher) hinzuzuziehen. Eine nahestehende Person, z.B. Familienangehörige, oder eine andere hinzugezogene Person, z.B. eine Reinigungskraft, sind für diese Aufgabe als kritisch zu betrachten. Jede kulturell getönte Interpretation, Weglassung oder wohlgemeinte Erläuterung sollte aufmerksam registriert, aber mit Vorsicht interpretiert werden. Die Kosten sollten im ÖGD durch den Auftraggeber bzw. den örtlichen oder überörtlichen Sozialleistungsträger getragen werden. 42 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst EXPLORATION Die Situationen, in denen in der sozialpsychiatrischen Arbeit untersucht wird, unterscheiden sich oft wesentlich von Untersuchungssituationen in Praxis oder Klinik. Bei aktiver Kontaktaufnahme an der Haustüre oder in anderen nicht strukturierten Situationen ist zunächst der Aufbau einer Gesprächsbasis, der Abbau von Ängsten und Abwehr und die Schaffung einer Vertrauensbasis erforderlich. Die Gesprächsführung ist dann der Situation und den Bedürfnissen der/des Betroffenen anzupassen und oft wenig strukturiert. Auch wenn - insbesondere in Akutsituationen - aus wenigen Informationen eine Verdachtsdiagnose abgeleitet werden muss, sollten die im Folgenden beschriebenen Items einer vollständigen Exploration möglichst erfasst werden (siehe “Beispiel einer sozialpsychiatrischen Exploration” unter “Aspekte aus der Praxis”). Die Exploration besteht aus der Erhebung des psychischen bzw. psychopathologischen Befundes, der Familien-, Sozial- und Berufsanamnese, der weiteren und speziellen Anamnese, z.B. der Sexualanamnese. Dazu gehört auch das Erfragen psychiatrischer Erkrankungen im familiären Umfeld, Nachfragen zum familiären Klima und zu den frühen Bindungsverhältnissen. Unbedingt ist das Thema Suizide in der Familie oder näheren sozialen Umgebung anzusprechen. Die Erhebung der Sozial- und Berufsanamnese gibt ein Bild der aktuellen Lebenssituation und ggf. wichtige Hinweise für Resilienzfaktoren und Hilfesysteme. Ebenfalls ist eine Überprüfung der sogenannten Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben zur vertieften Einschätzung hilfreich. Eine ausführlichere biographische Anamnese gibt einen Überblick über Lebensweg, Interaktionsmuster, Persönlichkeitsstil und Hinweise auf Abwehrmechanismen. Somit ist sie der Ausgangspunkt für eine Persönlichkeitsdiagnostik und ein psychodynamisches Verständnis. Sie soll, wann immer möglich, durch eine Fremdanamnese ergänzt werden, da z.B. sowohl bei Psychosen wie Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 43 Grundlagen auch bei Persönlichkeitsstörungen die eigene Wahrnehmung des Betroffenen von der seiner Umwelt abweichen kann. Der psychopathologische Befund beschreibt als aktueller oder Querschnitts-Befund die zum Untersuchungszeitpunkt beim Untersuchten vorhandenen, als Längsschnitt-Befund die seit Erkrankungsbeginn aufgetretenen Symptome. Als Orientierung hat sich die folgende Gliederung des psychischen Befundes nach dem AMDP-System bewährt: Bewusstseinsstörung (Einschätzung z.B. der Wachheit, der Klarheit, der Ansprechbarkeit) Orientierungsstörungen (Bescheidwissen über Zeit, Ort, Situation und eigene Person) Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen (Auffassung z.B. durch Erklären von Sprichwörtern überprüfen, Konzentrationsstörungen mittels z.B. Subtrahieren von Merkoder Gedächtnisstörungen, abgrenzen durch Merken einfacher Begriffe und Wiedergeben nach 10 min oder Überprüfen von Begebenheiten, die mehr als 60 min. her sind, siehe MMST) Formale Denkstörungen (Wahrnehmung für die Veränderung in der Geschwindigkeit, der Verständlichkeit oder des roten Fadens im Erzählen) Befürchtungen und Zwänge (Gezieltes Erfragen von Ängsten und darauf bezogene Empfindungen oder Verhaltensweisen, wie z.B. Vermeidung) Wahn (mit subjektiver Gewissheit wird die Wirklichkeit fehlgedeutet, systematisch oder eingeengt auf einzelne Themen) Sinnestäuschungen (Es werden Illusionen-Verkennung bei Vorhandensein einer Reizquelle - und HalluzinationenFehlwahrnehmung ohne Reizquelle - unterschieden) Ich-Störungen (Die Grenze des Ich zum Außen (Derealisation), das persönliche Einheitserleben (Depersonalisation) ist gestört und wird als fremd erlebt und/oder das Fühlen, Denken oder Handeln, z.B. Gedankenentzug, wird als von außen gemacht erlebt) 44 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Störungen der Affektivität (Beurteilung der Stimmung und Emotionalität) Antriebs- und psychomotorische Störungen (Erfassen des Aktivitätsniveaus, auch anhand von Gestik, Mimik und Sprache) Circadiane Besonderheiten (Fragen nach regelhaften Schwankungen der Stimmung und des Verhaltens innerhalb von 24-Stunden-Perioden) Suizidalität (Direktes Fragen nach verstärktem Ruhewünschen, Überdrußgedanken und/oder Handlungsabsichten) Sonstige Besonderheiten ( Aggressivität, Pflegebedürftigkeit etc.) Verhaltens- und Umfeldbeobachtung Gerade bei wortkargen oder in ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit eingeschränkten Patienten können Beobachtungen des Verhaltens wertvolle zusätzliche Hinweise auf die Diagnose ergeben. Ebenso kann die Verhaltensbeobachtung der Validierung der gemachten verbalen Aussagen hinsichtlich Schwere oder Kongruenz dienen oder weitere, nicht verbalisierte Symptome zeigen. Allerdings sollten hier auch mögliche sozio-kulturelle Einflüsse berücksichtigt werden. Körperhaltung, Mimik, Sprechen und Sprache, Gestik, Psychomotorik können in der reflektierten Wahrnehmung Ausdruck des psychischphysischen Zusammenspiels sein, da hier wenig steuerbare, unbewusste Abläufe die Grundlage sind. Ebenso bedeutsam ist eine gezielte Wahrnehmung von Besonderheiten im direkten Wohnumfeld, z.B. leerer Kühlschrank, karge Einrichtung, vermüllte Wohnung. FREMDANAMNESE Psychiatrische Erkrankungen können mit mangelnder Krankheitseinsicht oder der Unfähigkeit zur Selbstbeurteilung einhergehen. Zu bedenken ist auch, dass die Schilderung psychischer Einschränkungen häufig scham- und schuldbesetzt ist. Hier hat sich Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 45 Grundlagen die Befragung von Bezugspersonen als sehr hilfreich erwiesen. Dies muss selbstverständlich für den Betroffenen transparent und am besten gemeinsam erfolgen. Ziel ist es, die Schilderungen des Betroffenen zu ergänzen und wichtige Hinweise auf Frühwarnsymptome, Verlauf früherer Episoden, Ausmaß der Einschränkungen zu erhalten. Grundsätzlich wird die vertrauensvolle Beziehungsarbeit mit dem Betroffenen und seinen Bezugspersonen angestrebt, die der sozialpsychiatrische Dienst in den häufig langjährigen, wiederkehrenden Phasen der meist chronifizierten Erkrankungen als Basis benötigt. Aus Gesprächen mit Familien bzw. Bezugspersonen können sich äußerst wichtige Anhaltspunkte für Beziehungsdynamik und Netzwerke sozialer Unterstützung ergeben. Insbesondere im ÖGD ist auch die Befragung der in der speziellen Situation involvierten Personen (Nachbarn, Behörden, Polizei etc) relevant, da häufig nicht der Betroffene selbst den Kontakt zum Sozialpsychiatrischen Dienst sucht, sondern Dritte. Diese meist detektivische Erfassung der Zusammenhänge sollte ebenfalls anhand der vorgenannten Instrumente durchgeführt werden, da die Konkretisierung unspezifischer Berichte, z.B. “verwirrte Person” erst durch dauerhaft gezieltes Erfragen und Anbieten von Beispielen möglich ist. Hierzu zählt auch die Abgrenzung krankheitswertiger und behandlungsbedürftiger Zustände von sonstigen psychosozialen Krisen und Konflikten. PSYCHOMETRIE Zur Objektivierung bestehender Leistungsdefizite (z.B. im Bereich demenzieller Erkrankungen, Teilleistungsstörungen, Intelligenzminderung) stehen ergänzend valide Instrumente zur Verfügung, auch sprachungebunden, jedoch nicht kultursensibel. Zu einer ersten Einschätzung der kognitiven Leistungen können schon während der Untersuchung einfache, wenig zeitaufwändige Verfahren angewandt werden. (freie Versionen MMST, MOCA Demtect, d2 inklusive Auswertung). Eine Intelligenztestung ist 46 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst aufwändiger und bedarf einschlägiger Erfahrung (WAIS-IV, MWT-B, Benton-Test etc). Die psychometrischen Verfahren zur indikationsbezogenen und Persönlichkeits-Diagnostik sowie die umfassenderen Instrumente zur Leistungsdiagnostik liegen bislang nur als Lizenzverfahren vor. Daher ist für die Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes die Vorhaltung einer Standard-Testbatterie sinnvoll. Neben einem globalen Bewertungsinstrument wie der Symptom-Check-Liste (SCL 90) könnten dies beispielsweise indikationsbezogene Fragebögen (BDI II, DASS bei affektiven Erkrankungen) und strukturierte klinische Interviews (SKID I+II) zur Persönlichkeitsdiagnostik sein. Alle beschriebenen Untersuchungsabschnitte ergeben zusammen einen Gesamteindruck des psychischen Befindens mit unterschiedlicher Ausprägung der Symptome. Diese werden anhand der rein deskriptiven International classification of diseases (ICD 10 Kapitel F) in “Erkrankungspakete” wie affektive Störungen, psychotische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen gefasst und daraus die Behandlungsansätze abgeleitet. Dabei sind die einzelnen Symptome oder Symptomkomplexe von niedrigerem oder höherem Spezifitätsgrad. KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG Die allgemeine und neurologische Untersuchung unterscheidet sich bei psychiatrischen Patienten nicht von anderen Patienten. Bei der apparativen Diagnostik können die Bildgebung des Gehirns (z.B. Ausschluss Tumor, entzündliche Veränderungen), Labordiagnostik (z.B. SD-Parameter, TPHA, Drogenscreening) und das EEG wichtige ergänzende Informationen geben. Eine gute somatische Abklärung aller Symptome sollte selbstverständlich sein. VOM SYMPTOM ZUR DIAGNOSE Neben dem stark operationalisierten ICD, welches durch die beschriebenen Untersuchungen stark symptom- und defizitorientiert Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 47 Grundlagen zu einer Diagnose führt, benötigen wir für eine Codierung nach ICF, die neben Aussagen zu körperlichen Faktoren und psychischen Symptomen auch Angaben zu Aktivitäten, sozialer Teilhabe sowie den sogenannten Kontextfaktoren, die sich aus Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren zusammensetzen. Diese ebenfalls standardisierten Funktionen lassen sich am einfachsten mittels sogenannter Core-Sets, also einer Liste von ICF-Kategorien, die für die spezifischen Gesundheitsstörungen der Patientengruppe relevant sind, beschreiben. Mittels des Mini-ICF-APP können so z.B. einfacher die Belange der Psychiatrie erfasst werden. Sie können die Beeinträchtigung alltagsrelevanter Funktionen präzisieren und stellen so eine Ergänzung dar, da sie gleichfalls neben der Beeinträchtigung Hinweise für Ressourcen bieten. Weitere hilfreiche Core-Sets und einfache Anwendungen stellt das Projekt "Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz", der RehaDat ICF-Lotse und das ICF-Corse-Set zur Verfügung. Core Sets als krankheitsspezifische Zusammenstellung einiger „Kern-Items“ führen jedoch weder zu einer allgemeingültigen Beschreibung von individuellen Krankheitsfolgen und der damit assoziierten Behinderung noch zur umfassenden Ermittlung des individuellen zum Core Set passenden Unterstützungsbedarfes – u. a. deshalb, weil der Einfluss von personbezogenen Faktoren aufgrund des Fehlens einer zu deren Erfassung erforderlichen ICF-Systematik nicht strukturiert in die Überlegungen einfließt. Im klinischen Kontext wird dem Einfluss von Kontextfaktoren häufig nicht ausreichend Rechnung getragen, zumindest nicht in ihrer Gesamtheit, wobei es sicher erhebliche Unterschiede zwischen den Rehaeinrichtungen gibt. In anderen Zusammenhängen ist die Berücksichtigung der Kontextfaktoren insgesamt schwierig, weil die ICF nur für die Umweltfaktoren eine Systematik zur Verfügung stellt; für die personbezogenen Faktoren hingegen wird der Anwender von der WHO aufgefordert, sich selbst ein Bild zu machen. Somit erfassen die Kodes einschl. der vorgesehenen Beurteilungsmerkmale das Gesundheitsproblem und seine individuellen Auswirkungen nur unzureichend, denn aufgrund der erwähnten fehlenden Ausgestaltung können nicht alle Wechselwirkungen systematisch für 48 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst die Erhebung der Funktionsfähigkeit berücksichtigt werden. Wo sie verwendet werden, erfolgt die Nutzung zur strukturierten Dokumentation und ggf. für die Kommunikation im Team sowie für die Strukturierung der rehabilitativen Interventionen. Sie sind deshalb als Erhebungsinstrumente für die Bedarfsermittlung und feststellung sowie für eine darauf gründende Teilhabeplanung außerhalb eines klinischen oder anderen rehabilitationspraktischen Kontextes, auch im Rahmen der beruflichen Rehabilitation, nicht einsetzbar. Die ICF ist weder als Konzeption noch als Klassifikation mit Blick auf eine Kodierung ein Assessment, somit auch nicht in Form von Core Sets oder selektierten gruppierten Kodes gedacht; unter ICF-Experten ist dies fachlicher Konsens. Eine psychische Erkrankung und deren Verlauf kann maßgeblich durch die vorbestehende Einbindung in ein soziales Netzwerk, die bisherige Teilhabe und Partizipation oder deren Fehlen bestimmt werden. Behandlung der Schwerpunkt-Diagnosen in der sozialpsychiatrischen Versorgung Organische psychische Störungen Für die sozialpsychiatrische Arbeit sind in dieser Diagnosegruppe vor allem die dementiell Erkrankten von Bedeutung. Auch wenn zahlreiche Unterformen der Demenz klassifiziert sind, sind allen Unterformen als Leitsymptome die anhaltende oder fortschreitende Beeinträchtigung des Gedächtnisses, der Orientierung, des Denkens und/oder anderer Hirnleistungen gemein. Oft treten im Verlauf weitere Symptome, etwa im zwischenmenschlichen Verhalten, affektiver oder wahnhafter Natur, hinzu. Demenzen sind vorrangig Erkrankungen des alternden Menschen, wie die untenstehende Grafik zeigt. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 49 Grundlagen Abbildung 5: Mittlere Erkrankungshäufigkeit nach Altersgruppen (Quelle: Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2019) Durch die bekannte demografische Entwicklung mit steigender Lebenserwartung und besserer gesundheitlicher Versorgung wird diese Personengruppe in den nächsten Jahren in Relation größer werden. Hinzu tritt die allgemein-gesellschaftliche Entwicklung der Zunahme von Einzelhaushalten, vor allem im großstädtischen Kontext, was die frühe Erkennung und Intervention erschwert und damit auch große Relevanz in der aufsuchenden Hilfe im SpDi spielen wird. Die Erscheinungsbilder verlaufen häufig schleichend, zunächst nur schwer gegen die übliche altersbedingte Vergesslichkeit abzugrenzen. Hier hat sich das oben beschriebene Instrumentarium des psychopathologischen Befundes und der Testung bewährt. Alle Verdachtsmomente sollten jedoch durch eine bildgebende Diagnostik untermauert werden, um etwaige behandelbare Differentialdiagnosen wie entzündliche Prozesse oder Neubildungen nicht zu übersehen. Die Demenzen gliedern sich in drei große Gruppen: degenerativen Formen (z.B. Alzheimer-Demenz) mit 65-75% vaskuläre Formen mit 15-20 % gemischte Form mit 10-20% 50 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Für diese Hauptformen liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine kausalen Therapiemöglichkeiten vor, allenfalls können mittels frühzeitig aufgenommene n kognitiven Trainings, Gruppentherapie (z.B. Erzähl- oder Leserunden) und Bewegung vorübergehend alltagsrelevante Verbesserungen erzielt werden. Bei der Demenz vom Alzheimer-Typ haben Acetylcholinesterasehemmer, eingesetzt in der Frühphase der Erkrankung, eine kurzzeitig aufschiebende Wirkung gezeigt. Bei den vaskulären Demenz-Typen kann die Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern sinnvoll sein. In der sozialpsychiatrischen Arbeit ist es wichtig, wachsam gegenüber Meldungen von Nachbarn, Angehörigen etc. zu sein, die typischen Veränderungen wie Vernachlässigung der Wohnung und der Haushaltsführung, Hortungstendenzen, Vernachlässigkeit der Körperpflege und Vergesslichkeit melden. Hier ist dann, gemeinsam mit den sozialen Diensten, eine vorausschauende Planung, auch gemeinsam mit dem Betroffenen, wichtig. Der schmerzliche Prozess innerhalb der dementiellen Erkrankung, nach und nach die Kompetenz für das eigene Leben zu verlieren, bedarf Begleitung und ebenso prozesshaftes Einführen der Hilfen, z.B. Essen auf Rädern ambulanter Pflegedienst Medikamentenversorgung später Einrichten einer gesetzlichen Betreuung und Besuch einer Tagespflegestätte, ggf. Wohnheimversorgung. Wenn die ersten Zeichen nicht erkannt oder Hinweise des sozialen Umfeldes aus falsch verstandener Rücksicht nicht beantwortet werden, besteht die Gefahr der raschen Eskalation und des scheinbar plötzlichen Zusammenbrechens der Versorgung, die dann in verfrühtem Verlust des eigenständigen Wohnens münden kann. Herausfordernd sind neben den typischen Demenz-Symptomen die Auswirkungen auf das Denken und Handeln der Betroffenen. Nicht selten erscheinen die Erkrankten wahnhaft verändert, wähnen z.B. Einbrecher in der Wohnung, wenn vertraute Gegenstände nicht Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 51 Grundlagen wiedergefunden werden, reagieren aggressiv auf vermeintliche Eindringlinge oder werden über den Verlust der Kontrolle über das eigene Leben depressiv. Hier kann in Einzelfällen eine symptomatische, auch psychopharmakologische Behandlung sinnvoll sein. Im Blick des Sozialpsychiatrischen Dienstes muss auch das soziale Umfeld sein, das auf diesem Weg des absehbaren schleichenden Verlustes Unterstützung in Form von Selbsthilfegruppen und auch mittels Anleitung durch das Hilfesystem benötigt. Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Mit einer Prävalenz von 6-8% sind die Suchterkrankungen in der gesundheitlichen Versorgung sehr relevant, allerdings spielen in der sozialpsychiatrischen Arbeit die Alkoholkrankheit, Abhängigkeit von Amphetaminen, Cannabis und die Opiat (polytoxe) Abhängigkeit und deren Folgen die größte Rolle. Abhängigkeit wird definiert durch starkes, unstillbares Verlangen, Toleranzentwicklung und psychische wie physische Entzugserscheinungen. Grob kann man zwischen den eher dämpfenden, entspannenden Suchtmitteln (Morphin-Typ, Barbiturat/Alkohol-Typ) und den aktivierenden, Vigilanz steigernden (Amphetamine, Kokain-Typ) unterscheiden. Gemein ist den Suchtstoffen, dass sie mit den Belohnungssystemen im Gehirn in Hinblick auf Vermittlung von Wohlbefinden und Euphorie korrespondieren. Bei der Entwicklung einer Abhängigkeit wird von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen, neben biologischen Faktoren spielen das Familienmilieu, verfehlte Zielerreichungsbalance und physiologische Sensitivierungsprozesse des dopaminergen Systems eine Rolle. Die Alkoholabhängigkeit entwickelt sich häufig schleichend mit anfänglichem Trinken zur Spannungsreduktion mit leichter Toleranzentwicklung und geht über in die sogenannte Prodromalphase, in der schon morgens heimlich getrunken wird, wobei Schuldgefühle und Verleugnung typisch sind. Erste körperliche 52 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Symptome wie Gedächtnislücken tauchen auf. In der kritischen Phase kommt es zu einer zunehmenden Interessenseinengung, Kontrollverlust beim Trinken, zunehmenden sozialen und körperlichen Problemen. Hier kann es zu einer Umkehr der Toleranzentwicklung kommen. Im chronischen Stadium besteht das Leben häufig nur noch aus Konsum mit verlängerten Rauschzuständen und komorbid auftretenden affektiven Symptomen. In Deutschland herrscht in Bezug auf den Alkoholkonsum eine „permissiv-funktionsgestörte Kultur“ (nach Bales), die sich durch eine ständige Verfügbarkeit und soziale Funktion (´ein guter Wein zum Essen`, Stammtisch, nahezu alle gesellschaftlichen Anlässe starten mit einem alkoholischen Getränk) des Suchtstoffs mit zunehmender Toleranz gegenüber Exzessen auszeichnet. Allerdings besteht eine deutliche Stigmatisierung der Suchterkrankung und der teilweise daraus folgenden Verelendung. Dies erfordert die Reflexion der Behandler bezüglich der eigenen Haltung zum Alkoholkonsum und die Notwendigkeit, nicht gemeinsam mit dem Betroffenen in die Verleugnungsfalle zu geraten, sondern in der Exploration das Thema direkt und regelhaft anzusprechen und zu benennen. Neben den bekannten somatischen Folgeerkrankungen können einerseits die häufige psychische Co-Morbidität mit affektiven Erkrankungen als auch Folgezustände wie das mnestische Syndrom (früher “KorsakowSyndrom”) benannt werden. Die Behandlung der Alkoholabhängigkeit beginnt mit der Motivationsarbeit und der Entwicklung von Möglichkeiten, was an die Stelle des Alkohols treten kann. Mit einer Heilungsrate von nur ca 50% benötigt die Begleitung von alkoholkranken Menschen einen langen Atem. Neben den medizinisch notwendigen Schritten der qualifizierten Entzugsbehandlung im SGB-V-Bereich und der nachfolgenden Entwöhnungsbehandlung im Rahmen einer stationären oder ambulanten Rehabilitation (z.B. über die Rentenversicherung finanziert) benötigt der Erkrankte parallel die Anbindung an ein niedrigschwelliges soziales Hilfesystem mit Selbsthilfegruppe und/oder an ambulant betreutes Wohnen für Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 53 Grundlagen Suchtkranke nach dem BTHG. Je nach Stadium der Erkrankung kann auch eine hochfrequente psychotherapeutische Begleitung sinnvoll sein. Langfristiges Ziel der Behandlung ist die Abstinenz, allerdings wird dies inzwischen selbst beim Alkohol kontrovers diskutiert. Bei den Suchtkranken, mit denen es der SpDi zu tun hat, geht es erst einmal um Risiko- und Schadensminderung (harm reduction). Das funktioniert meist nur mit einem akzeptierenden Ansatz. Häufig ist man in der Arbeit im Sozialpsychiatrischen Dienst auch mit Patienten konfrontiert, die an einer drogeninduzierten Psychose erkrankt sind - deshalb an dieser Stelle ein paar spezifische Hinweise zu dieser Personengruppe. In ICD 10 lautet die Definition: Eine Gruppe psychotischer Phänomene, die während oder nach dem Substanzgebrauch auftreten, aber nicht durch eine akute Intoxikation erklärt werden können und auch nicht Teil eines Entzugssyndroms sind. Die Störung ist durch Halluzinationen (typischerweise akustische, oft aber auf mehr als einem Sinnesgebiet), Wahrnehmungsstörungen, Wahnideen (häufig paranoide Gedanken oder Verfolgungsideen), psychomotorische Störungen (Erregung oder Stupor) sowie abnorme Affekte gekennzeichnet, die von intensiver Angst bis zur Ekstase reichen können. Das Sensorium ist üblicherweise klar, jedoch kann das Bewusstsein bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt sein, wobei jedoch keine ausgeprägte Verwirrtheit auftritt. Bei einem relevanten Anteil der Personen mit Neuerkrankungen an Psychosen besteht ein erheblicher und regelmäßiger Gebrauch von Cannabinoiden im jugendlichen Alter im Vorfeld der Erkrankung. Oft lässt sich auch bei eingehender Anamnese-Erhebung nicht klären, ob erste mögliche Prodromalsymptome dem ersten THC-Konsum vorangegangen sind oder umgekehrt. Vielfach besteht kein Abstinenzwunsch, vielmehr wird die Cannabinoidwirkung als heilsam wahrgenommen, und nicht mit dem Auftreten der in der Regel als unangenehm erlebten psychotischen Symptome kausal verknüpft, sondern wegen dieser intensiviert, bzw. bei erster Gelegenheit wiederaufgenommen, sodass nicht beurteilbar ist, ob die 54 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Symptomatik nach längerer Abstinenz auch ohne Neuroleptikagabe abklingt. Wegen der das Bild dominierenden psychotischen Symptomatik und der fehlenden Abstinenzbereitschaft sieht das Suchthilfesystem keinen Handlungsansatz, aufgrund der fortgesetzten Zufuhr des schädigenden Agens bleiben die Möglichkeiten einer psychiatrischen Behandlung sehr begrenzt, selbst wenn die betroffene Person bereit ist, Neuroleptika einzunehmen. Ein Teil der Personen kann durch spezifische psychoedukative Programme und ein strukturiertes Milieu motiviert werden, den Konsum zu reduzieren und ein Verständnis für den Zusammenhang zwischen Konsum und Psychose zu entwickeln. Inzwischen gibt es es vereinzelt auch Maßnahmen der Eingliederungshilfe über das BTHG, wie z.B. eine therapeutische Wohngemeinschaft für Menschen mit einer sogenannten Doppeldiagnose. Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störung In der Arbeit des SpDi stellen die davon betroffenen Menschen eine weitere bedeutsame Gruppe mit besonderen Herausforderungen dar. Das Spannungsfeld entsteht durch das Wissen um die Abhängigkeit der Prognose vom frühzeitigen Behandlungsbeginn. Die schizophrenen Erkrankungen zeigen im Verlauf eine grobe DrittelAufteilung: 30% der Erkrankten erleben eine Remission oder einen guten Verlauf, 30% können unter Behandlung mit leichten Einschränkungen des Alltagslebens leben, 30% verlaufen chronisch, verbunden mit erheblichen Einschränkungen. Neben den Leitsymptomen wie Wahn, Beeinträchtigungserleben, Sinnestäuschungen (z.B. Stimmen-Hören) und nicht einfühlbaren Verhaltensweisen sind die Krankheitsuneinsichtigkeit und eine entsprechend eingeschränkte Inanspruchnahme von Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 55 Grundlagen Hilfsmaßnahmen typisch für die Betroffenen mit schizophrenen Erkrankungen. Hier bedarf es viel Einfühlungsvermögen und der Bereitschaft, sich in die Gedankenwelt des Gegenüber einzulassen, um einen Zugang und letztlich das Vertrauen zu erreichen. Nachvollziehbar erlebt der Kranke große Emotionalität, mit Verzweiflung, Wut, mangelndem Verständnis bis hin zu Abscheu in seiner Umgebung, durch Familie, Freunde, Arbeitgeber oder Nachbarn. Die Not ist groß. Alle Mitmenschen möchten die betroffene Person dringend in Behandlung wissen, auch gegen deren Willen und meist mit den allerbesten Absichten. Allerdings kommt es nicht selten durch die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten sowie Zuständigkeits-Diskussionen zu Eskalationen, die schließlich in die völlige soziale Isolation der Betroffenen führen können. Die Erkrankung tritt am häufigsten im frühen Erwachsenenalter auf, die Lebenszeitprävalenz liegt bei etwa 1%, wobei Männer durchschnittlich drei Jahre früher erkranken als Frauen. Diagnostisch lassen sich die F2-Störungen durch die Expressivität der Symptome, Verlauf und Behandelbarkeit differenzieren. Verlaufsformen mit dem Schwerpunkt auf sogenannte Plussymptomatik zeichnen sich durch produktive Symptome wie Halluzinationen, Wahn und formale Denkstörungen aus. Ebenso gibt es Verläufe mit Minussymptomen wie Denkverarmung, Antriebsminderung und Rückzug. Die Letztgenannten begleitet eine häufig schlechtere Prognose, allerdings können auch die vorwiegend mit Plussymptomatik belastenden Menschen in einen aus Minussymptomatik geprägten Residualzustand geraten. Episodische Verlaufsformen mit gleichzeitig affektiven und psychotischen Symptomen werden als schizoaffektive Psychosen bezeichnet; sie zeigen eine bessere Prognose. Auf neurobiologischer Ebene werden Struktur- und Substanzdefizite vermutet, die vor allem integrative Prozesse der Reizverarbeitung sowie das Denken und Handeln betreffen. Sie sind Ausdruck der fortgesetzten Reiz- und Informationsüberflutung. Auf Rezeptorebene wird eine Dysbalance der Neurotransmitter mit einem Dopaminüberschuss angenommen. 56 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Epigenetisch wirksam scheinen auch Life-Events, Stressoren und langdauernde Konfliktsituationen zu sein, die den Krankheitsverlauf im Anfangsstadium beschleunigen und auch prolongieren können (Vulnerabilitäts-Stress-Modell). Abbildung 6: Vulnerabilitäts-Stress-Modell Diese Tatsachen können wichtig sein in der psychoedukativen Aufklärung des Patienten wie des Umfelds. Die paranoide Schizophrenie ist mit 70% die häufigste Form. Neben den genannten Ursachen ist bei dieser Form auch an die drogeninduzierte Variante zu denken und in der Exploration zu erfragen. Nach einem unspezifischen Prodromalstadium, was in der Rückwärtsbetrachtung Aufschlüsse auf sogenannte Frühsymptome geben kann, treten meist Wahn, Halluzinationen und formale Denkstörungen wie Zerfahrenheit und starkes Beeinflussungserleben in den Vordergrund. Häufig sind große Ängste unter der aggressiven Abwehr spürbar, da die Erkrankten die Denkinhalte und Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 57 Grundlagen Wahrnehmungen als unverrückbare Realität erleben und Versuche, sich anzunähern und von anderen Inhalten zu überzeugen, als große Bedrohung wahrnehmen. Deshalb sollte man als Grundhaltung ein akzeptierendes Verstehen einnehmen und der Informationsverarbeitungs-Störung damit Rechnung tragen, dass alle Inhalte sachlich, knapp und verständlich dargebracht werden. Neben der benannten Psychoedukation ist in den akuten Stadien eine Begleitung der Betroffenen in der Tagesstruktur hilfreich, da die "verrückte" Situation zu einer starken Desorganisation führt und eine Struktur von außen wieder Sicherheit vermitteln kann. Dies ist auch Grundlage des gemeindepsychiatrischen Begleitens, z.B. durch betreutes Wohnen oder berufsrehabilitative Maßnahmen. Wichtige Säulen der Behandlung der schizophrenen Erkrankungen sind die Psychopharmakotherapie und Psychotherapie. In der Akutphase hat sich das behutsame Aufdosieren der ausgewählten antipsychotischen Medikation als zielführend erwiesen. Bei Abklingen der Symptomatik sollte die medikamentöse Behandlung mit der niedrigsten erforderlichen Dosis fortgesetzt werden, ggf. in Depotform. Unerwünschte Arzneimittel-Wirkungen (UAW) sind der häufigste Grund der verbreiteten Non-Compliance. Berichten von Betroffenen ist zu entnehmen, dass das Denken und Empfinden im Schub neben den unangenehmen auch zahlreiche reiche Momente voller wichtiger Gedanken und Gefühle und auch Zeiten des Besonderen beinhalten. Durch den Einsatz von Neuroleptika werden sie als nur noch gedämpft und zusätzlich mit quälenden UAW wie sexuellen Funktionsstörungen, Bewegungseinschränkungen und Müdigkeit erlebt. Kritisch sind die Zeiten nach erfolgter Behandlung, wenn sich die Person wieder den Anforderungen des Alltags und des Umfelds stellt unabhängig von der Qualität der Remission. In dieser Zeit ist das Suizidrisiko höher als in der akuten Psychose. Hier treten die SpDi und der GPV in der Begleitung der weiteren Behandlung und sozialen wie beruflichen Rehabilitation ein. 58 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Affektive Störungen Bei den affektiven Störungen sind insbesondere Stimmung, Antrieb und Denken (inklusive Ausrichtung der Interessen und Zukunftssicht) beeinträchtigt. Wir unterscheiden hier die unipolaren (in eine Richtung) Störungen depressiv (65%) und manisch (5%) von den bipolaren Störungen (30%), die mehr oder weniger rasche Wechsel zeigen. Diese sehr häufige (Prävalenz 10%) Erkrankung mit durchschnittlich guter Prognose beschäftigt den Sozialpsychiatrischen Dienst vor allem in seinen seltener vorkommenden schweren Verläufen. Allgemein wird beobachtet, dass die affektive Co-Morbidität bei allen psychiatrischen Erkrankungen hoch ist. Auch bei der Gruppe der affektiven Störung wird von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen. Es zeigen sich deutliche familiäre Häufungen und eine wohl zugrundeliegende Neurotransmissions-Störung von Noradrenalin und Serotonin mit einer gleichzeitigen postsynaptischen RezeptorMinderempfindlichkeit. Ebenso wird eine Störung des Stresshormonhaushaltes angenommen. Die Behandlung der depressiven Erkrankung richtet sich nach dem Schweregrad der vorliegenden Episode. Das deskriptive System der ICD-10 gliedert Haupt- und Nebensymptome auf und teilt nach der Anzahl deren Vorliegens ein. Im praktischen Vorgehen hat sich jedoch die Schwere der alltäglichen Belastung als tragfähiger Anhaltspunkt erwiesen. Sobald die Versorgung des Haushalts sowie die Bewältigung der persönlichen Angelegenheiten und des beruflichen Alltags eingeschränkt oder erschwert sind, muss von einer mittelschweren depressiven Episode ausgegangen werden. Hier ist eine Kombination aus antidepressiver Medikation und Psychotherapie am wirksamsten, zumal die Medikation eine Psychotherapiefähigkeit gerade erst herstellen kann. Körperliche Bewegung, ausreichend Sonnenlicht und Schlafrestriktion bzw. Schlafentzug zeigen ebenfalls nachweisbare Wirkung. Im gleichen Umfang wie eine medikamentöse Behandlung kann bei einer singulären Episode nach einem Jahr durchgehender Einnahme über Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 59 Grundlagen das Ausschleichen nachgedacht werden. Schon bei der zweiten Episode ist eine Langzeitprophylaxe anzuraten. Rasches Absetzen der Medikation bei Remission führt sehr häufig zu Rezidiven und birgt die Gefahr eines impulshaften Suizidversuchs. Die Depression kommt zunächst so „normal“ daher, jeder Mensch kennt Phasen der Trauer und Lustlosigkeit, allerdings lassen sich diese situativ auflockern. Der depressive Mensch steckt in einer kaum vorstellbaren Tiefe fest, die häufig Leere und Gefühllosigkeit beinhaltet. Angehörige können dies oft nur schwer nachempfinden oder fühlen sich schuldig (bei Konflikten), wollen etwas tun und aufmuntern, bauen nach und nach Druck auf, womit ein negativer Kreislauf beginnen kann. Der Kranke selbst fühlt sich ebenso schuldig für sein Versagen und schämt sich, „es nicht zu schaffen“. In dieser ganz häufigen Konstellation hilft Psychoedukation für Betroffene und Angehörige enorm weiter. Eine Episode kann Wochen bis 4-5 Monate oder länger andauern, die Prognose ist gut, lediglich 10% chronifizieren. Bei Therapieresistenz oder wiederholten schweren Verläufen hat sich die Elektro-KrampfTherapie oft als hilfreich erwiesen. Bei den bipolaren affektiven Störungen treten manische Episoden hinzu. Bei gleichem phasenhaften Verlauf sind die symptomfreien Intervalle hier kürzer und die Chronifizierungsrate beträgt 20-30% mit einer hohen Suizidmortalität. Der Katecholamin-Stoffwechsel zeigt anhaltende Störungen in beide Richtungen. Das zusätzliche manische Verhalten (schnelles Sprechen und Denken, Enthemmung, Selbstüberschätzung etc.) birgt Gefahren wie Verschuldung und andere Risiken, die die Familie miteinschließen können. Neben der Psychoedukation kann hier im Sinne eines vorbereitenden Patientenvertrags auch ein Einwilligungsvorbehalt nach dem Betreuungsrecht (siehe ebenda) sinnvoll sein. Parallel zur Behandlung der Zielsymptomatik (depressiv vs. manisch) ist die dauerhafte Einnahme eines Phasenprophylaktikums angezeigt. 60 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Diese Gruppe von Erkrankungen fasst sehr unterschiedlich einschränkende Symptomkomplexe zusammen. Gemein ist ihnen der Beginn und ein andauernd tief gestörtes Verhaltensmuster seit früher Jugend, was sie von den anderen psychischen Störungen unterscheidet. ICD-10 GM 2017 beschreibt in den allgemeinen Leitlinien dazu „deutliche Unausgeglichenheit in Einstellung und Verhalten in mehreren Funktionsbereichen.” Das können sein: Affektivität Antrieb Impulskontrolle Wahrnehmung und Denken Beziehung zu anderen. Die Betroffenen zeigen bei schwerem Grad der Ausprägung erhebliche Einschränkungen der beruflichen und sozialen Einbindung durch fortgesetzte interaktionelle Schwierigkeiten. Dabei unterscheidet sich das individuelle Leiden auch deutlich, meist fußend auf einer starken Inkongruenz aus internem und externem Erleben. Eine grobe Charakterisierung der Subtypen (ebenfalls nach ICD-10 GM 2017) teilt die Persönlichkeitsstörungen nach sonderbarexzentrisch (paranoid, schizoid), dramatisch-emotional (dissozial, emotional-instabil, narzisstisch) und ängstlich-vermeidend (selbstunsicher, dependent, zwanghaft) ein. Ätiologisch werden neben einer genetischen Anlage epigenetische Einflüsse durch Stresshormone in Schwangerschaft und postpartaler Phase ebenso angenommen wie eine Dysregulation im serotonergen wie noradrenergen System. Dies wird für die Störung der Impulskontrolle, die Übererregbarkeit und eine Häufung komorbider Störungen in Richtung affektiver Störungen und Abhängigkeitserkrankungen verantwortlich gemacht. Dazu treten dann die Auswirkungen eines mehr oder weniger förderlichen Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 61 Grundlagen Familienmilieus mit ungünstigen Vorbild- bzw. Nachahmungsfunktionen, sowie Bindungstörungen und sequentielle Traumatisierungen. Die Behandlung gestaltet sich insgesamt schwierig und bedarf einer lang angelegten Beziehungsgestaltung und einer hohen Frustrationsbereitschaft beim Behandler. Persönlichkeitsgestörte Menschen erleben häufig als stabilste Form der Beziehung die Ablehnung, sodass wohlwollendes Vorgehen des Gegenübers meist zunächst idealisiert, aber auch stetig überprüft und misstrauisch betrachtet wird. Da das „Überschwappen der Emotionen“ (sogenannte projektive Identifikation) auch ein Ausdruck mangelnder Wahrnehmung der eigenen und der Gefühlswelt anderer sein kann, ist dieses Symptom als solches zu verstehen und kann als Einstieg für das Verständnis wertvoll sein. Die Prognose der Persönlichkeitsstörung ist auch aufgrund einer nicht vorhandenen Ursachenbehandlung weniger gut. Als hilfreich hat sich unter anderem ein verhaltenstherapeutisches Training von Alltagsfertigkeiten und Üben adäquater Verhaltensweisen in Verbindung mit emotionaler Selbstkontrolle erwiesen. Hierbei kann der SpDi durch ein stabiles Angebot mit klaren Verhaltensregeln sehr dienlich sein, um eine positive Interaktion im Sozialraum zu unterstützen. Psychiatrische Notfälle Prinzipiell ist in Psychiatrischen Notfallsituationen eine ruhige Beziehungsgestaltung mit knapper, zielgerichteter Kommunikation wichtig. Erläutern Sie jeden Schritt langsam und in kurzen Sätze. Wahren Sie emotionale Distanz, auch in Situationen, in denen der Betroffene verletzend und beleidigend agiert. Führen Sie möglichst kursorische körperliche Untersuchungen und unbedingt Fremdanamnese bezüglich der Begleitumstände der Situation durch. Die häufigsten Notfallsituationen sind durch Erregungszustände und Intoxikationen bestimmt. Sie machen allein 10% aller Notaufnahmen in deutschen Krankenhäusern aus. 62 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Erregungszustand Das Endbild des Erregungszustandes, mit Antriebssteigerung, emotionaler und motorischer Enthemmung bis zum Kontrollverlust, kann verschiedene Ursachen haben und kann mit fremd- aber auch mit selbstgefährdendem Verhalten einhergehen. Die häufigsten Ursachen sind akute Intoxikation, akuter Schub einer Schizophrenie, manische Episode und akute Belastungsreaktion. Aufgrund der Vielfalt der Gründe ist eine gute Anamnese und Diagnostik essenziell! Das erfordert ruhiges, sachliches Auftreten und klare, deutliche Ansprache, auch bei verbalen Übergriffen durch den Patienten. Eine ständige Überwachung muss sichergestellt sein. Bei psychotischen oder suchtmittelassoziierten Zuständen empfiehlt sich der parenterale Einsatz typischer Antipsychotika, bei nichtpsychotischer Erregung hat sich die parenterale Gabe von Benzodiazepinen bewährt. Bewusstseinsstörung / akute Verwirrtheit Beide Symptome sind Anzeichen zahlreicher Erkrankungen, bedürfen einer ausführlichen Diagnostik und sollten nicht mit Psychopharmaka “maskiert” werden. Bei der Bewusstseinsstörung ist die Wachheit, bei der akuten Verwirrtheit die Orientierung eingeschränkt. Neben Intoxikationen jedweder Art kommen neurologische und internistische Erkrankungen als auslösend in Frage. Eine stationäre Überwachung mit Sicherung der Vitalfunktionen und apparativer Diagnostik ist als erster Schritt empfohlen. Panikattacke Plötzliches Gefühl der nahenden Vernichtung, begleitend durch Herzrasen, Schwitzen, Engegefühl in der Brust und große Unruhe. DD Drogenkonsum! Meist reichen verbindliches ruhiges Auftreten und Erläuterung des Phänomens schon aus. Die Einmalgabe eines schnell wirksamen Benzodiazepins kann hilfreich sein. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 63 Grundlagen Akute Suizidalität Unmittelbar bevorstehende Handlung mit verfügbarer bzw. durchführbarer Methode und fehlender Möglichkeit, die Umsetzung verlässlich aufzuschieben. Psychologische Untersuchungen im Umfeld belegen bei Suizidenten das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung in 90% der Fälle. Dabei handelt es sich in abnehmender Reihenfolge um affektive Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, Schizophrenien oder Persönlichkeitsstörungen. Es ist zu unterscheiden zwischen Zuständen eines längeren sozialen Rückzugs mit zunehmender Isolation und impulshaften, unter Umständen wahnhaft bedingten Situationen. Bei knapp 10.000 vollendeten Suiziden in Deutschland wird von 10 mal so vielen Versuchen ausgegangen. Vorangegangene Versuche bilden neben dem männlichen Geschlecht, jugendlichem oder höherem Alter und Suiziden in der näheren Umgebung oder Familie weitere Risikofaktoren. Der Anamnese und dem konkreten Benennen und Nachfragen kommt somit eine wichtige Rolle zu. Bei festgestellter akuter Suizidalität sollten die Betroffenen bis zur Klärung der Situation auf gar keinen Fall mehr allein gelassen werden. Hilfreich sind eine ruhige Ansprache, die Begleitung in Behandlung sowie der Verzicht auf Werten oder Moralisieren. Auf jeden Fall sollten erkennbare Gegenstände oder Mittel für die Durchführung eines Suizidversuches entfernt werden. Nach Entaktualisierung haben sich verhaltenstherapeutische Strategien wie Lebensvertrag bzw. Notfallplan bewährt und sollten dementsprechend etabliert werden. Prädelir, Delir Die Kombination von quantitativer (Wachheit) und qualitativer (Orientierung) Bewusstseinsstörung, Halluzinationen, Unruhe und starker vegetativer Reaktion (Fieber, Übelkeit, Schwitzen, Herzrasen) fasst unter dem Namen Delir Formen einer akuten organischen Psychose unterschiedlichster Genese zusammen. Mit an die 20% Letalität und vor allem im hohen Alter mit bis 25% bleibenden 64 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst kognitiven Defiziten muss der Früherkennung und Verhütung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Intoxikation Folgeerscheinungen absichtlicher oder akzidenteller Überdosierung von Drogen oder Medikamenten. Neben der eigenen (wenn möglich!) die Fremdanamnese erheben, Drogenscreening, Labor und Überwachung. (Hilfreich zur Veranschaulichung siehe: Tabelle 13.4.: Symptome bei Intoxikation (S. 309) und Tabelle 13.5: Therapiestrategien bei Drogennotfällen (S. 310) aus Payk T.R. & Brüne M. Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie (2013) Thieme Verlag.) Katatonie / Stupor Führendes Symptom ist eine komplette Erstarrung - der Patient ist reglos, stumm, amimisch, kann in bizarren Haltungen verharren. Er ist gleichermaßen bewusstseinsklar und meist innerlich hochgradig angespannt. Im Gegensatz zum Rigor im katatonen Zustand kann der Tonus beim Stupor locker sein und der Patient noch sehr langsame Bewegungen zeigen. Auch der katatone Stupor ist ein Stupor, der nicht katatone Stupor hat nur nicht die spezifischen Merkmale des katatonen. Katatonie (im ICD 10 noch eine Unterform der Schizoprenie) kann sich außer als Stupor auch als Erregungszustand äußern. Ursächlich können schizophrene Psychosen, schwere affektive Störungen oder Traumata sein. Durchgehende Überwachung mit Sicherung der Vitalfunktionen notwendigstationäre Einweisung im Fall der affektiven Störung Trizyklika p.o + Lorazepam i.m. bei schizophrener Psychose Typika + Lorazepam i.m. Malignes neuroleptisches Syndrom Durch den vermehrten Einsatz atypischer Neuroleptika als Regelmedikation ist dieses Syndrom seltener geworden, durch die möglichen Spätkomplikationen wie Nierenversagen sollte es Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 65 Grundlagen weiterhin bekannt und vor allem rechtzeitig erkannt werden. Es tritt in den ersten Wochen der Behandlung oder nach Dosissteigerung auf, wahrscheinlich durch eine Blockade der Dopaminrezeptoren. Neben Rigor, Akinese und Stupor tritt typischerweise sehr hohes Fieber hinzu. Das Neuroleptikum muss sofort abgesetzt werden, Dantrolen per os oder intra venös und symptomatische Behandlung durchgeführt werden. Rechtsgrundlagen Gesundheitsdienstgesetze der Länder Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den öffentlichen Gesundheitsdienst sind durch die Gesundheitsdienstgesetze (GDG) der jeweiligen Länder geregelt. Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitshilfe für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen werden überwiegend in den unteren Gesundheitsbehörden durch den Sozialpsychiatrischen Dienst geleistet. Da gemäß der föderalen Ordnung Deutschlands die Bundesländer für die Gesundheitsversorgung verantwortlich sind, ist auch die Ausgestaltung dieses Fachbereichs bundesweit sehr unterschiedlich geregelt. Einige Bundesländer haben diese Aufgabe an freie Träger delegiert. Die Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze der Länder Originär sind die Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze (PsychK(H)G) als Ländergesetze aus dem Polizeirecht zur Gefahrenabwehr gewachsen und werden in dieser Form nur noch im Saarland als sogenanntes Unterbringungsgesetz vorgehalten. Heute wird dem leitenden Präventions- und Fürsorgegedanken für psychisch erkrankte Menschen durch die jeweiligen PsychK(H)Gs ein gesetzlicher Rahmen gegeben und damit auch der Arbeit der Sozialpsychiatrischen Dienste wie sie bereits in der Psychiatrie Enquete gefordert war. Entgegen den früheren Ansätzen der reinen 66 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Gefahrenabwehr ist damit ein zentraler Gedanke Unterbringungen zu vermeiden indem eine umfangreiche, bedarfsgerechte Versorgung psychisch Kranker in der Gemeinde ermöglicht werden soll. In den jeweiligen Gesetzen werden daher die Hilfen und Versorgungsstrukturen ausgeführt die vorhanden sein sollen. Befugnisse der Polizei des Ordnungsamtes, des SpDi, u.U. des Maßregelvollzugs[1], Träger der Hilfen, Koordination der Hilfen und verschiedene Arbeitsgemeinschaften und vieles mehr geregelt. Die PsychK(H)Gs sind im Rahmen der föderalen Strukturen in Deutschland inhaltlich abweichend und müssen daher jeweils gesondert nach Dienstort betrachtet werden und bekannt sein, siehe Tabelle 123. Wichtig ist dabei auch die kommunalen Gegebenheiten und Ausführungen zu kennen, die sich zum Teil auch innerhalb des Bundeslandes unterscheiden können. Gemeinsam ist den PsychK(H)Gs jeweils, dass dort die Hilfen für psychisch Erkrankte, die notwendig sind, um die Erkrankung zu, das Fortschreiten zu verhüten und/oder die Krankheitsbeschwerden zu lindern. Damit soll auch der gesellschaftlichen Ausgrenzung der Betroffenen entgegengewirkt und ihre soziale Wiedereingliederung ermöglicht werden. In der Behandlung psychisch Kranker gilt es dem Leitgedanken ambulant vor stationär immer Rechnung zu tragen, vor allem auch mit dem Ziel Zwangsmaßnahmen wie Unterbringungen zu vermeiden (siehe Abbildung 4). Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 67 Grundlagen Abbildung 7: Leitgedanken für die Intervention in der Krise (nach Götz T.) Die Hilfen werden im Geist der mit der Psychiatrie Enquete begonnenen und immer noch andauernden Reformbewegung gestaltet. Mit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention und darauf basierender Urteile des Bundesverfassungsgerichts wurden Novellierungen in der Gesetzgebung des Bundes (BGB) und der PsychK(H)G´s der Länder erforderlich. Zweck der gesetzlichen Vorgaben ist es dem definierten Personenkreis psychisch kranker einschließlich suchtkranker oder von psychischer Krankheit (einschließlich Sucht) bedrohter Menschen, beziehungsweise Menschen, bei denen Anzeichen einer solchen Krankheit, Störung oder Behinderung vorliegen, ein menschenwürdiges, möglich selbstbestimmtes und eigenverantwortliches, gemeindenahes Leben in den gewohnten Lebensverhältnissen zu ermöglichen. Dafür gilt es bestimmte Hilfen und Angebote vorzuhalten: vorsorgende Hilfen zur rechtzeitigen Erkennung und Behandlung (frühzeitige Beratung und persönliche Betreuung, soziale Unterstützung und Begleitung, Vermittlung geeigneter 68 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Hilfsmaßnahmen immer unter dem subsidiären Aspekt, Untersuchungen insbesondere ärztliche Diagnostik) begleitende Hilfen um mit der Krankheit zu leben, Besserung zu erreichen und Verschlimmerung zu vermeiden, aber auch um Unterbringungen zu vermeiden oder zu verkürzen nachsorgende Hilfen um nach einer (teil-)stationären Behandlung eine Wiedereingliederung zu ermöglichen und möglichst eine erneute Unterbringung zu verhindern Angehörigenarbeit mit Beratung und ggf. Betreuung (zur Entlastung und Unterstützung, um Verständnis für die besonderen Lebenslagen der Betroffenen zu entwickeln aber auch um die Bereitschaft zur Mitwirkung zu erhalten und zu fördern) psychosoziale Krisenintervention einschließlich Unterbringung zur Gefahrenabwehr bei Eigen- oder Fremdgefährdung (im Vorfeld sollen dabei verschiedene Hilfen und Kontaktangebote, Einladung in Sprechstunden, Hausbesuche, zwangsweise Vorladungen, um eine Unterbringung zu vermeiden erfolgt sein). Die Unterbringung sollte erst erfolgen wenn keine hinreichenden Alternativen mehr zur Verfügung stehen; siehe Unterbringungskapitel. Die Durchführung der Hilfen erfolgt durch: Sozialpsychiatrische Dienste, die multiprofessionell beraten und betreuen. Dafür sollen Sprechstunden vorgehalten werden, Hausbesuche durchgeführt, individuelle Hilfen vermittelt und subsidiär Hilfen und Betreuung gewährt werden enge Kooperation und Schnittstellenarbeit zu allen Versorgern und Behandlern insbesondere auch: -- Planung und Koordination des Versorgungssystems mit z.B. GPVs, PSAGs, anderen Arbeitskreisen und Verbünden, Psychiatrie-Beiräten oder auch durch Psychiatriekoordinatoren: Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 69 Grundlagen -- Vermittlung und Vorhaltung von individuellen passenden Hilfen wie Betreutes Wohnen, tagesstrukturierende und andere komplementäre Angebote sowie beschützte Arbeitsplätze -- psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle, Suchtberatungsstellen und andere niedrigschwellige Angebote -- ehrenamtliche Hilfe und Selbsthilfe Wichtig ist dabei, dass die Würde und Integrität der psychisch Kranken immer gewahrt wird, dass die Betroffenen in höchstmöglichem Maße in die Entscheidungen einbezogen werden und ihren Wünschen und Vorstellungen nach Möglichkeit Rechnung getragen werden muss. Die Annahme von Hilfen sollte dabei auf freiwilliger Basis erfolgen. In den PsychK(H)Gs sind darüber hinaus auch Ausführungen zu Unterbringungen, den Behandlungen gegen den (natürlichen) Willen und von besonderen Sicherungsmaßnahmen und Zwangsmaßnahmen genau ausgeführt. Es werden die Rechte der Betroffenen gerade auch unter diesen Bedingungen dargelegt. Zur Wahrung dieser Rechte und zur Aufsicht über die durchführenden und mit den hoheitlichen Rechten beliehenen Krankenhäusern bzw. Krankenhausabteilungen werden in den jeweiligen Bundesländern unabhängige Besuchskommissionen eingerichtet. Daneben üben je nach Landesgesetz die Auftrag gebenden Länder bzw. Kommunen die Fachaufsicht über die mit Unterbringungen beliehenen Psychiatrischen Kliniken aus. In B, BBG, BW, HE, SA, TH werden zusätzlich auch gesetzlich Patientenfürsprecher gefordert, in SH können ein Patientenfürsprecher und /oder eine Besuchskommission eingerichtet werden. Wobei auch in B, HE, und NRW Beschwerdestellen für Psychiatrie vorgehalten werden müssen. 70 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Fachaufsicht der mit hoheitlichen Aufgaben beliehenen Kliniken (Berlin, Schleswig-Holstein) Mit der Privatisierung psychiatrischer Kliniken der Regelversorgung wurde auch die Umsetzung hoheitlicher Aufgaben zur Gefahrenabwehr, insbesondere freiheitsentziehender Maßnahmen, in die Hände privater Träger gegeben. Um diese dem Gewaltmonopol des Staates unterliegenden Maßnahmen hier rechtlich korrekt umsetzen zu können wurde es erforderlich, die entsprechenden Kliniken zu beleihen und die dort in diesem Zusammenhang tätigen Mitarbeiter zur Ausübung staatlicher Gewalt zu ermächtigen. Der Auftraggeber Staat (Ordnungsbehörde) trägt die Verantwortung für die gesetzeskonforme und fachgerechte Umsetzung der in seinem Namen durchgeführten Maßnahmen. Um dies zu gewährleisten, ist die Kontrolle der Umsetzung durch die Behörde erforderlich. Diese Aufgabe wird aufgrund der dort vorhandenen Fachkompetenz bei den sozialpsychiatrischen Diensten in Schleswig-Holstein angesiedelt. Geprüft werden neben der rechtlich korrekten Umsetzung von Unterbringungs- und Zwangsmaßnahmen auch die räumlichen Gegebenheiten, die quantitative und qualitative Personalausstattung und die Einhaltung fachlicher Qualitätsstandards in Behandlung und Pflege. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 71 Grundlagen Tabelle: PsychK(H)G's der Länder Bundesland Brandenburg Gesetze Datum Gesetz über Hilfen und 05.05.2009 Schutzmaßnahmen sowie über den Vollzug gerichtlich angeordneter Unterbringung für psychisch kranke und seelisch behinderte Menschen im Land Brandenburg (Brandenburgisches PsychischKranken-Gesetz- BbgPsychKG) Berlin Gesetz über Hilfen und 17.06.2016 Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) Bayern Bayrisches Psychisch-Kranken-Hilfe- 24.07.2018 Gesetz (BayPsychKHG) Baden- Gesetz über Hilfen und Württemberg Schutzmaßnahmen bei psychischen 25.11.2014 Krankheiten (Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz – PsychKHG) Freie Gesetz über Hilfen und Hansestadt Schutzmaßnahmen bei psychischen Bremen Krankheiten (PsychKG) Freie und Hamburgisches Gesetz über Hilfen Hansestadt und Schutzmaßnahmen bei Hamburg psychischen Krankheiten (HmbPsychKG) 72 Version 1.0 19.12.2000 27.09.1995 Der Sozialpsychiatrische Dienst Bundesland Hessen Gesetze Hessisches Gesetz über Hilfen bei Datum 04.05.2017 psychischen Krankheiten, Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) Sachsen- Gesetz über Hilfen für psychisch Anhalt Kranke und Schutzmaßnahmen des 30.01.1992 Landes Sachsen-Anhalt (PsychKG SA) Mecklenburg- Gesetz über Hilfen und Vorpommern Schutzmaßnahmen für Menschen mit 14.07.2016 psychischen Krankheiten (Psychischkrankengesetz - PsychKG MV) Niedersachsen Niedersächsisches Gesetz über Hilfen 16.06.1997 und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) Nordrhein- Gesetz über Hilfen und 17.12.1999 zuletzt Westfalen Schutzmaßnahmen bei psychischen geändert 2.7.2019 Krankheiten (PsychKG) Rheinland- Landesgesetz für psychisch kranke Pfalz Personen 17.11.1995 (PsychKG) Sachsen Sächsisches Gesetz über die Hilfen 10.10.2007 und die Unterbringung bei psychischen Krankheiten (SächsPsychKG) Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 73 Grundlagen Bundesland Gesetze Datum Schleswig- Gesetz zur Hilfe und Unterbringung 14.01.2000 Holstein psychisch kranker Menschen zuletzt geändert 2015 (Psychisch-Kranken-Gesetz - PsychKG) z.Z.in Überarbeitung Saarland Gesetz Nr. 1301 über die 11.11.1992 Unterbringung psychisch Kranker (Unterbringungsgesetz - UBG) bis jetzt kein PsychKG vorhanden Thüringen Thüringer Gesetz zur Hilfe und 05.02.2009 Unterbringung psychisch kranker Menschen (ThürPsychKG) Das Betreuungsgesetz 1992 trat das “Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige” (Betreuungsgesetz-BtG) in Kraft und wurde in den folgenden Jahren immer wieder angepasst und schließlich 2013 novelliert. Mit dem „Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in ärztliche Zwangsmaßnahmen“ wurden umfangreiche Änderungen im § 1906 BGB vorgenommen um die Rechte und Selbstbestimmung der Betreuten zu schützen. Mit Beschluss des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29.01.2019 wurde aktuell die Rechtsposition der Personen die in allen Angelegenheiten betreut sind, noch einmal deutlich gestärkt indem die Verfassungswidrigkeit des vorher bestehenden Ausschlusses vom aktiven Wahlrecht für diese Betroffenengruppe festgestellt wurde und eine Wahlteilnahme auf Antrag nun möglich ist. Die Ablösung von dem bis 1992 gültigen Rechtskonstrukt der Entmündigung, Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft für 74 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Erwachsene hat zu deutlichen Verbesserungen für gesetzlich Betreute geführt. Rechtliche Betreuungen werden zum Wohle des Betroffenen eingerichtet, um Hilfe in Aufgabenkreisen zu leisten die krankheitsbedingt nicht mehr erledigt werden können. Dabei muss der Wille und das unmittelbare Bedürfnis der Betroffenen berücksichtigt werden, die Selbstbestimmung gewahrt und Rechtseingriffe auf das notwendige Maß beschränkt werden, , wenn dies nicht dem Wohle des Betreuten entgegensteht oder sich daraus eine erhebliche Gefahr für den Betroffenen ergibt. Das heißt, dass beispielsweise eine in der Vermögenssorge betreute Person seine finanziellen Mittel zum persönlichen Eigenbedarf gemäß seinen Bedürfnissen, Wünschen, Vorstellungen usw. einsetzen kann. Damit kann ein Betreuter, der beispielsweise in einer renovierungsbedürftigen Wohnung mit kaputten Möbeln wohnt, trotzdem sein Geld dazu verwenden die kostspielige Briefmarkensammlung weiter zu vervollständigen. Wichtig ist , dass die Kosten für die lebensnotwendigen Bereiche (Wohnung, Nahrung…) gedeckt sind. Voraussetzungen der rechtlichen Betreuung Das Betreuungsgesetz als Bundesgesetz ist in den §§ 1896ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt. Die Verfahrensvorschriften sind wie aus den PsychKGs der Länder bekannt im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Buch 3 §§ 271-341 (FamFG), früher im FGG, verankert. Im BGB heißt es: “ „Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 75 Grundlagen nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer.“ Eine genaue Definition der anspruchsbegründenden Krankheitsbilder wird vom Gesetzgeber nicht vorgegeben, was immer wieder zu unterschiedlichen Auffassungen und vor allem auch im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit zu unterschiedlichen Entscheidungen führt. Orientierend und vereinfacht nach dem ICD 10[1] ist festzustellen, dass psychische Erkrankungen nach dem BGB vorrangig: organisch psychische Störungen (F0) bzw. seelische Störungen als Folge anderer Erkrankungen: Z.n. Meningitis, Schädel-HirnVerletzungen, Krebsleiden, Parkinson etc. (oft Erkrankungen des Nervensystems Kapitel VI des ICD 10) Suchterkrankungen (F1) mit Folgeschäden, z.B. amnestisches Syndrom oder Suchterkrankungen auf Grundlage/Komorbiditäten anderer betreuungsrelevanter Erkrankungsbilder (vgl. z.B. BayObLG, Beschluss vom 28.03.2001 - 3 Z BR 71/01, AG Neuruppin, Beschluss vom 22.06.2005 - 23 XVII 159/04 ) Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (F2) affektive Störungen (F3) neurotische Störungen, Konfliktreaktionen (F4) und Persönlichkeitsstörungen (F6) bei schwersten Ausprägungen (vergleichbar mit den SMIs), da hier im Normalfall vor allem andere Maßnahmen vorrangig in Betracht kommen geistige Behinderungen nach dem BGB: Angeborene oder frühzeitig erworbene Minderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit: klassisch Intelligenzminderungen (F7) oder kognitive Störungen bei z.B. Trisomie 21, auch u.U. frühkindlicher Autismus 76 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst (Anm.: In diesem Bereich gibt es fließende Übergänge zur “Lernbehinderung”, siehe entsprechend dort) und seelische Behinderung nach dem BGB: bleibende Zustände psychischer Erkrankungen sind, schwer ausgeprägte Demenzen, Residualzustände von schizophrenen Erkrankungen etc. Körperliche Behinderungen nach dem BGB sind Erkrankungen, die eine Person daran hindern die eigenen Angelegenheiten ausreichend zu besorgen (z.B. Bettlägerigkeit). Sie werden, soweit notwendig, durch die jeweils zuständigen Fachbereiche im Gesundheitsamt mit betreut. Daher werden sie in diesem Kapitel nicht weiter betrachtet. Einen Antrag auf Bestellung eines Betreuers kann der Betroffene selbst beim zuständigen Amtsgericht/Abteilung des Betreuungsgerichts stellen oder er kann von Amts wegen gestellt werden. Die Einrichtung einer Betreuung kann dabei grundsätzlich auch von Dritten angeregt werden, was in Beratungskontexten im Sozialpsychiatrischen Dienst auch immer Berücksichtigung finden sollte. Aufgabenkreise “ „Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist“ (BGB §1896 (2)). Dabei ist aber auch im Betreuungsverhältnis die Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit immer zu wahren. Typische bestellte Aufgabenkreise sind: Gesundheits(für)sorge/-angelegenheiten Vermögenssorge/-angelegenheiten Vertretung vor Behörden/ Ämtern/ Institutionen/ Sozialleistungsträgern/ Versicherungen/ Gerichten/ … Wohn(ungs)angelegenheiten Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 77 Grundlagen Postangelegenheiten (≈Entgegennahme und Öffnen der Post), Entscheidungen über den Fernmeldeverkehr Die Betitelung und Umfang der Aufgabenkreise können dabei je nach Richter, Amtsgericht und Region, aber vor allem auch nach Betreuungsbedarf, unterschiedlich sein. Prinzipiell kann ein Betreuer für jeden notwendigen Aufgabenkreis auch in strenger Begrenzung bestellt werden, beispielsweise zur Vertretung vor dem Jugendamt. Um Auskünfte über den Umfang eines bereits bestehenden Betreuungsverhältnisses zu erlangen, sollte immer Einsicht in den Betreuerausweis genommen werden. Eine Betreuung hat keinen Einfluss auf die Geschäftsfähigkeit der betreuten Person, insofern sich aber erhebliche Gefahren für die Person oder sein Vermögen ergeben, kann ein Einwilligungsvorbehalt für bestimmte Aufgabenkreise, meist in der Vermögenssorge, eingerichtet werden. Das heißt, dass Geschäfte, die unter diesem Einwilligungsvorbehalt stehen, ohne die Zustimmung des rechtlichen Betreuers nicht rechtswirksam getätigt werden können. Betreuungsverfahren Eine Betreuung darf nicht gegen den freien Willen einer Person eingerichtet werden und orientiert sich immer am Grundsatz der Erforderlichkeit. Zur Einrichtung einer rechtlichen Betreuung muss neben der persönlichen Anhörung des Betroffenen durch den Richter auch ein Sachverständigengutachten und ein Sozialbericht der Betreuungsbehörde eingeholt werden. In seltenen Fällen kann die Einholung des Sachverständigen-Gutachtens entfallen, wenn ein aussagekräftiges, ärztliches Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vorliegt. Der Betroffene selbst kann einen Betreuervorschlag unterbreiten. Unterbleibt dies, wird der Betreuer vom Gericht nach Vorschlag 78 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst durch die Betreuungsbehörde bestimmt. Ein Wechsel des Betreuungsverhältnisses ist bei entsprechenden plausiblen Gründen möglich. Eine rechtliche Betreuung kann auch von mehreren Personen ausgeübt werden wenn sich hieraus Vorteile für den Betreuten ergeben. Neben der Betreuung durch Betreuungsvereine und selbstständige Berufsbetreuer können auch vorzugsweise natürliche Personen zum Betreuer bestellt werden. Die Dauer der Einrichtung eines neuen Betreuungsverhältnisses variiert erheblich und kann oft mehrere Monate in Anspruch nehmen. Eine Betreuung kann auch im Eilverfahren einstweilig vom Gericht bestellt werden, wenn Gefahr im Verzuge ist. Eine vorläufige Betreuerbestellung darf höchstens für die Dauer von 6 Monaten bestimmt werden. Bis dahin muss das Regelverfahren mit Einholung eines Sachverständigengutachtens und einem Bericht der Betreuungsbehörde erfolgen. Einstweilig eingerichtete Betreuungen finden in der Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes selten Anwendung, siewerden oft bei akut notwendigen ärztlichen Eingriffen einer nicht mehr einwilligungsfähigen Person eingerichtet. Zum Beispiel bei Zustand nach Verkehrsunfall und auch nach Erstversorgung persistierender schwerer neurologischer Beeinträchtigungen und indizierter Operationsbedürftigkeit ohne vorliegende Vorsorgevollmacht. Im psychiatrischen Kontext sollte man bei Gefahr im Verzuge auf die Dringlichkeit der Einrichtung eines Betreuungsverhältnisses hinweisen in dem die krankheitsbedingten Probleme und daraus bereits bestehender und auch prognostisch relevanter Gefahren für die betroffene Person beschrieben werden, um die Einrichtung einer Betreuung zu beschleunigen. Der Anspruch auf eine rechtliche Betreuung muss im Sachverständigen-Gutachten für die einzelnen Aufgabenkreise und die Dauer der Betreuung (maximal 7 Jahre) begründet werden. Dabei müssen die krankheitsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 79 Grundlagen hinsichtlich der Erledigung der persönlichen Angelegenheiten dargestellt werden, und nicht nur die zugrundeliegenden Diagnosen gestellt werden. Beispielsweise kann eine Person mit wahnhafter Störung, die sich vor allem auf ihre Mietergemeinschaft begrenzt, von der sie sich bedroht und verfolgt fühlt, durchaus ihre finanziellen Angelegenheiten auch ohne Unterstützung eines Betreuers erledigen. Im Rahmen eines handlungsweisenden Wahnerlebens, das z.B. dazu führt, dass die erkrankte Person sich beschwert, Ruhestörung betreibt und die vermeintlichen Täter sogar bedroht oder gefährdet, zeigen sich im Rahmen des krankheitswertigen Erlebens somit vor allem Schwierigkeiten und Probleme in der Erledigung der Wohnangelegenheiten und damit verbundener rechtlicher und behördlicher Angelegenheiten. Hier wäre ein dringender Unterstützungsbedarf und Stärkung der verfahrensrechtlichen Position durch eine rechtliche Betreuung begründet. Besteht behinderungsbedingt keine ausreichende Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft, könnte unter Umständen die Einrichtung einer Betreuung im Bereich Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung zum Zwecke der Heilbehandlung hilfreich sein. Dies ist vor allem dann angezeigt, wenn Erkenntnisse vorliegen, dass ein drohender erheblicher gesundheitlicher Schaden für die Betroffene zu erwarten ist. Der Grund für fehlende Krankheitseinsicht kann u. a. sein, dass die erkrankte Person die Symptome ihrer psychischen Erkrankung nicht erfassen kann und daher keine subjektive Plausibilität für eine notwendige psychiatrische Behandlung entwickelt. Insofern der Erkrankte bei fehlender Krankheits- und Behandlungseinsicht jegliche Hilfen, also auch die Einrichtung einer Betreuung, ablehnt muss geprüft werden, ob diesbezüglich noch ein freier Wille gebildet werden kann. Wenn die vorliegende Störung des Realitätsbezugs einer angemessenen Abwägung von Für und Wider entgegensteht und eine aufgehobene Kritik- und Urteilsfähigkeit 80 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst bedingt, wären die Voraussetzungen der freien Willensbestimmung[2] nicht mehr gegeben. Diese Prüfung sollte aber gerade in Hinsicht auf die erheblichen Eingriffe auf die Selbstbestimmung und Grundrechte der Person sorgfältig erfolgen und auch ausführlich begründet werden. Vorsorgevollmacht Die Bestellung eines rechtlichen Betreuers kann vermieden werden, wenn eine Person des Vertrauens wirksam bevollmächtigt wird. Eine Bevollmächtigung als milderes Mittel ist dabei der rechtlichen Betreuung vorzuziehen. Sie wird gleichsam für die entsprechenden Aufgabenkreise bestimmt. Zur Beratung und Hilfestellungen empfiehlt es sich auf die entsprechenden Betreuungsbehörden zu verweisen oder auf die Internetpräsenz des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Unterbringungen bei Eigen- und Fremdgefährdung Eine Unterbringung ist die Verbringung einer Person gegen oder ohne Willen in eine geeignete geschlossene Einrichtung und stellt damit als Zwangsmaßnahme einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen dar. Hieraus bedingt sich verständlicherweise, dass Unterbringungen möglichst vermieden werden sollen. Vorrangige Hilfen und Alternativen sind daher auszuschöpfen. Unterbringungsvorschriften sind in verschiedenen Gesetzen verankert: öffentliches Recht (PsychK(H)G) – bei krankheitsbedingter Eigengefährdung und vorrangig auch zum Schutz der Allgemeinheit bei krankheitsbedingter Fremdgefährdung Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 81 Grundlagen Zivilrecht (Betreuungsrecht, BGB) – zum Wohl des Betroffenen und damit ausschließlich bei krankheitsbedingter Eigengefährdung Strafrecht (StGB) bei Fremdgefährdung Besserung und Sicherung von schuldunfähigen (§§20, 63) oder vermindert schuldfähigen (§§21, 63) und suchtkranken (§64) Straftätern im Maßregelvollzug (MRV) schuldfähige Straftäter im Justizvollzug (JVA) In hoch akuten Situationen mit erheblicher Selbst- und/oder Fremdgefährdung bei nicht einwilligungsfähigem Patienten kann auch auf der Grundlage des “rechtfertigenden Notstands” (§ 34 StGB) oder des “mutmaßlichen Willens” (BGHSt 40, 257) gehandelt werden. (siehe Fallbeispiele) Abbildung 8: Juristische Bezeichnungen, Unterbringung bei Eigen- und Fremdgefährdung 82 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Juristische Begrifflichkeiten bei Eigen- und Fremdgefährdung Der unbestimmte Begriff der Gefahr stellt im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne eine Sachlage dar, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit zu einem Schaden, beziehungsweise einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führt. Dabei spricht man entweder von konkreten Gefahren oder abstrakten Gefahren. Im Fall von konkreten Gefahren werden Einzelfälle betrachtet, bei denen bei ungehindertem Ablauf in überschaubarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einem Schadenseintritt gerechnet wird. Dies sind die typischen Sachlagen mit denen man im Sozialpsychiatrischen Dienst häufig konfrontiert ist. Man kann hier zum Beispiel an eine schizophrene Person mit Polydipsie denken, die allein lebt und ohne Aufsicht täglich über 10 Liter Wasser trinkt, sodass in absehbarer Zeit ohne weiteres Eingreifen der Tod eintreten würde. Hier handelt es sich um einen Einzelsachverhalt, der hinsichtlich des Ortes, der gegebenen Umstände und einer absehbaren Zeit nach den bekannten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen zum Schadenseintritt unter den gegebenen Umständen führen wird. Von abstrakten Gefahren spricht man dagegen, wenn bei bestimmten und häufiger vorkommenden Verhaltensweisen nach allgemeiner Erfahrung die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für die sogenannten Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit zu befürchten ist. Hier handelt es sich demnach eher um Gefahrenlagen, mit denen man im Infektionsschutz konfrontiert ist, wie die Verbreitung von Masern, wenn keine Herdenimmunität besteht. Die grundgesetzlich verankerten bedeutenden Rechtsgüter Einzelner wie Leben, Gesundheit, Freiheit der Person aber auch ihr Vermögen Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 83 Grundlagen und ihre Ehre, sowie die Staats- und Rechtsordnung, umfassen gemeinsam den Begriff der öffentlichen Sicherheit. Der unbestimmte Rechtsbegriff der öffentlichen Ordnung verweist auf die herrschende Moral, Werte und Normen des sozialen und ethischen Zusammenlebens. Hier kann ein Einschreiten der Behörden notwendig werden, wenn ein geordnetes Leben in der Gemeinschaft bei anstößigem oder unanständigem öffentlichen Verhalten Einzelner gefährdet ist. Der Begriff der Gefahr enthält demnach die Merkmale des “Schadens”, aber auch der “Eintrittswahrscheinlichkeit”. Die Prognose ist also ein wichtiges Kriterium in Hinsicht auf Unterbringungssituationen. Die Prognose basiert dabei auf Erfahrungsgrundsätzen. “ „Von einer gegenwärtigen Gefahr […] ist dann auszugehen, wenn ein schadenstiftendes Ereignis unmittelbar bevorsteht oder sein Eintritt zwar unvorhersehbar, wegen besonderer Umstände jedoch jederzeit zu erwarten ist.“ heißt es in den jeweiligen PsychK(H)Gs. Beim Begriff der gegenwärtigen Gefahr wird demzufolge eine höhere Anforderung an das Zeitkriterium gestellt. Gegenwärtig im Sinne der Gesetzeslage meint: unmittelbar bevorstehend bereits begonnen jederzeit erwartbar Eine dringende Gefahr besteht, wenn ein Schadenseintritt für wichtige Rechtsgüter besteht oder für wenig bedeutsamere aber ein Schaden großen Ausmaßes zu erwarten ist, hierbei wird der Zeitdimension wenig Beachtung gewidmet. Es handelt sich also um einen Gefahrenbegriff im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne, der zum Beispiel im Rahmen von Wohnungsdurchsuchungen angewendet werden kann, aber in der Arbeit des SpDi eine 84 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst untergeordnete Rolle spielt. Anwendungen wären zum Beispiel eine zwangsweise herbeigeführte Begutachtung nach richterlichem Beschluss im Rahmen des BGB, wenn Tatsachen bekannt sind, die auf eine Eigengefährdung deuten, aber eine Begutachtung nicht vollzogen werden kann, da die betroffene Person die Wohnungstür nicht öffnet. Bei Gefahr im Verzuge muss zur Verhinderung des drohenden Schadens sofort eingeschritten werden. Andernfalls wäre der Erfolg der notwendigen Maßnahme gefährdet, d.h. die eigentliche Abfolge notwendiger Maßnahmen, bzw. die normale Verfahrensweise von Behörden und Gerichten, ist nicht durchführbar. Sonst können die Schäden bedeutsamer Rechtsgüter, vor allem großen Ausmaßes, nicht verhindert werden. Dies sind vor allem Sachlagen die auf Grundlage des § 34 StGB rechtfertigender Notstand betrachtet werden, wie z.B. medizinische Notfallbehandlungen, mit denen man in der Arbeit des SpDi auch konfrontiert wird. Generell sind jedoch durch die PsychK(H)Gs, das Betreuungsgesetz und die jeweiligen Polizei- und Ordnungsgesetze der Länder hinreichende Möglichkeiten einstweiliger Maßnahmen durch die Behörden gewährleistet. Die Erheblichkeit von Gefahren wird im Einzelfall beurteilt. Hierbei geht es um die Schwere, das Ausmaß der (möglichen) Beeinträchtigung bedeutsamer Rechtsgüter wie Leib, Leben, Gesundheit und Freiheit einer Person. Eine Prüfung erfolgt dabei auf dem Boden der grundgesetzlich verankerten Werteordnung. “ „Je größer und folgenschwerer der mögliche eintretende Schaden ist, desto geringer sind die Anforderungen, die an die Prüfung einer Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen sind.“ Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 45, 51 vom 26. Februar 1974) Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 85 Grundlagen Das heißt, dass der mögliche Schadenseintritt umso weiter entfernt liegen kann je bedeutender das gefährdete Rechtsgut und auch das Ausmaß der Schädigung ist. Eine Gefahr im Rechtssinne ist auch gegeben bei begründetem Gefahrenverdacht, dann also, wenn eine anzunehmende Gefahr durch Tatsachen erhärtet ist. Die jeweiligen Ordnungsbehörden sind für die Gefahrenabwehr zuständig. Die Polizei als Ordnungsbehörde hat einen subsidiären Auftrag in der Gefahrenabwehr, das heißt: Sie ist zuständig, wenn Maßnahmen durch die jeweiligen zuständigen Ordnungsbehörden nicht gewährleistet oder nicht möglich sind. Die Zuständigkeiten ergeben sich aus den jeweiligen Rechtsgrundlagen des Bundes und der Länder. In der Arbeit des öffentlichen Gesundheitswesens - und damit in der Arbeit des SpDi sind die Behörden für die Gefahrenabwehr im Gesundheitswesen zuständig. Die ordnungsbehördlichen Zuständigkeiten liegen bei den Polizei- und Ordnungsgesetzen, z.B. Allgemeine Sicherheits-und Ordnungsgesetz Berlin, Anlage Zuständigkeitskatalog Ordnungsaufgaben. In Berlin ist bspw. das Bezirksamt/Gesundheitsamt auch die zuständige Ordnungsbehörde für die Gefahrenabwehr im öffentlichrechtlichen Raum. Das ist in den Gesundheitsdienstgesetzen und PsychK(H)Gs der Länder geregelt. Damit ergibt sich aufgrund der föderalen Strukturen eine unterschiedliche Zuständigkeit und somit auch Unterschiede in notwendigen Antragstellungen nach dem PsychK(H)G. Für das Handeln des SpDi muss bei einer krankheitsbedingte Gefahren immer eine Krankheit im Rechtssinne vorliegen, d.h.: eine psychische Krankheit, vergleichbare psychische Störung, Suchtkrankheit, geistige Behinderung und 86 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst eine aus dieser Krankheit heraus resultierende Gefahr vorliegen (Kausalität). Das heißt, dass sich aus den Symptomen heraus die Gefahr für bedeutende Rechtsgüter ergibt, wie z. B. bei einem an einer fortgeschrittenen Demenz erkrankten Menschen, der im Winter nur leicht bekleidet ohne Beachtung der Verkehrsregeln auf die Straße läuft. Bevor die Demenz (Krankheit) vorlag, kleidete sich die Person witterungsbedingt sicher angemessen und beachtete die Verkehrsregeln. Das heißt, dass eine Gefährdung für sich und andere jetzt aus den Symptomen der schweren Demenz resultiert. Im Rahmen der Arbeit in der Sozialpsychiatrie spricht man damit von der krankheitsbedingten Fremdgefährdung und der Eigengefährdung. Die Fremdgefährdung im engeren Sinne ist: körperliche Unversehrtheit, Leib und Leben sind bedroht (Grundgesetz) keine Fremdgefährdung:-- Belästigung-- Beleidigung-querulatorische Verhaltensweisen-- lästige Verhaltensweisen-Sachbeschädigung Eigenfährdung ist: Suizidalität Eigengefährdung muss nicht zielgerichtet sein: -- akut selbstgefährdende Fehlhandlungen (z.B. Selbstschädigung aus psychotischer Motivation, Verwirrtheit, Selbstgefährdung verwirrter Personen im öffentlichen Verkehrsraum…) -- Hilflosigkeit mit Gefahr des Verhungerns, Erfrierens etc. -- krankheitsbedingte Verweigerung von Nahrung und lebensnotwendigen Medikamenten Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 87 Grundlagen -- krankheitsbedingte Verkennung akut lebensbedrohlicher Erkrankungen/Nichtbehandlung körperlicher Leiden Im Betreuungsrecht bei gesundheitlichem Schaden aber auch: Chronifizierung mit Persönlichkeitsabbau bei unbehandelter Erkrankung (Schizophrenie, Manie) z.T. krankheitsbedingte schwerste Verwahrlosung in menschenunwürdiger Umgebung Zum gesundheitlichen Schaden gibt es keine einheitliche Definition, sodass medizinische und juristische Auffassungen oft divergieren. Als praktische Darstellung hat sich die Einordnung des gesundheitlichen Schadens auf den 4 Ebenen bewiesen. (Steinert et al. 2016): strukturelle Organschäden subjektives Leiden Störung der sozialen Teilhabe Funktionsstörung (Störung der Einsichts- und Selbstbestimmungsfähigkeit) Im Rahmen der Arbeit im öffentlichen Gesundheitswesen ist dabei gerade in Unterbringungs-Angelegenheiten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit immer zu beachten. Maßnahmen müssen immer: geeignet erforderlich angemessen sein. Das heißt: Einschränkungen der Grundrechte des Einzelnen sind nur so weit verhältnismäßig, wie es zum Schutze der bedeutenden Rechtsgüter (öffentliche Sicherheit und Ordnung) notwendig, zielführend und angemessen erscheint. Öffentlich-rechtliche Interessen und Rechtsgüter müssen gegeneinander abgewogen werden und das mildeste Mittel muss gewählt werden. 88 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Der Freiheitsanspruch des Einzelnen ist immer zu beachten und der Eingriff in dieses Grundrecht muss demnach verhältnismäßig sein. Die Maßnahme einer zwangsweisen Unterbringung muss also dazu führen, dass die Gefahr beseitigt werden kann, also ist sie geeignet und erforderlich. Die Maßnahme sollte auf das geringstmögliche Maß beschränkt sein, darf nur angewendet werden, wenn keine weniger eingreifende oder weniger nachteilige Maßnahme zur Verfügung steht. Der Eingriff ist unerlässlich, da sonst ein Schaden eintritt. Er sollte auch zeitlich in einem angemessenen Rahmen stattfinden. Amtsrichterliches Unterbringungsverfahren Das gerichtliche Verfahren der Unterbringungen der PsychK(H)Gs und dem Betreuungsgesetz ist im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG dort §§ 312 ff) festgelegt und erfolgt daher bundeseinheitlich. Die inhaltlichen Entscheidungen unterliegen der richterlichen Unabhängigkeit. Unterbringungs-Angelegenheiten werden am zuständigen Amtsgericht verhandelt. Die Betroffenen sind unabhängig von der Geschäftsfähigkeit in Unterbringungssachen verfahrensfähig. Neben der persönlichen Anhörung der Betroffenen (§ 319 FamFG) wird im Rahmen der förmlichen Beweisaufnahme ein Sachverständigengutachten (§321 FamFG), beziehungsweise ein ärztliches Zeugnis, bei Unterbringungen nach den PsychK(H)Gs, eingeholt. in diesem muss die Notwendigkeit der Maßnahme begründet werden. Ärztliche Zeugnisse oder SachverständigenGutachten müssen dabei jeweils mindestens von einem in Psychiatrie erfahrenen Arzt ausgestellt sein (Anm.: es handelt sich hierbei um einen ungenauen Begriff. Oft wird für Sachverständigen-Gutachten im Rahmen des Betreuungsrechtes eine mindestens 2-jährige Erfahrung im Bereich der Psychiatrie vorausgesetzt, in Unterbringungssachen nach dem PsychKG ist ein halbes Jahr ausreichend, wie es für den FA ÖGW auch gefordert ist.) Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 89 Grundlagen Dabei sind einstweilige Anordnungen bei dringenden Gefahrenlagen oder auch Gefahr im Verzuge im FamFG §§331 -333 geregelt. Einstweilige Unterbringungen erfolgen durch den Amtsrichter, mit zusätzlichem ärztlichem Zeugnis über die krankheitsbedingte Gefährdung. Die Unterbringung erfolgt für maximal 6 Wochen und kann auf weitere 6 Wochen verlängert werden. In einem nächsten Schritt wird ein Sachverständigengutachten eingeholt. Unterbringung nach dem Betreuungsrecht Wenn “ „die Gefahr besteht, dass [..][ein Betreuter oder Vollmachtgeber] sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, [und] die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann“ ist zum Wohl des Betroffenen eine Unterbringung nach dem § 1906 BGB erforderlich. Die Unterbringung nach dem BGB kann dabei je nach Art der vorliegenden Eigengefährdung und der daraus resultierenden notwendigen Hilfe in einem Krankenhaus, aber auch in einem geschlossenen Heim, für längstens 2 Jahre angeordnet werden. Dabei muss der Betreuer die Aufgabenkreise “Aufenthaltsbestimmung” und “Gesundheitssorge” innehaben und einen gesonderten Antrag beim zuständigen Amtsgericht stellen. Nach Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens bedarf es der Genehmigung des Gerichts, da es sich um Eingriffe in das Grundrecht der betroffenen Person wie die körperliche Unversehrtheit handelt. Dabei bestehen, wie im Fließschema dargestellt, grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Unterbringung nach dem BGB. 90 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Abbildung 9: Vorgehen bei Selbstgefährdung Im normalen Verfahren stellt ein Betreuer oder Vollmachtnehmer einen Antrag auf Unterbringung des Betroffenen (bei Eigengefährdung) beim zuständigen Amtsgericht. Im Hauptsacheverfahren erfolgt dann eine gerichtliche Entscheidung über die beantragte Zwangsunterbringung nach Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens. Ist Gefahr im Verzug oder ein Betreuter befindet sich bereits im Krankenhaus, möchte dieses aber trotz vorliegender Eigengefährdung verlassen, kann der Betreuer den Aufenthalt bestimmen. Es erfolgt dann mit begleitender ärztlicher Stellungnahme, in der die bestehende krankheitsbedingte Eigengefährdung dargestellt wird, ein Antrag auf Unterbringung. Es erfolgt dann nach richterlicher Anordnung eine einstweilige gerichtliche Unterbringung für längstens 6 Wochen danach wird das eigentliche Hauptsacheverfahren eröffnet. Die Unterbringung wird dabei von der jeweiligen Betreuungsstelle, u.U. mit Amtshilfe, organisiert und durchgeführt. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 91 Grundlagen Eine Unterbringung nach dem BGB ist bei Eigengefährdung einer betroffenen bereits betreuten Person einer Unterbringung nach dem PsychK(H)G vorzuziehen und muss als bundesgesetzliche Regelung auch Vorrang finden ("Bundesrecht vor Landesrecht als milderes Mittel"). Unterbringung nach dem PsychK(H)G Die Zwangsunterbringungen bei krankheitsbedingter Eigen- und Fremdgefährdung sind in den PsychK(H)Gs der Länder ausgeführt. Dort heißt es‚ “ "wer infolge einer psychischen Störung sein Leben oder seine Gesundheit erheblich gefährdet oder bedeutende Rechtsgüter anderer erheblich gefährdet, oder in erheblichem Maße die öffentliche Sicherheit gefährdet, muss , wenn die Gefahr nicht anders abzuwenden ist, untergebracht werden." Dabei erfolgen Unterbringungen immer unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit als letzte Möglichkeit zur Gefahrenabwehr (siehe: Fließschema Eigen- und Fremdgefährdung). Abbildung 10: Fließschema Eigen- und Fremdgefährdung 92 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Die Ausführung der Unterbringung geschieht zumeist über Anträge des zuständigen Ordnungsamts, Gesundheitsamts oder auch durch die Polizei. In manchen Ländern sind auch hoheitlich beliehene Krankenhäuser oder der Rettungsdienst/Notarzt antragsberechtigt. Je nach Länderausführungen ist dem Antrag ein ärztliches Zeugnis beizufügen. In HE darf die Exploration nicht länger als 14 Tage zurückliegen, in MV, RP eine Woche, in SA, SL, TH nicht länger als 3 Werktage und SA, NI, NRW, SH nicht länger als 1 Tag. Wenn dringende Gründe bestehen, dass die Voraussetzungen einer Unterbringung bestehen, kann diese auch vorläufig vorgenommen werden. Das zuständige Gericht muss anschließend unverzüglich benachrichtigt werden und der Beschluss des Amtsgerichtes muss bis zum Ablauf des Folgetages vorliegen. Ausnahmen bilden BadenWürttemberg und Thüringen, dort kann der SpDi eine vorläufige Unterbringung, längstens für 24 Stunden anordnen in BBG muss die richterliche Anhörung binnen 24 Stunden erfolgt sein. Erfahrungsgemäß werden Unterbringungen nach den PsychK(H)Gs nicht im Regelverfahren, sondern fast ausschließlich durch vorläufige Unterbringungen eingeleitet. Beispiel: Unterbringung nach dem PsychK(H)G und Betreuungsrecht Als Beispiel kann man hier an eine 35-jährige schizophrene Frau denken, die gelernte Erzieherin ist und 5 Jahre in dem Beruf tätig war. Sie lebte zusammen mit ihrem damaligen Lebensgefährten in einer 3-Raumwohnung und war als zuverlässige, freundliche Kollegin sehr geschätzt. Sie war im letzten Jahr ihrer beruflichen Tätigkeit wegen Depressionen und Angststörungen krankgeschrieben (Anm.: wahrscheinlich Prodromalstadium einer schizophrenen Erkrankung). Die 35-jährige Frau wurde bei Erstdiagnose einer paranoidhalluzinatorischen Schizophrenie einmalig drei Wochen stationär psychiatrisch behandelt. Es erfolgte damals eine vorläufige behördliche Unterbringung mit nachfolgendem Beschluss des Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 93 Grundlagen Amtsgerichts wegen Fremdgefährdung nach dem PsychK(H)G. Hintergrund war eine krankheitsbedingte Gefährdung ihres damaligen Lebensgefährten. Bei der Frau bestand ein systematisierter Wahn, sie verkannte ihren Freund als feindlichen Alien, der sie vergiften wollte (->Symptome einer psychischen Krankheit bestehen, damit ist das Eingangsmerkmal einer Person mit psychischer Krankheit erfüllt). Der Lebensgefährte hatte sich schon mehrmals hilfesuchend an den SpDi gewendet, Hausbesuche fanden statt, eine psychiatrische Behandlungsnotwendigkeit wurde erkannt, wobei die Betroffene den Empfehlungen nicht nachkam, und mehrmals weitere Gespräche mit den Mitarbeitern des SpDi ablehnte. Bereits zum damaligen Zeitpunkt zeigte sie verbale Aggressionen gegen den Lebensgefährten und spuckte ihn an, beschimpfte Anwohner als menschenfressende Aliens (->noch keine Gefahr für bedeutende Rechtsgüter anderer, aufsuchende Arbeit erfolgt, Beratung und Hilfsangebote siehe PsychK(H)G wurden vermittelt aber die Betroffene kam den Maßnahmen freiwillig nicht nach). Am Tag der Einweisung rief der Lebensgefährte aus einer akuten Notlage heraus an. Er hatte sich im Schlafzimmer verbarrikadiert, nachdem sie ihn tätlich angegriffen hatte. Sie hatte in der Küche unvermittelt mit einem Schneidebrett mehrmals nach ihm geschlagen (er gab an eine kleine Kopfplatzwunde zu haben, später bestätigt) und habe dann nach einem Messer gegriffen und versucht ihn abzustechen und immer wieder gebrüllt “ich bringe dich um” wobei der Partner sich in das Schlafzimmer flüchten konnte. Den Notruf hatte er schon getätigt. Die Polizei und Feuerwehr konnten die Wohnung demnach bei weiterer Gefahr im Verzug ohne Richtervorbehalt betreten. Die erkrankte Person konnte ohne Gegenwehr überwältigt werden und war bei ihrem Eintreffen kooperativ und ruhig, stimmte einer Krankenhausbehandlung zu, wenn sie dort vor Aliens sicher sei. 94 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Die Voraussetzungen einer zwangsweisen Unterbringung nach dem PsychK(H)G sind demnach gegeben. Es besteht eine Krankheit aufgrund derer bedeutende Rechtsgüter anderer (Leben des Freundes) gefährdet sind. Die Betroffene ist zwar ruhig und kooperativ und stimmt einer freiwilligen Aufnahme zu. Die Freiwilligkeit ist dabei aber nicht tragfähig. Im Rahmen wahnhafter Verkennung bei unbehandelter Schizophrenie besteht eine gegenwärtige erhebliche Fremdgefahr fort. Es besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Frau neben ihrem Lebensgefährten (bereits erfolgte Körperverletzung) auch andere Menschen verkennt und ihnen dann Schaden zufügen wird. Eine maßgebliche Freiwilligkeit besteht nicht, da die Freiwilligkeit nur unter der Voraussetzung der Abwesenheit der krankheitsbedingten Symptome angenommen wird. Alternativen ergeben sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht. Freiwillige Maßnahmen im Vorfeld wurden nicht angenommen und im Rahmen der akuten Psychopathologie steht die Gefahrenabwehr, die nur unter geschlossenen Bedingungen gewährleistet werden kann, im Vordergrund. Demnach erfolgt eine vorläufige behördliche Unterbringung der Betroffenen im zuständigen psychiatrischen Krankenhaus und ein Antrag auf Unterbringung der Betroffenen beim zuständigen Amtsgericht für die Dauer von vorerst 3 Wochen. Dies erscheint bei vorliegendem Krankheitsbild mit Erstbehandlung vorerst ausreichend. Es erfolgte nach Anhörung durch den Richter am Folgetag der Beschluss der Unterbringung für 14 Tage. Im Nachgang wurde eine Verlängerung bei weiterer anzunehmender Fremdgefährdung bei noch persistierenden Symptomen für weitere 9 Tage beschlossen, wobei die Erzieherin noch weitere 4 Tage freiwillig stationär psychiatrisch behandelt wurde. Im Anschluss erfolgte für 1,5 Jahre eine ambulante Weiterbehandlung. Nach langsamer Reduktion des Antipsychotikums brach die Frau bei erneuter Exazerbation die Weiterbehandlung ab und nahm keine anderen alternativen Hilfen an. Voraussetzungen zwangsweiser Maßnahmen bestanden hier nicht. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 95 Grundlagen Circa 4 Jahre später meldete die Hausverwaltung eine schwere Wohnungsverwahrlosung bei der Betroffenen, wobei eine Kündigung des Mietverhältnisses bereits erfolgt war. Trotz Beschwerden der Nachbarn und Aufforderungen der Hausverwaltung die Wohnung zu säubern, um Brandgefahren und Belästigungen der Mitmieter zu beseitigen, zeigte sich keine Änderungsmotivation der Betroffenen. Ein Zugang zur Wohnung wurde durch die Betroffene nicht erlaubt. Sie wollte auch nicht in Kontakt mit dem SpDi treten. Voraussetzungen einer zwangsweisen Vorführung zur Untersuchung nach dem PsychK(H)G ergaben sich nicht, ebenso wenig kam ein Betreten der Wohnung im Rahmen des PsychK(H)G, bzw. Ordnungsrechts ohne dringende Gefahr oder Gefahr im Verzug in Frage. Es erfolgte ein behördlicher Antrag auf Errichtung einer rechtlichen Betreuung für die Betroffene, mit dem Hintergrund einer bekannten nicht behandelten Schizophrenie. Wobei die ehemalige Erzieherin und jetzt Langzeitarbeitslose mindestens ihre Angelegenheiten in den Wohnungsangelegenheiten nicht erledigte. Eine Begutachtung der Betroffenen fand, nach richterlichem Beschluss einer zwangsweisen Wohnungsöffnung zur Begutachtung, in der Häuslichkeit statt, nachdem eine Exploration nicht realisiert werden konnte und bereits das Verfahren einer Zwangsräumung eröffnet wurde. Im Rahmen der Ermittlungen hatte sich bereits gezeigt, dass die Betroffene keine sozialen Kontakte mehr pflegte. Ihre Mutter hatte sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, sie brachte ihr jeden zweiten Tag Lebensmittel, die sie an die Wohnungstür hängte. Die Mutter stand in Kontakt mit dem Jobcenter - nur für diesen Bereich lag eine Vollmacht vor - da ihre Tochter keine Anträge mehr gestellt hatte und kurzfristige Mietschulden aufgetreten waren. Damit ergaben sich Tatsachen für den Richter, die einer zwangsweisen Vorführung zur Untersuchung im BGB Genüge taten. 96 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Nach Begutachtung wurde eine Betreuung in sämtlichen Aufgabenkreisen nach dem §1896ff BGB eingerichtet. Der rechtliche Betreuer stellte im Nachgang einen Antrag auf Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1906 BGB. Eine Unterbringung wurde von Seiten des Sachverständigen im Rahmen einer chronifizierten unbehandelten Schizophrenie für notwendig beschrieben, , aber vom Betreuungsgericht abgelehnt, sodass der Betreuer in Widerspruch trat. Es zeigte sich, dass die krankheitsbedingte Eigengefährdung nicht ausführlich dargelegt wurde nach einem Zweitgutachten, aus dem sich die krankheitsbedingte Eigengefährdung ergab, fand eine Unterbringung zur Heilbehandlung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung statt. Der zweite Gutachter zeigte auf, dass bei der betroffenen Frau ein krankheitsbedingter tiefgreifender Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit bestand. Im Rahmen der unbehandelten chronisch verlaufenden Schizophrenie zeigte sich ein Bruch gegenüber allen früheren Präferenzen, Einstellungen und Normen der Person. Diese war vor Krankheitsbeginn eine liebevolle, saubere, ordentliche und zuverlässige und beruflich tätige Person. Bei unbehandelter Schizophrenie zeigte sich ein erheblicher gesundheitlicher Schaden bei einem Persönlichkeitsabbau mit kognitiven Einschränkungen subjektivem Leiden bei akutem Wahn, in dem sie sich als Opfer und Versuchsperson von Aliens wähnte einer Berufsunfähigkeit sozialem Rückzug mit krankheitsbedingter Funktionsstörung Im Rahmen der schweren psychischen Erkrankung bestand ein tiefgreifender Verlust der Einsichts- und Selbstbestimmungsfähigkeit, der sich auch in der schweren Wohnungsverwahrlosung ausdrückte. Die Frau sah keine Notwendigkeit mehr aufzuräumen, war aber auch krankheitsbedingt nicht mehr dazu fähig und verließ die Wohnung nicht mehr. Eine Unterbringung zur Heilbehandlung wurde Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 97 Grundlagen empfohlen, da trotz jahrelanger Nichtbehandlung eine Besserung der Psychopathologie und des damit einhergehenden gesundheitlichen Schadens, bei damals gutem Ansprechen auf eine multimodale und vor allem auch medikamentöse psychosoziale-psychiatrische Therapie, hinreichend wahrscheinlich war und die Maßnahme mit Eingriff in die Grundrechte damit verhältnismäßig war. Versorgungslandschaft Selbsthilfe und soziale Unterstützung Der Mensch ist als soziales Wesen auf die Gemeinschaft der Mitmenschen angewiesen und kann sich den vielfältigen Konflikten, die in diesem Zusammenhang entstehen, nicht entziehen. Solche Konflikte können unter besonderen Belastungen im Verlauf der Lebensgeschichte und der aktuellen sozialen Lage in psychosoziale Krisen münden. Eine erfolgreiche Bewältigung einer Krise ist auch davon abhängig, wie ausgeprägt die Fähigkeiten zur Selbsthilfe sind und inwieweit soziale Unterstützung aus dem persönlichen Umfeld geleistet wird. Es ist wichtig, diese Möglichkeiten der Selbst- und Laienhilfe immer wieder neu zu entdecken, zu aktivieren und zu erweitern. Unter den Quellen sozialer Unterstützung für die gesunde Bewältigung von psychosozialen Konflikten und Krisen ist die vertraute Zweierbeziehung mit einer bedeutsamen Bezugsperson (Dyade) von besonderer Bedeutung. Sie wird ergänzt durch Familienangehörige, Freunde, Nachbarn und Bekannte, die das primäre Netzwerk sozialer Unterstützung bilden. Es zeichnet sich aus durch eine mehr oder minder große Vielfalt persönlicher Beziehungen. Diese werden mal enger, mal unverbindlicher gestaltet. Ein funktionierendes primäres Netzwerk wirkt in einem gewissen Grade ausgleichend, wenn eine vertraute Zweisamkeit entweder fehlt oder im Konfliktfall selbst Gegenstand der krisenhaften Entwicklung ist. Das sekundäre oder institutionelle Netzwerk umfasst die Organisationen der Gesellschaft, in denen die betreffende Person 98 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst mitwirkt. Dabei kann es sich um den Ausbildungs- oder Arbeitsplatz handeln, um Mitgliedschaften in Vereinen und Verbänden, um Kultureinrichtungen oder Kirchengemeinden. Je geringer diese Netzwerke ausgeprägt sind und je schneller sie reißen, desto eher wird der Einsatz von Fachleuten aus dem Netzwerk professioneller Hilfen zur Überwindung einer Krise benötigt und desto intensiver müssen diese sein (Abbildung: Das Netzwerk sozialer Unterstützung und professioneller Hilfen). Abbildung 11: Das Netzwerk sozialer Unterstützung und professioneller Hilfen In den letzten Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine vielfältige Selbsthilfe-Szene mit zahlreichen Gruppen für verschiedenste psychosoziale und gesundheitliche Problemlagen entwickelt. Den besten Überblick haben auf Bundesebene die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) sowie die kommunalen Informationsund Beratungsstellen (KIBIS) bzw. Kontakt- und Informationsstellen (KISS) im Selbsthilfebereich. Im Einzelfall sind diese auch bei der Vermittlung einer geeigneten Selbsthilfegruppe behilflich. Außerdem existieren zu vielen Krankheitsbildern – auch zu Süchten, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen – SelbsthilfeVereine zur Bündelung der Aktivitäten und Interessenvertretung auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. Die Vereine gründen oder unterstützen Selbsthilfegruppen vor Ort, schulen und beraten Mitglieder in Leitungs- bzw. Moderationsfunktionen, engagieren sich in der Öffentlichkeit und in Gremien für die Selbsthilfe- Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 99 Grundlagen Freundlichkeit des professionellen Hilfesystems. Sie beruhen zumeist auf ehrenamtlichen Aktivitäten, sie werden nur zum Teil und dann in der Regel unzulänglich von der öffentlichen Hand bzw. den Krankenkassen finanziell gefördert. Für die Selbsthilfe in der Psychiatrie haben noch zwei spezielle Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten eine besondere Bedeutung: Ausgehend von der Universität Hamburg haben sich vielerorts sogenannte trialogische Psychose-Seminare gebildet, in denen Betroffene, Angehörige und Fachleute außerhalb eines therapeutischen Kontextes ihre Erfahrungen austauschen. Und eine ursprünglich vom EU-Sozialfonds geförderte und speziell für Psychiatrie-Erfahrene entwickelte einjährige Ausbildung Experienced Involvement (EX-IN) vermittelt Kompetenzen für Genesungsbegleitung und Peer-to-Peer-Beratung. Eine Verknüpfung von Selbsthilfe und Versorgungssystem stellt die Ergänzende Unabhängige Teilhabe-Beratung (EUTB) nach § 32 SGB IX dar, die mit dem BTHG eingeführt wurde und Peer-Beratung anbietet. Überblick zum Versorgungssystem für psychisch erkrankte Menschen Deutschland verfügt über ein vergleichsweise hoch entwickeltes und umfangreiches Versorgungssystem für psychisch erkrankte Menschen, das durch Differenzierung, jedoch auch Fragmentierung und regionale Ungleichmäßigkeit gekennzeichnet ist. Differenziert ist es aufgrund starker Spezialisierung der Hilfsangebote, fragmentiert mangels Koordination der zahlreichen Kostenträger und Leistungserbringer, regional ungleichmäßig wegen des weitgehenden Verzichts auf psychiatriepolitische Steuerung. Trotz des erheblichen Einsatzes an Ressourcen werden viele Menschen mit zum Teil schwerwiegenden psychischen Erkrankungen, darunter häufig Suchterkrankungen, von den Angeboten dieses Versorgungssystems nicht erreicht. Das gilt insbesondere für Menschen, die von Arbeitsund Wohnungslosigkeit betroffen sind oder in anderen Institutionen 100 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst betreut werden, z.B. in Justizvollzugsanstalten, somatischen Kliniken, Alten- und Pflegeheimen. Neben der Selbsthilfe und sozialen Unterstützung im Lebensumfeld der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen sind im Vorfeld der psychiatrischen Versorgung allgemeine medizinische und soziale Hilfsangebote häufig erste Anlaufstellen. Dazu zählen: die Hausarztpraxen der kassenärztlichen Versorgung verschiedenste psychosoziale Beratungsangebote durch kommunale Sozialdienste, Familien- und ErziehungsBeratungsstellen (FEB) allgemeine Sozial- und Lebensberatungsstellen spezialisierte Beratungsstellen, z.B. für Schuldner und Menschen mit Suchtproblemen. Die Hausarztmedizin und der kommunale Sozialdienst (wo er noch existiert) werden notfalls sofort und ggf. auch aufsuchend tätig. Die anderen Beratungsangebote beschränken sich meist auf eine „KommStruktur" und führen oft Wartelisten, was ihre Nutzbarkeit in akuten psychosozialen Krisen und bei unzureichendem Hilfesuchverhalten der Betroffenen einschränkt. Das Versorgungssystem lässt sich für einen ersten Überblick gliedern in ambulante, teil- und vollstationäre Hilfsangebote in den Bereichen medizinische Behandlung und Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe und zur Pflege. Für die medizinische Behandlung (SGB V) in Krankenhäusern gibt es Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Erwachsenenpsychiatrie. Diese wiederum haben häufig spezielle Abteilungen für Gerontopsychiatrie, Suchterkrankungen und Psychosomatische Medizin. Für die medizinische Rehabilitation (SGB VI) existieren in Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern, ungewöhnlich viele Betten in Kliniken für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Suchterkrankungen. Die Kliniken des Maßregelvollzugs für psychisch kranke Straftäter werden von den Justizministerien der Bundesländer finanziert. Die Leistungen zur Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 101 Grundlagen Teilhabe umfassen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie solche zur sozialen Teilhabe, also zu Wohnen, Selbstversorgung, Kontaktfindung und Tagesgestaltung. Außerdem gibt es noch spezielle Leistungen zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familien sowie spezielle Leistungen der Suchthilfe (Gühne and Riedel-Heller 2019). Die Einrichtungen der Leistungserbringer können sich in öffentlicher, privater oder freigemeinnütziger Trägerschaft befinden, die Zuständigkeiten der Leistungsträger regelt das Sozialgesetzbuch (SGB). Abbildung 12: Netzwerk professioneller Hilfen für psychisch erkrankte Menschen Ein besonders Problem ist die ambulante psychosoziale Krisenintervention und psychiatrische Notfallhilfe, für die rund um die Uhr ein interdisziplinäres Team mit der Fähigkeit zu sofortiger aufsuchender und nachgehender Hilfe bereitstehen muss. Dies ist allerdings bisher nur in wenigen Kommunen realisiert. Allerdings lässt sich nur mit einem solch niedrigschwelligen Angebot, das für ein umschriebenes Gebiet zuständig und mit allen dort aktiven Systempartnern gut vernetzt ist, der Einsatz von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie auf ein Minimum reduzieren. So ein Kriseninterventionsdienst (KID) betrifft medizinische Behandlung und komplementäre Versorgung, er müsste gemeinsam von den vor Ort tätigen Leistungserbringern organisiert und den verschiedenen 102 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Leistungsträgern finanziert werden. Im Rahmen ihrer Verantwortung für die Daseinsfürsorge psychisch beeinträchtigter Bürgerinnen und Bürger sind dabei auch die kommunalen Gebietskörperschaften mit ihrem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Pflicht. Medizinische Behandlung und Rehabilitation Leistungsträger der medizinischen Behandlung (SGB V) ist die Krankenversicherung, die neben der Rentenversicherung (SGB VI) auch für die medizinische Rehabilitation zuständig ist. Die ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung im Rahmen der Kassenärztlichen Versorgung (KV) führen entsprechend qualifizierte Fachleute meist in einer freiberuflichen Einzel- oder Gruppenpraxis durch. Daneben haben sich aufgrund entsprechender gesetzlicher Regelungen inzwischen viele sogenannte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) etabliert, in denen Angehörige von mindestens zwei Fachgebieten im Angestelltenverhältnis tätig sind. Träger eines MVZ können die dort tätigen Fachleute sein, aber auch die KV, eine Klinik oder eine Kommune. Zur Unterstützung der Behandlung können unter bestimmten Bedingungen auch Leistungen der Behandlungspflege und der Soziotherapie eingesetzt werden. Zwei Probleme schränken die Wirksamkeit all dieser Hilfsangebote im Rahmen des KV-Systems ein und sind ein Grund für die verbreitete Über-, Unter- und Fehlversorgung in der Psychiatrie: Sie sind erstens regional ungleichmäßig verteilt und vor allem in großen Städten anzutreffen, und sie können zweitens meist nur über eine Terminvergabe mit langer Wartezeit in Anspruch genommen werden. Für spezialfachärztlich ambulante Behandlungen gibt es einige Sonderformen: Ausgewiesene Fachleute, wie z.B. die ärztliche Leitung einer psychiatrischen Klinik, können von der KV eine zeitlich befristete persönliche Ermächtigung zur ambulanten Behandlung ansonsten unterversorgter Patientengruppen erhalten. Die meisten psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Kliniken betreiben multidisziplinär besetzte Institutsambulanzen für Patientinnen und Patienten, die vom KV-Regelsystem nicht erreicht Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 103 Grundlagen bzw. nicht ausreichend behandelt werden können. Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) und Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) können bei entsprechender Spezialisierung unter Umständen auch psychisch erkrankte Minderjährige, bzw. Erwachsene mit Behinderungen ambulant versorgen. Viele Fachstellen für Sucht und Suchtprävention bieten im Rahmen eines erweiterten Leistungsspektrums auch ambulante Rehabilitation im Auftrag der RV an. Eine psychiatrische oder psychotherapeutisch-psychosomatische Klinik kann als Abteilung am Allgemeinkrankenhaus oder als Sonderkrankenhaus betrieben werden. Die meisten psychiatrischen Kliniken haben einen Versorgungsauftrag des Landes für die Unterbringung psychisch erkrankter Menschen nach den entsprechenden Landesgesetzen. Die organisatorische Gliederung einer Klinik ist sehr unterschiedlich, abhängig von der Bettenzahl, der Größe des Einzugsgebietes und den Vorlieben ihrer Geschäftsführung, bzw. ihrer ärztlichen Leitung. Kleinere Abteilungen am Allgemeinkrankenhaus verfolgen für ihre Stationen eher das Prinzip der „Durchmischung", große Sonderkrankenhäuser gehen oft den Weg der „Spezialisierung" mit besonderen Stationen für die verschiedensten Krankheitsbilder. Diese Wahl betrifft auch Tageskliniken und Institutsambulanzen, die bei größeren Einzugsgebieten zwecks besserer Erreichbarkeit auch außerhalb des Klinikgeländes dezentral lokalisiert sein sollten. Mit der Einführung der sogenannten stationsäquivalenten Behandlung (StäB) können psychiatrische Kliniken seit 2018 unter bestimmten Voraussetzungen stationär behandlungsbedürftige Patientinnen und Patienten auch aufsuchend im gewohnten Lebensumfeld behandeln (Home Treatment). Eine medizinische Rehabilitation für psychisch kranke Menschen ist z.B. durch die RPK Richtlinien vorgesehen. Die entsprechenden Einrichtungen zur kombinierten medizinischen und beruflichen Rehabilitation wurden jedoch nur an relativ wenigen Standorten eingerichtet. Inzwischen wird das Konzept der “virtuellen RPK” 104 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst favorisiert, d.h. die Funktionen sollen, ohne eine neue eigenständige Organisation zu schaffen, in bestehenden Angeboten durchlaufen werden. Auch dies erfolgt nur sehr zögerlich. An einigen Orten gibt es die schon vor Erlass dieser Richtlinie entstandenen Übergangseinrichtungen für psychisch kranke Menschen (sogenannte Übergangsheime), wo vollstationäre medizinische Rehabilitation für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, in der Regel im Auftrag der DRV oder ggf. des Eingliederungs-Hilfeträgers, durchgeführt wird. Angebote der wohnortnahen ganztägig ambulanten medizinischen Rehabilitation gibt es nur in einigen Bundesländern, obwohl es im Hinblick auf die Vorgaben der UN-BRK zu Habilitations- und Rehabilitationsdiensten die am besten geeignete Maßnahme wäre. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Die Teilhabe am Arbeitsleben hat in unserer Leistungsgesellschaft eine hohe Bedeutung für die subjektive Sinngebung, den sozialen Status und die gesellschaftliche Integration. Das gilt auch für psychisch erkrankte Menschen. Entsprechend der Forderungen der UN-BRK nach Inklusion aller Menschen mit Behinderungen müssen die rehabilitativen Bemühungen eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzielen. Wenn sie in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit vorübergehend oder längerfristig eingeschränkt sind, wollen und können sie doch in den meisten Fällen mit entsprechender Förderung gesellschaftlich nützliche Arbeiten verrichten. Doch gerade in diesem Bereich fehlen für sie trotz großer Vielfalt an Instrumenten weithin geeignete Angebote, die ein auf individuelle Belastbarkeit und inhaltliche Interessen ausgerichtetes wohnortnahes Training ermöglichen. Die diesbezüglichen Ausgangslagen psychisch erkrankter Menschen sind ebenso vielfältig wie die im Einzelfall eventuell geeigneten Instrumente, ihnen eine Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen (Abbildung 10). Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 105 Grundlagen Abbildung 13: Vielfalt der Ausgangslagen psychisch erkrankter Menschen Schwerpunkt der Beschäftigungsangebote für Menschen mit schwereren psychischen Beeinträchtigungen ist immer noch der „besondere" Arbeitsmarkt, vor allem in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Deutlich geringer und über Deutschland sehr ungleich verteilt sind die Trainingsplätze in Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation psychisch Kranker (RPK). Offiziell dienen RPK-Einrichtungen und WfbM der Vorbereitung auf den ersten (allgemeinen) Arbeitsmarkt (first train, then place). In vielen Untersuchungen hat sich jedoch die bisher wenig geförderte Unterstützte Beschäftigung (supported employment) auf einem Arbeitsplatz des ersten Arbeitsmarktes als wirksamer erwiesen (first place, then train). Die Arbeit dort sollte mit der betroffenen Person nach ihren Interessen und ihrer Belastungsfähigkeit ausgewählt und bei Bedarf auch längerfristig durch eine Arbeitsassistenz (Jobcoach) begleitet werden. 106 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Als erwerbsfähig auf dem ersten Arbeitsmarkt gilt, wer dort mindestens drei Stunden pro Tag belastbar ist. Wer erwerbstätig ist, kann bei Bedarf eine Arbeitsassistenz durch den Integrationsfachdienst (IFD) für Schwerbehinderte im Arbeitsleben in Anspruch nehmen. Eine andere Möglichkeit nach SGB IX (Teil 3) ist die Beschäftigung in einer sogenannten Inklusionsfirma, die eine Förderung erhält, wenn sie mindestens 25% schwerbehinderte Personen beschäftigt. Für Arbeitssuchende auf dem ersten Arbeitsmarkt offeriert die Agentur für Arbeit (SGB III), bzw. das Jobcenter (SGB II) verschiedene Fördermaßnahmen zur Aus- und Weiterbildung, Arbeitsaufnahme und Überwindung von Vermittlungshemmnissen. Spezielle Programme gibt es für Menschen unter 25 Jahren und Langzeitarbeitslose, für Menschen mit Behinderungen und zur Beschäftigung von geflüchteten Menschen. Auch Möglichkeiten für einen Zuverdienst gibt es auf dem ersten Arbeitsmarkt. Unterhalb des Belastungsniveaus für den ersten Arbeitsmarkt stellt sich die Frage, ob die betroffene Person in der Lage ist, mindestens vier Stunden pro Tag eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen. Ist das der Fall, sind nach dem BTHG (SGB IX, Teil 2) Rehabilitationsleistungen in einer WfbM möglich. Mancherorts gibt es die WfbM als virtuelle Variante ohne eigene Produktionsstätte mit betreuten Arbeitsplätzen in Firmen des ersten Arbeitsmarktes. Eine weitere, von Menschen mit einer seelischen Behinderung jedoch recht selten genutzte Möglichkeit, ist das Budget für Arbeit. Damit kann die leistungsberechtigte Person mit dem Geld für ihren WfbMArbeitsplatz zu einem anderen Leistungsanbieter oder einer Firma des ersten Arbeitsmarktes wechseln, wo sie dann beschäftigt und betreut wird. Liegt die wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung unter vier Stunden pro Tag, ist immer noch ein Zuverdienst möglich – auch auf dem besonderen Arbeitsmarkt, z.B. auch in einer Tagesstätte für Menschen mit einer seelischen Behinderung. Besondere Maßnahmen sind erforderlich, wenn die Fragen zur Erwerbsfähigkeit, bzw. zur wirtschaftlich verwertbaren Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 107 Grundlagen Arbeitsleistung noch nicht eindeutig zu beantworten sind und es erst einmal um Abklärung, Stabilisierung, Belastungserprobung und Arbeitstraining geht. Das niedrigste Einstiegsniveau bietet die Arbeitstherapie auf Heilmittelverordnung in einer ambulanten Ergotherapie-Praxis oder in speziellen Arbeitstherapie-Gruppen während einer ambulanten, teil- und vollstationären Behandlung in einer Klinik (SGB V). Eine nächste Stufe auf diesem Weg können RPKEinrichtungen sein, die ambulante und/oder stationäre medizinische (SGB V) und berufliche (SGB VI) Rehabilitation für einen begrenzten Zeitraum integriert anbieten. Mit dem seitens der Leistungsträger geforderten immer höheren Anteil erfolgreicher Vermittlungen auf dem ersten Arbeitsmarkt erhöhen sich für die betroffenen Menschen allerdings die Barrieren vor der Inanspruchnahme einer RPKMaßnahme. Weitere Spezialeinrichtungen zur beruflichen Rehabilitation mit noch anspruchsvolleren Zugangsvoraussetzungen sind Berufliche Trainingszentren (BTZ), Berufsförderungswerke (BFW) und Berufsbildungswerke (BBW). Leistungen zur sozialen Teilhabe und zur Pflege Die gesetzlichen Grundlagen für Leistungen zur sozialen Teilhabe wurden in Westdeutschland durch das 1962 verabschiedete Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Form von steuerfinanzierten Eingliederungshilfen (EGH) geschaffen. Das BSHG wurde 2005 vom SGB XII abgelöst Mit dem 2017 in Kraft getretenen Bundesteilhabegesetz (BTHG) sind ab 2020 alle Regelungen zur EGH, die nun auch eine Form der Rehabilitation ist, Bestandteil des SGB IX (Teil 2). Mit dem BTHG reagiert der Gesetzgeber auf die Forderungen der UN-BRK und übernimmt deren Behindertenbegriff: Die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen wird nicht nur durch individuelle körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigungen eingeschränkt, sondern auch durch einstellungsbedingte und/ oder umweltbedingte Barrieren. Menschen mit Behinderungen sind durch Maßnahmen zur Rehabilitation in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit und Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung und Teilhabe bezogen auf alle Aspekte des Lebens zu 108 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst erlangen. Die Umsetzung des BTHG erfolgt zwischen 2017 und 2023 in vier Reformstufen und beinhaltet zahlreiche Veränderungen, deren Folgen für die Erbringung von EGH-Leistungen und ihre Finanzierung vielfach noch nicht absehbar sind. Bei der EGH für Menschen mit seelischen Behinderungen (einschließlich Suchterkrankungen) gibt es im Hinblick auf Art und Umfang der Angebote sowie Planung und Finanzierung der Leistungen zwischen Kommunen und Bundesländern teilweise große Unterschiede. Bei den Hilfen zum Wohnen wird grundsätzlich unterschieden zwischen stationärer Betreuung im Heim (jetzt „besondere Wohnform" genannt), ambulant betreutem Wohnen und als Sonderform Wohnen in Gastfamilien (Abbildung 11). Die Anzahl der Leistungsberechtigten pro 1.000 Einwohner/innen. im EGHBereich Wohnen lag bei den 23 Trägern der überörtlichen Sozialhilfe 2017, bezogen auf alle drei Behinderungsarten (geistig, seelisch, körperlich), zwischen 3,1 und 7,7 (Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) 2017). Menschen mit seelischen Behinderungen werden vergleichsweise häufiger ambulant betreut, der Ambulantisierungsgrad schwankt hier je nach Einzugsgebiet des Sozialhilfeträgers zwischen 47% und 91%; bei den anderen Behinderungsarten schwanken die Werte zwischen 11% und 49%. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 109 Grundlagen Abbildung 14: Kennzeichen betreuter Wohnformen für psychisch kranke Menschen (modifiziert nach DGPPN (2013) S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen) Das ambulant betreute Wohnen (abW, BEWO, BEW) als EGH-Leistung, auch „mobil unterstütztes Wohnen" genannt, zielt auf die Stabilisierung des psychosozialen Zustands und Förderung der Teilhabe am Leben der Gemeinschaft. Die Leistungsinhalte beschränken sich nicht nur auf Wohnen und Selbstversorgung, sondern umfassen auch die Bereiche soziale Beziehungsgestaltung und kulturelle Teilhabe Selbstbestimmung und Krankheitsverarbeitung Gesundheitsförderung Inanspruchnahme erforderlicher medizinischer Behandlung Mobilität administrative Hilfen und Fallkoordination Hier wird es zukünftig bei der Gesamt-, bzw. Teilhabeplanung verstärkt darum gehen, die Notwendigkeit fachlich qualifizierter Leistungen der ambulanten Eingliederungshilfe gegenüber einer Begleitung durch höchstens angelernte Assistenzkräfte zu rechtfertigen. Von einer abW-Maßnahme abzugrenzen sind Leistungen zur Pflege, sei es als Hilfe zur Pflege nach SGB XI oder als Psychiatrische Häusliche Krankenpflege (PHKP) nach SGB V, früher auch 110 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst „Ambulante Psychiatrische Pflege (APP)" genannt. Aufgrund einer Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs werden psychische Beeinträchtigungen inzwischen bei der Prüfung des Anspruchs auf Pflegeleistungen ähnlich ernst genommen wie körperliche Beeinträchtigungen. PHKP-Leistungen zielen auf die Vermeidung, bzw. Verkürzung eines Krankenhausaufenthaltes und/oder die Unterstützung einer ärztlichen Therapie, sie dauern in der Regel wenige Wochen oder Monate. Dabei geht es vorrangig um die Erarbeitung von Pflegeakzeptanz, die Durchführung von Maßnahmen zur Krisenbewältigung und um kompensatorische Hilfen. Ambulante oder stationäre Hilfen zur Pflege nach der Pflegeversicherung (SGB XI) sind angebracht, wenn Art und Umfang der damit angezielten psychischen Beeinträchtigungen das EGH-Ziel einer Verbesserung sozialer Teilhabe unerreichbar machen. PHKP- und abW-Leistungen können im Einzelfall aufeinander folgen oder sich ergänzen. Sie sind selbstverständlich auch mit weiteren Leistungen kombinierbar, z.B. mit Pflegeleistungen nach SGB XI, einer psychiatrischen und/oder psychotherapeutischen Behandlung oder einer ambulanten Soziotherapie nach SGB V. Eine wesentliche vom BTHG geschaffene Veränderung ist die Aufhebung der bisherigen Trennung zwischen ambulanten, teil- und vollstationären Eingliederungshilfen. Bei stationärer Betreuung in einem Wohnheim, das nun eine „besondere Wohnform" ist, werden nun nur noch die Fachleistungen über die EGH finanziert. Die hilfsbedürftige Person schließt mit dem Heimträger einen separaten Vertrag über die Kosten der Unterkunft, die dann nach Bedürftigkeitsprüfung ggf. von der Sozialhilfe übernommen werden. Derzeit ist noch völlig unklar, wie man mit den zweifellos in vielen Fällen nicht unerheblichen Kosten umgehen will, die weder als Fachleistung noch als Zimmermiete gebucht werden können. Dazu zählen u.a. zusätzliche Kosten des Leistungserbringers für persönliche Hygiene und Ernährung der betreuten Person, für Zimmerreinigung und Milieugestaltung, auch die häufiger anfallenden Reparaturen und Instandsetzungsarbeiten nach Sachbeschädigungen. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 111 Grundlagen Die gemeindepsychiatrischen Angebote zur Tagesgestaltung, Kontaktfindung und kulturellen Teilhabe sind unterschiedlich organisiert und richten sich meistens an Menschen mit chronisch und schwer verlaufenden psychischen Erkrankungen. Die EGH finanziert neben den ambulanten und stationären Hilfen zum Wohnen auch teilstationäre Hilfen, nicht nur in einer WfbM, sondern auch in Tagesförderstätten. Das ist unabhängig von der Art der Behinderung dann der Fall, wenn bei der betroffenen Person ein außerordentlicher Pflegebedarf besteht und ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht erbracht werden kann. Für Menschen mit einer seelischen Behinderung gibt es neben der heiminternen Tagesstruktur bei stationärer Wohnbetreuung auch für eigenständig lebende hilfsbedürftige Personen spezielle Tagesstätten, die der Tagesstrukturierung und Kontaktfindung dienen, ggf. auch Möglichkeiten zum Zuverdienst bieten. Daneben gibt es eine Vielzahl verschiedener ambulanter psychosozialer Kontakt- und Beratungsstellen (PSKB), die niedrigschwellig, spontan und in der Regel auch anonym aufgesucht werden können. Sie stützen sich oft auf ehrenamtliches Engagement und erhalten zusätzlich eine finanzielle Förderung durch freiwillige Leistungen der Kommune oder des Bundeslandes. PSKB werden von gemeinnützigen Vereinen betrieben, sie sind überwiegend an eine Tagesstätte oder den Sozialpsychiatrischen Dienst angegliedert. Kommunales Qualitätsmanagement in der Gemeindepsychiatrie Psychiatrische Epidemiologie und regionale PsychiatrieBerichterstattung Psychische Erkrankungen haben eine hohe sozialmedizinische Relevanz. Aktuelle Zahlen zur Verbreitung psychischer Erkrankungen in Deutschland zeigen bei Einschluss aller Schweregrade, dass pro Jahr zumindest zeitweilig 22,0% der männlichen und 33,3% der weiblichen Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren unter einer voll ausgeprägten psychischen Störung leiden (Gühne et al. 2015b). 112 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Die Gesamtprävalenz für diese Altersgruppe liegt bei 28%, häufige Diagnosen sind Angststörungen (15,3%) depressive Störungen (7,7%) Störungen durch Alkohol- und Medikamentenkonsum (5,7%) Zwangsstörungen (3,6%) somatoformen Störungen (3,5%). Bevölkerungsbezogen vergleichsweise selten sind posttraumatische Belastungsstörungen (2,3%), psychotische (2,8%) und bipolare (1,5%) Störungen sowie Essstörungen (0,9%). Fast die Hälfte aller psychischen Erkrankungen beginnt bereits in der Pubertät. Rund 22% der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren sind von psychischen Störungen und Verhaltensproblemen betroffen, 6% sind behandlungsbedürftig psychisch krank und erfüllen die Diagnosekriterien (KiGGS-Basiserhebung 2003-2006). In der Altenbevölkerung dominieren neben depressiven Störungen die Demenzerkrankungen, deren Prävalenzraten mit zunehmendem Alter exponentiell ansteigen; jeder zweite Pflegeheimbewohner leidet an einer Demenz (Riedel-Heller, Luppa, and Angermeyer 2004). Eine besondere Rolle für die Versorgungsplanung spielen Menschen mit schweren chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen (Severe mental illness; SMI), die etwa 1-2% der Gesamtbevölkerung ausmachen (Gühne et al. 2015a). Sie weisen in verschiedenen Lebensund Funktionsbereichen deutliche Einschränkungen auf und benötigen infolge ihres komplexen Hilfebedarfs intensive psychiatrisch-psychotherapeutische und psychosoziale Hilfen. Die Häufigkeit dieser Problemlagen nimmt mit der Siedlungsdichte der Kommune und der Arbeitslosigkeit der in ihr wohnenden Bevölkerung zu. Von SMI betroffenen Menschen weisen eine deutlich häufigere somatische Komorbidität auf. Die Sterblichkeitsrate für psychotische Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, bipolare und schwere unipolare Depressionen ist ebenfalls erhöht, Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 113 Grundlagen der Lebenszeitverlust beträgt je nach Alter, Geschlecht und Erkrankung 2,6 bis 12,3 Jahren (Schneider et al. 2019). Die Gesundheitsberichterstattung stellt einen Teilbereich der Öffentlichen Gesundheit (public health) dar und ist in den jeweiligen Gesundheitsdienstgesetzen der Länder geregelt. Die regelmäßige Erhebung und Auswertung von Daten zum regionalen Angebot von Hilfen für psychisch Kranke und ihrem Bedarf liefern wertvolle Erkenntnisse für die Koordination und Planung der Versorgung der Bevölkerung; der Sozialpsychiatrische Dienst spielt hierbei eine wichtige Rolle (siehe Kernaufgabe 4). Vulnerable, besonders gefährdete Gruppen mit höherer Krankheitslast können durch kleinräumige Analysen besser identifiziert werden, sodass Prävention und Gesundheitsförderung gezielt geplant werden können. Daneben werden im Rahmen ordnungsbehördlicher und hoheitlicher Funktionen Sozialpsychiatrischer Dienste ebenfalls relevante Daten erhoben und den oberen, bzw. mittleren Gesundheitsbehörden zur Verfügung gestellt; Regelungen hierzu finden sich in den jeweiligen PsychKG der Länder. Planung und Qualitätsentwicklung der Versorgung Jede Planung ist an Zielen ausgerichtet und beinhaltet Maßnahmen zur Zielerreichung. Grundlegendes Ziel der Psychiatrieplanung ist eine individuell bedarfsgerechte, ethisch-fachlichen Standards entsprechende Hilfeleistung überall da, wo sie benötigt wird (Elgeti 2019). Dazu muss der sogenannte Zirkelprozess der Qualitätsentwicklung am Laufen gehalten werden. Eine konzeptionell fundierte Planung von Maßnahmen (policy adjustment) setzt eine kritische Situationsanalyse (assessment) voraus und bleibt wertlos, wenn sie nicht mit Hilfe von Zielvereinbarungen zur Umsetzung (administration) gebracht wird. Nur eine aussagefähige Dokumentation und Berichterstattung über den tatsächlichen Verlauf der geplanten Maßnahmen ermöglicht eine Ergebnismessung (evaluation), die dann im Rahmen eines Soll-Ist-Vergleichs zu bewerten ist und in eine neue Situationsanalyse mündet. Dieser 114 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst PDCA-Zirkelprozess (Plan-Do-Check-Act) hat viele Varianten und lässt sich für die individuelle, institutionelle, regionale und politische Planungsebene konkretisieren (Abbildung 12: Qualitätsentwicklung: Zirkelprozess auf verschiedenen Ebenen). Abbildung 15: Qualitätsentwicklung: Zirkelprozess auf verschiedenen Ebenen Für die regionale Steuerung der Versorgung müssen die Gebietskörperschaften Verantwortung übernehmen, ggf. in interkommunaler Zusammenarbeit benachbarter Kommunen, wenn eine allein dafür zu klein ist. Das Land muss ihnen die hierzu notwendigen Kompetenzen verschaffen und einen landeseinheitlichen Rahmen vorgeben. Kommunale Psychiatrieplanung ist genauso wie andere Fachplanungen auf eine übergreifende Sozialplanung zu beziehen, wenn die psychiatrische Versorgung nicht in einem stationären oder ambulanten Ghetto, sondern als Teil einer inklusiven sozialen Infrastruktur funktionieren soll (Elgeti 2015). Eine recht verstandene kommunale Psychiatrie baut sich kein abgeschlossenes eigenes Versorgungssystem, sondern bringt ihre spezifische ethisch-fachliche Expertise in den verschiedenen Handlungsfeldern kommunaler Daseinsfürsorge mit ein. Die dabei vorrangigen Handlungsfelder lassen sich z.B. so gruppieren: Lebensphasen mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf: Kinder und ihre Eltern stärken, Jugendliche und junge Erwachsene bei der Verselbständigung unterstützen, Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter sichern; Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 115 Grundlagen Kernbereiche gesellschaftlichen Lebens: Teilhabe durch Arbeit und Beschäftigung ermöglichen, bedarfsgerechtes und bezahlbares Wohnen fördern; Grundformen sozialer Ungleichheit: Inklusion von Menschen mit Behinderung fördern, Menschen mit Migrationserfahrung integrieren, Armutsfolgen mildern. Eine integrierte Fach- und übergreifende Sozialplanung der Kommune unterstützt die Koordination und Steuerung solcher Handlungsfelder im Rahmen eines sinnvoll abgestuften Hilfesystems (stepped care). Es sollte eine klare Abgrenzung geben zwischen der Selbst- und Laienhilfe der Bürgergesellschaft, den Anlaufstellen der „Generalisten“ (Hausarztmedizin und psychosoziale Beratungsstellen, ambulante Pflege und kommunale Sozialarbeit) und den Angeboten der psychiatrischen „Spezialisten“. Dabei geht es nicht nur um die Entwicklung und regelmäßige Fortschreibung von Konzepten und Plänen. Genauso wichtig sind ein handlungs- und wirkungsorientiertes Berichtswesen zur Qualitätssicherung von Hilfsangeboten sowie eine Vernetzung der Akteure und deren Beteiligung an den Planungsprozessen. Die Netzwerkgremien sind mitverantwortlich sowohl für den trialogisch zu gestaltenden Diskurs, als auch für eine praktikable und aussagekräftige regionale Psychiatrie-Berichterstattung. Wesentlich für den Erfolg kommunaler Psychiatrieplanung ist die Verknüpfung der Ebenen individueller, institutioneller und regionaler Planung: Aus den kumulierten Erfahrungen bei der Planung und Durchführung von Einzelfallhilfen (case management) lassen sich wertvolle Erkenntnisse für die Versorgungsplanung in der Region (care-management) gewinnen. Dabei geht es einerseits um die Identifizierung von guten Beispielen (best practice) und Lücken im Hilfesystem (unmet needs), andererseits aber auch um datengestützte Vergleiche verschiedener Hilfsangebote innerhalb einer Angebotsform und zwischen einzelnen Teilregionen (benchmarking). Für alle, die den Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention auf Inklusion ernst nehmen, ist Transparenz und Partizipation dabei 116 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst oberstes Gebot. Deshalb gehört es zu einer guten Planung in der Psychiatrie, die beteiligten Akteure – einschließlich der SelbsthilfeOrganisationen – konsequent und in allen Phasen zu beteiligen, bei der Situationsanalyse, Konzeptentwicklung und Planung, bei der Umsetzung geplanter Maßnahmen und der Ergebnisprüfung. Beschwerdemanagement / Qualitätsmanagement Bislang steht eine bundesweite Evaluation des Tuns in der Sozialpsychiatrie aus, allerdings gibt es auf Basis der Leitlinien der psychiatrischen Fachgesellschaften, allgemeine Grundlagen, auf die sich die handelnden Personen verständigen. Auf Landesebene sind in einzelnen Gesetzen auch Evaluationen der Leistungen der SpDi festgelegt - mit dem Ziel, auf Basis einer Bestandserhebung die Weiterentwicklung in Bezug auf z.B. Zwangsmaßnahmen voranzutreiben, jeweils auf einen Sozialraum bezogen. Auf Amtsebene sollten eine Standardisierung des Formularwesens und die Handlungs- und Beratungspfade selbstverständlich sein und regelmäßig auditiert werden. Allerdings müssen wir uns im psychiatrischen Handeln immer der kritischen Betrachtung der Angehörigen, Betroffenen, der politischen und allgemeinen Öffentlichkeit stellen. Als einziges medizinisches Gebiet, das auch stark in die persönliche Freiheit der Bürger eingreift und gegen den Willen der Menschen agieren kann, um medizinische Ziele zu erreichen, ist kritische Reflexion im Dialog mit der Öffentlichkeit notwendig. Strukturell können unabhängige Beschwerdestellen Psychiatrie wirksam sein, wie sie schon in den meisten Bundesländern vorgehalten werden. Ein Gremium aus Professionellen, Betroffenen und Angehörigen befasst sich institutionsungebunden mit persönlich, auch anonym formulierten Beschwerden gegen psychiatrisches Handeln. Die Beschwerdestellen können als neutrale Partner vermitteln und neben den allgemein wirksamen Patientenfürsprechern spezifischer tätig sein. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 117 Grundlagen der praktischen Arbeit Grundlagen der praktischen Arbeit Der sozialpsychiatrische Dienst ist in der Bevölkerung relativ wenig bekannt und führt auch in Fachkreisen ein Schattendasein. Er ist aus den Reformbemühungen der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland (BRD) entstanden, insbesondere in den Empfehlungen der Expertenkommission 1988. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hingegen gab es vor der Wende die sogenannten nervenärztlichen Beratungsstellen als vergleichbare Einrichtung in der ambulanten Versorgung. Zielgruppe der SpDis sind insbesondere die Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung (noch) nicht in der Lage sind, die Angebote des regulären Versorgungssystems wahrzunehmen. Damit werden die SpDi´s zur “letzten Wiese” der psychiatrischen Versorgung. Aufgabenspektrum Das Aufgabenspektrum der SpDi beinhaltet nach den Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung (1988) zur Reform der Versorgung im psychiatrischen, psychotherapeutischpsychosomatischen Bereiche zufolge (Wikipedia 2020): 1. Beratung:von Hilfesuchenden, Angehörigen und Personen des sozialen Umfeldes einschließlich betreuender oder behandelnder Institutionen 2. Medizinische und soziale Abklärung des Einzelfalls zur fachgerechten Einleitung von Einzelhilfen 3. Vorsorgende Hilfen mit dem Ziel, bei beginnender Erkrankung oder Wiedererkrankung und bei sich anbahnenden Konfliktsituationen zu gewährleisten, dass die Betroffenen rechtzeitig ärztlich behandelt und im Zusammenwirken mit der Behandlung geeignete betreuende Einrichtungen in Anspruch genommen werden können 120 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst 4. Nachgehende Hilfen mit dem Ziel, den Personen, die aus stationärer psychiatrischer Behandlung entlassen werden, durch individuelle Betreuung, Beratung und Einleitung geeigneter Maßnahmen die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft zu erleichtern sowie eine erneute Krankenhausaufnahme zu verhüten 5. Sprechstunden Psychisch Kranke, Behinderte und andere Ratsuchende sollen jederzeit – zumindest während der Dienststunden – Mitarbeiter vorfinden, die in der Lage sind, weiterzuhelfen. Daher sind Sprechstunden durchgängig einzurichten. Daneben können Sprechstunden für einzelne Personen oder spezielle Patientengruppen verabredet werden. 6. Aufsuchend-ambulante Tätigkeiten Zur Durchführung vorsorgender und nachsorgender Hilfen, als auch zur Krisenintervention oder für notfallpsychiatrische Maßnahmen, sind Hausbesuche erforderlich, um die Situation in der Wohnung und dem näheren sozialen Umfeld persönlich kennenzulernen, ggf. auch, um unmittelbar eingreifen zu können. Nicht wenige psychische Kranke und Behinderte lassen sich überhaupt nur über den Besuch zuhause erreichen, in ein Gespräch ziehen und etwa zur Inanspruchnahme eines behandelnden Arztes oder betreuender Einrichtungen motivieren. 7. Eingliederung oder Wiedereingliederung in das Arbeitsleben Viele psychisch Kranke und Behinderte bedürfen zur Stabilisierung beruflich-rehabilitativer Hilfen z auch um sie möglichst unabhängig von Sozialhilfe zu machen. SpDi müssen daher, wenn entsprechende spezialisierte ambulante oder psychosoziale Dienste fehlen, auf den Einzelfall bezogen mit der Arbeitsverwaltung, den Werkstätten für Behinderte und den Rentenversicherungsträgern zusammenarbeiten. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 121 Grundlagen der praktischen Arbeit 8. Notfallpsychiatrische Maßnahmen/Krisenintervention Psychiatrische Notfälle und Zuspitzungen kritischer Situationen vor Ort können prinzipiell zu allen Tages- und Nachtzeiten auftreten. 9. Zusammenarbeit mit allen Diensten und Einrichtungen der Versorgungsregion, die mit der Betreuung und Behandlung psychisch gefährdeter, kranker und behinderter Menschen befasst sind, insbesondere mit den regional zuständigen psychiatrischen Krankenhauseinrichtungen. 10. Zusätzliche Hilfsangebote in Form von Gruppenangeboten für einzelne Patienten, Gruppen und Angehörige, Initiierung von Laienhelfer- und Angehörigengruppen, Öffentlichkeitsarbeit, Institutionsberatung Die Leistungen der sozialpsychiatrischen Dienste sind für den Bürger kostenfrei, da dieser in der Regel am Gesundheitsamt in der kommunalen Verwaltung angesiedelt ist. In Bayern, BadenWürttemberg und einzelnen Kommunen anderer Bundesländer sind die Sozialpsychiatrischen Dienste bei Freien Trägern (z.B. Diakonie, Caritas, AWO) angesiedelt. Aber auch hier entstehen keine Kosten für Menschen, die ihn in Anspruch nehmen. Durch die Einbindung in den Öffentlichen Gesundheitsdienst gibt es auch Kontakte zu anderen Abteilungen des Gesundheitsamtes, wie z.B. den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, Hygiene und Umweltmedizin. Dies ist bei Fragen des Kinderschutzes oder der hygienischen Lebensbedingungen von Vorteil. In den meisten Gesundheitsämtern übernimmt der sozialpsychiatrische Dienst auch Aufgaben, für die es in einigen großen Gesundheitsämtern einen eigenen kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst gibt, soweit dies ohne entsprechendes Fachpersonal möglich ist. In der Regel ist der sozialpsychiatrische Dienst multiprofessionell t aus Ärzten, Sozialarbeitern, Psychologen und Verwaltungsangestelltenzusammengesetz. Aber auch Krankenpfleger, Ergotherapeuten und ähnliche Berufe können vertreten sein. Bislang eher selten arbeiten sogenannte 122 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Genesungsbegleiter mit. Dabei handelt es sich um Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, die eine gezielte Fortbildung mit einem Zertifikat (experienced involvement EX-IN) durchlaufen haben. Die personenbezogenen Leistungen des sozialpsychiatrischen Dienstes unterscheiden sich in einigen Punkten grundlegend von den Angeboten anderer Leistungserbringer im psychiatrischen Hilfe- und Versorgungssystem: Die Dienstleistungen des sozialpsychiatrischen Dienstes sind für den Bürger kostenfrei Sie erfolgen niedrigschwellig ohne Zugangsvoraussetzungen, auf Wunsch auch anonym Sie werden bei Bedarf aufsuchend erbracht Das Umfeld betroffener Menschen kann mit einbezogen werden Menschen aus dem Umfeld psychisch Kranker können Hilfen in Anspruch nehmen, auch wenn die/der Betroffene dies nicht tut Sie erfolgen häufig in aktiver Kontaktaufnahme nach Hinweisen Dritter Neben dem Angebot von Hilfen erfolgt auch eine Klärung von Gefährdungspotentialen infolge psychischer Erkrankung und bei Bedarf die Ergreifung geeigneter Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. Der Erstkontakt kann nicht nur durch die Betroffenen selbstveranlasst werden, oder durch ihre Angehörigen bzw. rechtlichen Betreuer, Nachbarn, Freunde oder Kollegen, sondern auch durch Arbeitgeber, Vermieter, Behörden (z.B. Polizei, Allgemeiner Sozialer Dienst im Jugend- oder Sozialamt, Arbeitsagentur, Ordnungsamt) oder medizinische Dienste (Hausarzt, Krankenhaus). Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 123 Grundlagen der praktischen Arbeit Abbildung 16: Ablauf des Erstkontaktes Wie es dann weitergeht, hängt maßgeblich davon ab, ob eine Beratung und im Weiteren ggf. Begleitung geboten ist oder ob es sich um eine Krise mit entsprechend sofortigem Handlungsbedarf handelt. Das entsprechende weitere Vorgehen ist in den beiden folgenden Kapiteln dargestellt. 124 Version 1.0 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Die Aufgaben der SpDi sind: Kernaufgabe 1: Beratung / Begleitung Eine der wichtigsten Aufgaben Sozialpsychiatrischer Dienste ist die niederschwellige Beratung und Begleitung. Sie richtet sich nicht nur an Bürgerinnen und Bürger mit psychischen und sozialen Problemen, sondern auch an ihre Angehörigen und ihr soziales Umfeld. So wird diese Leistung beispielsweise auch von gesetzlichen Betreuern in Anspruch genommen. Kernaufgabe 1a - Niederschwellige Beratung Sie kann telefonisch, in der Beratungsstelle oder aufsuchend erfolgen. Hier geht es zunächst um eine kurzfristige Klärung der Frage, ob einer Problematik eine psychiatrische Störung zugrunde liegt. In diesem Fall ist eine diagnostische Einschätzung und eine zeitnahe Beratung mit Klärung der oftmals komplexen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und sozialen Nöte erforderlich. Bei Hinweisen durch Dritte (z.B. Angehörige, Vermieter, Polizei u.a.) erfolgt eine aktive Kontaktaufnahme zu dem/der Betroffenen in geeigneter Form. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal des sozialpsychiatrischen Dienstes. Anhand der Vorinformationen muss eingeschätzt werden, welcher Zugangsweg am erfolgversprechendsten erscheint. Dies kann eine schriftliche Einladung zu einer Beratung, eine telefonische Kontaktaufnahme, ein schriftlich angekündigter Hausbesuch oder auch ein unangekündigter Hausbesuch sein. Der Hausbesuch bietet in der Regel die Möglichkeit, die Lebensbedingungen und Umfeldressourcen der/des Betroffenen unmittelbar zu erfassen. Damit wird eine die Lebenswirklichkeit der/des Betroffenen einbeziehende Diagnostik und Problemerfassung möglich, die dann zu bedarfsgerechten Hilfsangeboten und Maßnahmen führt, wie es auch in der ICF vorgesehen ist. 126 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Mitarbeiter des SpDi können zunächst durch Erklärung und Erläuterung der bestehenden Erkrankung und deren Behandlungsmöglichkeiten Verständnis und Perspektiven für die eigene Situation und damit Entlastung herstellen. Auch eine sozialrechtliche Beratung und gegebenenfalls kurzfristige Unterstützung beim Umgang mit Behörden und/oder Institutionen kann die aktuelle Problematik beseitigen oder zumindest Entlastung schaffen, indem Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Ebenso kann die Vermittlung bei konflikthaft zugespitzten Problemlagen (Partnerschaftskonflikte, Nachbarschaftskonflikte, Konflikte mit Vermietern etc.) hilfreich sein. Die Veranlassung medizinischer Behandlungen (Hausarzt, Facharzt, Institutsambulanz etc.) ist ein weiteres Element der direkten Hilfen im Rahmen der Beratung. Bei Bedarf kann eine kurz- oder mittelfristige Weiterleitung in andere Hilfesysteme erfolgen (siehe Grundlagen “Versorgungssystem”). Wesentlicher Bestandteil des Beratungsangebots, insbesondere wenn der Kontakt durch Dritte veranlasst wurde, ist es, eine Beziehung zu der/dem Betroffenen aufzubauen. Die Intervention kann zu einer ausreichenden Problemlösung führen oder mit der Weiterleitung in andere Hilfestrukturen abgeschlossen werden. Wenn im Rahmen der Beratung bei bestehender behandlungsbedürftiger, psychiatrischer Erkrankung noch keine Krankheits- und Behandlungseinsicht erreicht werden kann, bzw. dazu keine Bereitschaft erkennbar ist, kann auf dieser Grundlage im Rahmen einer weiterführenden niedrigschwelligen Begleitung an der Bereitschaft, Hilfen und/oder Therapieangebote anzunehmen, gearbeitet werden. Auch sich anbahnende Krisen können frühzeitig erkannt werden, und man kann entsprechend darauf reagieren. Kernaufgabe 1b - Niederschwellige Betreuung bzw. Begleitung Daneben gibt es Menschen mit schweren, chronisch verlaufenden psychischen Störungen, bzw. Suchterkrankungen, die krankheitsbedingt trotz entsprechender Notwendigkeit noch nicht Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 127 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste oder nicht mehr die hier eigentlich einzusetzenden Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Oft sind diese Menschen gar nicht in der Lage, ihren Hilfebedarf wahrzunehmen, zu äußern oder gar einzufordern. Auch hier ist eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, der Aufbau einer von Akzeptanz getragenen Beziehung und daran anknüpfend eine langfristig angelegte, niedrigschwellige multidisziplinäre Begleitung, oft aufsuchend und nachgehend, Aufgabe des SpDi. Im Rahmen dieser “Kontaktpflege” kann es sich handeln um lebenspraktische Hilfen (z.B. Hilfe beim Ausfüllen eines Antragsformulars), kurzfristige Unterstützung in besonderen Lebenslagen (z.B. Organisation von Unterstützung bei einem Umzug), Ermöglichung akut erforderlicher medizinischer Behandlung (z.B. Terminvereinbarung und erforderlichenfalls Begleitung zum Haus- oder Facharzt), frühzeitiges Erkennen und adäquates Reagieren auf Verschlechterung des Zustands und/oder sich anbahnenden Krisen Darüber hinaus geht es auch darum, “Nischen” zu finden, in denen die Betroffenen in ihrer “Andersartigkeit” leben können. Ein langfristiges Ziel ist das Erarbeiten der Bereitschaft, Hilfen anzunehmen und schließlich eine Krankheits- und Behandlungseinsicht zu erreichen. Beratung (K 1a) beschränkt sich gemäß den fachlichen Empfehlungen von 2018 in der Regel auf höchstens fünf persönliche Kontakte in einem Zeitraum von weniger als drei Monaten. Dauert die Hilfe länger, liegt eine niederschwellige Betreuung (Kernaufgabe 1b) vor. Wird bei Bekanntwerden des Problems aufgrund seiner Dringlichkeit ein sofortiger (kein Absatz)Kontakt noch am selben Tag erforderlich, ist von einer Krisenintervention Kernaufgabe 2 auszugehen. 128 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Leistungsbestandteile und Qualitätsstandards Die folgenden Standards beschreiben einen Expertenkonsens des Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste in Deutschland zur aufgabengerechten Bearbeitung des nachfolgend genannten Leistungsspektrums. Allgemeine Standards Zur Erfüllung der Kernaufgabe »niederschwellige Beratung und Betreuung« gibt es eine offene Sprechstunde für mindestens vier Stunden täglich an allen Werktagen. Grundsätzlich sollte eine multiprofessionelle Beratung und Betreuung mit sozialpädagogischem Fachpersonal im Vordergrund und ärztlichem Fachpersonalim Hintergrund gewährleistet sein. Für die Dauer der Hilfe im Einzelfall bleibt dieselbe primäre Bezugsperson zuständig. Bei der Terminvergabe sollte dafür gesorgt sein, dass innerhalb von fünf Werktagen ein erstes persönliches, mindestens halbstündiges Beratungsgespräch erfolgen kann. Die Beratung bzw. Begleitung erfolgt grundsätzlich in Form von persönlichen Kontakten mindestens alle vier Wochen, bei Bedarf auch als aufsuchende Hilfe. Bei einer mittel- oder längerfristigen Begleitung wird fortlaufend überprüft, ob sie beendet oder die betroffene Person in ein geeignetes, vorrangig zuständiges Hilfeangebot vermittelt werden kann. Eine gelegentlich angezeigte, lose Begleitung mit nur sporadischen Kontakten oder ausschließlich telefonischer bzw. schriftlicher Kommunikation wird in Teamkonferenzen regelmäßig auf ihren Sinn hinterfragt. Kernaufgabe 1a - niederschwellige Beratung: Die Beratung suchende Person bekommt sofort telefonisch oder kurzfristig in einem persönlichen Gespräch die Gelegenheit, einer Fachperson die Problemlage zu schildern. Bei Bedarf werden weitere Termine ermöglicht, ggf. auch im Rahmen von Hausbesuchen. Die betroffene Person erhält eine der Problemlage angemessene Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 129 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Unterstützung bei der vorläufigen Klärung und Lösung des Problems. Wichtige Bezugspersonen werden dabei – falls erforderlich – einbezogen. Bei fortbestehendem Hilfebedarf wird die betroffene Person an eine geeignete Stelle weitervermittelt. Die Beratung beinhaltet folgende Schritte: 1. Informationsaufnahme und Indikationsstellung für eine Beratung 2. Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung des Erstkontakts 3. Folgekontakte mit den im Einzelfall erforderlichen begleitenden Aktivitäten Kernaufgabe 1b - niederschwellige Begleitung: Die hilfsbedürftige Person wird durch eine Fachperson so lange kontinuierlich, und bei Bedarf auch aufsuchend betreut, bis eine dafür vorrangig zuständige und geeignete Stelle die Betreuung übernimmt oder der Hilfebedarf nicht mehr besteht. Die Begleitung gleicht zunächst der Beratung (Schritte 1 bis 3), daran schließen sich folgende Schritte (4 bis 6) an: 1. Klärung eines mittel- oder längerfristigen Betreuungsbedarfes 2. Kontinuierliche Betreuung mit den im Einzelfall erforderlichen begleitenden Aktivitäten bei fortlaufender Überprüfung der Möglichkeit, die Begleitung zu beenden oder die betroffene Person an ein geeignetes, vorrangig zuständiges Hilfsangebot zu vermitteln 3. Behutsame Vorbereitung des Betreuungsendes, bzw. der Weiterbetreuung an anderer Stelle 4. Abschlussgespräch und -dokumentation Die Beratung und Begleitung durch die sozialpsychiatrischen Dienste sollte in enger Abstimmung und ggf. in Kooperation mit den anderen in der Region vorhandenen Angeboten erfolgen. 130 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Wirkungen und Ziele Durch das niedrigschwellige Beratungsangebot soll es betroffenen Menschen ermöglicht werden, möglichst frühzeitig einen für sie geeigneten Zugang zum psychiatrischen und/oder nichtpsychiatrischen Hilfesystem zu finden. Insbesondere in den Fällen, in denen die Kontaktaufnahme über die Hinweise Dritter erfolgt, können oft Menschen erreicht werden, bei denen noch kein Krankheitsbewusstsein entstanden ist. Durch das frühzeitige Implementieren von Hilfen und Behandlung können so Chronifizierungen, soziale Desintegration und Dekompensationen mit ggf. nachfolgend erforderlichen Zwangsmaßnahmen vermieden werden. Die langfristig angelegte niedrigschwellige Begleitung unterstützt eine Stabilisierung, oft auf niedrigem Niveau. Sie ermöglicht es, sich anbahnende Krisen und drohende Dekompensationen frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren, sodass hierdurch oft Zwang vermieden werden kann. Weiter besteht die Chance, eine Krankheitsund Behandlungseinsicht zu entwickeln und die Bereitschaft zu erzeugen, strukturiertere Hilfeangebote in Anspruch zu nehmen. Häufig kann so eine vollstationäre, möglicherweise geschlossene Unterbringung vermieden werden. Im Folgenden ist das Vorgehen ab dem Erstkontakt schematisch dargestellt: Vorgehen bei der niederschwelligen Beratung (Kernaufgabe 1A) Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 131 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Abbildung 17: Fluss-Schema Beratung 132 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Kernaufgabe 2: Krisenintervention Menschen können einmalig, mehrmals oder im Rahmen lang dauernder Beeinträchtigungen immer wieder in gefährliche Zuspitzungen ihrer psychosozialen Problemlage geraten. Eine solche Krise kann auftreten als akute seelische Notlage unter besonderer Belastung, als psychiatrischer Notfall bei akutem Krankheitsbild oder als akute Zuspitzung einer schon länger bestehenden psychischen Erkrankung. In der Regel sind neben der betroffenen (Index-)Person auch andere Personen beteiligt. Kernaufgabe 2a - Krisenintervention und Notfallhilfe Notwendig ist ein aktives, die Situation gestaltendes und veränderndes Handeln unter Anwendung spezifischer diagnostischtherapeutischer Fähigkeiten und Erfahrungen. Vorrangig geht es darum die Krise zu entschärfen, eine Eskalation zu vermeiden konstruktive Lösungen anzubahnen Zwangsmaßnahmen sind zu vermeiden. Ambulante Lösungen haben Vorrang vor stationären. Kernaufgabe 2b - Mitwirkung an Unterbringungen: Bei einer akuten und mit ambulanten Mitteln nicht zu bewältigenden Selbst- oder Fremdgefährdung ist dafür zu sorgen, dass die betroffene Person nach der rechtlich gebotenen Prüfung auch gegen ihren Willen in der nächstgelegenen dafür geeigneten Klinik untergebracht werden kann. Ein hohes Maß an Fachkompetenz und ethischer Fundierung des Handelns sowie ausgeprägte Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 133 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Dialogbereitschaft und Respekt gegenüber allen Beteiligten sind Voraussetztungen, um in diesen Situationen angemessen handeln zu können. Für diese Aufgaben muss eine multidisziplinär besetzte, mobile Notfallbereitschaft verfügbar sein, die eine Krisensituation sofort, ggf. auch vor Ort, fachkompetent klären und die notwendigen Maßnahmen ergreifen kann. Dazu gehören insbesondere auch folgende Hilfeangebote: funktionsfähige, niederschwellige und mobile Krisendienste für medizinische, pflegerische und soziale Notlagen rund um die Uhr verfügbare Notfallbereitschaften der Ordnungsbehörde, des Amtsgerichts und der Betreuungsbehörde bzw. der rechtlichen Betreuer Alternativen zur stationären Krisenintervention in einer psychiatrischen Klinik (z. B. aufsuchende Krisenteams, Home Treatment, Assertive Community Treatment, Krisenbetten, Weglaufhäuser) Leistungsbestandteile und Qualitätsstandards Die folgenden Standards beschreiben einen Expertenkonsens des Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste in Deutschland zur aufgabengerechten Bearbeitung des nachfolgend genannten Leistungsspektrums. Allgemeine Standards Erforderlich ist eine qualifizierte Notfallbereitschaft, die auf Grundlage klarer, mit allen Systempartnern vereinbarter Verfahrensregeln zur Vorbeugung und Bewältigung suizidaler oder gewaltförmiger Eskalation tätig werden kann. Der Sozialpsychiatrische Dienst hat hier einen subsidiären Auftrag und gewährleistet einen Krisendienst in Kooperation mit geeigneten, 134 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst vorrangig zuständigen Diensten und Einrichtungen. In einem solchen kooperativen Krisenkonzept sollte der gesamte Krisendienst 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche zur Verfügung stehen mit mindestens zwei Fachpersonen interdisziplinär besetzt sein Ressourcen der Selbsthilfe im Bedarfsfall mit einbeziehen sofort telefonisch oder am Dienstort eine Krisenintervention durchführen im gesamten fg vb Zuständigkeitsgebiet unverzüglich auch aufsuchend tätig werden fachärztlich bei Bedarf auch vor Ort eine akute Selbst- bzw. Fremdgefährdung der betroffenen Person abklären in diesem Zusammenhang ggf. selbst Zwangsmaßnahmen ärztlich begründen Kernaufgabe 2a Krisenintervention und Notfallhilfe: Mindestens zwei kompetente Fachkräfte stehen rund um die Uhr für ein telefonisches oder persönliches Krisengespräch zur Verfügung und können die betroffene Person bei Bedarf auch unverzüglich aufsuchen. Sie sind in der Lage, geeignete Hilfen zur Vermeidung einer Klinikeinweisung selbst anzuwenden, herbeizurufen bzw. wohnortnah ohne Wartezeit zu vermitteln. Der Sozialpsychiatrische Dienst einer Kommune muss in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe immer dann wahrzunehmen, wenn andere Dienste nicht zuständig sind oder nicht rechtzeitig in geeigneter Weise tätig werden können. Kernaufgabe 2b Mitwirkung an Unterbringungen: Zu den im Krisendienst tätigen Fachkräften gehört auch eine Person mit fachärztlich-psychiatrischer Kompetenz und Erfahrung in der Vorbeugung und Bewältigung akuter Selbst- und Fremdgefährdung, die das Gefährdungspotenzial umsichtig abschätzen und notfalls eine Unterbringung auf qualifizierte Weise einleiten und begleiten kann. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 135 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Abbildung 18: Fluss-Schema Krisenintervention In wenigen Bundesländern (Schleswig-Holstein, Brandenburg) gibt das PsychKG einen solchen mit fachlich qualifizierten Ärztinnen und Ärzten besetzten Rufbereitschaftsdienst des SpDi auch außerhalb der Dienstzeiten für 24 Stunden an 7 Wochentagen vor. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser hochschwelligen Dienste (Inanspruchnahme nur, wenn die Frage einer Unterbringung im Raum steht) stellen eine der Situation zugrundeliegende psychische Störung am Ort des Geschehens fest (Diagnostik). Sie schätzen das Gefährdungspotential ein und nutzen die Möglichkeiten einer qualifizierten Krisenintervention vor Ort, ggf. unter Einbeziehung der verschiedenen Angebote des Versorgungssystems, um 136 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Zwangsmaßnahmen zu vermeiden. Falls erforderlich, leiten sie eine Unterbringung ein und begleiten sie. Beispielhaft seien hier die Effekte eines solchen Dienstes im Kreis Ostholstein gezeigt, der die “Verschleppung” der betroffenen Menschen in die Klinik zur Klärung und Diagnostik vermeidet: Abbildung 19: Maßnahmen bei aufsuchenden Einsätzen im Rufbereitschaftsdienst (n=216 aufsuchende Einsätze außerhalb der regulären Dienstzeit des SpDi) Kernaufgabe 3: Planung & Koordination von Hilfen im Einzelfall Menschen mit schweren und chronisch verlaufenden psychischen Störungen gemäß Kapitel F der ICD 10 haben nicht selten einen komplexen Hilfebedarf, der den Einsatz unterschiedlicher Hilfen Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 137 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste erfordert. Dabei sind neben den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V), wie (fach-)ärztliche Behandlung, Psychotherapie, Ergotherapie, ambulante psychiatrische Pflege oder Soziotherapie (sofern verfügbar), auch gemäß dem Bundesteilhabegesetz (BTHG), Teilhabeleistungen nach dem SGB IX wie zur Teilhabe am Arbeitsleben oder zur medizinischen Rehabilitation oder zur sozialen Teilhabe erforderlich. Diese werden von verschiedenen Leistungsträgern wie z.B. der Bundesagentur für Arbeit, der DRV, der GKV, des Eingliederungshilfeträgers oder auch des Jugendhilfeträgers erbracht. Konkret beziehen sich diese Hilfen dann auf die verschiedenen Lebensbereiche (Gesundheit, Wohnen, Arbeit und Beschäftigung sowie soziale und kulturelle Teilhabe als menschliche Grundbedürfnisse), in denen die betroffene Person infolge von Funktionsstörungen und daraus resultierenden Aktivitätseinschränkungen in Wechselwirkung mit den Umgebungsbedingungen an einer wirksamen Teilhabe gehindert ist, wie z.B. der Selbstversorgung, den sozialen Beziehungen, der Rolle als Arbeitnehmer, Elternteil oder Partner oder auch bei der Nutzung von Gesundheitsleistungen. Institutionszentriertes versus personenzentriertes Vorgehen Die verschiedenen Bedarfe zu erfassen, darzustellen und zu einem durchführbaren Plan zusammenzufügen, der am Lebensort des Betroffenen umsetzbar ist, ohne dass dieser sein angestammtes soziales Umfeld verlassen muss, entspricht einem Vorgehen, das als “personenzentrierter Ansatz” bezeichnet wird. Das Gegenteil von “personenzentriert” wäre “institutionszentriert”: der Betroffene bekommt die Leistungen, die die Institution, an die er sich wendet, anbietet, und wenn er noch etwas Anderes braucht, muss er dazu später zu einer anderen Institution - auch wenn er beide Hilfen gleichzeitig benötigt. 138 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Beispiel institutionsbezogenes Vorgehen Ein Betroffener mit einer sozialen Phobie und einer Alkoholabhängigkeit wird vom Psychotherapeuten zur Suchtberatungsstelle geschickt, um erst einmal eine Entwöhnungsbehandlung zu beantragen, weil ohne gefestigte Abstinenz keine Psychotherapie möglich ist. Aus der medizinischen Rehabilitation wird er disziplinarisch entlassen, weil er in der Gruppe nicht über seine Probleme spricht und erst einmal eine ambulante Psychotherapie seiner Angststörung machen soll, bevor an seiner Sucht gearbeitet werden kann. Beispiel personenzentriertes Vorgehen Die personenzentrierte Leistungserbringung verlangt eine Veränderung der Arbeitsabläufe nicht nur bei der Hilfeplanung und bei der Finanzierung durch die Leistungsträger, sondern auch bei der Leistungserbringung für die Personen, die die Unterstützungsleistungen erbringen. Dies soll nun am selben Fallbeispiel veranschaulicht werden: Unter dem Dach des von der kommunalen Psychiatriekoordination initiierten Gemeindepsychiatrischen Verbundes haben sich alle beteiligten Leistungserbringer verpflichtet, bei der Hilfeplanung nicht nur die Hilfen zu beschreiben, die sie beabsichtigen, selbst zu erbringen, sondern auch solche, die von anderen erbracht werden. Auch, wenn es keine Eingliederungshilfeleistungen sind. Sie haben sich auch dazu verpflichtet sich darüber zu einigen, wer die Fallverantwortung hat, also die “koordinierende Bezugsperson” ist. Der Patient mit der Alkoholabhängigkeit und der sozialen Phobie wird vom Psychotherapeuten zur Suchtberatungsstelle geschickt, weil dieser erkannt hat, dass ein komplexer Hilfebedarf besteht und neben Psychotherapie und Entwöhnung, die beide im Moment nicht durchführbar sind, eine Unterstützung im Alltag erforderlich ist. Ein Mitarbeiter der Suchtberatung klärt mit dem Klienten die aktuelle Lebenssituation und stellt fest, dass der aktuelle Rückfall dadurch Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 139 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste bedingt ist, dass der Arbeitgeber die zuverlässige Arbeit des seit 15 Jahren als Gesellen beschäftigten Malers und Lackierers sehr schätzt und ihn mit mehr Verantwortung betrauen will. Vor den Kollegen in Erscheinung zu treten ist für diesen aber unerträglich. Er löst die Spannung durch Alkohol. Da er schon länger unentschuldigt gefehlt hat und es nicht wagt, mit dem Chef zu reden, ist die Stelle in Gefahr. Aus der Vergangenheit bestehen aus ähnlichen Situationen entstanden noch Schulden, ein Insolvenzverfahren läuft. Die Wohnung ist verwahrlost, die Kartons vom letzten Umzug vor 2 Jahren sind noch nicht ausgepackt. Der Klient hat keine sozialen Kontakte außer zu seiner ehemaligen Pflegemutter, die jedoch 500 Kilometer entfernt wohnt und gebrechlich ist. Der Berater erstellt mit dem Betroffenen einen Hilfeplan über einen Zeitraum von 6 Monaten für ein ambulant betreutes Wohnen. Neben Wohnungs- und Arbeitsplatzerhalt geht es um Kontaktaufnahme zu einer Kontaktund Beratungsstelle für psychisch kranke Menschen, um sich an Gruppensituationen anzunähern, da die Suchtberatung über keinen eigenen Kontaktladen verfügt. Der Integrationsfachdienst (IFD) wird eingeschaltet und der Betroffene motiviert, beim Versorgungsamt den Grad der Behinderung feststellen zu lassen. Die Fachkraft des ambulant betreuten Wohnens unterstützt den Betroffenen, in einem Allgemeinkrankenhaus eine körperliche Entzugsbehandlung zu machen, um den Alkoholkonsum zu durchbrechen. Danach will er mit dem Psychotherapeuten an seinem sozialphobischen Verhalten weiterarbeiten. Er hat das Ziel, bei erhaltenem Arbeitsplatz und einem Mindestmaß an Gruppenfähigkeit an der ambulanten medizinischen Rehabilitation teilzunehmen und zuvor den entsprechenden Antrag an die Rentenversicherung zu stellen. Das nachfolgende Diagramm (Abb. 1 Integrierte Hilfeplanung als Prozess) stellt den Prozess der personenzentrierten Hilfeplanung (Link erstellen) als Problemlösezirkel dar. Ausgehend von der vom Patienten gewünschten Lebensform wird ein Maßnahmenplan verhandelt, umgesetzt und überprüft. Wenn immer möglich sollen vorzugsweise allgemeine gesundheitliche und soziale Hilfen genutzt werden. 140 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Abbildung 20: Integrierte Hilfeplanung (modifiziert nach Gromann, 2001) Feststellung der wesentlichen Behinderung Zunächst wird ausgehend vom psychischen Befund (internen Link erstellen) und der biographischen Anamnese (siehe Psych. Grundlagen) die Diagnose nach ICD 10 (bzw. zukünftig ICD 11) gestellt. Dann ist zu ermitteln, welche “Körperfunktionen” - dazu zählen auch die “mentalen Funktionen” der ICF beeinträchtigt sind. Die mentalen Funktionen entsprechen, sofern sie für Menschen mit Diagnosen aus dem Kapitel F der ICD 10 relevant sind, den Symptomen des psychischen Befundes, wie sie z.B. im AMDP-System definiert und operationalisiert sind. Dieses kann als “Messinstrument” zur Beurteilung des Beeinträchtigungsgrades der jeweiligen mentalen Funktion benutzt werden, bzw. erlaubt die Liste der mentalen Funktionen der ICF praktisch anzuwenden. Als nächstes ist zu entscheiden, ob die aus der Gesundheitsstörung resultierende Beeinträchtigung einer Person oder des Umfeldes kompensiert wird oder aber durch mangelnde Ressourcen oder vorhandene Barrieren verstärkt wird und in weiteren Wechselwirkungen hiermit zu Aktivitätsstörungen und Beeinträchtigungen der Teilhabe führt. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 141 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Erst diese Gesamtwürdigung ergibt ein Bild davon, ob eine Teilhabestörung vorliegt oder nicht. Keinesfalls folgt sie unmittelbar aus der Diagnose oder auch aus den Symptomen. Handelt es sich um eine Diagnose aus dem Kapitel F6 Persönlichkeitsstörungen, bei denen oftmals keine oder nur wenige Symptome im psychopathologischen Befund vorliegen, aber überdauernde dysfunktionale Verhaltensmuster, die das Verhalten prägen, sind in erster Linie diese Aktivitätsstörungen der Beobachtung zugänglich. Aktuelle, zum Teil durch Forschungsbefunde gestützte Theorien, deuten darauf hin, dass den Funktionsstörungen wie erhöhte Impulsivität oder mangelnde Impulskontrolle, “boredom susceptibility” oder affektive Instabilität zugrunde liegt, die mit den üblichen diagnostischen Verfahren jedoch nicht direkt erfasst werden kann. Auch hier ist natürlich relevant, die persönlichen Ressourcen wie die Umfeldfaktoren zu betrachten, um die Teilhabestörung zu beurteilen. Abbildung 21: Faktoren der Teilhabestörung Oft benötigen sowohl die betroffenen Personen selbst, als auch die Leistungserbringer und Leistungsträger Unterstützung, um den individuellen Hilfebedarf sachgerecht festzustellen und die erforderlichen Leistungen in ihrem Gesamtzusammenhang zu planen und im Sinne einer kooperativen Hilfebedarfsermittlung zu koordinieren. Sozialpsychiatrische Dienste können diese Aufgabe gut erfüllen, nicht nur aufgrund ihrer fachlichen multiprofessionellen Kompetenz und Unabhängigkeit, sondern auch aufgrund ihrer guten Kenntnis der Unterstützungsmöglichkeiten im Sozialraum und der Hilfsangebote im gemeindepsychiatrischen Netzwerk. 142 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Folgende Unterstützungsmöglichkeiten sind von besonderer Bedeutung: familiäre Strukturen und soziales Umfeld, Selbst- und Laienhilfe, bürgerschaftliches Engagement allgemeine medizinische, pflegerische und soziale Dienste spezielle Hilfsangebote für psychisch erkrankte Menschen zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung, psychiatrischen Pflege und medizinisch-beruflichen Rehabilitation sowie zur sozialen und beruflichen Teilhabe Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (§32 SGB IX) Alle Akteure sollten in jedem Einzelfall flexibel auf die individuellen Bedarfslagen eingehen, bei Erfordernis weitere Spezialkompetenz hinzuziehen, und in einem regionalen Verbundsystem zuverlässig miteinander kooperieren. Leitende Prinzipien sind Prävention und Inklusion, ambulant vor stationär, Wohnortnähe, integrierte Hilfeleistung, Verhandeln statt Behandeln, bzw. Verhandeln über das Behandeln. Alle Planungen erfolgen grundsätzlich gemeinsam mit der betroffenen Person, ggf. mit ihrer rechtlichen Betreuung, auf Wunsch auch unter Hinzuziehung einer Vertrauensperson. Planung, Durchführung und Fortschreibung der Hilfe werden in angemessener Form dokumentiert und in anonymisierter Form für eine auch Einzelfall übergreifende Evaluation und Qualitätsentwicklung des regionalen Hilfesystems genutzt. Soll der SpDi diese Aufgabe nicht nur da, wo er gerade von sich aus mit einem Fall befasst ist, wahrnehmen, sondern für alle Personen in seinem Zuständigkeitsbereich, muss der Träger der Eingliederungshilfe den Auftrag erteilen und das zu seiner Erfüllung erforderliche Personal finanzieren. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 143 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Kernaufgabe 4: Koordination und Steuerung Ohne eine kommunale bzw. regionale Koordination und Planung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen lässt sich eine bedarfsgerechte, wohnortnahe Versorgung nicht gewährleisten. Diese Aufgabe der Gebietskörperschaften ist in einigen Bundesländern im jeweiligen Gesundheitsdienstgesetz, in anderen im PsychKG geregelt. Sie wird entweder von einer dezidierten Psychiatriekoordination übernommen oder dem Sozialpsychiatrischen Dienst zugewiesen. Im Rahmen der Organisationshoheit der Gebietskörperschaften sind auch andere Lösungen möglich. Die Herausforderungen auf diesem Gebiet steigen nicht nur mit der Vielfalt der individuellen Bedarfe, sondern auch mit der Zersplitterung der Kostenträger, der Spezialisierung der Hilfsangebote und ihrer Konkurrenz untereinander. Hier sind Sozialpsychiatrische Dienste notwendig und fachlich qualifiziert, im Auftrag der Kommune für eine regionale Planung der Angebotsentwicklung und eine Vernetzung der verschiedenen Akteure zu sorgen. Dabei hilft ihnen die strikte Orientierung auf den Sozialraum der Kommune und auf die gleichberechtigte Teilhabe der betroffenen Menschen am Leben in der Gemeinschaft, unabhängig von Art und Umfang ihrer Beeinträchtigungen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe sind Sozialpsychiatrische Dienste auf eine enge Zusammenarbeit sowohl mit den Leistungserbringern und Kostenträgern als auch mit den kommunalen sozialen Diensten und nicht zuletzt auch mit den Selbsthilfe-Initiativen der Betroffenen und ihrer Angehörigen angewiesen. Kernaufgabe 4a - Netzwerkarbeit Ziel ist die Förderung der Vernetzung und Zusammenarbeit im Verbund. Wichtig sind dabei die gemeindepsychiatrischen Dienste und Einrichtungen sowie die Interessenvertretungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Besonderes Augenmerk erfordern die für das Versorgungssystem wichtigen Schnittstellen und die reibungslose 144 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Gestaltung der Übergänge. Netzwerkarbeit in diesem Sinne ist eine Aufgabe, die alle Teammitglieder angeht. Bei den Adressaten der Netzwerkarbeit werden alle relevanten internen und externen Systempartner beteiligt. Ein jährlich aktualisiertes Verzeichnis der Hilfsangebote im regionalen Netzwerk sollte zur Verfügung gestellt werden. Eine kontinuierliche Arbeit in den Verbundgremien sollte - oft mithilfe der Geschäftsführung durch die SpDi gewährleistet werden. Um eine lebendige Verbundentwicklung und eine Verbesserung der Zusammenarbeit unter den Netzwerkpartnern zu fördern, wird die regelmäßige Durchführung themenbezogener Veranstaltungen und Fachtagungen angeregt, ggf. fachlich und organisatorisch unterstützt. Zur vertieften Bearbeitung definierter Schwerpunktaufgaben werden befristete Projekte initiiert und organisatorisch begleitet. Kernaufgabe 4b - Steuerung Ziel ist die regionale Planung der Angebotsentwicklung und die Optimierung der Versorgungsstrukturen unter Berücksichtigung fachlicher und finanzieller Gesichtspunkte. Hier geht es um die Sicherung wohnortnaher gemeindepsychiatrischer Hilfen, die Verbesserung der Passgenauigkeit und Wirksamkeit von Hilfen. Leitvorstellung soll dabei sein, dysfunktionale Schnittstellen im Versorgungssystem zu vermeiden bzw. gut zu überbrücken, Anzeichen von Über-, Unter- und Fehlversorgung zu erkennen und gemeinsam mit den anderen Akteuren des Verbundes Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Das Aufgabenspektrum der Psychiatriekoordination ist breit, innerhalb und außerhalb der Kommunalverwaltung. Es reicht von der Organisation und Leitung der Verbundgremien, der Unterstützung unabhängiger Beschwerdestellen im regionalen Verbund, der Durchführung von Fortbildungen und Fallkonferenzen bis zur Erstellung von Konzepten für die Planung bzw. Steuerung des Versorgungssystems. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 145 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Controlling und Gesundheitsberichterstattung gehören ebenso dazu wie Qualitätssicherung und Öffentlichkeitsarbeit, Fachberatung und Steuerungsunterstützung der Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung. In Abstimmung mit den Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung, bei Kostenträgern und Leistungserbringern erfolgt unter Einbeziehung der Nutzerinteressen eine kontinuierliche Planung der Angebotsentwicklung. Dazu erfolgt jeweils eine systematische Bestandsaufnahme und Situationsanalyse der regionalen Versorgung, an die sich der Prozess von Zielfindung und Politikformulierung anschließt. Auf Grundlage verbindlicher Vereinbarungen zwischen den beteiligten Akteuren zur Qualitätsentwicklung des Hilfesystems erfolgt die Umsetzung der geplanten Maßnahmen, zu denen Berichte mit quantitativen Daten und qualitativen Bewertungen gesammelt und ausgewertet werden. Die Auswertungsergebnisse werden in den Gremien zur Koordination der regionalen Verbünde diskutiert und bilden den Ausgangspunkt für eine Evaluation und Fortschreibung der regionalen Planung. Wichtige Strukturen und Einflussfaktoren im Kontext dieser Kernaufgabe Bei diesen Aufgaben sind Sozialpsychiatrische Dienste auf enge Zusammenarbeit mit allen beteiligten Akteuren angewiesen. Dazu gehören Politik und Verwaltung Leistungserbringer Kostenträger kommunale soziale Dienste und nicht zuletzt die Selbsthilfeinitiativen der Betroffenen und ihrer Angehörigen Der hier zu betreibende Aufwand und der damit zu erzielende Erfolg ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Zu nennen sind hier 146 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst insbesondere Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft sowie bestehende Koordination zwischen den verschiedenen kommunalen Fachdiensten und Behörden, zwischen Verwaltung und Politik innerhalb der Kommune, zwischen ihr und der Landesebene. Auch der Umfang und die Qualität der Berichterstattung sowie die Fachund Sozialplanung in der Kommunalverwaltung spielen eine entscheidende Rolle. Die Traditionen der Netzwerkarbeit vor Ort und gewachsene Strukturen zur Koordination der Aktivitäten, Verfügbarkeit und Vielfalt externer Systempartner im Verbund sowie deren Fähigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit sind wesentliche Faktoren. Leistungsbestandteile und Qualitätsstandards Die folgenden Standards beschreiben einen Expertenkonsens des Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste in Deutschland zur aufgabengerechten Bearbeitung des nachfolgend genannten Leistungsspektrums. Hier findet sich auch eine Checkliste der einzelnen Aufgaben im Rahmen der Netzwerkarbeit und Steuerung im regionalen Verbund. Allgemeine Standards Art und Umfang des Einsatzes für die Netzwerkarbeit und Steuerung im regionalen Verbund sind vor dem Hintergrund der spezifischen Strukturen und zahlreichen Einflussfaktoren vor Ort sehr unterschiedlich. Diese Aufgabe erfordert in besonderer Weise Gestaltungswillen und Moderationsfähigkeit. Leitend sind die Prinzipien der Gemeindepsychiatrie: Prävention und Inklusion Personenzentrierung und Lebensweltorientierung bei der Gesamt- und Hilfeplanung unter Mitwirkung der betroffenen Menschen zuverlässig verfügbare, qualifizierte und bei Bedarf langfristige wohnortnahe Hilfen auf Basis sektorisierter Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 147 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Versorgungsstrukturen mit einem Vorrang ambulanter vor stationären Hilfen besondere Sorge für Menschen mit chronisch und schwer verlaufenden psychischen Beeinträchtigungen mit guter Koordination bei komplexem Hilfebedarf In welcher Breite und Tiefe die verschiedenen Teilaufgaben zur Netzwerkarbeit und Steuerung im regionalen Verbund wahrgenommen werden (ggf. als “Psychiatriekoordination”), lässt sich quantitativ und qualitativ nur schwer definieren, u.U. sind auch Aufgaben der Fachaufsicht wahrzunehmen. Weitere Aufgaben 5 Neben den vier bisher beschriebenen Kernaufgaben können für einen SpDi noch weitere Aufgabenfelder zum Arbeitsauftrag gehören, die in unterschiedlicher Breite und Tiefe wahrgenommen werden. Prävention “ „Der öffentliche Gesundheitsdienst fördert und schützt die Gesundheit der Bevölkerung“ so lautet die allgemeine gesetzliche Prämisse des Handelns. Dazu zählt die Aufgabe, “ „Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung zu veranlassen und zu koordinieren.” Außerdem hat sich die Bundesrepublik mit dem Präventionsgesetz aus 2015 (Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention PräVG) auf den Weg gemacht, die Zusammenarbeit der Kostenträger mit den Ländern und Kommunen zu verbessern. Bevorzugt sollen die Leistungen sozialräumlich in den Lebenswelten für alle Altersgruppen erbracht werden. Primärprävention in der sozialpsychiatrischen Tätigkeit bedeutet einerseits in Verbindung mit der Öffentlichkeitsarbeit die Aufklärung über 148 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Entstehungsbedingungen psychischer Erkrankungen und ihrer Risikofaktoren. Andererseits geht es um die Förderung von Wissensvermittlung bspw. zu den Themen Resilienz, Konflikt-und Stressmanagement, Training sozialer und emotionaler Kompetenzen und um Emotionsregulation. Vor allem sind für die besonders belastenden Familien innerhalb einer Gebietskörperschaft auch die frühe Förderung der Erziehungskompetenzen im Rahmen z.B. der Frühen Hilfen zu nennen, die Familien in prekären Lebenssituationen mit praktischer Unterstützung die Teilhabe am Leben ermöglichen. Im Zwischenbereich Primär- und Sekundärprävention ist die gezielte Suizidprävention und auch die Suchtprävention zu verorten. Natürlich liegt der Schwerpunkt hier auf der Früherkennung der Risikofaktoren oder schon ausgebildeten, noch nicht diagnostizierten Erkrankungen wie der Depression, die eine der Hauptursachen für den Suizid eines Menschen bilden. Als Mittel des ÖGD sind unterschiedliche Veranstaltungen sinnvoll, die Volkskrankheiten wie die Depression in den Fokus der Öffentlichkeit bringen. Neben den klassischen Fortbildungen haben sich öffentliche Diskussionen mit Betroffenen, Lesungen, Filme etc. bewährt, um verschiedene Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Selbst bei der Depression lässt sich ein gesellschaftliches Unwissen konstatieren. Dem ist mit fachlichen Informationen in einfacher Sprache und handhabbarer Weise entgegenzutreten. Das ermöglicht eine frühzeitige adäquate Behandlung, die wie bei den meisten Erkrankungen einer Chronifizierung entgegen wirken kann und großen volkswirtschaftlichen Schaden vermindern kann. Immerhin bilden die psychischen Krankheiten den größten Anteil an den Frühverrentungen (DRV, 2019) sowie Steigerungen um mehrere hundert Prozent bei den Arbeitsunfähigkeitskosten bei den GKV seit Ende der 90er Jahre. Hierbei handelt es sich nicht um einen tatsächlichen Zuwachs von Inzidenz oder Prävalenz, sondern darum, dass Störungen, die früher unter Deckdiagnosen wie “vegetative Dystonie” oder anhand der präsentierten Symptome als Störungen von Herz-Kreislauf-System, Verdauungstrakt oder Bewegungsapparat Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 149 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste falsch eingeordnet wurden, nun zutreffend erkannt werden und dementsprechend eine deutlich gesteigerte Inanspruchnahme psychiatrischer/ psychotherapeutischer Maßnahmen zur Folge haben. Dem muss nun durch angemessene Maßnahmen Rechnung getragen werden. Die nationale Präventionsleitlinie fördert zusätzlich verstärkt den Aufbau der Selbsthilfe. Die Tertiärprävention schließlich, die Milderung von Krankheitsfolgen, Vermeidung von Rückfällen und Verschlimmerung der Erkrankung, erfolgt im ÖGD in der individuellen Betreuung, Beratung und Begleitung der Patienten. Der öffentliche Gesundheitsdienst hat ob seiner herausgehobenen Funktion im Gesundheitswesen sowohl den Auftrag der Verhaltens-, wie auch der Verhältnisprävention und übergreifend auch der geschlechtersensiblen Prävention. Die Gesundheitskompetenzen zu stärken und Risikoverhalten zu erkennen und zu reduzieren, dient auf der individuellen, aber auch auf der öffentlichen Ebene der Verhaltensprävention. Das gemeindenahe Sozialpsychiatrische Wirken befördert durch bedarfsgerechte Koordination der AngeboteNetzwerke zudem die Verhältnisprävention. Ein bislang nicht hinreichend beachteter Teil der Präventionsmöglichkeiten sind die geschlechtsspezifischen Aspekte einzelner Erkrankungen und auch Behandlungsformen. Als ein wichtiges Beispiel sei an dieser Stelle nur die unterschiedliche Ausprägung und Behandlungsnotwendigkeit der depressiven Erkrankung bei Männern erwähnt. Eine gezielte Aufklärung und Früherkennung der Depression bei Männern könnte bei der stark geschlechterabhängigen Suizidrate (3-7:1) eine Reduktion der Suizidrate zur Folge haben. Erste großangelegte Studien dazu sind abzuwarten. Beratung in der Schnittstellenarbeit Aufklärung und Beratung sind im Fachbereich Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitshilfe für Erwachsene eine der 150 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst zentralen Aufgaben und daher in den Ländergesetzen zum öffentlichen Gesundheitsdienst verankert. Der Beratung und Hilfeleistung wird dabei nicht nur im Einzelnen (Kernbereich 1) begegnet, sondern der Sozialpsychiatrische Dienst nimmt in subsidiärer Stellung vielfältige Aufgaben in diesem Bereich war. Die Aufklärung und Beratung zu den entsprechenden psychiatrischen Gesundheitsthemen kann in der Schnittstellenarbeit zu anderen Akteuren unterschiedlichste Ausprägungen annehmen. Die manchmal auch als sozialpsychiatrische Liasonarbeit bezeichnete Funktion der Sozialpsychiatrischen Dienste spiegelt sich dabei wider in der Zusammenarbeit und Beratung und Aufklärung von u.a.: Gemeinschaftseinrichtungen wie z.B.-- Obdachlosenheimen-Einrichtungen für Asylbewerber-- Erstaufnahmeeinrichtungen-Senioren-, und Pflegeheimen Polizei- und anderen Ordnungsbehörden Jugendamt Wohnungsbaugenossenschaften ehrenamtlichen Betreuern u.v.m. Antistigmaarbeit / Öffentlichkeitsarbeit Der öffentliche Gesundheitsdienst als dritte Säule des Gesundheitswesens ist neben der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung der Öffentlichkeit meist nur im Sinne eines Kontrollorgans, bzw. einer Überwachungsbehörde bekannt. Allgemeinplätze wie "psychische Erkrankungen sind in unserer Gesellschaft ein Tabu", "psychisch Kranke werden stigmatisiert" klingen bedrohlich und haben gleichermaßen einen Aufforderungscharakter. Leider werden sie auch im 21. Jahrhundert durch die junge Disziplin der Antistigma-Forschung wiederholt bestätigt. In Teilbereichen wird sogar eine weitere Zunahme der Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 151 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste Ausgrenzungstendenz wahrgenommen (Bandelow, 2018). Diese ist wahrscheinlich auf eine einseitige Propagierung eines biologistischen Krankheitsmodells durch frühere Antistigmakampagnen zurückzuführen, die die Vorurteile stärkten, statt sie zu mindern. Neben den Erkenntnissen dazu, wie auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene Stigmata entstehen und sich verfestigen, sind entsprechende Interventionsansätze entwickelt worden (Aktionsbündnis Seelische Gesundheit, Gaebel, Ahrens, Schlamann, 07/2010). Im Rahmen des öffentlichen Gesundheitsdienstes stehen evaluierte Maßnahmen zur Wissensvermittlung zur Verfügung. Dazu dienen niedrigschwellige Informationsportale wie Homepage, Flyer in leichter Sprache, Informationsmaterial in verschiedenen Sprachen, Tage der offenen Tür, Kooperationen mit Schulen z.B. für Gesundheitstage, kostenfreie Informationsreihen für die Bürger zu den verschiedenen relevanten Themen von Impfkampagnen bis zur Sexualität im Alter. In Bezug auf die stärker tabuisierten Themen hat sich zur Aufklärung der Allgemeinbevölkerung eine zielgruppenspezifische Vorgehensweise zur vertieften Vermittlung krankheitsspezifischer Merkmale und Möglichkeiten der Begegnung bewährt, z.B. Veranstaltungen zur male depression in Bereichen mit hohem Männeranteil wie Polizei und Feuerwehr oder Suizidpräventionsangebote in Schulen und Altersheimen. Als entscheidender Wirkfaktor im Hinblick auf eine tatsächliche Veränderung der Einstellungen zu psychisch kranken Menschen, und insbesondere die Reduzierung des Distanzwunschs, haben sich Veranstaltungsformate erwiesen, in denen es zu einem persönlichen Kontakt zu Betroffenen kommt. Diese berichten davon, wie sie mit ihren Krisen und ihrer Erkrankung umgehen und so als Rollenmodell für die Bewältigung von als katastrophal angesehenen Problemen dienen und so zugleich die Resilienz der Teilnehmer stärken wie Stigmata reduzieren. Auf reine Informationsvermittlung begrenzte Kampagnen scheinen eher den Distanzwunsch zu steigern. 152 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Innerhalb des sozialräumlich psychiatrischen Versorgungssystems kann eine Öffnung in die Lebenswelten durch gemeinsame Veranstaltungen Betroffene und Interessierte zusammenbringen und helfen Schwellen und Berührungsängste abzubauen - so z.B. Aktionsgemeinschaft oder Psychiatriewoche. Hilfreich ist hier die Netzwerkbildung verschiedenster Akteure innerhalb der Gebietskörperschaft, die sich unter einem Thema zusammenfinden und unterschiedliche Sichtweisen repräsentieren. Als Beispiel sei hier das Frankfurter Netzwerk für Suizidprävention benannt. Hier haben sich mehr als 70 Institutionen zusammengeschlossen, die vielfältige Angebote und Handreichungen für Zielgruppen, Betroffene, Angehörige und Profis entwickelt haben. Hier ein Link zu Ablaufschema und Hilfsangeboten: www.frans-hilft.de. Psychosoziale Notfallversorgung Die unteren Gesundheitsbehörden der Länder haben als untere Katastrophenschutzbehörde (Katgesetz) vielfältige Aufgaben und koordinierende Funktionen einzunehmen. Hierbei kann unter Umständen bei einem Massenanfall von Verletzten auch der Sozialpsychiatrische Dienst, in die Funktion der psychosozialen Notfallvorsorge (PSNV) eingebunden, maßgeblich mitbeteiligt bis leitend tätig werden. Nur wenige Gesundheitsämter bzw. Sozialpsychiatrische Dienste haben sich bisher mit diesem Thema eingehender beschäftigt. Hier sollen als "best practice" Beispiele vor allem auf die Einbindung der PSNV in Frankfurt am Main und Düsseldorf verwiesen werden. Im Kern geht es um die kurz- bis mittelfristige psychosoziale Versorgung von Betroffenen, deren Angehörigen und der Einsatzkräfte sowie die anlassbezogene Vorhaltung spezifischer Bürgertelefone (Hotline). Nach Abschluss der mittelfristigen Phase (ca. 1 Jahr) steht die abgeschlossene Vermittlung in das Hilfesystem, sofern notwendig. Die PSNV muss dazu in die reguläre Alarmierungskette der Sicherheitsbehörden eingebunden und Teil des Krisenstabes sein. Hierzu ist die Bildung eines PSNV-Teams erforderlich, das Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 153 Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste hierarchisch aufgebaut ist und den Strukturen der örtlichen Katastrophen- bzw. Notfallstrukturen angepasst sein sollte. Die bisherigen europäischen Notfalllagen wurden dahingehend betrachtet und Schwachstellen wie die mangelnde Angehörigenbetreuung und die Lücke der mittelfristigen Versorgung hervorgehoben. Deshalb sind strukturierte Ablaufpläne und fortlaufende Beübung unterschiedlicher Szenarien unabdingbar. Der Bundesverband für den öffentlichen Gesundheitsdienst hat in einer Unterarbeitsgruppe PSNV ein Positionspapier auf den Weg gebracht Heilpraktikerüberprüfung eingeschränkt auf Psychotherapie Nach der ersten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) führen die Gesundheitsämter die Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten durch. Grundlage der Überprüfung ist ausschließlich die Frage, ob die Person “ „eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung (oder für Patientinnen und Patienten)...bedeuten würde“ (§2 Abs. i des Heilpraktikergesetzes). Im Rahmen der psychischen Erkrankungen gibt es den Bereich der sektoralen Heilpraktikererlaubnis Psychotherapie. Aus den Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärterinnen- und anwärtern nach §2 des Heilpraktikergesetzes gehen in §1 die allgemeinen Inhalte der Überprüfung hervor, die sich bei sektoralen Anträgen jeweils auf dieses Fachgebiet unter Einbezug differentialdiagnostischer Fragestellungen beschränken. Die Überprüfung gliedert sich in einen mündlichen und schriftlichen Teil. Verfügt ein Antragsteller über einen „bundesgesetzlich geregelten Heilberuf“ oder einschlägig nachgewiesene Kenntnisse kann die überprüfende Behörde einen Kenntnisüberprüfungsverzicht, 154 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst insbesondere des schriftlichen Teils, erlassen. Der schriftliche Teil der Überprüfung umfasst beim Heilpraktiker Psychotherapie 28 Fragen in 60 Minuten, der mündlich-praktische Teil der Überprüfung dauert höchstens 45 Minuten. Länderspezifisch erfolgt nach bestandener Überprüfung die Anzeige einer selbstständigen Tätigkeit im Gesundheitsamt. Eine weitere regelmäßige Überwachung der Berufsausübung ist für den Heilpraktikerberuf nicht vorgesehen. Für diese Aufgabe der Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten wird oft auf die Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie des Sozialpsychiatrischen Dienstes zurückgegriffen. Beteiligung bei der Heimaufsicht (in SchleswigHolstein) Die heimaufsichtliche Prüfung der vollstationären psychiatrischen Eingliederungshilfe- und Pflegeeinrichtung erfolgt unter Einbeziehung der fachlichen Kompetenz der Mitarbeiter des SpDi. Hier wird besonderer Augenmerk auf die Prüfung der Konzepte und deren Umsetzung sowie die Einhaltung von fachspezifischen Qualitätsstandards gelegt. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 155 Aspekte aus der Praxis Aspekte aus der Praxis Im Folgenden werden verschiedene Aspekte aus der praktischen Arbeit der SpDi in Form von exemplarischen Handlungsabläufen, Fallbeschreibungen und Darstellung spezieller Problembereiche dargestellt. Beispiel einer sozialpsychiatrischen Exploration In der Exploration geht es darum, in einem Gespräch mit dem Klienten oder Patienten einen Eindruck von seiner aktuellen Lebenssituation sowie Vorgeschichte zu erhalten, um zumindest zu einer vorläufigen Einschätzung zu kommen, ob eine relevante psychische Störung vorliegt - und ob daraus ein Handlungsbedarf resultiert. Hierbei steht im Vordergrund die Frage, wie ein selbstbestimmtes Leben im angestammten sozialen Umfeld unterstützt bzw. aufrecht erhalten werden kann. Dazu muss zumindest ein orientierender psychischer Befund erhoben werden, in der Interaktion mit der Umwelt problematische Verhaltensweisen eruiert werden, potentielle Gefährdungsaspekte überprüft werden und die soziale Sicherung betrachtet werden. Wenn die Person von sich aus über psychische Probleme berichtet, sei es diese explizit thematisierend: “ “Wegen meiner Angstanfälle kann ich die Wohnung nicht mehr verlassen, und jetzt hat mich das JobCenter total gekürzt, weil ich 3x unentschuldigt nicht gekommen bin.” oder implizit: “ “Wenn die Nachbarn nicht immer mit diesem Modul meine Gehirnströme entziehen würden, könnte ich wieder schlafen, und dann könnte ich auch wieder arbeiten gehen. Sonst habe ich überhaupt keine Probleme. Sie müssen mit den Nachbarn reden, nicht mit mir” 158 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst ergibt sich das Gespräch fast wie von selbst. Wir müssen nur, anknüpfend an die Äußerungen unseres Gegenübers, unsere geistige Checkliste abarbeiten, indem wir durch entsprechende Fragen oder Kommentare das Gespräch lenken. Ist die Person eher abwehrend, zögerlich oder nur unbeholfen in der Reflexion über sich selbst, hilft es mit dem Anlass des Besuches zu beginnen, z.B.: “ “Ich bin ja zu Ihnen gekommen, weil sich XY Sorgen macht, dass es Ihnen nicht gut geht bzw. weil QW beunruhigt ist über die nächtlichen Schreie aus Ihrer Wohnung. Was halten Sie davon?” Auch wenn dann in erster Linie eine Gegendarstellung folgt, mischt sich oft ein Hinweis auf das Erleben hinein und es gibt Aussagen zu z.B. Schlafproblemen (weil über das WLAN Impulse ausgestrahlt werden, die ihm Schmerzen bereiten) und das Gespräch kann leicht dazu übergeleitet werden , ob er eine Idee hat, wer der Verursacher sein könnte und warum er als Opfer gewählt wurde. Womit wir vom Thema Sinnestäuschungen zum Thema Wahn gekommen wären. Wir können auch fragen, wie sehr er darunter leidet, ob er, so er ihn zu kennen glaubt, gegen den Verursacher etwas unternehmen will und wenn ja, was oder ob er schon daran gedacht hat, sich der Qual durch Suizid zu entziehen (womit Fremdund Eigengefährdung abgeklärt wären) oder er an einen Umzug denkt. Vielleicht ist er genau deswegen in den letzten 5 Jahren schon 7 mal umgezogen und darum jetzt in der Insolvenz, woraus sich zahlreiche weitere Fragen ergeben. Aber es zeigen sich auch Ansatzpunkte für Unterstützungsangebote, vielleicht auch eine Brücke zu einer Problembeschreibung, in der eine psychiatrische Behandlung eine sinnvolle Handlungsoption sein könnte. Wenn das Gespräch nicht recht vorangeht, kann man sich auch den Tagesablauf Schritt für Schritt schildern lassen. So bekommt man ein anschauliches Bild von Antriebslage und Tagesstruktur, aber auch sozialen Kontakten, dem Stil der Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 159 Aspekte aus der Praxis Beziehungsgestaltung und Kompetenzen. Wie man sieht, kann die Antwort auf ein einzige Frage Aufschluss über zahlreiche Sachverhalte geben. Viele Symptome hängen in ihren Auswirkungen auf die Aktivitäten eng miteinander zusammen, sodass man innerhalb von 30 bis 45 Minuten zu einem tragfähigen Eindruck gelangen kann. Genügt es uns, sicher zu sein, dass die Person an einer schweren psychischen Störung leidet und dringend Räumungsschutz, Rücknahme einer Sanktion oder die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung nötig ist, kann man daraufhin das entsprechende Attest ausstellen. Soll man ein wissenschaftliches Gutachten anfertigen, in dem es auf eine exakte diagnostische Einordnung ankommt, muss man selbstverständlich einen höheren Aufwand betreiben, für eine umfassende biographische Anamnese muss man auch in einfachen Fällen ohne relevante Persönlichkeitsproblematik wenigstens 2 Stunden ansetzen. Sofern der Auftraggeber die Kosten dafür übernimmt, sollte auch eine testpsychologische Persönlichkeits- und Leistungsdiagnostik erfolgen. Dies kann kaum in weniger als 5 bis 6 Stunden erfolgen. Auch wenn wir in der Dokumentation Befund und Anamnese fein säuberlich voneinander trennen, erfassen wir im Untersuchungsgespräch, jedenfalls in den freien, nicht strukturierten Gesprächsabschnitten, diese Informationen miteinander. Die Punkte, die im freien Gespräch nicht geklärt wurden, werden dann in einem halbstrukturierten Abschnitt angesprochen. Man sollte darauf achten, besonders heikle Fragen, wie die nach der Orientierung, der Merkfähigkeit, dem Gedächtnis und der Auffassung zum Schluss zu stellen. Die damit einhergehende Konfrontation mit kognitiven Defiziten kann zu heftigen Erregungszuständen führen und zumindest das Ende der Exploration bedeuten. Hat man es geschafft, diese Klippe zu umschiffen, ist es empfehlenswert, noch einen freien Teil anzuschließen, indem man anbietet: 160 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst “ “ “Jetzt habe ich Ihnen viele Fragen gestellt, aber vielleicht gibt es noch etwas, über das wir noch nicht gesprochen haben, und das Ihnen noch wichtig ist.” Folgende Formulierungen haben sich bewährt, um ein Explorationsgespräch zu strukturieren: “...Das habe ich nicht verstanden, können Sie mir das näher erklären?” “...Was meinen Sie damit?” “Was verstehen Sie darunter?” “Sie haben vorhin erwähnt, dass.....Wie meinen Sie das?” “Viele Patienten berichten, dass.....Kennen Sie das auch?” “Ich möchte Sie noch besser verstehen, daher frage ich noch einmal genauer nach. ...” “Warum ist das mit Ihnen geschehen?” “Können Sie mir ein Beispiel nennen?” In der gesamten Anamnese wird aus der Art und Weise der Darstellung des Anliegens und der Beantwortung der Fragen auf die allgemeine Differenzierung und die Introspektionsfähigkeit geschlossen. Auftreten und Erscheinung Fragen zu Auftreten und Erscheinung beziehen sich auf Übertragung und Gegenübertragung in der Untersuchungssituation und mögliche Beeinflussungen der gegenseitigen Wahrnehmung. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 161 Aspekte aus der Praxis Anlass der Untersuchung, Beschwerden und Probleme Die Darstellung der vom Betroffenen vorgebrachten Äußerungen zum Anlass der Untersuchung, zu seinen Beschwerden und Problemen, geben Auskunft über seine Sicht der Dinge. Was ist für ihn wichtig? In welcher Reihenfolge? Ist er sich im Klaren über Sinn und Zweck sowie Ziel und Folgen der Exploration? Lebensgeschichte Die zeitlich geordnete Lebensgeschichte gibt Überblick und Auskunft über mögliche frühere Erkrankungen und Krisen oder Konflikte im Leben, die der aktuellen Erkrankung vorausgehen und diese beeinflussen können. Allgemeine Zielrichtungen, Brüche und Beeinflussungen durch andere Personen werden erkennbar, Lücken im Lebenslauf werden gefüllt, sie sind meist besonders wichtig für die psychische Entwicklung. Derzeitige Lebenssituation Die Frage nach der Lebenssituation zielt auf die Beeinflussung des Alltags durch die Erkrankung. Inwieweit strukturiert die Erkrankung das normale Alltagsleben vor, wie ist der Lebensvollzug eingeschränkt, wieviel Kraft wird von der Krankheit beansprucht? Wie ist das soziale Leben strukturiert? Die Lebensachsen werden abgefragt: Beziehung(en), Familie Arbeit Finanzen Freizeit und Urlaub Hilfen, Therapie, Versorgung Konflikte 162 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Primärobjektbeziehung und Familiendynamik Hier wird der psychische Hintergrund der Lebensgeschichte und der derzeitigen Lebenssituation erhellt. Die auf Nachfragen spontan geäußerten ersten Kindheitserlebnisse lassen - wie auch spontan geäußerte Träume - Rückschlüsse auf unbewusste Grundhaltungen und Einstellungen zu. Jemand, der als Erstes über die Mutter berichtet, die ihn als Kleinkind eingecremt hat, wird ein anderes Lebensbild haben, als ein Mensch, der zunächst von Tieffliegerangriffen berichtet, die er als Kleinkind im Luftschutzkeller erlebte. Fragen nach Lob und Strafen durch die Eltern, Schulleistungen und Rollenverhalten sowie psychosexueller Entwicklung decken weitere Lebenslinien auf, die von den Probanden nicht bewusst gesteuert werden können, da es keine richtigen oder falschen gibt, sondern nur wahre oder unwahre (verschwiegene) Antworten gibt. Hierzu gehören auch Fragen zu religiöser Ausrichtung Gewissen psychosexueller Entwicklung schulischer Leistung und Sozialisation grob orientierende Leistungsprüfung Sprichwörter Alltagslogik Je nach Einschätzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit werden auch zusätzliche Orientierungen vorgenommen. Das Kopfrechnen 100 – 7 usw. dient auch zur Überprüfung der Ausdauer. (s. MMST- Mini Mental Status Test) Es empfiehlt sich, die Ergebnisse mitzuschreiben und dann, wenn die Betroffenen fertig sind, nachzuhaken, die Fehler nochmals abzufragen. Ganz besonders bei Psychosen ist es durchaus möglich, richtig kopfzurechnen aber die lange Dauer, bei „100 minus sieben“ vom vorigen Ergebnis wiederum sieben abzuziehen, bis es nicht mehr geht, überfordert die Konzentration der Betroffenen. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 163 Aspekte aus der Praxis Sprichwörter “ Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wenn irgendeine Assoziation mit Eltern oder Vorfahren genannt wird, reicht es aus, um ein Verstehen oder eben Abstraktionsfähigkeit zu notieren. Wenn das Sprichwort unbekannt ist, gleich nachfragen, was es denn bedeuten könnte, auch wenn kein Apfelbaum oder kein Apfel in der Nähe sind, wenn jemand diesen Satz sagt. Wenn Probleme mit der Erläuterung bestehen, kann man auch als Hilfe nennen: “Bitte erklären Sie es wie einem Kind, das mit fünf Jahren danach fragt: Papa da hat jemand gesagt “der Apfel fällt nicht weit vom Stamm”, aber es war überhaupt kein Apfelbaum in der Nähe.” Häufig hilft es auch zu bitten, dass eine Situation im Leben als Beispiel genannt wird, für die das Sprichwort passen könnte . “ "Morgenstund hat Gold im Mund." Die meisten haben es gehört und meinen dann, dass man besser drauf sei, wenn man früh aufstehe. Da muss man dann nachhaken, was denn derjenige will, der zu jemandem sagt, dass die Morgenstund Gold im Mund hat. Er will nämlich, dass jemand früher aufsteht. Es klingt oft so, als ob der Auffordernde zu überzeugen versucht, dass es leicht sei, früh aufzustehen - der Tag sei dann schöner. Der tatsächliche Sinn des Sprichworts bedeutet aber, dass, wer früher beginnt, auch mehr Erfolg im Leben hat, sich dann mehr verdient und sich z.B. Goldzähne leisten kann. Wenn als Antwort ein Vergleich mit dem englischen Sprichwort “ „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ kommt, bedeutet die Übersetzung in ein ganz anderes, aber äquivalentes Sprichwort, dass er es zumindest verstanden hat. Aber dann sollte er trotzdem noch den frühen Vogel erläutern können. Antworten auf 164 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Stufe 1: Wenn man früh aufsteht, ist man besser drauf. konkretistisch (ganz konkretistisch) Stufe 2: Wenn man früher aufsteht, erreicht man mehr im Leben (ebenfalls konkretistisch, es kann nicht vom frühen Aufstehen abstrahieren). Stufe 3: Wenn man Aufgaben schneller als andere beginnt, erreicht man mehr “ Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Stufe 1: Wenn man mit einem Stein im Glashaus wirft, fallen Scherben auf einen herunter” (konkretistisch). Stufe 2: Jeder kehre vor der eigenen Tür. Wer Anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Nicht den Splitter im Auge des Nächsten sehen, sondern den Balken im eigenen Auge. Das ist wieder die Nennung eines äquivalenten Sprichworts, wie der frühe Vogel. Stufe 3: Man sollte andere nicht kritisieren mit Dingen, für etwas, dass an einem selbst kritikwürdig ist. “ Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Viele kennen dieses Sprichwort nicht mehr. Es wird anscheinend selten verwendet. Stufe 1: Wenn ein Krug aus Ton häufig verwendet wird, um Wasser vom Brunnen zu holen, geht er auch einmal kaputt (konkretistisch). Stufe 2: Wenn man etwas lange verwendet, nützt es sich ab und geht kaputt. (genau so konkretistisch wie 1) Stufe 3: Wenn man eine Sache überzieht oder etwas Gefährliches/Böses öfter tut, geht es auch einmal schief, selbst wenn es oft gut gegangen ist. Die vier Sprichwörter sind in der angegebenen Reihenfolge immer schwieriger und verlangen eine jeweils höhere Abstraktionsfähigkeit. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 165 Aspekte aus der Praxis Die Erläuterung mit anderen Sprichwörtern zählt auch als verstanden. Wenn Beispielsituationen gefunden werden können, heißt dies , dass Abstraktionsfähigkeit vorliegt, aber eben ein Sprachschatz/Wortschatz/Verbalisation zum Ausdruck der abstrakten Zusammenhänge nicht vorhanden ist. Alltagslogik 1: Captain Cook hat drei große Weltumsegelungen im 17. Jahrhundert gemacht. Auf einer seiner drei großen Weltumsegelungen wurde er von Eingeborenen auf Tahiti totgeschlagen. Auf welcher seiner drei Weltreisen wurde er totgeschlagen? Stufe 1: Wir hatten keine Geschichte in der Schule. Ich kenne Captain Cook nicht. Stufe 2: Von Captain Cook habe ich schon gehört und er wurde auf der ersten/zweiten Weltreise totgeschlagen. Stufe 3: Ich kenne zwar Captain Cook nicht, aber er müsste wohl auf der dritten Weltreise totgeschlagen worden sein, weil er sonst ja die anderen beiden nicht hätte machen können. Stufe 4: Auf der dritten Weltreise. Falls jemand auf Stufe eins oder zwei geantwortet hat, können Hilfen gegeben werden. Was wäre passiert, wenn Captain Cook auf der ersten Weltreise totgeschlagen worden wäre? Falls keine Antwort kommt weiterfragen: Hätte er dann die zweite Weltreise machen können? Falls dann ein “nein” kommt, wäre die nächste sinnvolle Frage: Auf welcher der drei Reisen wurde er also totgeschlagen? Wenn auch jetzt ein Schulterzucken kommt oder nur „auf der zweiten“ geantwortet wird, kann man weiterfragen: „Hätte er die dritte Weltreise machen können wenn er auf der zweiten totgeschlagen worden wäre?“ Und erst wenn hier dann keine Antwort kommt, muss man von völlig fehlender Alltagslogik ausgehen. 166 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Auch in diesen verzweifelten Fällen gibt es noch etwas Einfacheres: Woraus ist ein Kupferpfennig gemacht? Falls auch hier ein Schulterzucken erfolgt, nicht aufgeben. Sie haben die Auswahl: Aus Gold, aus Silber, aus Kupfer? Aus Kupfer! Sehr gut! Dann aber noch eine Kontrollfrage: Woraus ist ein Silberdollar gemacht? „Machen Sie sich nichts draus, wenn Sie das nicht wissen, jetzt kommt was Leichteres“. Alltagslogik 2: Briefkastenbeispiel Was würden Sie tun, wenn sie auf der Straße einen verschlossenen Brief mit aufgeklebten Briefmarken und Absender und Empfänger finden würden? Stufe 1: liegen lassen, der geht mich nichts an. Stufe 2: zum Fundbüro bringen. Stufe 3: zum Empfänger bringen. Stufe 4: zur Post bringen. Stufe 5: in einen gelben Postbriefkasten werfen. Völlig daneben liegende Antwort: Brief aufmachen und durchlesen, um festzustellen, wem er gehört. Auch hier kann man den Umgang und die Logikfähigkeit im Alltag erkennen. Verbale Fähigkeiten, Gemeinsamkeiten finden: Was ist das Gemeinsame an Bach und See? Stufe 1: der Bach fließt und der See steht. (konkretistisch, trennende Merkmale werden genannt) Stufe 2: das Gemeinsame ist Wasser. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 167 Aspekte aus der Praxis Stufe 3: Gewässer Wenn nur Stufe 2 genannt wird, sollte ein deutsches Wort verlangt werden, mit dem beide gleichzeitig benannt werden. Am besten mit der Vorgabe: „Bach und See beides sind mmm.“ Oft kommt dann erst das deutsche Wort Gewässer. Bei Sprachproblemen würde natürlich der Einzelbegriff Wasser auch ausreichen. Tisch und Stuhl? “ „Beides sind mmm.“ Stufe 1 : Gegenstände Stufe 2: Einrichtungsgegenstände Stufe 3: Möbel Als Hilfe kann auch noch angedeutet werden: „Tisch und Stuhl und Bank und Schrank, alles sind mmm.“ Es ist erstaunlich, wie häufig die verbalen Dinge leicht, locker und spontan gelöst werden, das Kopfrechnen jedoch unüberwindliche Schwierigkeiten macht, z.B. Personen mit Lernbehinderung, aber guten sozialen Fähigkeiten. Bei dieser grob orientierenden Leistungsüberprüfung können nur pauschale Aussagen getroffen werden. Kopfrechnen: Abziehen der Zahl 7 von 100, vom Ergebnis wieder 7 abziehen usw., möglichst schnell und flüssig. unauffällig bildungsentsprechend gering, langsam, mit Fingerhilfe richtig mehrere Konzentrationsfehler aber selbstständige Verbesserungen möglich mehrere Fehler aber bei Nachfragen Richtigstellung bei Nachfragen weitere Fehler freies Phantasieren. 168 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Abstraktionsfähigkeit gering, bildungsentsprechend gering an Beispielen möglich, rudimentär unauffällig. Alltagslogik Eingeschränkt Unauffällig Kurze Bewertung, ob Verbalteil und Kopfrechnen oder Abstraktionsfähigkeit insgesamt zusammenpassen. Spezialitäten Sexueller Hintergrund der Fragestellung Bei Fragestellungen mit sexuellem Hintergrund (Missbrauch, Spanner, Video-Spanner, Stalker, Vergewaltigung, Blitzer, Exhibitionisten, Transvestiten, Transsexuelle). Ausführliche und genaue, konkrete Sexualanamnese: Stichworte: Erste sexuelle Erinnerungen, erste Ejakulationen, TabuErfahrungen, Tabu-Übertretungen mit Onanie-Erfahrungen, Masturbationspraxis, Hilfsmittel, Ort, Zeit, Häufigkeit, mit wem, Verhältnis zur Religion, erster GV, jetzige Praxis, Prostitution eigene bei Fremden, Preise!, finanzieller Aufwand, Freundinnen und Freunde, Partnerinnen und Partner, mehr oder weniger häufiger Wechsel, Zeitdauer der Bekanntschaften, Pornohefte, -Filme, eigene Herstellung Alles muss, am besten an Beispielen, explizit abgefragt werden. Nicht nur: Haben sie masturbiert? Sondern wann fingen Sie an? Wie (oft) derzeit? Mit wem? Vor Wem? Mit welchen Hilfsmitteln? Wie wurden oder werden diese gelagert, versteckt, gereinigt, entsorgt? Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 169 Aspekte aus der Praxis Sinn und Zweck: Die wenigsten Patienten können die Hintergründe und seelisch zugrunde liegenden Problematiken benennen. Aber aus der Art und Weise und den Inhalten der Antworten kann man darauf schließen. Asylgutachten, Migrantenbegutachtungen sind erschwert durch Sprachprobleme, Übersetzerprobleme, Retraumatisierungsgefahr und Druck durch auftraggebende Stellen. Bei Täteransprache und vom Umfeld gemeldeten „Gefährdern“ kommt die Eigensicherung beim Gespräch als Problem hinzu. Bei der Opferberatung, z. B. gestalkter Menschen ist die geduldige Begleitung und sensible Beratung gefragt. Die Vermieterberatung undder Kontakt mit Wohnungsbaugesellschaften sollte dazu verwendet werden, die Antistigma-Bemühungen weiter zu führen.. Fallbeispiele Beispiel: Herr Schlag (Themen: Schizophrenie, Komorbidität, Maßregelvollzug, Fremdgefährdung, Hausbesuch mit Eigensicherung) Frau Angst ruft Sie an und berichtet dass ihr Nachbar Herr Schlag in den letzten Tagen mehrmals bedrohlich und laut schreiend durch den Eingang gerannt sei. „Er brüllt dann ‚ich töte euch alle, die Jedis siegen, die Macht ist stark‘. Vor zwei Tagen habe er das Glas der Eingangstür mit bloßer Faust zerschlagen. Eben sei er schreiend nach Hause gekommen. Sie traue sich nicht aus ihrer Wohnung - „der ist doch so ein Irrer!“ Die Polizei habe gesagt sie solle doch bitte im SpDi anrufen, die seien für so etwas zuständig. Es gibt eine Akte bei Ihnen im Amt. Herr Schlag ist dem SpDi noch nicht persönlich bekannt. In 2 Wochen ist eine Helferkonferenz geplant zur Fortführung eines betreuten Einzelwohnens, nach 170 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst erfolgtem Umzug. Herr Schlag wurde vor 3 Jahren aus dem Maßregelvollzug (gemäß §63 StGB untergebracht nach §20 StGB exkulpiert) entlassen. Dort war er 3,5 Jahre wegen gefährlicher Körperverletzung. Eine Bewährung bestehe noch, aber ein neuer Bewährungshelfer ist nicht genannt. Es ist eine paranoide Schizophrenie (ED im MRV) und ein polyvalenter Drogenkonsum (v.a. Cannabinoide, Amphetamine) dokumentiert. Eine rechtliche Betreuung besteht nicht. Sie rufen den ehemaligen Bewährungshelfer an: Herr Schlag ist in seine Heimatstadt gezogen nachdem er dort die Zusage für eine Maßnahme im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten habe. Der Umzug sei schon lange angedacht gewesen damit er auch wieder soziale Kontakte habe, ein Kontakt mit dem SpDi zur Helferkonferenz sei allerdings erst nach dem Umzug erfolgt. Der Behandlungsverlauf nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug i sei gut gewesen. Herr Schlag habe nachweislich keine Drogen gebraucht, seine Medikamente genommen und seine Termine regelmäßig wahrgenommen. Er habe verschiedene 450 Euro- Jobs gehabt und Maßnahmen vom Jobcenter wahrgenommen. Der Bewährungshelfer habe Herrn Schlag sehr zugänglich, freundlich und offen erlebt. Er sei nicht aggressiv in Erscheinung getreten. Der letzte Kontakt bestand vor 3 Wochen, eine Woche nach dem erfolgten Umzug. Bei dem neuen Bewährungshelfer ist ein Termin in 1 Woche geplant, die Wiederaufnahme des betreuten Einzelwohnens sei angebahnt. Ein neuer Telefonanschluss bestehe noch nicht, Herr Schlag besitze seit kurzem kein Handy mehr “wegen der Strahlung”. Sie sprechen sich im Amt ab und geben den Ort des Hausbesuchs bekannt. Sie bitten um einen Anruf in 1 Stunde, wenn man sich bis dahin nicht gemeldet hat. Falls Sie anrufen und um die “grüne Akte” bitten, solle man die Polizei alarmieren. Sie fahren zu zweit und sprechen sich vorher gut ab. Das Codewort für sofortigen Rückzug sei: “Orthopäde”. Das Diensttelefon halten Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 171 Aspekte aus der Praxis sie griffbereit, den Schmuck und Schal legen sie vorsorglich ab und ziehen flache Schuhe an. Die Eingangstür zum Wohnhaus steht offen. Es ist notdürftig eine Spanplatte angebracht. Sie gelangen bis vor die Wohnungstür, wo Herr Schlag Ihnen nach Klingeln die Tür zögerlich öffnet. Sein Allgemein- und Ernährungszustand sind regelrecht, er ist sportlich trainiert, auffällig ist nur, dass er seine Kleidung links herum trägt. Sie stellen sich vor und erklären den Grund ihres Besuchs und fragen ob Sie miteinander sprechen könnten. Herr Schlag lächelt Sie erfreut an. Er sagt:„Der Widerstand und Prinzessin Leia wollen mir helfen, ich bin geehrt Sie hereinzulassen.“ Sie achten darauf, dass der Fluchtweg frei bleibt. Im Flur liegen Tüten und ausgerollte Alufolie auf dem Fußboden. Herr Schlag bittet Sie in die Küche, dort seien Stühle. Sie lehnen dies ab und bitten um ein Gespräch im Wohnzimmer und lassen Herrn Schlag vorgehen. Dort bietet sich ein Bild des Chaos. Möbelteile, Müll und Isolierdecken liegen zwischen Kleidungsstücken. Sie bleiben im Türbereich stehen, der Betroffene befindet sich im Raum. Herr Schlag redet offen mit Ihnen, manchmal flüstert er, da “die zuhören” könnten. Es besteht ein systematisierter Wahn mit thematischen Inhalten von Star-Wars. Da Sie wissen, dass ihre langjährig erfahrene Sozialarbeiterin Star-Wars-Fan ist, lassen Sie sie das Gespräch führen. Herr Schlag habe “Darth Vader in der Scheibe der Tür gesehen” und daher zugeschlagen. Darth Vader habe sich aber in die Wohnung im 2. Stock unter ihm geflüchtet. Um die dunkle Macht von dort abzuwehren, habe er alles mit Folie ausgelegt. Bei gezielter Nachfrage berichtet Ihnen Herr Schlag, dass er sich bereits bewaffnet habe, er habe sich als Lichtschwert einen elektrischen Viehtreibstock gekauft, dieser sei in der Küche. Bei der Frage ob Sie Angst vor ihm haben müssten, zeigt sich Herr Schlag erschrocken, Sie seien doch Verbündete und würden ihn heute noch im Kampf gegen die dunkle Macht unterstützen. Es sei dringlich, denn die dunkle Macht breite sich aktuell aus und der gesamte zweite Stock sei betroffen. Man müsse zugreifen, denn die Entwicklung mache Angst. 172 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Er berichtet Ihnen, dass der Jedi nach dem Umzug zu ihm Kontakt aufgenommen habe und sagte, er müsse die Medikamente absetzen und “die Macht wieder inhalieren”. Jetzt sei ihm aber das Cannabis ausgegangen. Herr Schlag sei nicht krank und wolle erst recht nicht in ein Krankenhaus. Zunehmend wird er dysphor-gereizt, aggressiver und bedrohlicher. Als Sie ihm mitteilen, dass Sie nun doch Angst vor ihm bekommen würden, kann er sich kaum regulieren und rennt schimpfend durch den Raum. Er redet vom nahenden Todesstern und dem Ende, guckt gehetzt hin und her und brüllt unvermittelt kurz los. Er schreit jemand Imaginären im Raum an. Ihnen wird zunehmend unwohl zumute und Sie verabschieden sich mit den Worten, dass Sie sich noch orthopädischen Rat einholen müssen. Beim Rückzug beeilen Sie sich und versuchen Herrn Schlag dabei im Blickfeld zu haben. Der Betroffene geht auf und ab, redet zunehmend verworren vor sich hin, lacht dabei auf und tritt immer wieder in die Luft. Vor der Haustür kontaktieren Sie die Polizei und Feuerwehr zur Einweisung des Betroffenen nach dem PsychKG bei krankheitsbedingter Fremdgefährdung. Bei akuter Psychose nach Medikamenten-Incompliance und erneutem Drogenkonsum weisen Sie den nicht mehr absprachefähigen, nicht steuerungsfähigen Herrn Schlag bei akuter Gefährdungslage ein. Bei unmittelbar bevorstehender krankheitsbedingter Gefahr für Andere sehen Sie keine Alternative zu einer Unterbringung zur Sicherung und möglichst stationären Behandlung des nicht einsichtsfähigen Betroffenen, nachdem dieser bereits in Verkennung die Tür eingeschlagen habe und sich bewaffnet hat. Eine freiwillige Aufnahme lehnt er ab. Er ist nicht krankheits- und behandlungseinsichtig im ambulanten Setting. Weiterhin nehmen sie Kontakt mit dem ehemaligen Bewährungshelfer auf, erklären die aktuell erfolgten Maßnahmen bei fraglich deliktnahem Verhalten. Sie bitten notwendigenfalls um Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 173 Aspekte aus der Praxis Überprüfung ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme in den Maßregelvollzug nach 67h StGB oder § 453c StPO vorliegen. Im Rahmen der Amtshilfe durch die Polizei versuchte Herr Schlag die Beamten zu verletzen, da er sie als „Stormtrooper“ verkannte. Es erfolgte kurze Zeit später eine Rücknahme des Betroffenen zur Krisenintervention in den Maßregelvollzug gemäß § 67h StGB. Im Rahmen der Krisenintervention erfolgt eine gezielte Planung und bereits frühzeitige schrittweise Einbindung in das gemeindepsychiatrische Hilfesystem vor Ort mit gutem Erfolg. Sie nutzen auch die familiäre Anbindung im Ort, vor allem die stützende Großmutter, die Sie noch einmal gut bezüglich des Krankheitsbildes und möglicher Frühwarnsignale aufklären. Merke: Informationen einholen bevor man in eine unbekannte Situation startet, Hausbesuch planen und vorbereiten (Adresse, Rückruf erbeten, Codewörter, Handy griffbereit (Anm.: hier sollte man auch überlegen ein eher altes Modell mitzunehmen, bei Aufregung, nassen Händen etc ist die Smartphone-Bedienung im Eilfall oft schwierig)) Eigensicherung hat Vorrang, frühzeitig zurückziehen, Amtshilfe anfordern Voraussetzungen der Unterbringung nach PsychKG (einstweilig) und Verfahrenswege kennen Gefährdungen einschätzen (z.B. hier: jung, männlich, Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis - akute Psychose, zunehmend angetrieben und verworren, fühlt sich selbst bedroht und hat Ängste, komorbider Drogengebrauch (mit aktueller unfreiwilliger Abstinenz), Fremdgefährdung im Vorfeld, vgl. z.B. Kröber: Kann man die akute Gefährlichkeit schizophren Erkrankter erkennen? Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2, 2008, S. 128-136) 174 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Versorgungssystem kennen und nutzen nachsorgende Hilfen planen um erneute Krisen zu verhindern: sozialen Empfangsraum schaffen, Einbindung in das gemeindepsychiatrische Versorgungssystem Beispiel: Frau Sauber Themen (geistige Behinderung, Alkohol und Folgeschäden, Hausbesuch, Ressourcen nutzen, Selbstbestimmung) Frau Biene ruft Sie hilfesuchend an. Sie sucht Hilfe für ihre langjährige Freundin Frau Sauber. Ihre Freundin habe eine rechtliche Betreuerin aber “die hilft einfach nicht” und lasse sie oft allein mit ihren Problemen Sie sage einfach immer Frau Sauber solle endlich aufhören Alkohol zu trinken. Frau Biene begleite Frau Sauber daher zu allen offiziellen Terminen, da sie beim Amt „ja nichts versteht“. Sie sei „kein ganz normaler Mensch“, sondern langsamer. Wenn sie dann nichts verstehe, rege sie sich immer fürchterlich auf, werde laut und schreie. Zuhause trinke sie dann wieder Alkohol, dies passiere nach diesen Terminen immer. Die Fenster der Wohnung seien undicht, Schimmel trete auf und Frau Sauber habe Allergien entwickelt. Sie sei immer wieder krank. Ihr Hausarzt sei seit 2 Jahren in Rente und alle Ärzte in der Nähe hätten sie abgelehnt, sie finde doch aber den Weg nicht bei größeren Entfernungen. Sie vereinbaren einen gemeinsamen Termin zum Hausbesuch (Frau Sauber und Frau Biene, Sozialarbeiter und Arzt/Psychologe des SpDi[1]), um sich ein Bild vor Ort zu machen. Frau Sauber ist im Amt nicht bekannt. Die rechtliche Betreuerin wird über den Termin informiert und um Unterlagen gebeten: im eingereichten, sehr kurzem Betreuungsgutachten (6 Jahre alt) steht: leichte geistige Behinderung, Abhängigkeit von Alkohol, ein Sohn vor 14 Jahren in Obhut genommen, rechtliche Betreuung erneut verlängert in sämtlichen Aufgabenkreisen. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 175 Aspekte aus der Praxis Vor Ort sind Sie in einer sauberen, sehr spartanisch eingerichteten Wohnung, an den Außenwänden ist die Tapete entfernt. Frau Biene zeigt Bilder nasser Wände unterhalb der Fenster bei Regen und Schimmelbildung in der Wohnung. Der Regen trete durch die undichten Fenster ein - seit Jahren, die Hausverwaltung habe Tapete und Schimmel nach einem Schreiben der rechtlichen Betreuerin entfernt, mehr nicht. Frau Sauber: Anfang 40, kleinwüchsig, sehr schmale Schultern, lange Arme, Mikrozephalie, verstrichenes Philtrum, Augen auffällig zurückgesetzt; Gedankengang und Arbeitsgeschwindigkeit verlangsamt, Auffassungs-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, schulpraktische Fertigkeiten gering (Hauptschulabschluss nach 10 Jahren erlangt), (MOCA 11 von 30 Punkten (Normbereich ≥26 Punkte), Mehrfach-WortschatzIntelligenztest-B 12 Punkte entspricht im MWT-B einem IQ von 79); schnelle Affektdurchbrüche, verbal-aggressives, impulsives Verhalten bei geminderter Frustrationstoleranz und UmstellungsErschwernis; Alkohol: 12 Bier + 1 Flasche Likör mit Kontrollverlust, mit kurzen tageweisen (max. 1 Woche) Konsumpausen; einmalig teilstationärer Entzug vor circa 15 Jahren, abgebrochen ohne Erfolg; Kein Kontakt mehr zur Herkunftsfamilie, 6 Geschwister, Eltern haben Alkohol getrunken. Keine Arbeit, die rechtliche Betreuerin sagetsie „muss in eine WfbM“. Lange Anfahrtswege, frühes Aufstehen und die Art der Arbeit will sie nicht. Leidet unter Einsamkeit, Konflikte mit der Betreuerin und Zustand der Wohnung, erwartet sich Begleitungen zum Jobcenter, Jugendamt „verstehe doch da nichts, dann rege ich mich auf und trinke wieder Alkohol.“ Will weniger trinken, am besten aufhören „kaufe einfach keinen Alkohol mehr, manchmal klappt es“. Frau Biene unterstützt sie, begleitet sie zu Terminen, sei damit aber auch überfordert und könne ja nicht handeln. „Sie weiß auch, dass sie mich betrunken nicht anzurufen braucht“, und „wenn sie wieder ihre 176 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Phase hat, lass ich sie einfach und gehe, wenn sie schreit. Sie meldet sich dann von ganz allein wieder.“ Nach einer eingehenden Beratung zeigt sich, dass Frau Sauber gerne eine Tagesstruktur und Aufgabe hätte. Sie könne sich sehr gut vorstellen einen Reinigungsjob anzunehmen, sie mache gern sauber. Hilfe in Form eines betreuten Einzelwohnens würde sie gerne annehmen, auch eine niedrigschwellige Anbindung an die ambulante Suchthilfe lehnt sie nicht ab, um langfristig ihren Alkoholkonsum zu kontrollieren oder bestenfalls abstinent zu leben. Ihre rechtliche Betreuerin habe sie seit über 15 Jahren. Sie ist auch bereit mit ihr weiter zu arbeiten, wenn sie sie vor allem auch vor der Wohnungsbaugenossenschaft besser vertreten würde und sie nicht immer nur wegen des Alkoholkonsums maßregeln würde. Sie würde gerne wieder einen Hausarzt haben. Sie hatte früher immer ein Spray, da habe sie besser atmen können und nicht so oft gehustet. Auf Nachfrage bestätigt Frau Sauber, dass ihre Mutter während iherr Kindheit viel Alkohol konsumiert habe. Frau Sauber sei nie in psychologisch-psychiatrischer Behandlung gewesen. Im Rahmen der Ihnen vorliegenden Erkenntnisse besteht bei Frau Sauber der dringende Verdacht auf ein Fetales Alkohol Syndrom (FASD), welches oft mit kognitiven Beeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten und komorbider Abhängigkeit von Alkohol einhergeht. Merke: gründliche Anamnese mit Fremdanamnese, Diagnostik -> Differentialdiagnosen (hierdurch erklären sich Komorbiditäten, Eigenarten/Verhaltensauffälligkeiten) aufsuchende Arbeit mit zusätzlich gewonnenen Erkenntnissen Ressourcen nutzen und den Willen der Betroffenen beachten – zielführende inklusive Hilfen nutzen, erreichbare Zielsetzungen (kontrollierter, reduzierter Alkoholkonsum durch Tagesstruktur, Copingmechanismen, niedrigschwellige Beratung und Begleitung…) Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 177 Aspekte aus der Praxis Beispiel: Herr Politox - Hausbesuch mit Eigensicherung Meldung von der Hausgemeinschaft, Melder wünscht anonym zu bleiben. Herr Politox sei Alkoholiker und schreie „nachts immer herum“. Die Wohnung wäre vermüllt, es werde ein Brand befürchtet, weil er seine Zigaretten mit der immer glühenden Herdplatte anzünde. Er werfe Gegenstände aus dem Fenster. Es müsse was geschehen. Wenn die Ämter sich nicht bald darum kümmern würden, müsse man sich an die Presse wenden. Herr Politox müsse „weg“. Es findet ein unangemeldeter Hausbesuch gegen Mittag (beste Zeit bei Alkohol kranken Menschen, da kein Entzug mehr, weil oft um diese Zeit wieder Alkohol getrunken , aber auch noch nicht der volle Pegel) durch den SpDi statt) Klingelanlage defekt, keine Namensschilder, Dachgeschoß. Es wird nicht geöffnet. Erkundigungen bei den Nachbarn werden mit großem Interesse begrüßt und liefern ein Füllhorn an Informationen über Herrn Politox. Zum Beispiel: Er sei auch gewalttätig. Nach Hinterlassung eines Ankündigungsbriefs (Wir werden Sie am … um … Uhr nochmal besuchen) und Tesafilmanwendung (Kleben eines Tesafilmstreifens von der Wohnungstür zum Rahmen zur Überprüfung, ob die Tür bis zum nächsten Hausbesuch geöffnet wurde, Herr P. lebt also noch) wird auch eine Scheinbeendigung des Hausbesuchs ( lautstarkes Verlassen des Hauses jedoch sofort leise wieder nach oben gehen) durchgeführt, verläuft jedoch frustran. Ein weiterer Versuch findet am Folgetag gegen 10 Uhr statt. Mit Hilfe der HandyAnkündigungsmethode (unmittelbar vor der Tür stehend mit dem Handy anrufen) gelingt es, Kontakt herzustellen. Herr P. meint, dass er keinen Besuch wünsche. Nach weiterem, beharrlichem Seitwärtsklingeln (nicht vor der Tür frontal stehend auf den Klingelknopf drücken, sondern neben der Tür stehend) reißt Herr P. plötzlich schreiend die Tür auf und schleudert einen Schuh heraus, der jedoch nicht trifft, weil er erwartet hat, dass jemand direkt vor der Tür steht. 178 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Unter Hinweis, dass es sehr erfreulich sei, Herrn P. endlich persönlich sprechen zu können, wird ihm laut und deutlich bekundet, dass weitere Kontakte erforderlich sind und man ihm nur so helfen kann , seine Wohnung aufzuräumen. Herr P. zeigt sich zwar wenig erfreut, hört aber immerhin doch zu. Seine Alkoholquelle, der Taxifahrer, der immer den Alkohol und Joints vorbeibringe, wolle nämlich nicht mehr liefern, nur weil er mal kurz in einem kurzfristigen, finanziellen Engpass sei. Wenn er jemanden hätte, der seine Frührente vorbeibringen könne, würde ihm das sehr helfen. Über diesen Einstiegkann weiterer Kontakt gehalten werden. Herr P. stimmt einer Begleitung zur Bank zu, denn seine Karte sei nicht auffindbar und er müsse eine neue beantragen. Dazu muss er (zum ersten Mal seit Monaten) einigermaßen nüchtern sein und, irgendwoher und wie auch immer, saubere Kleidung anziehen. Die Nachbarn sind etwas beruhigt, weil hin und wieder jemand vom Amt vorbeischaut und jemand die Herdplatten abgeschaltet hat und die Griffe vom Herd rätselhaft verschwunden sind. Sie verschieben die Unterschriftensammlung gegen Herrn P. bei der Wohnbaugesellschaft. (Ein Reservat der inneren Unordnung sichern.) Nach mehreren Hausbesuchen, bei denen er meist öffnet, stimmt Herr P. schriftlich zu, dass von der Frührente die Gebühren für die Wohnungs-Entmüllung in 50 €-Raten abgebucht werden können. Bei der Entmüllung durch eine Firma werden nur die Funktionsräume (Küche bzw. Kochplatz, Bett, Sitzgelegenheit im Wohnzimmer, Bett, Toilette, Waschbecken) benutzbar gemacht und eine nächste Aktion in 6 Monaten avisiert. (Erfahrungsgemäß laufen die Wohnungen immer wieder voll.) Seit etwa 20 Hausbesuchen, einem Jahr und einer Krisenintervention bei Akohol-Intoxikation mit Kurzzeit-Drehtür-Entgiftung in der Notaufnahme lebt Herr P. weiterhin in seiner Wohnung, jetzt mit lautstarkem Fernseher und Kopfhörern und holt sein Alkoholkontingent (nur so viel er auf den 1,5 km bis zur Einkaufsmögchlichkeit tragen kann) selbst. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 179 Aspekte aus der Praxis Beispiel: -Vorführung im SpDi Hochpsychotischer junger Mann wird von der Polizei vorgeführt, ob ZE ( Zwangseinweisung) nötig ist . Er sitzt ohne Handschellen im Wartebereich zwischen zwei Polizisten. Die Sekretärin sitzt 10 m entfernt sichtbar im Vorzimmer und tippt etwas in den PC. Ohne jeden vorherigen Gesprächskontakt oder irgendwelche anderen Anzeichen springt er auf, spurtet auf die Mitarbeiterin zu, die sich ängstlich von ihm abwendet und die Hände schützend über den Kopf hält. Er stürzt sich von hinten auf sie, und beide fallen über die Tastatur zwischen Bildschirm und Diktiergerät über den Bürotisch, bevor die beiden Polizisten in die Situation eingreifen könn Kommentar und Tipp: Unberechenbares Verhalten ist immer möglich, und primärprozesshafte Instinkthandlungen können raptusartig ausgeklinkt werden. Wartende Psychotiker brauchen reizarme Umgebung. Emotionales Abkühlen dauert lange. Eine Unterbringung wurde für erforderlich erachtet. Beispiel: Pistole auf dem Tisch Nach der Begutachtung eines Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung ist sich der Untersucher mit diesem “einig”, auch bezüglich der erforderlichen Maßnahmen. Mit den Worten, dass er diese ja nun nicht mehr brauche, zieht der Patient eine geladene Waffe aus seiner Hose und legt sie vor dem Untersucher auf den Tisch. Der herbeigerufene Polizist wird ganz blass, hat er den Mann doch vorher abgetastet. Kommentar und Tipp: Es ist kann vorteilhaft sein, im Zweifel in unmittelbarer Anwesenheit von Polizeibeamten, die entweder mit dabei sitzen oder an der Tür stehen, zu explorieren. Man kann auch die Möglichkeit nutzen, Möglichkeit, den Patienten vor der Exploration medizinisch (flüchtig) zu untersuchen. Nach Blutdruck Messung und Puls fühlen, kann man 180 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst natürlich auch die Leber tasten, sodass eine versteckte Waffe bei den Manipulationen auffallen wird Beispiel: Rechtfertigender Notstand Anruf der Rettungssanitäter beim SpDi: Sie wurden zu einem verwirrten Patienten gerufen. Der Betroffene sei sehr unruhig und rede “wirres Zeug”. Er wolle nicht mit in die Klinik. Auf Nachfrage: Er behaupte, da seien fremde Männer im Zimmer, und Riesenspinnen liefen über die Decke. Auf weitere Nachfrage: Der Betroffene habe einen Puls von 130, zittere stark und sei kaltschweißig. Er stehe recht wackelig auf den Beinen. In der Wohnung stünden diverse leere Spirituosenflaschen. Da es sich vermutlich um ein akutes Delir handelt, wurde die sofortige Verbringung des Betroffenen auf die nächstgelegene Intensivstation, auch unter Anwendung von Zwang, auf der Rechtsgrundlage “rechtfertigender Notstand” bei vitaler Bedrohung angeordnet. Beispiel: Eigensicherung, auch im Amt Wir empfehlen sich bei Hausbesuchen nicht hinter dem Wohnzimmertisch in einen weichen Polsersessel zu setzen, aus dem mit Mühe t aufsteht, wenn sie Situation sich krisenhaft zuspitzt.. Auch in der Dienststelle sollten sie versuchen, "Sackgassen" zu vermeiden. Die einfachste Maßnahme ist schon der Standpunkt des Schreibtisches. Er muss im Raum und darf nicht in einer Ecke stehen, so dass man notfalls auf die andere Seite flüchten kann. Eine professionelle Gefahrenabschätzung und Erwägung eventueller Maßnahmen ist immer angezeigt. Bitte malen Sie sich aber keine Angst erzeugenden Eventualitäten aus. Man schnallt sich ja im Auto auch ohne Angst an und malt sich nicht aus, was einem alles passieren kann, wenn man sich nicht anschnallt. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 181 Aspekte aus der Praxis Auch in der Dienststelle sollte man an Krisensituationen denken und besonders bei Vorführungen durch die Polizei mögliche Wurfgeschosse (Aschenbecher, Vasen) und potentielle Waffen (Scheren, Brieföffner etc.) wegräumen. Auch den Kaffee nicht allzu heiß servieren! Regel: alles was als Wurfgeschoss oder Schlag- und Stichwaffe griffbereit liegen könnte, so weit wie möglich und unauffällig entfernen. Ein Tischdeckchen am Besprechungstisch ist ganz wertvoll für die Aggressionsabfuhr des Klienten. Besondere Problembereiche Kinder psychisch kranker Eltern Zwei bis drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben nach Angaben der Kinderkommission im Deutschen Bundestag in Familien, in denen ein Elternteil eine psychische Erkrankung , z.B. eine Depression, eine Schizophrenie oder Borderline-Erkrankung hat. Ungefähr 500.000 von ihnen leben in einer Familie mit einem alleinerziehenden Elternteil. I Jährlich werden ca. 6.000 Sorgerechtsentzüge entschieden. Davon betrifft etwa ein Drittel Eltern mit einer psychiatrischen Diagnose. Das Aufwachsen mit einem psychisch erkrankten Elternteil kann für Kinder eine gravierende, dauerhafte Belastungssituation darstellen, die mit einer Vielzahl an alltäglichen Anforderungen, Konflikten und Spannungen verbunden ist - sowohl innerhalb der Familie, als auch im sozialen Umfeld. Die Erkrankung von Eltern steht nicht selten in Wechselwirkung mit der psychischen Entwicklung ihrer Kinder bzw. Jugendlichen: Kinder schizophren erkrankter Eltern tragen ein Risiko von ca. 13 %, selbst an Schizophrenie zu erkranken bei Kindern schizoaffektiv erkrankter Eltern liegt das Erkrankungsrisiko sogar bei 37% ein Drittel der Kinder in stationärer Kinder- und Jugendpsychiatriebehandlung hat ein psychisch erkranktes 182 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Elternteil. Bereits Säuglinge und Kleinkinder können in ihrer gesunden Entwicklung beeinträchtigt werden, wenn ein Elternteil an einer psychiatrischen Erkrankung leidet. Trennungsängste, Angst vor Verschlimmerung der Krankheit und vor einem möglichen Suizid, Hoffnungslosigkeit, Schamgefühle und Resignation, aber auch Wut kennzeichnen die Gefühlslage der älteren Kinder. Bei den Jugendlichen stehen die Angst vor einer möglichen eigenen Erkrankung, Schuldgefühle, starke Verantwortungsgefühle gegenüber der Familie und oft auch Trauer über den Verlust der elterlichen Identifikationsfigur im Vordergrund. Die Bewältigungsstrategien sind unterschiedlichm und damit sind es auch die Rollen, die die Kinder innerhalb der Familie einnehmen: sie können sich als „Helden“ fühlen (Parentifizierung und damit häufig Selbstüberforderung) manche fühlen sich als „Sündenbock“ manche ziehen sich still und verloren zurück, fliehen in eine Fantasiewelt und meiden soziale Kontakte Ein Teil der Kinder nimmt die Rolle des „Clowns“ oder „Maskottchens“ ein. Hilfebedarfe: Seit Anfang der 2000er ist das Thema “Kinder psychisch kranker Eltern” deutlich mehr in den öffentlichen Fokus sowohl, was die wissenschaftliche Forschung betrifft, als auch die Einrichtung einer Vielzahl von Initiativen, Projekten und Einrichtungen. Aus den vorliegenden Forschungsergebnissen und empirischen Praxiserfahrungen lassen sich die nachfolgend aufgeführten Bedarfe verallgemeinern: Schaffung präventiver und Resilienz fördernder Angebote für Kinder und Jugendliche altersgerechte Informations-, Beratungs- und Therapieangebote für Kinder und Jugendliche Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 183 Aspekte aus der Praxis Informations- und Beratungsangebote für Eltern und Bezugspersonen niedrigschwellige entlastende und unterstützende Angebote für betroffene Familien Schaffung von Hilfenetzen und Krisenplänen zur raschen Intervention im Krisenfall koordinierte Behandlungs- und Hilfeplanung aller beteiligten Institutionen und Fachkräfte Dennoch ist in der täglichen Praxis immer wieder festzustellen, dass eine bedeutende Hürde beim Aufbau von Hilfen für betroffene Familien die Versäulung der verschiedenen Sozialleistungsbereiche anzusehen : Leistungen des Gesundheitswesens im SGB V (gesetzliche KV) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen im SGB IX Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII Eingliederungshilfe für behinderte Menschen im SGB XII Die Verantwortung für Unterstützungsangebote für betroffene Familien liegt auf vielen Schultern: Kommune freie Träger der Gemeindepsychiatrie freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie niedergelassene Ärzte (erwachsenenpsychiatrische, kinder- und jugendpsychiatrisch sowie pädiatrische Praxen) psychotherapeutische Praxen psychiatrische und kinder- und jugendpsychiatrische Krankenhäuser Selbsthilfe bürgerschaftliches Engagement (sehr selten) Alle diese Institutionen und Professionen sind idealtypisch in fallübergreifende Kooperationsstrukturen einbezogen. 184 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Jedoch ist das Wissen um die unterschiedlichen professionellen Aufgaben, Kompetenzen, Zuständigkeiten, Blickwinkel und Grenzen zur Begleitung von Familiensystemen noch nicht ausreichend ausgeprägt und pendelt zwischen den Spannungsfeldern pädagogisch und medizinisch Kindeswohl und Eltern-Interesse Hilfe und Kontrolle Systemlogik und Professionslogik Autonomie und Zwang familienzentriert und individuumszentriert ressourcenorientiert und defizitorientiert (weil die Voraussetzungen für die Hilfegewährung an eine störungs- oder krankheitsrelevante Diagnose gebunden ist) Fazit: Trotz vielfältiger potenzieller Möglichkeiten und größtenteils rechtlich abgesicherter Finanzierungen zeigt die Praxis, dass betroffene Familien notwendige Hilfen nicht erhalten, weil es an Wissen über die vorhandenen Möglichkeiten mangelt unterschiedliche Herangehensweisen zu erheblichen Verständigungsschwierigkeiten in der Kommunikation zwischen den (professionellen) Akteuren führen es abweichende Bedarfseinschätzungen für die Implementierung von Hilfen gibt Zeitmangel, Arbeitsverdichtung, Fallzunahmen die Arbeit der Fachkräfte erschweren es eine Diskrepanz zwischen der zeitlichen Befristung von Hilfemaßnahmen und dem oft langfristig bestehenden Krankheitsbild der Eltern gibt Angst vor Eingriffen in die Erziehung oder das Sorgerecht, teilweise mangelnde Krankheitseinsicht, aber auch Scham bei den Betroffenen die Inanspruchnahme verhindern Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 185 Aspekte aus der Praxis auch im sozialen Umfeld das Thema psychische Erkrankung vermieden wird und Kinder selten als Angehörige wahrgenommen werden es am bedarfsgerechten Zuschnitt der Hilfen fehlt Kommunikationswege zu lang und zu unübersichtlich sind finanzielle Ressourcen begrenzt sind im Bereich der Prävention keine gesetzliche Verpflichtung, jedoch Handlungsbedarf besteht Da Präventionsangebote für Kinder psychisch kranker Eltern weder im Rahmen des Gesundheitsversorgungssystems noch im Rahmen der Jugend- oder Sozialhilfe regelhaft finanziert werden, ist es dringend erforderlich, dass klare gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Finanzierung von Präventionsangeboten dieser Art ermöglichen. Psychisch kranke Menschen im Alter Mit zunehmender Lebenserwartung nimmt nicht nur die Zahl von Menschen zu, die altersbedingt ein erhöhtes Demenzrisiko haben und daher im Alltag Unterstützungsbedarf entwickeln. Der Verlust an Rollen und sozialen Kontakten, geringere körperlicher Aktivität, Sinnesbeeinträchtigungen und eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten begünstigen das Auftreten von Depressionen. Alleinleben oder die Pflege eines dementen Partners stellen besondere Belastungssituationen dar. In vielen Gebietskörperschaften haben die allgemeinen kommunalen Sozialdienste nur noch Aufgaben im Bereich der Jugendhilfe, sind jedoch nicht mehr für Senioren zuständig. Trotz diverser Angebote der Pflegeberatung gibt es keine klare Versorgungsverpflichtung. Alt gewordene psychisch kranke Menschen, die langjährig Angebote der Gemeindepsychiatrie genutzt haben, haben mit Erreichen des Rentenalters keinen Zugang mehr zu Angeboten der WfbM. Wenn ein Pflegebedarf hinzutritt, kann dieser in den Einrichtungen der Gemeindepsychiatrie oft nicht gedeckt werden, zumal die 186 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Räumlichkeiten häufig nicht barrierefrei für mobilitätseingeschränkte Menschen sind. Obdachlosigkeit/mit Alkohol, Wohnungslosigkeit Wohnungslosigkeit ist ein Problem mit einer außerordentlich komplexen Genese. Gesundheitliche Aspekte haben bei ihrer Entstehung eine eher untergeordnete Rolle, sie begünstigen ihrerseits jedoch stark das Auftreten vieler Arten von Gesundheitsstörungen, auch psychischen und sie erschweren deren Behandlung. In der Endstrecke des Wohnungsverlustes, wenn ein zügiges und entschlossenes Handeln eine Räumung noch verhindern könnte, spielen Depression und Sucht oft eine entscheidende Rolle. Unter den Menschen, die tatsächlich von Obdachlosigkeit betroffen sind, findet man eine hohe Prävalenz von Substanzgebrauch und Persönlichkeitsstörungen, wobei der Substanzkonsum auch eine durchaus adaptive Rolle beim Überleben “auf der Platte” hat, ebenso wie die vollständige Konzentration auf die im aktuellen Moment gerade im Vordergrund stehende Bedürfnislage unter Hintanstellung weniger dringender Bedürfnisse, wie z.B. nach ärztlicher Behandlung einer lebensbedrohlichen Krankheit. Problemkreis Sucht (Alkohol, Drogen, Internet) In praktisch allen PsychKGs und GDGs werden ganz selbstverständlich suchtkranke Menschen zu den Personen gezählt, für die der SpDi zuständig ist. Allerdings ist die Suchtkrankenhilfe ein in seiner Historie sehr klar vom medizinischen Bereich abgegrenztes Hilfesystem. Der Zugang zu den Leistungen der Rentenversicherung, also der Entwöhnungsbehandlung und der Adaption, geschieht über die in der Regel in reiner Komm-Struktur arbeitenden Suchtberatungsstellen, die aber nur zu einem geringen Anteil der suchtkranken Menschen Kontakt haben. Die Hausärzte, in deren Praxen sich wesentlich mehr Menschen mit Suchtproblemen in Behandlung befinden, erkennen und adressieren das Problem jedoch Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 187 Aspekte aus der Praxis nur selten, wobei sich die suchtmedizinische Kompetenz im hausärztlichen Bereich erkennbar verbessert hat. Der SpDi wird häufig über Meldungen wegen Wohnungsverwahrlosung (hier Verweis auf Kapitel WohnungsVerwahrlosung und psychische Erkrankung) bitte Verweis erstellen oder durch Unterbringungsmitteilungen von Ordnungsbehörde, Gericht oder Klinik auf suchtkranke Menschen aufmerksam . Auch Störungen im öffentlichen Raum durch alkoholisierte oder öffentlich intravenös Drogen konsumierende Personen führen dazu, dass das Gesundheitsamt aufgefordert wird, tätig zu werden. Selbstverständlich ist es erforderlich, individuelle Problemlagen und Unterstützungsbedarfe der solcherart in Erscheinung tretenden Personen zu klären, eine Beschränkung auf eine rein medizinische Betrachtungsweise ist nicht geeignet Probleme durch Wohnungsmangel, Beschäftigungslosigkeit, verfehlte Stadtentwicklung und unzweckmäßige Gestaltung öffentlicher Räume zu beheben. Auf sogenannte “nicht-wartezimmerfähige” Patienten ist das medizinische Regelversorgungssystem nicht ausgerichtet. Das führt dazu, dass insbesondere Personen mit Opioidabhängigkeit selbst bei ausreichender Versorgung durch eine Substitutionsbehandlung bei niedergelassenen Ärzten, sofern sie im Praxisablauf störend in Erscheinung treten, oft schnell wieder aus der Behandlung herausfallen. Im Rahmen der kommunalen Suchthilfeplanung muss daher geklärt werden, wie die erforderliche psychosoziale Betreuung, eine tragfähige Substitution auch von (Streichung bitte rückgängig machen, ich verstehe den Teilsatz ab tragfähige Substitution nicht) Menschen mit psychiatrischer Komorbidität und der Notwendigkeit von speziellen Beratungs- und Betreuungsangeboten wie von Drogenkonsumräumen abgedeckt ist. Ebenso ist zu klären, ob das Gesundheitsamt hierbei mit eigenen Angeboten einen Beitrag leisten kann oder soll. 188 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Aus dem Bereich der nicht-substanzgebundenen Abhängigkeiten sind die Probleme pathologisches Glücksspiel (das oftmals mit hoher Verschuldung einhergeht), exzessives Spielen von OnlineRollenspielen (auch hier laufen durch “pay to win” erhebliche Ausgaben auf ), exzessiver Gebrauch sozialer Medien und exzessiver Gebrauch von Online-Pornographie-Plattformen besonders relevant. Während beim Glücksspiel (hierzu sind auch die Wetten zu zählen) neben den Online-Casinos auch die zahlreichen Spielhallen eine große Rolle spielen, erfolgen die anderen drei Problemverhaltensweisen unter Nutzung von entsprechenden Angeboten im Internet. Über sozialen Rückzug und Vernachlässigung aller anderen Aktivitäten kommen die Betroffenen oft erst mit einer drohenden Zwangsräumung wegen Mietrückständen ins Blickfeld des Hilfesystems. Prädisponierend sind sozialphobische und depressive Züge. Allen diesen Angeboten ist gemeinsam, dass über integrierte Chatangebote eine anonyme Community entsteht. Diese ist oft der einzige Kontakt, in dem die Betroffenen Anerkennung und Wertschätzung erfahren. (Den Satz verstehe ich ebenfalls nicht, beziehen sich die Angebote auf die Wohnungslosigkeit?) Beratungs- und Behandlungsangebote müssen den sozialen Kompetenzdefiziten wie der Überschuldung Rechnung tragen. Migration Die Erfahrung von Migration birgt Chancen und Risiken für die seelische Gesundheit. Eine einseitig defizitorientierte Betrachtung ist nicht angemessen. Insbesondere im städtischen Umfeld haben 20 - 40 % der Wohnbevölkerung einen Migrationshintergrund. Das macht einen kultursensiblen Umgang erforderlich, hierzu gehört ein guter Kontakt zu Schlüsselpersonen in den Communities. Die psychiatrischpsychotherapeutische Regelversorgung beginnt erst damit, sich des Problems anzunehmen. In Deutschland haben Bürger mit Migrationshintergrund oft einen erschwerten Zugang zum Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 189 Aspekte aus der Praxis Gesundheitswesen, wobei die Sprache allein nur eine der Barrieren ist. Hier haben sich Sprachmittler, ausgebildete Laien im Sinne von Gesundheitslotsen, als wertvoll erwiesen. Allerdings bergen kulturelle Sozialisationen, wie z.B. eine kollektivistische vs. einer individualistischen Sichtweise auf das Sein, Herausforderungen in der Behandlung. Hier bieten spezifische Angebote in Kliniken mit muttersprachlichen Angeboten Unterstützung. Desweiteren fällt in der Forschung der transkulturellen Psychiatrie auf, dass die Symptompräsentation nach wie vor eine Quelle der Unter- und Fehldiagnostik darstellt, hier gilt es die eigene kulturell bedingte Wahrnehmung immer wieder zu überprüfen. Flüchtlinge Geflüchtete Menschen sind keine homogene Gruppe, es ist jeweils eine genaue Bedarfsanalyse nötig. Traumatisierende Erfahrungen und schwere Verlusterlebnisse kommen bei geflüchteten Menschen häufig vor. Es müssen aber auch vorbestehende psychische Störungen bedacht werden. Hier ist auch an Benzodiazepine und Opioidanalgetika, die in vielen außereuropäischen Ländern frei verkäuflich sind, zu denken. Sprachbarrieren spielen eine große Rolle. Eine restriktive Auslegung der Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes kann den Zugang zu Hilfen erschweren. Bei anerkannten Asylbewerbern stellt die ausgeschlossene Finanzierung von Dolmetscherkosten im SGB V ein immenses Problem beim Zugang zur psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung dar. In den ersten 15 Monaten besteht im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes die Möglichkeit, schwerwiegende, behandelbare Erkrankungen in die Behandlung zu nehmen. In dieser Zeit können Dolmetscherkosten über Sozialleistungen getragen werden. Hilfreich haben sich für die Abdeckung auch seltener Dialekte die Nutzung VideoDolmetscherdienste erwiesen. 190 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Arbeit mit Angehörigen Auch die Beratung von Angehörigen zählt zm gesetzlichen Auftrag des SpDi. Oft kommt der Kontakt zu einer psychisch kranken Person über deren Angehörige zustande, die sich, oft nach längerer anderweitiger Suche, an den SpDi wenden. Manchmal werden die Angehörigen über längere Zeit beraten, bevor erstmals ein Kontakt zum Klienten gelingt. In jedem Fall ist die Berücksichtigung der Perspektive der Personen, die mit dem psychisch kranken Menschen zusammenleben, von größter Bedeutung. Hierzu gehören selbstverständlich auch die minderjährigen Kinder. Die biologisch geprägte leitlinienorientierte Behandlung psychiatrischer Erkrankung hat in ihrer fortlaufenden Überprüfung in den letzten Jahren Ergänzungen erfahren. Gerade bei zu Chronifizierung neigenden Erkrankungen ist Psychoedukation des sozialen Umfelds und Begleitung mitentscheidend für das Outcome. Begleitung findet in der Regel außerhalb der stationären Versorgung statt. Als hilfreiche Instrumente haben sich Angehörigengruppen und Netzwerkarbeit, z.B. mit den Methoden des offenen Dialogs, erwiesen. Angebote des Entlassmanagements wie Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege über SGB V sollen ebenfalls den Übergang in den ambulanten Versorgungsbereich unterstützen und Behandlungsund Beziehungsabbrüche vermindern. Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, Kollegen, Unterstützer sollten ausreichend Information und Kenntnisse vermittelt bekommen, um Verständnis für die Erkrankung des Betroffenen zu erhalten, um auch schwierige Zeiten gemeinsam bestehen zu können. Ablehnung, Isolation, Verweigerung oder gar Feindseligkeit gegenüber den Nächsten kann ein Ausdruck der Erkrankung, eines Konfliktes oder einer Dynamik sein. Die (zu) schnelle Beurteilung und Einordnung stellt eine vermeidbare Problematik dar. Im übergeordneten Blick auf das gemeindepsychiatrischen Versorgungssystem sollten Angehörige wie Betroffene neben den professionell Tätigen Rat- und Impulsgeber der Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 191 Aspekte aus der Praxis politischen Entscheider sein, da diese unverzichtbares Erfahrungswissen mitbringen. Schulvermeidung Schulvermeidendes Verhalten kann viele verschiedene Ursachen haben. Besonders relevant ist Angst um oder Sorge für psychisch oder suchtkranke Eltern, Lernprobleme, Mobbingsituationen in der Klasse, Defizite in der sozialen Wahrnehmung, die zu paranoiden Fehlinterpretationen führen und expansives Verhalten. Das Problemverhalten beginnt oft schon in der Grundschule, manchmal wird schon der Lernstoff der 3. Klasse nicht mehr erreicht, auf der weiterführenden Schule nehmen dann die Abwesenheitszeiten massiv zu. Ein Schulabschluss kann nicht mehr erreicht werden. Das Vermeidungsverhalten generalisiert oftmals rasch, und wenn nach Vollendung der Schulpflicht und mit Erreichen der Volljährigkeit der junge Mensch einen Antrag auf SGB II Leistungen stellen muss, zeigt sich, dass er zur Vorsprache beim JobCenter oder der Teilnahme an Maßnahmen nicht in der Lage ist. Schule, Jugendhilfe, Jugendamt, U25 Fallmanagement im JobCenter, im Gesundheitsamt der KJGD und, wo vorhanden, der KJPD sind wichtige Kooperationspartner. Bei den jungen Erwachsenen sind die Berufskollegs in vielerlei Hinsicht von ganz herausragender Bedeutung, einerseits als Option, Versäumtes nachzuholen, aber auch als Ort, an dem viele bis dahin nicht erkannte Probleme klar zu Tage treten und erstmals der Bedarf nach psychiatrischpsychotherapeutischer Abklärung für die Klienten deutlich wird, die nicht in der Lage sind, eine/n niedergelasse/n Psychiater/in oder Psychotherapeuten/in aufzusuchen. Transitionspsychiatrie Psychische Störungen des Kapitels F der ICD 10 können schon vor Erreichen der Volljährigkeit, in manchen Fällen schon im Grundschulalter, meist jedoch im Jugendalter beginnen (z.B. 192 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Suchtmittelabhängigkeit oder psychotische Störungen). Andererseits klingen typische kinder- und jugendpsychiatrische Störungen keineswegs mit Vollendung des 18. Lebensjahres ab, sondern bestehen auch im Erwachsenenleben weiter (, z.B. Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom). Heranwachsende zwischen 16 und 24 Jahren verändern sich in besonderem Maße: Sie entwickeln eine eigene Persönlichkeit und verselbständigen sich. Sie setzen sich intensiv mit grundsätzlichen Lebensfragen auseinander und beschäftigen sich mit ihrer Zukunft. Schätzungsweise über 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind von psychischen und/oder Verhaltensproblemen bzw. -störungen betroffen. Deren adäquate Versorgung stößt im Gesundheitssystem an Grenzen: Während Kinder- und Jugendpsychiater/psychotherapeuten/innen Jugendliche ambulant bis zum 21. Lebensjahr weiter behandeln können, ist die teilstationäre und stationäre Behandlung ziemlich genau an die Altersgrenze der Volljährigkeit mit 18 Jahren gekoppelt. Dementsprechend können die jeweiligen Entwicklungsbedingungen und unterschiedliche Reifungsprozesse nicht berücksichtigt werden. Dieses Phänomen bildet sich auch in den SpDi sowie beim Übergang von Eingliederungshilfen nach SGB VIII und SGB XII (künftig BTHG im Rahmen des SGB IX) ab: Die Zuständigkeit wird quasi von heute auf morgen mit Erreichen der Volljährigkeit für adoleszente Menschen verschoben. Wenngleich im SGB VIII Übergangszeiträume der Versorgung bis zum Erreichen des 27. Lebensjahrs formuliert und somit theoretisch möglich sind, stellt sich in der Praxis häufig das Phänomen eines abrupten Zuständigkeitswechsels mit Erreichen der Volljährigkeit dar. Eine Analyse der stationären psychiatrischen Versorgung zeigt, dass vor allem Entwicklungs- und Verhaltensstörungen deutlich seltener in der Erwachsenenpsychiatrie behandelt werden. Dies könnte ein Hinweis auf eine erhöhte Abbruchquote in der Transition sein und somit für mangelhafte Schnittstellen. Im Kindes und Jugendalter auftretende psychische Störungen haben oft zur Folge, dass Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 193 Aspekte aus der Praxis alterstypische Entwicklungsaufgaben verspätet oder gar nicht bewältigt werden, sodass mit Erreichen der Volljährigkeit und Wegfall des Zugangs zu entwicklungsalterspezifischen pädagogischen und psychotherapeutischen Hilfen ein durch die Struktur des Jugendhilfe- und Gesundheitssystems bedingter zusätzlicher Chronifizierungsprozess in Gang gesetzt wird. Hier wäre es geboten, eine durchgängige Versorgung, die fächerübergreifend ambulante, teilstationäre, stationäre und komplementäre Angebote bündelt, zu schaffen. Erste Schritte zu einer reibungsärmeren Überleitung der Betroffenen aus der Jugendhilfe in die Erwachsenenhilfe stellen gemeinsame Arbeitsgruppen und Kooperationsvereinbarungen dar. Die Herangehensweise in der Kinder- und Jugendpsychiatrie unterscheidet sich deutlich von der der Erwachsenenpsychiatrie: Bei minderjährigen Menschen steht eine familienzentrierte Arbeitsweise im Fokus der Behandlung, in die Eltern-/Familiengespräche, Elterntraining und Hilfen zur Erziehung eingesetzt und gegebenenfalls Geschwister einbezogen werden. Eine Einverständniserklärung der Sorgeberechtigten ist notwendig und (beispielsweise bei Zwangsmaßnahmen wie einer Fixierung) hinreichend. Das weitere Lebensumfeld (z.B. Schule und Peers) wird in die Behandlung einbezogen. Neben dem psychiatrischenpsychotherapeutischen Auftrag steht ein pädagogischer Auftrag im Zentrum der Versorgung. Häufig müssen Medikamente wegen unzureichender Datenlage in dieser Altersgruppe im „off-label-use“ angewendet werden. Ganz anders sind die Bedingungen im Erwachsenenalter: Eine auf das Individuum bezogene, patientenzentrierte Arbeitsweise steht im Vordergrund. Auf Wunsch des Betroffenen können Angehörige, ggf. auch der Sozialdienst einbezogen werden. Zwangsmaßnahmen wie eine Fixierung sind nur mit richterlichem Beschluss möglich. Die Autonomie des Betroffenen ist zu beachten. Bei diversen Krankheitsbildern sind altersabhängige Besonderheiten zu beachten. Besonders Betroffene dieser Schnittstelle des Gesundheitssystems zwischen KJPD und SpDi sind Patienten mit 194 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Schizophrenie. Sie erhalten die Erstdiagnose durchschnittlich im Alter von 18 Jahren und älter, was zu dramatischen Einbrüchen in der krankheitsunabhängigen psychosozialen Entwicklung führen kann. Die Betroffenen werden möglicherweise mit noch unspezifischen Symptomen im Jugendalter von einem Kinderpsychiater gesehen, der vergleichsweise wenig Erfahrung mit psychotischen Störungen hat und die Diagnose einer schizophrenen Störung nicht stellt Erst nach einem unbehandelten Zeitraum werden diese Menschen dann in der Erwachsenenpsychiatrie, idealerweise in einer Früherkennungsambulanz, behandelt. Eine frühe Diagnose und durchgängige Interventionen wären für die Langzeitprognose von großem Vorteil. Gleichwohl kann dadurch das Risiko einer Pathologisierung und Psychiatrisierung bei auffälligem Verhalten in der Adoleszenz entstehen. Wohnungsverwahrlosung und psychische Erkrankung Als Anlass oder als Begründung für die Meldung von Menschen beim SpDi dient für das Umfeld oft die Wohnungs-Verwahrlosung. Geruch oder Gestank und „unordentliches“ Aussehen der Klienten oder ihrer Wohnung werden beklagt, oft verbunden mit der Drohung, dass endlich „etwas“ geschehen müsse, die „Ämter etwas tun“ müssten oder die Presse benachrichtigt würde. Die Hilfe für die Betroffenen gestaltet sich schwierig, weil diese oft aus Scham keinen Einlass gewähren wollen. Bei vielen psychischen Erkrankungen gerade in chronischen Stadien kommt die W-V = Wohnungs-Verwahrlosung als begleitende „Endstrecke“ vor. Meist kann die psychiatrische Erkrankung nicht behandelt werden, sondern als Erfolgskriterium für den Umgang mit Menschen mit Wohnungs-Verwahrlosung muss die Glättung und Befriedung der Konflikte mit dem Umfeld bei den Kontaktaufnahmen und Maßnahmen ausreichen. Tatsächliche „Ordnung“ der Verhältnisse oder gar Gesundung ist meist nicht mehr möglich. Ziel sollte die „Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von menschenwürdigen Wohnsituationen, Vermeidung von Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 195 Aspekte aus der Praxis Wohnungsverlust und Aufrechterhaltung und Erweiterung der Selbständigkeit der Klientin / des Klienten“ sein. “ „Nur in den seltensten Fällen gehen von einer verwahrlosten Wohnung Gesundheitsgefahren für die Umgebung aus. Weder der Gestank verwesenden Mülls, noch Schimmelgeruch rufen Erkrankungen hervor. Selbst, wenn Fliegen und Kakerlaken auftreten, übertragen sie in Mitteleuropa keine Infektionskrankheiten, die unter das Infektionsschutzgesetz fallen. Für die Rattenbekämpfung auf Privatgrundstücken ist der Eigentümer zuständig. Insbesondere in Altbauten mit Holzdecken kann extremes Sammeln z.B. von Zeitungen zu statischen Problemen bis hin zur Einsturzgefahr führen, hier ist die Bauaufsicht gefragt. Ebenso kann es beim Sammeln brennbarer Gegenstände und Versperren von Fluchtwegen zu Brandschutzproblemen kommen. Das betrifft die Feuerwehr.“ Matthias ALBERS, Gesundheitsamt Stadt Köln (Albers 2017) Als sozialpsychiatrische Maßnahmen kommen in Frage: “ „ambulant betreutes Wohnen, gesetzliche Betreuung, Arztüberweisung, Krankenhauseinweisung, Entgiftung, Langzeittherapie, Sicherung materieller Lebensgrundlagen, Kontakt Vermieter, Kontakt Nachbarn, Entmüllung durch Sozialamt, Haushaltshilfe durch das Sozialamt, praktische Hilfen durch Mitarbeiter des SpDi,“ in Betracht. Thomas LENDERS, Gesundheitsamt Stadt Dortmund (Lenders et al. 2014) Beim konkreten Vorgehen ist die folgende Reihenfolge sinnvoll (Lindstedt, n.d.): Informieren Motivieren Entscheiden Mithelfer suchen 196 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Finanzierung sichern Ausrüsten Kontrollieren Erfolg sichern In der Kontaktaufnahmephase kann durch entsprechende schriftliche oder telefonische Ankündigung Vertrauen aufgebaut und Verständnis signalisiert werden. Die Motivationsphase erfordert vorsichtige, achtsame Vereinbarung von Fristen und Zeiten sowie finanzieller Regelungen und Verwertungs- und Auslagerungsmöglichkeiten. Nötigenfalls ist an die Anregung einer Betreuung zu denken. Eine Kontrolle durch eine Probe-Teilentrümpelung deckt präventiv eventuelle Probleme bei der tatsächlichen, vollständigen Maßnahme auf. In der Entscheidungsphase werden Kriterien, Indikationen und Interessenlagen nochmals reflektiert und in Helferkonferenzen die gesetzliche Grundlage, die Planung, die Kostenübernahme und die personelle Durchführung mit Zeitplan, auch langfristig entschieden, mit resoluter Reinigungskraft Nachsorge regelmäßiger Räumung Kontrollbesuchen In der Aktionsphase wird je nachdem, mit oder ohne Auslagerung des Betroffenen durchgeführt: das gemeinsame Räumen das Mithelfen durch Betreuer oder SpDi oder Helfer oder Verwandte, (ohne oder mit Betreuung nach Betreuungsgesetz) die Kontrolle der Firma, der Helfer, der Verwandten die Sicherung von Akten, Papieren, persönlich wertvollen Andenken In der Konsolidierungsphase sollte die zukünftige Entwicklung vorstrukturiert werden, z.B. durch Vollräumen mit Leerkartons, Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 197 Aspekte aus der Praxis durch eine resolute Reinigungskraft und deren Beratung, durch die dauerhafte Finanzierung (Dauerauftrag), durch die Sicherung des Zugangs zur Wohnung und durch die Vereinbarung regelmäßiger Kontrollen, und seien es „Kaffeetrink-Besuche“. Entrümpelungen zu steriler, kahler, hygienischer Wohnung sind kontraproduktiver Aufwand, weil die Wohnung umso schneller wieder vollläuft. Im Gegenteil, die Herstellung der Minimalfunktion der Wohnung in Küche, Bad und Schlafgelegenheit ist meist ausreichend hygienisch, sicher und für den Betroffenen erträglicher und billiger. Davon sollten die “Messies” unterschieden werden. Seit etwa 30 Jahren in Deutschland und seit Anfang der 80 er Jahre in den USA gibt es zusätzlich in der Laienpresse und mittlerweile auch als Selbsthilfegruppen-Thema die sogenannten “Messies”. Es handelt sich dabei um Menschen, die oft noch in ihrem Beruf leistungsfähig sind, deren Wohnung aber so verwahrlost oder vollgesammelt ist, dass sie z.B. keinen Besuch einladen können. Es ergeben sich Unterschiede zum Wohnungs-Verwahrlosungssyndrom. “Messies” definieren sich selbst etwa wie folgt: “ “Messies sind eine Gemeinschaft von Menschen, die mit Unordnung, Desorganisation und der Anhäufung von nutzlosem Krempel kämpfen. Ihr Ziel ist es, mit Würde und Selbstachtung zu leben und ihre Lebensaufgabe zu erfüllen.” Seit Anfang der 80 er Jahre in den USA durch Sandra FELTON begründet, haben sich auch zahlreiche Selbsthilfegruppen gebildet. (Felton 1999) Das Thema ist beliebt in der Presse und in anderen Medien Wie weit beim “Messie-Syndrom” Neurosen und andere Erkrankungen, z. B. das Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom, im Erwachsenenalter zugrunde liegen, ist nur im Einzelfall zu 198 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst entscheiden. Zumindest sind die Messies eine Sondergruppe, welche die Wohnungs-Verwahrlosung selbst erkennen und als zu verändernd anerkennen und oft noch arbeitsfähig sind. Im internen Gebrauch werden alle Menschen in verwahrlosten Wohnungen, die noch arbeiten, zunächst einmal als Messies bezeichnet. Erst wenn zusätzlich z. B. Alkohol hinzukommt, wird eine WohnungsVerwahrlosung bei Alkoholismus daraus. Der Verein zur Erforschung des Messie-Syndroms bestand schon im Anmeldungsformular darauf, dass nur Mitglied werden darf, wer der Meinung ist, dass es nicht am ADS Syndrom liegt. Mittlerweile wurde dies aber aus dem Anmeldeformular getilgt. Übersicht: Maßnahmen bei WohnungsVerwahrlosung eigene Einstellung, Maßstab nicht unbesehen anwenden Eigenes Milieu, Herkunft, Toleranz? Nüchterne Beurteilung mit großzügigem Maßstab? Tatsächliche Bedrohung, echte Gefahr, echter Gestank? (Haut goût der Verwahrlosung, Menschengeruch, Schweiß) Vertrauen, Kontakt, Gewöhnung mit den Betroffenen geplantes Vorgehen, Regelmäßigkeit, Normalität betonen, persönliche Autonomie und Integration belassen, Partizipation anbieten Hilfe, Finanzen, Initiative verhandeln Probesammeln, Müllsäcke mitbringen, Kontinuierliche Füllung der Tonnen, Kostenvoranschläge, Anträge zur Unterstützung („Kartei der Not“) Diskussionen mit den Betroffenen über die Notwendigkeiten, Probeaktionen Gefahr? Brandgefahr (vgl. Checkliste Brandgefahr)? Vermieter? Gericht? Erkrankung? Betreuung und Auffangen nach der Entrümpelung möglich? Vollstellen mit Leer-Kartons? Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 199 Aspekte aus der Praxis Toleranz, Laissez-faire, gute Nerven Was ist, wenn gar nichts passiert? Obdachlosigkeit vermeiden! nur Funktionsräume entrümpeln Minimal intensive Intervention bei maximal extensiver Befriedungsfunktion 200 Version 1.0 Ausblick Ausblick Trotz umfangreicher Aufgaben sind sozialpsychiatrische Dienste (SpDi) in der Öffentlichkeit und selbst in Fachkreisen nur wenig bekannt. Sie wirken in der Versorgung, Gestaltung und Steuerung der Versorgungsstrukturen für insbesondere schwer und chronisch psychisch kranke Menschen im Rahmen der Daseinsvorsorge der Kommune. Ihre wichtige Rolle in der Früherkennung psychiatrischer Erkrankungen ist oft nicht bekannt ebenso wie im Bereich der Prävention und Anti Stigma Arbeit in Ihrer Rolle als “letzte Wiese” in der Betreuung psychisch kranker Menschen, für die die Schwelle zum regulären Versorgungssystem zu hoch ist. All das wird bisher kaum wahrgenommen. Auch der gesellschaftliche Klärungsauftrag in durch psychische Erkrankungen bedingten Konfliktkonstellationen ist wenig bekannt. In Forschung und Lehre werden die, oft ausschließlich durch die sozialpsychiatrischen Dienste erbrachten Leistungen, nur am Rande thematisiert. In den Weiterbildungsordnungen der Ärztekammern zum Facharzt für Psychiatrie wird die Tätigkeit im sozialpsychiatrischen Dienst nicht berücksichtigt. Auch in den Studienordnungen der psychosozialen Fächer sind sie nicht berücksichtigt. So ist es zurzeit noch kaum möglich, eine Famulatur im Sozialpsychiatrischen Dienst zu absolvieren. An den psychologischen Fakultäten werden ebenfalls so gut wie keine Hinweise zur Möglichkeit eines Praktikums im SpDi gegeben. Praktika von Studierenden der Sozialarbeit im SpDi sind zwar möglich, haben aber seit der Abschaffung des (bezahlten) Anerkennungsjahres im Studium erheblich an Bedeutung verloren. Dies alles geschieht in einer Zeit, in der Frühberentungen und Arbeitsausfälle infolge psychischer Erkrankungen stark zunehmen und inzwischen einen Spitzenplatz einnehmen. Es wird also eine der wesentlichen Aufgaben der Zukunft sein, die spezifischen Aufgaben der sozialpsychiatrischen Dienste öffentlichkeitswirksam darzustellen und ihre fundamentale 202 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst Bedeutung in der Versorgung und Inklusion psychisch kranker Menschen, der Früherkennung und der Prävention auf allen Ebenen offensiv zu vertreten. Dabei geht es nicht nur darum, die Bekanntheit durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit zu erhöhen, sondern auch für eine ausreichende Personalausstattung zur Gewährleistung qualitativ guter Arbeit auch bei höherem Bekanntheitsgrad zu kämpfen. Dazu muss vor allem auf politischer Ebene deutlich gemacht werden, dass diese Leistungen nicht nur die Lebensqualität in der Kommune verbessern, sondern auch erheblich zu Kosteneinsparungen beitragen. Eine Intensivierung der Forschung in diesem Bereich ist dringend erforderlich. In den Ausbildungsplänen für zukünftige Ärzt/innen und andere Berufsgruppen im sozialen Bereich sollte erreicht werden, dass die Tätigkeit und Funktion sozialpsychiatrischer Dienste als feste Bestandteile verankert sind. Insbesondere in der Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie darf dieser Bereich nicht fehlen. Denn psychische Erkrankung ist immer in der Lebenswelt der Betroffenen und in enger Wechselwirkung mit dem sozialen Umfeld zu sehen. Dementsprechend muss Hilfe und Behandlung unter Einbeziehung dieser Lebenswelt und in ihr erfolgen. Die sozialpsychiatrischen Dienste sollten sich dabei als “selbstlernendes System” verstehen, das sich in permanenter kritischer Selbstreflexion unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Veränderungen weiterentwickelt. Außerdem sollten sie ihre Rolle in der Versorgung und Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für psychisch kranke Menschen selbstbewusst wahrnehmen und vertreten. Diese Aspekte haben unter anderem zur Gründung und Weiterentwicklung des Netzwerkes Sozialpsychiatrischer Dienste mit seinen regionalen Netzwerken beigetragen. Es wird sich zeigen, inwieweit diese Arbeit Früchte tragen wird und somit Einfluss auf die kommunale Berücksichtigung der SpDi nehmen wird. Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 203 Annex-Abkürzungen Annex-Abkürzungen ABFB Angebot zur Beschäftigung, Förderung und Betreuung ABW ambulant betreutes Wohnen (d.h. in der eigenen Wohnung oder einer WG), es handelt sich um eine Leistung der Eingliederungshilfe. APK Aktion Psychisch Kranke e.V APP Ambulante Psychiatrische Pflege, auch Häusliche Krankenpflege (HKP) für psychisch Kranke § 37 SGB V ASOG Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin AWG Außenwohngruppe / Ausgelagerte Wohngruppe eines Wohnheims, als solche eine stationäre Maßnahme der Eingliederungshilfe. BApK Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker e.V. BADO-K Basisdokumentation für Einrichtungen der komplementären psychiatrischen Versorgung. Die Verwendung dieses Dokumentationssystem war im Freistaat Sachsen Bedingung für die Auszahlung von Landesmitteln an die Gebietskörperschaften für die Angebote nach PsychKG (SpDi, Suchtberatung, Kontakt- und Beratungsstellen etc.). BADO-K umfasst den “Kerndatensatz” der DHS. Der Merkmalsbestand dieses Systems findet sich mit kleineren und größeren Modifikationen in verschiedenen Fachanwendungen wieder BAR Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation BBRP Berliner Behandlungs- und Rehabilitationsplan. Eine Adaptation des IBRP BEI Bedarfsermittlungs-Instrument. Die Bezeichnung des BTHG für die Hilfeplanungs- und Bedarfsermittlungs-Instrumente in der Teilhabeplanung bzw. Gesamtplanerstellung des Eingliederungshilfeträgers, die die Länder zu entwickeln bzw. festzulegen haben. (z.B. BENI (Niedersachsen), BEI-NRW, ITP (Hessen u.a.). Es handelt sich um Weiterentwicklungen des IBRP (integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan) bzw. der aus diesem 206 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst abgeleiteten Manuale IHP (Integrierter Hilfeplan) und ITP (Integrierter Teilhabeplan). Sie beruhen auf einer Vereinbarung von Zielen und der zu deren Erreichung erforderlichen Maßnahmen für einen konkreten Planungszeitraum, typischerweise ein Jahr. BEST Berliner Enthospitalisierungsstudie BEW(O) betreutes Einzelwohnen, auch BW oder ABW (ambulant betreutes Wohnen). Im Altenhilfebereich werden auch Altenheime als “Betreutes Wohnen” bezeichnet. Darum wird zunehmend der Begriff ABW bevorzugt BGB Bürgerlichen Gesetzbuchs BPE Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen e.V BTHG Bundesteilhabegesetz, eine Novellierung des SGB IX zur Überführung der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII (Sozialhilfe) ins Rehabilitationsrecht (SGB IX-neu, Teil 2, §§ 90-150) BTS Beschäftigungstagesstätte DGSP Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie DRV Deutsche Rentenversicherung DSM-5 diagnostic statistical manual der APA 5. Version EGH Eingliederungshilfe EUTB Ergänzenden Unabhängigen Teilhabe-Beratungsstelle FEB Familien- und Erziehungs-Beratungsstellen FNA Forensische Nachsorge Ambulanz GDG Gesundheitsdienstgesetz GKV Gesetzliche Krankenversicherung GPV Gemeindepsychiatrischer Verbund Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 207 Annex-Abkürzungen HB Hausbesuch HBG Hilfebedarfsgruppe, meist über HMB-W ermittelt. Die Hilfebedarfsgruppe gibt den durchschnittlichen Betreuungsbedarf innerhalb eines bestimmten Einrichtungstyps an. HMB-W Hilfebedarf von Menschen mit Behinderung – Wohnen nach Metzler. Ein Verfahren zur Bedarfsbemessung ohne vorausgehende Zielplanung. Wegen fehlender ICF-Orientierung zukünftig nicht mehr anwendbar. ICD-10/-11 International Classification of Diseases 10. Version/11.Version (voraussichtlich ab 2020 verfügbar) ICF International Classification of Functioning, Disability and Health JVA Justizvollzugsanstalt KoB Kontakt- und Beratungsstelle, auch: K(o)BS, KoBe, KuB oder PSKB. Offenes, niederschwelliges Angebot mit Kontakt-, Freizeit- und Beratungsmöglichkeiten. Früher auch “Patientenclub”. Die entsprechenden Angebote im Suchtbereich nennen sich oft Kontaktladen oder Cafe KV Kassenärztlichen Versorgung KID Kriseninterventionsdienst KIBIS kommunalen Informations- und Beratungsstellen KISS Kontakt- und Informationsstellen MZEB Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen MRV Maßregelvollzug MVZ Medizinische Versorgungszentren NAKOS Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen ÖGD Öffentliche Gesundheitsdienst 208 Version 1.0 Der Sozialpsychiatrische Dienst PIA psychiatrische Institutsambulanz gem. §118 SGB V PHKP Psychiatrische Häusliche Krankenpflege PSAG Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft PSB psychosoziale Betreuung für Menschen in OpioidSubstitutionsbehandlung PSKB psychosoziale Kontakt und Beratungsstelle s. KoB PSNV psychosozialen Notfallvorsorge PsychK(H)G Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze RPK Rehabilitation psychisch Kranker SGB Sozialgesetzbuch SMI schweren psychischen Beeinträchtigungen (engl. Severe Mental Illness) SpD/SpDi Sozialpsychiatrische Dienste SpP Sozialpsychiatrischen Plan SPZ Sozialpädiatrische Zentren StäB stationsäquivalenten Behandlung StGB Strafrecht TS Tagesstätte (auch BTS für Beschäftigungstagesstätte). In den meisten Bundesländern eine Einrichtung der Eingliederungshilfe. Sie bietet in der Regel an 5 Tagen in der Woche ein verbindliches tagesstrukturierendes Angebot an. In der Regel ist eine Mindestanwesenheit vorgeschrieben. Darin unterscheidet sie sich von der KoB als einem offenen Angebot (“drop-in”) TWG therapeutische Wohngemeinschaften UN United Nations Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461 209 Annex-Abkürzungen ÜWH Übergangswohnheim, heißt in der Terminologie des primär zuständigen Leistungsträgers DRV (Deutsche Rentenversicherung) Übergangseinrichtung und wird nach den RPK-Richtlinien als stationäre medizinische Rehabilitation belegt WfMB Werkstätten für Menschen mit Behinderungen 210 Version 1.0 Annex-Websites Annex-Websites AMDP-System. https://www.amdp.de/ Betreuungsgesetz. https://www.gesetze-iminternet.de/bgb/__1896.html Rechtskonstrukt der Entmündigung, Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft für Erwachsene. https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstat istik/Betreuung/Betreuung_node.html Elgeti, Herrmann. 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