Der Sozialpsychiatrische
Dienst
Lehrbücher für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
Herausgegeben von Ute Teichert &
Peter Tinnemann
Akademie für Öffentliches
Gesundheitswesen in Düsseldorf
Version 1.0
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst ist im Rahmen des psychosozialen
Versorgungssystems in Deutschland der bekannteste Baustein. Er ist in
der Regel Teil der kommunalen öffentlichen Gesundheitsversorgung.
Basierend auf rechtlichen Grundlagen bieten Sozialpsychiatrische
Dienste fachärztliche und sozialarbeiterische Hilfen für Menschen mit
psychischen Störungen und seelischen Behinderungen sowie
Suchterkrankungen an.
Seine Arbeit setzt da an, wo Menschen notwendige Hilfen und
Schutzmaßnahmen, die sie wegen einer Krankheit oder einer
Behinderung benötigen - noch - nicht vorfinden oder krankheitsbedingt
nicht nutzen können. Der Dienst arbeitet multiprofessionell und setzt
sich in den Gesundheitsämtern zumeist aus Ärzten/innen,
Sozialarbeiter/innen, Sozialpädagogen/innen und Psychologen/innen
zusammen.
Die in diesem Lehrbuch erstmals zusammengefassten Inhalte beruhen
auf jahrelanger theoretischer Auseinandersetzung und praktischer
Erfahrung der Autoren/innen im ÖGD.
Das vorliegende Lehrbuch ist ein Gemeinschaftswerk aller
beteiligten Autorinnen und Autoren. Es gibt nicht die Meinung
einzelner Institutionen oder einzelner Autoren und Autorinnen
wieder.
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Impressum
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Lehrbuch für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
ISBN 978-3-9812871-6-5
DOI 10.25815/aacp-4461
Datum 2020
Ort Berlin
© 2020 die Autoren/innen. Creative Commons: Namensnennung Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0)
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
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Lehrenden der Akademie, haben ab 2019 in sogenannten Book Sprints
in gemeinsamer Autorenschaft Texte für diese Lehrbuchreihe verfasst.
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Autoren/innen
Dr. med. Matthias Albers
Gesundheitsamt, Stadt Köln
Alexandra Dippel
Gesundheitsamt, Stadt Frankfurt am Main
Dr. med. Hermann Elgeti
Stabsstelle Sozialplanung, Dezernat für soziale Infrastruktur der Region
Hannover
Annette Fröhmel
Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen, Berlin
Dr. med. Detlev Gagel
Gesundheitsamt, Bezirksamt Pankow zu Berlin
Dr. med. Kristin Haase, MPH
Zentrum für Tuberkulosekranke, Bezirksamt Lichtenberg von Berlin
Dr. med. Dipl. Psych Lothar Lindstedt
Donauwörth (Bayern)
Klaus Petzold
Fachdienst Gesundheit, Kreis Ostholstein
Dr. med. Peter Tinnemann, MPH
Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen, Berlin
Anerkennung & Danksagung
Lambert Heller für die Unterstützung bei der Entwicklung des
Projektes und der Durchführung der Book Sprints.
Dr. med. Jakob Schumacher und Simon Worthington für die
Unterstützung bei der Umsetzung des Projektes und die technische
Umsetzung auf GitHub.
Bernd Schiller und Petra Münstedt für die sorgfältige Durchsicht und
umsichtigen Korrekturen des Textes im gesamten Werk.
Johannes Wilm und das FidusWriter.org Team für die technische
Unterstützung.
Dem Bundesministerium für Gesundheit, das die gemeinsame
Erarbeitung unseres Lehrbuches gefördert hat. Ohne diese
Unterstützung wäre das Projekt nicht möglich gewesen.
Dr.med. Ute Teichert für den Enthusiasmus und die tatkräftige
Unterstützung des Projektes.
Inhalt
Einführung
17
Grundlagen
39
Grundlagen der praktischen Arbeit
119
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
125
Aspekte aus der Praxis
157
Ausblick
201
Annex-Abkürzungen
205
Annex-Websites
211
Literaturverzeichnis
217
Einführung
Einführung
Begriffsbestimmung
Sozialpsychiatrie und Gemeindepsychiatrie
Für die Begriffe Sozialpsychiatrie und Gemeindepsychiatrie gibt es
zurzeit keine allgemein anerkannten Definitionen. Mal werden sie
synonym verwandt, mal wird Sozialpsychiatrie mit Soziotherapie
gleichgesetzt; einige halten die Sozialpsychiatrie generell für
überflüssig. Beide Begriffe spielen jedoch in der Diskussion um die
psychiatrische Versorgung eine zentrale Rolle, sodass wir hier einen
Klärungsversuch unterbreiten möchten.
Sozialpsychiatrie (engl. social psychiatry)
ist eine Schwerpunktbildung in der Auseinandersetzung mit den
psychiatrischen Aufgaben. Sie betont in ihrer theoretischen und
praktischen Arbeit die soziale Dimension psychischer Störungen. Sie
engagiert sich für die Verwirklichung einer gemeindepsychiatrischen
Organisation der Versorgung und bewahrt dabei gleichzeitig die
Fähigkeit zur kritischen Infragestellung ihrer Praxis.
Gemeindepsychiatrie bzw. kommunale Psychiatrie (engl.
community psychiatry)
Der Begriff wird benutzt zur Bezeichnung einer wohnortnahen
Versorgung gerade auch schwer und chronisch psychisch erkrankter
Menschen, bei denen häufig auch eine seelische Behinderung im
Sinne des § 2 SGB IX vorliegt. Charakteristisch dafür ist ein Vorgehen,
bei dem präventive, kurative sowie rehabilitative Angebote für die
hilfsbedürftigen Menschen in dem von ihnen gewünschten
Lebensumfeld leicht zugänglich und fallbezogen gut koordiniert zur
Verfügung stehen. Dabei werden auch nicht-fachspezifische Angebote
und Hilfen aus dem sozialen Umfeld einbezogen. Von diesem
Idealzustand sind die meisten Regionen derzeit noch weit entfernt.
Für Personenkreise mit einem erschwerten Zugang erfüllt der
Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) hier eine wichtige subsidiäre
Funktion. Gemeindepsychiatrie setzt sich ein für mehr Toleranz und
18
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
soziale Unterstützung zugunsten der Betroffenen und ihrer
Angehörigen und dient damit dem Ziel der Inklusion.
Sozialpsychiatrische Grundhaltung und Arbeitsfelder
Der Begriff Sozialpsychiatrie bezeichnet eine Grundhaltung, die sich
bei der Arbeit in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen
bewähren muss (Elgeti 2010). Diese Grundhaltung hat drei Aspekte:
Betonung der sozialen Dimension psychischer Störungen in der
theoretischen und praktischen Beschäftigung mit psychiatrischen
Fragestellungen
Einsatz für die Verwirklichung einer gemeindepsychiatrischen
Organisation der Hilfen für Menschen mit psychischen
Erkrankungen
Verpflichtung zu einem offenen Dialog und einer
gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Fachleuten und
Hilfsbedürftigen, Angehörigen und sonstigen Beteiligten
Als Bestandteil jeder psychiatrischen Tätigkeit bei der Beratung
und Behandlung, Betreuung und Begutachtung hilfsbedürftiger
Personen richtet Sozialpsychiatrie ihre besondere Aufmerksamkeit
auf die sozialen Bedingungen der Entstehung und des Verlaufs, der
Therapie und Rehabilitation psychischer Störungen. Das gilt für die
Arbeit auf der Station, in der Tagesklinik oder Institutsambulanz
einer psychiatrischen Klinik genauso wie in der ambulanten
kassenärztlichen Versorgung, in einer Behörde oder einer
Einrichtung der Eingliederungshilfe für Menschen mit seelischen
Behinderungen.
Als spezialisierte Disziplin bildet Sozialpsychiatrie eigene
Institutionen, wobei eigene Profilbildung und partnerschaftliche
Kooperation mit dem Umfeld Hand in Hand gehen. Solche
Institutionen existieren sowohl in der Lehre (z.B. Sozialpsychiatrische
Zusatzausbildungen) und Forschung (z.B. Sozialpsychiatrische
Universitätsabteilungen), als auch in der Krankenversorgung (z.B.
Sozialpsychiatrische Hilfsvereine) und im Öffentlichen
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
19
Einführung
Gesundheitsdienst (z.B. Sozialpsychiatrische Dienste).
Sozialpsychiatrische Dienste (SpDi) gibt es inzwischen für jede
kommunale Gebietskörperschaft. Aufgrund heterogener
landesgesetzlicher Regelungen und lokaler Traditionen weisen sie
allerdings in ihrem Aufgabenspektrum und in ihrer jeweiligen
Zuständigkeit große Unterschiede auf. In Bayern und BadenWürttemberg übernehmen in der Regel freie Träger diese Aufgaben.
In den anderen Bundesländern arbeiten sie meistens in kommunaler
Trägerschaft und übernehmen hier auch hoheitliche Aufgaben.
Als gesundheitspolitische Bewegung streitet Sozialpsychiatrie für
die Rücknahme sozialer Ausgrenzungsprozesse gegenüber psychisch
kranken Menschen und greift damit weit über den fachlichen
Rahmen psychiatrischen Handelns hinaus. 1970 verbündeten sich
sozialpsychiatrisch gesinnte Fachleute, Betroffene und Angehörige in
der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP). Ein Jahr
später wurde die Aktion Psychisch Kranke (APK) e.V. gegründet, in
der führende Reformkräfte gemeinsam mit Repräsentanten der
Gesundheits- und Sozialpolitik auf Bundesebene seitdem der
Psychiatriereform immer wieder neue Impulse geben. Die allmählich
stärker werdende Selbsthilfebewegung der Betroffenen und ihrer
Angehörigen führte zur Gründung des Bundesverbandes der
Angehörigen psychisch Kranker (BApK) e.V. im Jahre 1989 und des
Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE) e.V. im Jahre
1991.
Klinische und psychosoziale Sichtweisen
Die Sozialpsychiatrie wendet sich in besonderer Weise den sozialen
Belangen psychischer Störungen zu. Das erfordert einen genauen
Blick auf psychosoziale Zusammenhänge, was den vorwiegend
somatisch-medizinisch geschulten Professionellen oft schwerfällt. Der
ihnen geläufige “klinische Blick” bemüht sich um eine differenzierte
Erfassung der psychopathologischen Symptomatik und bestimmt
nach der diagnostischen Einordnung die indizierte Therapie und die
wahrscheinliche Prognose.
20
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Ohne den Wert eines solchen Vorgehens zu leugnen, fordert der
“psychosoziale Blick” dagegen auch eine Besinnung auf die
Persönlichkeit des psychisch Kranken in seinen eigenen
lebensgeschichtlichen und sozialen Kontexten. Nur über diesen Weg
ergibt sich ein Zugang zum Verständnis der Lage des hilfsbedürftigen
Menschen, und nur so lassen sich therapeutische Perspektiven mit
ihm und für ihn erschließen. Dies kann auch für die damit befassten
Fachleute eine Quelle besserer Selbstkenntnis und wachsender
beruflicher Befriedigung sein.
Wichtige Impulse für die Entwicklung psychosozialer Sichtweisen in
der Psychiatrie setzen die seit den 1990er Jahren vielerorts
entstandenen Psychose-Seminare. Hier tauschen sich psychiatrische
Fachleute außerhalb therapeutischer Kontexte mit Betroffenen und
Angehörigen “auf Augenhöhe” über ihre jeweiligen Erfahrungen in
psychiatrischen Krankheitsphasen aus. Dieser “Trialog” genannte
Austausch bereichert die daran beteiligten Personen durch ein
besseres Verständnis der jeweils anderen Perspektiven und fördert
auch allgemein die Einsicht in die Notwendigkeit einer
partnerschaftlichen Zusammenarbeit in der psychiatrischen
Krankenversorgung, Lehre und Forschung.
Psychiatriereform
Meilensteine der Psychiatriereform
Im Auftrag des Deutschen Bundestages erarbeitete 1971-1975 eine
unabhängige Expertenkommission einen Bericht über die Lage der
Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesministerium
für Jugend, Familie und Gesundheit 1975). Diese sogenannte
Psychiatrie-Enquete von 1975 stützte sich auf eine umfassende
Bestandsaufnahme der psychiatrischen Versorgungssituation in
Deutschland, ausländische Vorbilder, eigene Praxismodelle und
Planungskonzepte. Sie beschrieb vier grundlegende Probleme und
gilt als erster Meilenstein der Psychiatriereform in Westdeutschland
(Abbildung E1). In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
21
Einführung
verfassten psychiatrische Fachleute schon 12 Jahre vorher mit den
Rodewischen Thesen von 1963 eine Reformagenda, deren Wirkung
in der Folgezeit aber begrenzt blieb (Internationales Symposium über
psychiatrische Rehabilitation 1963).
Tabelle 1: Die vier zentralen Themen der Psychiatrie-Enquete von
1975
1
Die unzureichende Unterbringung psychisch Kranker und Behinderter in
den psychiatrischen Krankenhäusern und das Fehlen alternativer
Einrichtungen, welche die stationäre Versorgung im Krankenhaus ergänzen.
2
Der Mangel an Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, für Alkoholkranke
und Drogenabhängige, für psychisch kranke alte Menschen und
erwachsene geistig Behinderte.
3
Die unzureichende Kapazität an Psychotherapie für die große Zahl seelisch
bedingter und seelisch mitbedingter Krankheiten.
4
Die mangelhafte Koordination aller an der Versorgung psychisch Kranker
und Behinderter beteiligten Dienste, insbesondere der vielfach
unzulänglichen Beratungseinrichtungen und sozialen Dienste.
Nach 1975 versuchte die westdeutsche Bundesregierung, über
Modellvorhaben die Umsetzung dessen voranzutreiben, was die
Enquete empfohlen hatte: Ein “kleiner” Modellverbund förderte von
1976 bis 2003 viele einzelne Dienste, die neue Arbeitsweisen und
Organisationsstrukturen entwickeln und erproben wollten.
Außerdem wurde für die Jahre 1981 bis 1985 ein “großes”
Modellprogramm „Psychiatrie“ aufgelegt, um in ausgewählten
Regionen eine nahtlose, gut abgestimmte Gesamtversorgung
psychisch erkrankter und seelisch behinderter Menschen modellhaft
zu erproben.
Nach Auswertung der Ergebnisse dieses Modellprogramms im
Auftrag der Bundesregierung wurden die Empfehlungen der
Expertenkommission von 1988 zum zweiten Meilenstein der
22
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Psychiatriereform. Darin wurde die Lage der chronisch psychisch
erkrankten Menschen in den Blickpunkt gerückt und Wert gelegt auf
die Funktionen eines bedarfsgerechten Versorgungssystems, statt sich
nur auf dessen Strukturen zu konzentrieren (Bundesministerium für
Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1988).
Bei chronischen und schweren psychischen Beeinträchtigungen
(Severe Mental Illness; SMI) gibt es häufig einen komplexen
Hilfebedarf, der individuell sehr unterschiedlich ist und in seiner Art
und seinem Umfang schwanken kann. Das erfordert eine sorgfältige
und flexible personenzentrierte Planung und Koordination der
Hilfen im Einzelfall. Psychiatrische Institutionen stützen sich jedoch
traditionell auf ein begrenztes und oft genau definiertes
Versorgungsangebot für die dort betreuten hilfsbedürftigen Personen,
an das diese sich dann anpassen müssen. Für den umgekehrten
Prozess der Anpassung der institutionellen Angebote an den
individuellen Hilfebedarf hat die APK 1994 bis 1996 Standards für
eine personenzentrierte Hilfeplanung entwickelt und damit einen
dritten Meilenstein der Psychiatriereform gesetzt (“Individuelle
Hilfeplanung (IBRP) Arbeitshilfe 11” 1996).
Den bisher letzten Meilenstein der Psychiatriereform setzte die Ende
2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen
verabschiedete UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit
Behinderung (UN-BRK). Nachdem die UN-BRK von genügend Staaten
gezeichnet wurde, trat sie im Mai 2008 international in Kraft, nach
Ratifizierung durch die Bundesregierung am 26.03.2009 auch in
Deutschland. Sie gilt damit auch in Deutschland als innerstaatliches
Recht, an das entgegenstehendes Recht anzupassen ist. Zu den
Grundsätzen, die in Artikel 3 dieses Übereinkommens niedergelegt
wurden, gehört die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft
und Einbeziehung in die Gesellschaft – so steht es in der offiziellen
deutschen Fassung. Der englische Text lautet „full and effective
participation and inclusion in society“; das bedeutet: „Alle sind
willkommen“ (Inklusion) und „Alle sind beteiligt“ (Partizipation).
Inklusion ist die Weiterentwicklung und Neuausrichtung der lange
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Einführung
Zeit unter dem Begriff „Integration“ laufenden Bemühungen:
Integration meint die Eingliederung von Außenstehenden in die
bestehenden Verhältnisse; diese müssen nun aber ihrerseits
veränderungsbereit werden, um Menschen mit eingeschränkten
Fähigkeiten gleichberechtigt in ihrer Mitte aufzunehmen.
Entwicklung Sozialpsychiatrischer Dienste
Die Vorgeschichte der SpDi reicht weit zurück ins 19. Jahrhundert
(Haselbeck 1985). Schon Wilhelm Griesinger forderte 1868 die
Schaffung sogenannter Stadtasyle als Ergänzung zu den
psychiatrischen Anstalten. Deren Leiter blockten seine Initiative
damals allerdings ab.
Aus Angeboten kommunaler Gesundheitsfürsorge und
anstaltsbezogener Familienpflege entwickelte sich in der Weimarer
Republik ein gemeindenahes System der “Offenen Fürsorge” an
städtischen Gesundheitsämtern. Es wurde im Nationalsozialismus als
Instrument einer fanatischen Rassenideologie vereinnahmt und auf
“die Erkennung und Ausmerzung der Gemeinschaftsunfähigen”
eingeschworen. Diese Perversion einer eigentlich präventiv und
rehabilitativ ausgerichteten “Psychohygiene” in eine “Rassenhygiene”
hat zum Schattendasein der kommunalen Daseinsvorsorge für
psychisch erkrankte Menschen nach 1945 beigetragen.
Erst mit der beginnenden Psychiatriereform ab Mitte der 1960er
Jahre erhielten gemeindepsychiatrische Ansätze wieder mehr
Aufmerksamkeit. Vorreiter bei der Einrichtung der SpDi in den
Bundesländern waren Berlin (1969) und Nordrhein-Westfalen (1969).
Die Expertenkommission der Bundesregierung von 1988 definierte
den “Baustein Sozialpsychiatrischer Dienst” als Bestandteil
kommunaler gemeindepsychiatrischer Verbünde. Dabei beschrieb sie
auch die Zielgruppe, das Aufgabenspektrum und die
Organisationsprinzipien. Zusammen mit den psychiatrischen
Versorgungskliniken sind SpDi die einzigen psychiatrischen
Hilfsangebote, die flächendeckend in ganz Deutschland eine
24
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
regionale Versorgungsverpflichtung haben. Als wohnortnaher
ambulanter Dienst ist er seit über 20 Jahren in jeder Kommune
verfügbar.
Die Auftragslage, das Leistungsspektrum und die Personalausstattung
der SpDi sind in Deutschland nicht einheitlich geregelt; große
Unterschiede gibt es nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern
auch zwischen den kommunalen Gebietskörperschaften eines
Bundeslandes (Elgeti and Erven 2018). Um den berufsgruppen- und
länderübergreifenden fachlichen Austausch zu fördern, spezifische
Fortbildungsangebote zu organisieren und Arbeitskonzepte zu
entwickeln, gründete sich 2010 ein bundesweites Netzwerk
Sozialpsychiatrischer Dienste. Die dort kooperierenden Verbände
formulierten 2012 ein Thesenpapier zu Kernaufgaben der SpDi und
entwickelten darauf aufbauend fachliche Empfehlungen zu
Leistungsstandards und Personalbedarf (Albers and Elgeti 2018).
Perspektiven einer kommunalen Psychiatrie
Eine recht verstandene kommunale Psychiatrie baut sich kein
abgeschlossenes eigenes Versorgungssystem, sondern bringt ihre
spezifische ethisch-fachliche Expertise in den verschiedenen
Handlungsfeldern kommunaler Daseinsfürsorge mit ein (Elgeti
2015). Die dabei hauptsächlich zu berücksichtigenden
Handlungsfelder lassen sich wie folgt gruppieren:
Lebensphasen mit besonderem Förder- und
Unterstützungsbedarf: Kinder und ihre Eltern stärken,
Jugendliche und junge Erwachsene bei der Verselbständigung
unterstützen, Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter sichern;
Kernbereiche gesellschaftlichen Lebens: Teilhabe durch Arbeit
und Beschäftigung ermöglichen, bedarfsgerechtes und
bezahlbares Wohnen fördern;
Grundformen sozialer Ungleichheit: Inklusion von Menschen mit
Behinderung fördern, Menschen mit Migrationserfahrung
integrieren, Armutsfolgen mildern.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Einführung
Eine integrierte Fach- und übergreifende Sozialplanung der
Kommune unterstützt die Koordination und Steuerung solcher
Handlungsfelder im Rahmen eines sinnvoll abgestuften Hilfesystems
(stepped care). Es sollte eine klare Abgrenzung geben zwischen der
Selbst- und Laienhilfe der Bürgergesellschaft, den allgemeinen
Anlaufstellen (z.B. Hausarztpraxen und psychosoziale
Beratungsstellen, ambulante Pflege und kommunale Sozialarbeit) und
den Angeboten der psychiatrischen „Spezialisten“. Dabei geht es nicht
nur um die Entwicklung und regelmäßige Fortschreibung von
Konzepten und Plänen. Genauso wichtig sind ein handlungs- und
wirkungsorientiertes Berichtswesen zur Qualitätssicherung von
Hilfsangeboten sowie eine Vernetzung der Akteure und deren
Beteiligung an den Planungsprozessen. Die Netzwerkgremien sind
mitverantwortlich sowohl für den trialogisch zu gestaltenden
Diskurs, als auch für eine praktikable und aussagekräftige regionale
Psychiatrieberichterstattung.
Abbildung 1: Regionalmodell für ein abgestuftes Hilfesystem sozialer Infrastruktur
Wesentlich für den Erfolg kommunaler Psychiatrieplanung ist die
Verknüpfung der Ebenen individueller, institutioneller und
regionaler Planung (Elgeti 2019): Aus den kumulierten Erfahrungen
bei der Planung und Durchführung von Einzelfallhilfen (Case
Management) lassen sich wertvolle Erkenntnisse für die
Versorgungsplanung in der Region (Care Management) gewinnen.
Dabei geht es einerseits um die Identifizierung von guten Beispielen
(best practice) und Lücken im Hilfesystem (unmet needs), andererseits
aber auch um datengestützte Vergleiche verschiedener Hilfsangebote
26
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
innerhalb einer Angebotsform und zwischen einzelnen Teilregionen
(Benchmarking). Für alle, die den Anspruch der UNBehindertenrechtskonvention auf Inklusion ernst nehmen, ist
Transparenz und Partizipation dabei oberstes Gebot. Deshalb gehört
es zu einer guten Planung in der Psychiatrie, die beteiligten Akteure –
einschließlich der Selbsthilfe-Organisationen – konsequent und in
allen Phasen zu beteiligen: bei der Situationsanalyse,
Konzeptentwicklung und Planung sowie bei der Umsetzung geplanter
Maßnahmen und der Ergebnisprüfung.
Zusammenarbeit
Therapeutischer Dialog
Für eine wirksame Hilfe bei psychischen Erkrankungen ist die gute
Zusammenarbeit zwischen den helfenden Fachleuten und dem
betroffenen Menschen sowie seinen näheren Bezugspersonen die
notwendige Basis und das wichtigste Element. Deshalb benötigen alle
in der psychiatrischen Fallarbeit eingesetzten Berufsgruppen ein
Grundverständnis für die Bedeutung vertrauensvoller Beziehungen
zu den hilfsbedürftigen Personen. Ihre Bereitschaft und Fähigkeit,
sich für einen tragfähigen therapeutischen Dialog einzusetzen, wird
als psychotherapeutische Grundhaltung bezeichnet. Sie ist
abzugrenzen von einer psychotherapeutischen Qualifikation im
engeren Sinne, die man für bestimmte Psychotherapieverfahren
erwerben kann, z.B. in der Verhaltenstherapie, tiefenpsychologischen
Psychotherapie, Psychoanalyse oder systemischen Familientherapie.
Chancen und Risiken für das Zustandekommen und die
Aufrechterhaltung eines therapeutischen Dialogs liegen nicht nur in
der Hand der beteiligten Fachleute, sondern auch bei den
Hilfsbedürftigen, und sie sind mitbedingt durch die Lage, in der diese
sich befinden. Ihre Dialogfähigkeit kann je nach Art und Ausmaß
der psychischen Beeinträchtigungen mehr oder weniger
beeinträchtigt sein, und ihre Lebensumstände erzeugen oder
verstärken womöglich Misstrauen gegen die angebotene Hilfe. Wer
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
27
Einführung
unter einem Verfolgungswahn leidet und das Erstgespräch mit dem
hinzugerufenen Fachpersonal auf der Polizeiwache in Handschellen
führen muss, tut sich schwer, in eine vertrauensvolle Beziehung
einzutreten. Die Professionellen müssen sich in jedem Einzelfall ein
unvoreingenommenes Bild über die aktuelle Situation machen und
brauchen Einfühlungsvermögen, um mit ihrem Verhalten dazu
beizutragen, dass auch unter ungünstigen Ausgangsbedingungen ein
therapeutischer Dialog gelingt.
Im Sinne des Prinzips „Hilfe zur Selbsthilfe" kommt es in der
sozialpsychiatrischen Arbeit darauf an, die hilfsbedürftige Person
dabei zu unterstützen, ihren Alltag möglichst eigenverantwortlich zu
gestalten und auftretende Konflikte konstruktiv zu bewältigen.
Anders als in der klassischen Psychotherapie geht es in der
Sozialpsychiatrie nicht nur um die Reflexion der bestehenden
Beeinträchtigungen und die Ermutigung, neue Möglichkeiten des
Fühlens, Denkens und Handelns zu erproben. Vielmehr braucht es
hier je nach individueller Problemlage oft auch eine sorgfältig zu
dosierende aktive Fürsorge, um durch Kompensation von
Beeinträchtigungen erst einmal die Chancen für mehr
Selbstbestimmung und Teilhabe zu verbessern.
Um die therapeutische Beziehung wirksam gestalten zu können, ist
auf Seiten des Fachpersonals eine kontinuierliche persönliche
Zuständigkeit für den hilfsbedürftigen Menschen auch bei
längerfristiger und wiederholter Inanspruchnahme sinnvoll. Für
einen gelingenden Dialog muss die zuständige Fachkraft eine
individuell angemessene Balance aus professionell bedachter
Nähe und Distanz finden, mit einer den Umständen angepassten
Mischung aus Tun und Lassen (Abbildung: Typologie therapeutischer
Haltungen bei misslingendem Dialog). Hinweise für einen aus
therapeutischer Sicht misslungenen Dialog sind ein grenzenloses
Verständnis oder eine fürsorgliche Belagerung genauso wie eine
konfrontative Zuspitzung oder die Aufgabe der Beziehung zur
hilfsbedürftigen Person.
28
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Abbildung 2: Typologie therapeutischer Haltungen bei misslingendem Dialog
Interdisziplinäres Team
Für eine wirksame Hilfe bei psychischen Störungen ist nur in
bestimmten Fällen ein interdisziplinäres Team mit Fachleuten aus
mehreren Berufsgruppen nötig. Oft sind die Beeinträchtigungen nicht
so schwerwiegend und klingen auch bald wieder ab, sie lassen sich
dann oft mit Selbst- und Laienhilfe gut kompensieren.
Möglicherweise verfügt die betroffene Person über gut
funktionierende Bewältigungsmechanismen und soziale
Unterstützung durch Partnerschaft, Angehörige bzw. Freunde oder
geht zu einer Selbsthilfegruppe. Mangelt es an solchen Ressourcen
oder reichen diese nicht aus, sollten Fachleute hinzugezogen werden.
Hier kommt in erster Linie eine psychosoziale (Lebens-, Familien-,
Sucht-) Beratungsstelle oder eine (hausärztliche, psychiatrische,
psychotherapeutische) Kassenarztpraxis in Frage.
Sind diese Hilfsangebote mit dem erforderlichen Arbeitsaufwand und
der Komplexität des Falles überfordert, kommen interdisziplinär
besetzte Fachdienste zum Einsatz. Das gilt besonders für akute
Krisen mit drohender Selbst- oder Fremdgefährdung und für
chronische Krankheitsbilder, bei denen ausgeprägte psychische,
körperliche und/ oder soziale Problemlagen ineinandergreifen.
Deshalb gibt es interdisziplinäre Teams in Sozialpsychiatrischen
Diensten, in ambulanten, teil- und vollstationären Angeboten
psychiatrisch-psychotherapeutischer Kliniken und bei
Leistungserbringern von Eingliederungshilfen. Zumindest die
ambulanten Dienste können und sollten auch aufsuchend und
nachgehend tätig werden. Die dort eingesetzten Fachkräfte kommen
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
29
Einführung
hauptsächlich aus den Berufsgruppen der Sozialen Arbeit,
Krankenpflege, Medizin, Psychologie und Ergotherapie, sie sollten
möglichst zusätzlich (sozial-) psychiatrisch oder psychotherapeutisch
qualifiziert sein. Die Zusammensetzung des Teams und das
Mischungsverhältnis der verschiedenen Berufsgruppen richten sich
nach dem jeweiligen Schwerpunkt der Arbeit. In der letzten Zeit
wächst die Einsicht, dass die Teams ihre Arbeit mit Hilfe
qualifizierter Psychiatrie-Erfahrener, die Peer-Beratung und
Genesungsbegleitung anbieten, noch wirksamer gestalten können.
Die Zusammenarbeit im interdisziplinären Team ermöglicht die
Analyse komplexer und unübersichtlicher Problemlagen aus
unterschiedlichen Perspektiven. Das betrifft in der Fallarbeit die
Situationsklärung und Diagnostik beim Erstkontakt im Dienst oder
während des Hausbesuchs ebenso wie bei Einzel- und
Gruppentherapien im weiteren Verlauf. Eine wesentliche Bedeutung
hat die kollegiale Beratung in regelmäßigen Teamkonferenzen: Der
wechselseitige Austausch und die Unterstützung in schwierigen
Fallkonstellationen tragen auch zur Relativierung und Bereicherung
der je eigenen Sichtweisen bei.
Die gute Organisation eines interdisziplinären Teams in der
psychiatrischen Versorgung ist eine anspruchsvolle Aufgabe: Um ein
aufgabengerechtes breites Kompetenzspektrum abzusichern und
auch in Urlaubs- oder Krankheitszeiten funktionsfähig zu bleiben,
muss das Team eine Mindestgröße haben. Um den kollegialen
Zusammenhalt zu bewahren, darf es auch nicht zu groß werden. Die
Arbeitsbelastung ist gerecht zu verteilen, die informelle
Kommunikation zu fördern. Unter diesen Bedingungen ist die
Zusammenarbeit im interdisziplinären Team für die darauf
angewiesenen Menschen eine wirksame Hilfe und für die dort
eingesetzten Fachkräfte ein attraktiver Arbeitsplatz.
30
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Tabelle 04: Zehn Regeln für die interdisziplinäre Teamarbeit in
der Psychiatrie
1
Die Teammitglieder sollen ein breites Spektrum persönlicher und
fachlicher Kompetenz repräsentieren. Ihre beruflichen Qualifikationen
sollten eine Integration psycho-, pharmako- und soziotherapeutischer
Verfahren erlauben.
2
Die optimale Teamgröße liegt zwischen 8 und 16 Mitgliedern, um
genügend Vielfalt und eine gegenseitige Vertretung zu gewährleisten,
ohne die Wirksamkeit der Kommunikation durch zu viele Teilnehmer zu
gefährden.
3
Zentrum der interdisziplinären Zusammenarbeit sind regelmäßige
Teamkonferenzen, je nach erforderlicher Intensität der Kommunikation
mindestens 1x wöchentlich, mit einer Dauer zwischen 30 und 90 Minuten.
4
Eine gute Kommunikation unter den Teammitgliedern wird gefördert
durch informelle Kontaktmöglichkeiten zwischen Terminen oder in der
Mittagspause, aber auch auf Teamabenden, jährlichen Konzepttagen und
Betriebsausflügen.
5
Für jede Klientin und jeden Klienten sollte es ein festes BetreuungsTandem geben mit einer Hauptansprechperson für den therapeutischen
Dialog und einem zweiten Teammitglied aus einer anderen Berufsgruppe
als Vertretung im Hintergrund.
6
Eine angemessene Begrenzung der Zahl aktuell betreuter Personen soll
den einzelnen Teammitgliedern genügend Zeit für den direkten
Klientenkontakt ermöglichen und zu einer gerechten Verteilung der
Arbeitsbelastung im Team beitragen.
7
Alle Teammitglieder müssen wissen, wie viel Zeit sie welchen
Dienstaufgaben widmen. Der Anteil direkter Einzel- und Gruppenkontakte
aller Teammitglieder in der Fallarbeit (inkl. Fahrzeiten bei Hausbesuchen)
sollte nicht unter 50% der Gesamtarbeitszeit sinken.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
31
Einführung
8
Die Teamleitung soll in ihrem Führungsverhalten nach Möglichkeit
Verantwortung delegieren, Teammitglieder an Entscheidungen beteiligen
und eine Balance zwischen Beständigkeit und Veränderung der Arbeit im
Team fördern.
9
Für die Sicherung der Rahmenbedingungen der Arbeit (personell, sachlich
und finanziell) sind nicht die einzelnen Teammitglieder, sondern die
Führung des Einrichtungsträgers in Rückkoppelung mit der Teamleitung
verantwortlich.
10
Alle Bemühungen um Organisation und Reorganisation sollten sich auf
das ausrichten, was mit dem französischen Verb organiser gemeint ist:
planvoll gestalten und zu einem lebendigen Ganzen zusammenfügen.
Regionaler Verbund
Psychisch beeinträchtigte Menschen sind gerade bei einem
chronischen Verlauf ihrer Erkrankung und einem komplexen
Hilfebedarf meist gleichzeitig oder nacheinander auf Leistungen
verschiedener Einrichtungsträger angewiesen. Die Zusammenarbeit
aller beteiligten Personen und Institutionen ist deshalb eine
unverzichtbare Voraussetzung für die Koordination und Planung,
Evaluation und Steuerung gemeindepsychiatrischer Hilfen, sowohl
im Einzelfall, als auch auf der regionalen Ebene (Tabelle 05). Im Zuge
der Psychiatriereform hat sich das Versorgungssystem in Deutschland
stark ausdifferenziert. Bei der Entwicklung der unterschiedlichen
Hilfsangebote kam es allerdings zu erheblichen regionalen
Ungleichheiten, verbunden mit deutlichen Anzeichen für Unter-,
Über- und Fehlversorgung.
32
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Abbildung 3: Akteure und Zentren der Zusammenarbeit in der Gemeindepsychiatrie
Die zahlreichen Leistungsträger und Anbieter von Hilfen befinden
sich in einer zunehmend marktwirtschaftlich geprägten Konkurrenz
und arbeiten oft neben- oder gar gegeneinander; das ist ein großes
Hindernis für eine gute Kooperation. Unter diesen Voraussetzungen
wächst die Bedeutung einer verbindlichen psychiatriepolitischen
Rahmensetzung für die Koordination und Planung
gemeindepsychiatrischer Versorgungssysteme. Das ist die Aufgabe
der Sozial- und Gesundheitspolitik auf den Ebenen des Bundes, der
Länder und der Kommunen. Die dafür Verantwortlichen werden
dieser Herausforderung bisher jedoch oft nicht gerecht.
Eine fallbezogene Zusammenarbeit im regionalen Verbund ist
erforderlich bei der Hilfeplanung und bei der Koordination
mehrerer Leistungen unterschiedlicher Einrichtungsträger für eine
Person mit komplexem Hilfebedarf. In solchen Fällen hat es sich
bewährt, im Einvernehmen mit dem betroffenen Menschen eine ihn
betreuende Fachperson damit zu beauftragen, bei weiteren,
andernorts erbrachten Leistungen die Koordination der Hilfen zu
übernehmen (Clinical Case Management, koordinierende
Bezugsperson). Dieser Standard sollte auch für die rechtzeitige
Nachsorgeplanung im Anschluss an einen Klinikaufenthalt gelten,
selbst wenn keine Eingliederungshilfen erforderlich sind.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
33
Einführung
Die Träger der Eingliederungshilfe (EGH) sind nach dem
Bundesteilhabegesetz (BTHG) verpflichtet, einen Gesamtplan zu
erstellen; falls bei komplexem Hilfebedarf mehrere
Rehabilitationsträger in Frage kommen, ist ein
Teilhabeplanverfahren durchzuführen. Die Anzahl der möglichen
Rehabilitationsträger beträgt inzwischen acht, und dazu kommen
noch die Integrationsämter. Der hilfsbedürftige Mensch ist in jedem
Fall aktiv in die Hilfeplanung einzubeziehen, auf seinen Wunsch
zusätzlich auch Personen seines Vertrauens, z.B.
Angehörige,
Freunde,
betreuendes Fachpersonal von Leistungserbringern oder
Selbsthilfe-Vertretung.
Falls eine gesetzliche Betreuung mit entsprechendem Wirkungskreis
besteht, muss auch die Betreuerin oder der Betreuer dabei sein. Die
Leistungsträger sollten im Planungsverfahren immer einen
vertrauenswürdigen Fachdienst mit spezieller Expertise hinzuziehen,
z.B. den kommunalen Sozialpsychiatrischen Dienst. Bei einem
Neuantrag, einer Hilfeplanfortschreibung mit wesentlicher Änderung
des Leistungsspektrums oder auf Wunsch einer am Verfahren
beteiligten Person ist die Durchführung einer gemeinsamen
Hilfeplankonferenz angezeigt.
Nach § 12 SGB IX sind die Rehabilitationsträger verpflichtet, die
frühzeitige Erkennung des Rehabilitationsbedarfs zu unterstützen,
insbesondere durch die Bereitstellung und Vermittlung von
geeigneten barrierefreien Informationsangeboten. Dazu muss es eine
schon im Vorfeld des Planungsverfahrens wohnortnah verfügbare,
niederschwellig zugängliche und fachkundig besetzte Ansprech- und
Beratungsstelle geben, die diese Funktion im Auftrag der
Rehabilitationsträger übernimmt und verbindlich mit der
Ergänzenden Unabhängigen Teilhabe-Beratungsstelle (EUTB) nach
§ 32 SGB IX zusammenarbeitet. Die EUTB ihrerseits benötigen eine
spezielle Expertise für die Peer-Beratung bei psychischen
Beeinträchtigungen und seelischen Behinderungen, die durch die
34
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Beschäftigung von entsprechend qualifizierten psychiatrieerfahrenen Genesungsbegleitern gewährleistet werden kann.
Tabelle 05: Leistungsgruppen und die dafür zuständigen Träger
Träger der gesetzlichen Rentenversicherung
X
Alterssicherung der Landwirte
X
Träger der gesetzlichen Unfallversicherung
X
Bundesagentur für Arbeit
Unterhaltssichernde u. and. ergänz. Leistungen
Leistungen zur sozialen Teilhabe
X
Leistungen zur Teilhabe an Bildung
Träger der gesetzlichen Krankenversicherung
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Rehabilitationsträger
Leistungen zur med. Rehabilitation
(Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) e.V. 2019)
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
Träger der öffentlichen Jugendhilfe
X
X
X
X
Träger der Eingliederungshilfe
X
X
X
X
X
X
Träger der Kriegsopfer-Versorgung und Fürsorge
Integrationsämter (nicht Reha-, aber
Sozialleist.-Träger)
X
X
X
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
35
Einführung
Für die fallunabhängige Zusammenarbeit der Akteure im regionalen
Verbund wurden im Laufe der Psychiatrie-Reform in Deutschland
verschiedene Vorschläge gemacht, ohne dass sich daraus eine allseits
anerkannte einheitliche Struktur entwickelt hätte. Die PsychiatrieEnquete von 1975 empfahl zur Koordination und Planung eines
sogenannten Standardversorgungsgebietes (150.000‒350.000
Einwohner) einen Psychosozialen Ausschuss zur Beratung des
Kommunalparlaments (Bundesministerium für Jugend, Familie und
Gesundheit 1975). Er sollte bestehen aus Delegierten ebenfalls
einzurichtender Koordinationsgremien, und zwar getrennt für
Dienste (Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft; PSAG),
Einrichtungsträger, Kostenträger und kommunale Ämter bzw.
Behörden. Dieses Organisationsmodell war vorher nirgends
ausprobiert worden und scheiterte in der Folgezeit. Allenfalls die
Dienste fanden in einer regionalen PSAG zusammen, die anderen
Systempartner sahen in der Regel keinen Bedarf, verbindlich
miteinander zu kooperieren.
Das nach der Psychiatrie-Enquete aufgelegte Modellprogramm wurde
von einer Expertenkommission der Bundesregierung ausgewertet, die
in ihren Empfehlungen von 1988 einen neuen Vorschlag zur
Koordination und Steuerung machte (Bundesministerium für Jugend,
Familie, Frauen und Gesundheit 1988). Nun ging man von den
kommunalen Gebietskörperschaften als maßgeblichen
Planungseinheiten aus, obwohl diese vielerorts dafür eigentlich zu
klein sind. Allen Kommunen wurde empfohlen, eine Stelle zur
Psychiatriekoordination einzurichten, die ihrerseits einen Beirat zu
ihrer Unterstützung berufen sollte, bestehend aus Vertretungen
verschiedener Systempartner. Man setzte also ganz auf die Initiative
und Autorität der Kommunen, denen aber in der Regel die
Kompetenzen und Instrumente fehlten, ein so komplexes System zu
dirigieren (Elgeti and Machleidt 1990).
Die seit den 1990er Jahren zu beobachtende Infragestellung des
Wohlfahrtsstaates beinhaltet auch das Risiko einer Vernachlässigung
der besonders schwer beeinträchtigten Menschen. Dagegen steht die
36
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
UN-BRK, die seit 2009 in Deutschland geltendes Recht ist. Sie fordert
für alle Menschen, unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit:
Inklusion und Partizipation,
Vermeidung von Zwang und Bevormundung
Selbstbestimmung und Teilhabe mitten in der Gesellschaft.
Danach müssen die Selbsthilfe-Organisationen der PsychiatrieErfahrenen und ihrer Angehörigen im Sinne einer trialogischen
Psychiatrie auch an der Zusammenarbeit im regionalen Verbund und
an der Versorgungsplanung gleichberechtigt beteiligt werden.
Um die Zusammenarbeit im regionalen Verbund zu verbessern,
haben in vielen Landkreisen und kreisfreien Städten psychiatrisch
engagierte Einrichtungsträger Gemeindepsychiatrische Verbünde
(GPV) gegründet. Einige von ihnen schlossen sich mit Unterstützung
der APK 2004 in einer Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG GPV)
zusammen und definierten bestimmte Qualitätsstandards als
Voraussetzung für die Mitgliedschaft eines GPV in der BAG. Das Land
Baden-Württemberg setzt Anreize für GPV-Gründungen und hat sich
in seinem PsychKHG von 2015 dazu verpflichtet, entsprechende
Zusammenschlüsse von Einrichtungsträgern unter bestimmten
Voraussetzungen finanziell zu fördern.
Einen anderen Weg hat das Land Niedersachsen gewählt: Dort
wurden die kommunalen Gebietskörperschaften 1997 im NPsychKG
gesetzlich verpflichtet, zur besseren Zusammenarbeit der Akteure
Sozialpsychiatrische Verbünde (SpV) zu gründen. Die Teilnahme ist
allerdings bisher freiwillig und praktisch ohne Mitwirkungspflichten,
es sei denn, die Kommune vereinbart diese gesondert mit denjenigen
Hilfsangeboten, für die sie Leistungsträger ist. Der SpDi führt die
Geschäfte des SpV und muss im Benehmen mit ihm einen
Sozialpsychiatrischen Plan (SpP) über den Bedarf und das
gegenwärtige Angebot an Hilfen erstellen bzw. regelmäßig
fortschreiben. Seit 2007 wurde eine LandespsychiatrieBerichterstattung aufgebaut, auch um mit jährlich ausgewerteten
Kennzahlen zu wichtigen Bausteinen der Versorgung die Kommunen
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
37
Einführung
bei der Erstellung ihres SpP zu unterstützen. Eine kommunale
Psychiatrieberichterstattung und Versorgungsplanung könnten
Motoren für die Zusammenarbeit im regionalen Verbund sein, wenn
man sie verbindlich machen und partizipativ organisieren würde.
38
Version 1.0
Grundlagen
Grundlagen
Psychiatrische Grundlagen
Einleitung
Das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie befasst sich mit den
psychischen Erkrankungen in Bezug auf Prävention, Diagnostik und
Behandlung. Formale Grundlage der Diagnosestellung bildet das
Kapitel V (F) der Internationalen Klassifikation der Krankheiten
(international classification of diseases) in der 10. Revision (ICD-10;
dimdi.de). ICD 10 ist ein multiaxiales System. Von früheren Versionen
der ICD unterscheidet sie sich dadurch, dass das Kapitel F
Diagnosekriterien enthält, die weltweit eine einheitliche
psychiatrische Diagnostik ermöglichen sollen. Multiaxial bedeutet,
dass mehrere Diagnosen nebeneinandergestellt werden können und
sollen, sofern das in den Diagnosekriterien für bestimmte Diagnosen
nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. Das betrifft z. B. das
Nebeneinanderbestehen von sogenannten Achse 1 - Störungen (wie
z.B. Depression, Angsterkrankungen, schizophrenen Störungen) und
sog. Achse 2 - Störungen (wie Persönlichkeitsstörungen). Aber es
betrifft auch das Vorliegen mehrerer Achse 1- (z.B. soziale Phobie,
mittlere depressive Episode, Alkoholabhängigkeit, Essstörung) oder
Achse 2 - Störungen (z.B. Histrionische Persönlichkeitsstörung und
Borderline-Persönlichkeitsstörung). ICD 10 unterstützt damit sehr
stark das Erkennen und Dokumentieren von Komorbiditäten.
Die 11. Revision ist aktuell in Vorbereitung und soll am 01.01.2022
zur Verfügung stehen (Deutsche Institut für Medizinische
Dokumentation und Information 2020). Basierend auf dem biopsycho-sozialen Modell wird die rein symptomorientierte
Beschreibung ohne Lebensweltbezug der ICD um eine weitere
Klassifikation, die Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International
Classification of Functioning, Disability and Health, ICF-mentale
Funktionen; rehadat-icf.de) ergänzt.
40
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Abbildung 4: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF
Insbesondere durch die Novellierung des SGB IX
(Bundesteilhabegesetz ab 01.01.2020) ist die Beschreibung der
Teilhabestörung mit Hilfe der ICF obligat. Die ICF entspricht in ihrer
Beschreibung der Wechselwirkungen der Umfeldfaktoren mit
personalen Faktoren und Gesundheitsstörungen der
sozialpsychiatrischen Herangehensweise. Zur vertiefenden
Einordnung einer Diagnose kann das in den USA und zum Teil in der
wissenschaftlichen Forschung gebräuchliche DSM-System dienen, auf
dessen Erläuterung aufgrund der mangelnden praktischen Relevanz
im sozialpsychiatrischen Kontext des ÖGD verzichtet wird.
Im Folgenden wird, versehen mit praxisnahen Tipps, ein
leitliniengerechter, strukturierter Untersuchungsablauf zur ersten
Diagnose-Einordnung beschrieben, dann folgt die weiterführende
Zusatzdiagnostik. Im gesamten Vorgehen gilt es, die besondere
Patientengruppe im ÖGD stets im Blick zu haben. Daher befassen wir
uns am Schluss nach einem allgemeinen kurzen Überblick der
Behandlungsmöglichkeiten mit häufig auftretenden Symptomatiken
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
41
Grundlagen
des sozialpsychiatrischen Alltags und umfasst die Diagnosegruppen
der schizophrenen Störungen, der Abhängigkeitserkrankungen, der
relevanten Untergruppen der Persönlichkeitsstörungen sowie
kursorisch den affektiven Störungen.
Psychiatrische Untersuchung
Die psychiatrische Untersuchung gliedert sich in mehrere, durchaus
zeitlich parallel durchgeführte Schritte:
der strukturierten Befragung mit Erheben des
psychopathologischen Befunds, der sogenannten Exploration,
sowie der Verhaltensbeobachtung, der biographischen Anamnese
und
der Fremdanamnese.
Der psychiatrische Untersucher muss sich ganz besonders - mangels
objektivierbarer, reproduzierbarer (apparativer) Diagnostik - der
Gefahr der subjektiven Einordnung des Gesagten bewusst sein,
hilfreich ist ein Vorgehen mittels halbstrukturierter Interviews.
Der Untersucher ist im psychiatrischen Bereich auf Sprache und
deren Verstehen in besonderem Maße angewiesen. Bei
Sprachbarrieren zwischen Patient und Untersucher ist, auch bei für
den somatischen Bereich möglicherweise ausreichenden
Sprachkenntnissen, ein unabhängiger psycho-sozial vorgebildeter
Sprachmittler (z.B. Dolmetscher) hinzuzuziehen. Eine nahestehende
Person, z.B. Familienangehörige, oder eine andere hinzugezogene
Person, z.B. eine Reinigungskraft, sind für diese Aufgabe als kritisch
zu betrachten. Jede kulturell getönte Interpretation, Weglassung oder
wohlgemeinte Erläuterung sollte aufmerksam registriert, aber mit
Vorsicht interpretiert werden. Die Kosten sollten im ÖGD durch den
Auftraggeber bzw. den örtlichen oder überörtlichen
Sozialleistungsträger getragen werden.
42
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
EXPLORATION
Die Situationen, in denen in der sozialpsychiatrischen Arbeit
untersucht wird, unterscheiden sich oft wesentlich von
Untersuchungssituationen in Praxis oder Klinik. Bei aktiver
Kontaktaufnahme an der Haustüre oder in anderen nicht
strukturierten Situationen ist zunächst der Aufbau einer
Gesprächsbasis, der Abbau von Ängsten und Abwehr und die
Schaffung einer Vertrauensbasis erforderlich. Die Gesprächsführung
ist dann der Situation und den Bedürfnissen der/des Betroffenen
anzupassen und oft wenig strukturiert. Auch wenn - insbesondere in
Akutsituationen - aus wenigen Informationen eine Verdachtsdiagnose
abgeleitet werden muss, sollten die im Folgenden beschriebenen
Items einer vollständigen Exploration möglichst erfasst werden (siehe
“Beispiel einer sozialpsychiatrischen Exploration” unter “Aspekte aus
der Praxis”).
Die Exploration besteht aus der Erhebung des psychischen bzw.
psychopathologischen Befundes, der Familien-, Sozial- und
Berufsanamnese, der weiteren und speziellen Anamnese, z.B. der
Sexualanamnese. Dazu gehört auch das Erfragen psychiatrischer
Erkrankungen im familiären Umfeld, Nachfragen zum familiären
Klima und zu den frühen Bindungsverhältnissen. Unbedingt ist das
Thema Suizide in der Familie oder näheren sozialen Umgebung
anzusprechen. Die Erhebung der Sozial- und Berufsanamnese gibt ein
Bild der aktuellen Lebenssituation und ggf. wichtige Hinweise für
Resilienzfaktoren und Hilfesysteme. Ebenfalls ist eine Überprüfung
der sogenannten Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben zur
vertieften Einschätzung hilfreich.
Eine ausführlichere biographische Anamnese gibt einen Überblick
über Lebensweg, Interaktionsmuster, Persönlichkeitsstil und
Hinweise auf Abwehrmechanismen. Somit ist sie der Ausgangspunkt
für eine Persönlichkeitsdiagnostik und ein psychodynamisches
Verständnis. Sie soll, wann immer möglich, durch eine
Fremdanamnese ergänzt werden, da z.B. sowohl bei Psychosen wie
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
43
Grundlagen
auch bei Persönlichkeitsstörungen die eigene Wahrnehmung des
Betroffenen von der seiner Umwelt abweichen kann.
Der psychopathologische Befund beschreibt als aktueller oder
Querschnitts-Befund die zum Untersuchungszeitpunkt beim
Untersuchten vorhandenen, als Längsschnitt-Befund die seit
Erkrankungsbeginn aufgetretenen Symptome. Als Orientierung hat
sich die folgende Gliederung des psychischen Befundes nach dem
AMDP-System bewährt:
Bewusstseinsstörung (Einschätzung z.B. der Wachheit, der
Klarheit, der Ansprechbarkeit)
Orientierungsstörungen (Bescheidwissen über Zeit, Ort, Situation
und eigene Person)
Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen (Auffassung z.B.
durch Erklären von Sprichwörtern überprüfen,
Konzentrationsstörungen mittels z.B. Subtrahieren von Merkoder Gedächtnisstörungen, abgrenzen durch Merken einfacher
Begriffe und Wiedergeben nach 10 min oder Überprüfen von
Begebenheiten, die mehr als 60 min. her sind, siehe MMST)
Formale Denkstörungen (Wahrnehmung für die Veränderung in
der Geschwindigkeit, der Verständlichkeit oder des roten Fadens
im Erzählen)
Befürchtungen und Zwänge (Gezieltes Erfragen von Ängsten und
darauf bezogene Empfindungen oder Verhaltensweisen, wie z.B.
Vermeidung)
Wahn (mit subjektiver Gewissheit wird die Wirklichkeit
fehlgedeutet, systematisch oder eingeengt auf einzelne Themen)
Sinnestäuschungen (Es werden Illusionen-Verkennung bei
Vorhandensein einer Reizquelle - und HalluzinationenFehlwahrnehmung ohne Reizquelle - unterschieden)
Ich-Störungen (Die Grenze des Ich zum Außen (Derealisation), das
persönliche Einheitserleben (Depersonalisation) ist gestört und
wird als fremd erlebt und/oder das Fühlen, Denken oder
Handeln, z.B. Gedankenentzug, wird als von außen gemacht
erlebt)
44
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Störungen der Affektivität (Beurteilung der Stimmung und
Emotionalität)
Antriebs- und psychomotorische Störungen (Erfassen des
Aktivitätsniveaus, auch anhand von Gestik, Mimik und Sprache)
Circadiane Besonderheiten (Fragen nach regelhaften
Schwankungen der Stimmung und des Verhaltens innerhalb von
24-Stunden-Perioden)
Suizidalität (Direktes Fragen nach verstärktem Ruhewünschen,
Überdrußgedanken und/oder Handlungsabsichten)
Sonstige Besonderheiten ( Aggressivität, Pflegebedürftigkeit etc.)
Verhaltens- und Umfeldbeobachtung
Gerade bei wortkargen oder in ihrer sprachlichen
Ausdrucksmöglichkeit eingeschränkten Patienten können
Beobachtungen des Verhaltens wertvolle zusätzliche Hinweise auf die
Diagnose ergeben. Ebenso kann die Verhaltensbeobachtung der
Validierung der gemachten verbalen Aussagen hinsichtlich Schwere
oder Kongruenz dienen oder weitere, nicht verbalisierte Symptome
zeigen. Allerdings sollten hier auch mögliche sozio-kulturelle
Einflüsse berücksichtigt werden.
Körperhaltung, Mimik, Sprechen und Sprache, Gestik, Psychomotorik
können in der reflektierten Wahrnehmung Ausdruck des psychischphysischen Zusammenspiels sein, da hier wenig steuerbare,
unbewusste Abläufe die Grundlage sind.
Ebenso bedeutsam ist eine gezielte Wahrnehmung von
Besonderheiten im direkten Wohnumfeld, z.B. leerer Kühlschrank,
karge Einrichtung, vermüllte Wohnung.
FREMDANAMNESE
Psychiatrische Erkrankungen können mit mangelnder
Krankheitseinsicht oder der Unfähigkeit zur Selbstbeurteilung
einhergehen. Zu bedenken ist auch, dass die Schilderung psychischer
Einschränkungen häufig scham- und schuldbesetzt ist. Hier hat sich
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
45
Grundlagen
die Befragung von Bezugspersonen als sehr hilfreich erwiesen. Dies
muss selbstverständlich für den Betroffenen transparent und am
besten gemeinsam erfolgen. Ziel ist es, die Schilderungen des
Betroffenen zu ergänzen und wichtige Hinweise auf
Frühwarnsymptome, Verlauf früherer Episoden, Ausmaß der
Einschränkungen zu erhalten. Grundsätzlich wird die vertrauensvolle
Beziehungsarbeit mit dem Betroffenen und seinen Bezugspersonen
angestrebt, die der sozialpsychiatrische Dienst in den häufig
langjährigen, wiederkehrenden Phasen der meist chronifizierten
Erkrankungen als Basis benötigt. Aus Gesprächen mit Familien bzw.
Bezugspersonen können sich äußerst wichtige Anhaltspunkte für
Beziehungsdynamik und Netzwerke sozialer Unterstützung ergeben.
Insbesondere im ÖGD ist auch die Befragung der in der speziellen
Situation involvierten Personen (Nachbarn, Behörden, Polizei etc)
relevant, da häufig nicht der Betroffene selbst den Kontakt zum
Sozialpsychiatrischen Dienst sucht, sondern Dritte. Diese meist
detektivische Erfassung der Zusammenhänge sollte ebenfalls anhand
der vorgenannten Instrumente durchgeführt werden, da die
Konkretisierung unspezifischer Berichte, z.B. “verwirrte Person” erst
durch dauerhaft gezieltes Erfragen und Anbieten von Beispielen
möglich ist. Hierzu zählt auch die Abgrenzung krankheitswertiger
und behandlungsbedürftiger Zustände von sonstigen psychosozialen
Krisen und Konflikten.
PSYCHOMETRIE
Zur Objektivierung bestehender Leistungsdefizite (z.B. im Bereich
demenzieller Erkrankungen, Teilleistungsstörungen,
Intelligenzminderung) stehen ergänzend valide Instrumente zur
Verfügung, auch sprachungebunden, jedoch nicht kultursensibel. Zu
einer ersten Einschätzung der kognitiven Leistungen können schon
während der Untersuchung einfache, wenig zeitaufwändige
Verfahren angewandt werden. (freie Versionen MMST, MOCA
Demtect, d2 inklusive Auswertung). Eine Intelligenztestung ist
46
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
aufwändiger und bedarf einschlägiger Erfahrung (WAIS-IV, MWT-B,
Benton-Test etc).
Die psychometrischen Verfahren zur indikationsbezogenen und
Persönlichkeits-Diagnostik sowie die umfassenderen Instrumente zur
Leistungsdiagnostik liegen bislang nur als Lizenzverfahren vor.
Daher ist für die Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes die
Vorhaltung einer Standard-Testbatterie sinnvoll. Neben einem
globalen Bewertungsinstrument wie der Symptom-Check-Liste (SCL
90) könnten dies beispielsweise indikationsbezogene Fragebögen (BDI
II, DASS bei affektiven Erkrankungen) und strukturierte klinische
Interviews (SKID I+II) zur Persönlichkeitsdiagnostik sein.
Alle beschriebenen Untersuchungsabschnitte ergeben zusammen
einen Gesamteindruck des psychischen Befindens mit
unterschiedlicher Ausprägung der Symptome. Diese werden anhand
der rein deskriptiven International classification of diseases (ICD 10
Kapitel F) in “Erkrankungspakete” wie affektive Störungen,
psychotische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen gefasst und
daraus die Behandlungsansätze abgeleitet. Dabei sind die einzelnen
Symptome oder Symptomkomplexe von niedrigerem oder höherem
Spezifitätsgrad.
KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG
Die allgemeine und neurologische Untersuchung unterscheidet sich
bei psychiatrischen Patienten nicht von anderen Patienten. Bei der
apparativen Diagnostik können die Bildgebung des Gehirns (z.B.
Ausschluss Tumor, entzündliche Veränderungen), Labordiagnostik
(z.B. SD-Parameter, TPHA, Drogenscreening) und das EEG wichtige
ergänzende Informationen geben. Eine gute somatische Abklärung
aller Symptome sollte selbstverständlich sein.
VOM SYMPTOM ZUR DIAGNOSE
Neben dem stark operationalisierten ICD, welches durch die
beschriebenen Untersuchungen stark symptom- und defizitorientiert
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Grundlagen
zu einer Diagnose führt, benötigen wir für eine Codierung nach ICF,
die neben Aussagen zu körperlichen Faktoren und psychischen
Symptomen auch Angaben zu Aktivitäten, sozialer Teilhabe sowie
den sogenannten Kontextfaktoren, die sich aus Umweltfaktoren und
personenbezogenen Faktoren zusammensetzen. Diese ebenfalls
standardisierten Funktionen lassen sich am einfachsten mittels
sogenannter Core-Sets, also einer Liste von ICF-Kategorien, die für die
spezifischen Gesundheitsstörungen der Patientengruppe relevant
sind, beschreiben. Mittels des Mini-ICF-APP können so z.B. einfacher
die Belange der Psychiatrie erfasst werden. Sie können die
Beeinträchtigung alltagsrelevanter Funktionen präzisieren und
stellen so eine Ergänzung dar, da sie gleichfalls neben der
Beeinträchtigung Hinweise für Ressourcen bieten. Weitere hilfreiche
Core-Sets und einfache Anwendungen stellt das Projekt
"Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz", der RehaDat ICF-Lotse
und das ICF-Corse-Set zur Verfügung. Core Sets als
krankheitsspezifische Zusammenstellung einiger „Kern-Items“ führen
jedoch weder zu einer allgemeingültigen Beschreibung von
individuellen Krankheitsfolgen und der damit assoziierten
Behinderung noch zur umfassenden Ermittlung des individuellen
zum Core Set passenden Unterstützungsbedarfes – u. a. deshalb, weil
der Einfluss von personbezogenen Faktoren aufgrund des Fehlens
einer zu deren Erfassung erforderlichen ICF-Systematik nicht
strukturiert in die Überlegungen einfließt. Im klinischen Kontext
wird dem Einfluss von Kontextfaktoren häufig nicht ausreichend
Rechnung getragen, zumindest nicht in ihrer Gesamtheit, wobei es
sicher erhebliche Unterschiede zwischen den Rehaeinrichtungen gibt.
In anderen Zusammenhängen ist die Berücksichtigung der
Kontextfaktoren insgesamt schwierig, weil die ICF nur für die
Umweltfaktoren eine Systematik zur Verfügung stellt; für die
personbezogenen Faktoren hingegen wird der Anwender von der
WHO aufgefordert, sich selbst ein Bild zu machen. Somit erfassen die
Kodes einschl. der vorgesehenen Beurteilungsmerkmale das
Gesundheitsproblem und seine individuellen Auswirkungen nur
unzureichend, denn aufgrund der erwähnten fehlenden
Ausgestaltung können nicht alle Wechselwirkungen systematisch für
48
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
die Erhebung der Funktionsfähigkeit berücksichtigt werden. Wo sie
verwendet werden, erfolgt die Nutzung zur strukturierten
Dokumentation und ggf. für die Kommunikation im Team sowie für
die Strukturierung der rehabilitativen Interventionen. Sie sind
deshalb als Erhebungsinstrumente für die Bedarfsermittlung und feststellung sowie für eine darauf gründende Teilhabeplanung
außerhalb eines klinischen oder anderen rehabilitationspraktischen
Kontextes, auch im Rahmen der beruflichen Rehabilitation, nicht
einsetzbar. Die ICF ist weder als Konzeption noch als Klassifikation
mit Blick auf eine Kodierung ein Assessment, somit auch nicht in
Form von Core Sets oder selektierten gruppierten Kodes gedacht;
unter ICF-Experten ist dies fachlicher Konsens.
Eine psychische Erkrankung und deren Verlauf kann maßgeblich
durch die vorbestehende Einbindung in ein soziales Netzwerk, die
bisherige Teilhabe und Partizipation oder deren Fehlen bestimmt
werden.
Behandlung der Schwerpunkt-Diagnosen in der
sozialpsychiatrischen Versorgung
Organische psychische Störungen
Für die sozialpsychiatrische Arbeit sind in dieser Diagnosegruppe vor
allem die dementiell Erkrankten von Bedeutung. Auch wenn
zahlreiche Unterformen der Demenz klassifiziert sind, sind allen
Unterformen als Leitsymptome die anhaltende oder fortschreitende
Beeinträchtigung des Gedächtnisses, der Orientierung, des Denkens
und/oder anderer Hirnleistungen gemein. Oft treten im Verlauf
weitere Symptome, etwa im zwischenmenschlichen Verhalten,
affektiver oder wahnhafter Natur, hinzu. Demenzen sind vorrangig
Erkrankungen des alternden Menschen, wie die untenstehende
Grafik zeigt.
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Grundlagen
Abbildung 5: Mittlere Erkrankungshäufigkeit nach Altersgruppen (Quelle: Deutsche Alzheimer
Gesellschaft, 2019)
Durch die bekannte demografische Entwicklung mit steigender
Lebenserwartung und besserer gesundheitlicher Versorgung wird
diese Personengruppe in den nächsten Jahren in Relation größer
werden. Hinzu tritt die allgemein-gesellschaftliche Entwicklung der
Zunahme von Einzelhaushalten, vor allem im großstädtischen
Kontext, was die frühe Erkennung und Intervention erschwert und
damit auch große Relevanz in der aufsuchenden Hilfe im SpDi
spielen wird.
Die Erscheinungsbilder verlaufen häufig schleichend, zunächst nur
schwer gegen die übliche altersbedingte Vergesslichkeit abzugrenzen.
Hier hat sich das oben beschriebene Instrumentarium des
psychopathologischen Befundes und der Testung bewährt. Alle
Verdachtsmomente sollten jedoch durch eine bildgebende Diagnostik
untermauert werden, um etwaige behandelbare
Differentialdiagnosen wie entzündliche Prozesse oder Neubildungen
nicht zu übersehen. Die Demenzen gliedern sich in drei große
Gruppen:
degenerativen Formen (z.B. Alzheimer-Demenz) mit 65-75%
vaskuläre Formen mit 15-20 %
gemischte Form mit 10-20%
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Für diese Hauptformen liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine
kausalen Therapiemöglichkeiten vor, allenfalls können mittels
frühzeitig aufgenommene n kognitiven Trainings, Gruppentherapie
(z.B. Erzähl- oder Leserunden) und Bewegung vorübergehend
alltagsrelevante Verbesserungen erzielt werden. Bei der Demenz vom
Alzheimer-Typ haben Acetylcholinesterasehemmer, eingesetzt in der
Frühphase der Erkrankung, eine kurzzeitig aufschiebende Wirkung
gezeigt. Bei den vaskulären Demenz-Typen kann die Einnahme von
Thrombozytenaggregationshemmern sinnvoll sein.
In der sozialpsychiatrischen Arbeit ist es wichtig, wachsam
gegenüber Meldungen von Nachbarn, Angehörigen etc. zu sein, die
typischen Veränderungen wie Vernachlässigung der Wohnung und
der Haushaltsführung, Hortungstendenzen, Vernachlässigkeit der
Körperpflege und Vergesslichkeit melden. Hier ist dann, gemeinsam
mit den sozialen Diensten, eine vorausschauende Planung, auch
gemeinsam mit dem Betroffenen, wichtig. Der schmerzliche Prozess
innerhalb der dementiellen Erkrankung, nach und nach die
Kompetenz für das eigene Leben zu verlieren, bedarf Begleitung und
ebenso prozesshaftes Einführen der Hilfen, z.B.
Essen auf Rädern
ambulanter Pflegedienst
Medikamentenversorgung
später Einrichten einer gesetzlichen Betreuung und Besuch einer
Tagespflegestätte, ggf. Wohnheimversorgung.
Wenn die ersten Zeichen nicht erkannt oder Hinweise des sozialen
Umfeldes aus falsch verstandener Rücksicht nicht beantwortet
werden, besteht die Gefahr der raschen Eskalation und des scheinbar
plötzlichen Zusammenbrechens der Versorgung, die dann in
verfrühtem Verlust des eigenständigen Wohnens münden kann.
Herausfordernd sind neben den typischen Demenz-Symptomen die
Auswirkungen auf das Denken und Handeln der Betroffenen. Nicht
selten erscheinen die Erkrankten wahnhaft verändert, wähnen z.B.
Einbrecher in der Wohnung, wenn vertraute Gegenstände nicht
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Grundlagen
wiedergefunden werden, reagieren aggressiv auf vermeintliche
Eindringlinge oder werden über den Verlust der Kontrolle über das
eigene Leben depressiv. Hier kann in Einzelfällen eine
symptomatische, auch psychopharmakologische Behandlung sinnvoll
sein. Im Blick des Sozialpsychiatrischen Dienstes muss auch das
soziale Umfeld sein, das auf diesem Weg des absehbaren
schleichenden Verlustes Unterstützung in Form von
Selbsthilfegruppen und auch mittels Anleitung durch das Hilfesystem
benötigt.
Psychische und Verhaltensstörungen durch
psychotrope Substanzen
Mit einer Prävalenz von 6-8% sind die Suchterkrankungen in der
gesundheitlichen Versorgung sehr relevant, allerdings spielen in der
sozialpsychiatrischen Arbeit die Alkoholkrankheit, Abhängigkeit von
Amphetaminen, Cannabis und die Opiat (polytoxe) Abhängigkeit und
deren Folgen die größte Rolle. Abhängigkeit wird definiert durch
starkes, unstillbares Verlangen, Toleranzentwicklung und psychische
wie physische Entzugserscheinungen. Grob kann man zwischen den
eher dämpfenden, entspannenden Suchtmitteln (Morphin-Typ,
Barbiturat/Alkohol-Typ) und den aktivierenden, Vigilanz steigernden
(Amphetamine, Kokain-Typ) unterscheiden. Gemein ist den
Suchtstoffen, dass sie mit den Belohnungssystemen im Gehirn in
Hinblick auf Vermittlung von Wohlbefinden und Euphorie
korrespondieren. Bei der Entwicklung einer Abhängigkeit wird von
einer multifaktoriellen Genese ausgegangen, neben biologischen
Faktoren spielen das Familienmilieu, verfehlte
Zielerreichungsbalance und physiologische Sensitivierungsprozesse
des dopaminergen Systems eine Rolle.
Die Alkoholabhängigkeit entwickelt sich häufig schleichend mit
anfänglichem Trinken zur Spannungsreduktion mit leichter
Toleranzentwicklung und geht über in die sogenannte
Prodromalphase, in der schon morgens heimlich getrunken wird,
wobei Schuldgefühle und Verleugnung typisch sind. Erste körperliche
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Symptome wie Gedächtnislücken tauchen auf. In der kritischen Phase
kommt es zu einer zunehmenden Interessenseinengung,
Kontrollverlust beim Trinken, zunehmenden sozialen und
körperlichen Problemen. Hier kann es zu einer Umkehr der
Toleranzentwicklung kommen. Im chronischen Stadium besteht das
Leben häufig nur noch aus Konsum mit verlängerten
Rauschzuständen und komorbid auftretenden affektiven Symptomen.
In Deutschland herrscht in Bezug auf den Alkoholkonsum eine
„permissiv-funktionsgestörte Kultur“ (nach Bales), die sich durch eine
ständige Verfügbarkeit und soziale Funktion (´ein guter Wein zum
Essen`, Stammtisch, nahezu alle gesellschaftlichen Anlässe starten mit
einem alkoholischen Getränk) des Suchtstoffs mit zunehmender
Toleranz gegenüber Exzessen auszeichnet. Allerdings besteht eine
deutliche Stigmatisierung der Suchterkrankung und der teilweise
daraus folgenden Verelendung. Dies erfordert die Reflexion der
Behandler bezüglich der eigenen Haltung zum Alkoholkonsum und
die Notwendigkeit, nicht gemeinsam mit dem Betroffenen in die
Verleugnungsfalle zu geraten, sondern in der Exploration das Thema
direkt und regelhaft anzusprechen und zu benennen. Neben den
bekannten somatischen Folgeerkrankungen können einerseits die
häufige psychische Co-Morbidität mit affektiven Erkrankungen als
auch Folgezustände wie das mnestische Syndrom (früher “KorsakowSyndrom”) benannt werden.
Die Behandlung der Alkoholabhängigkeit beginnt mit der
Motivationsarbeit und der Entwicklung von Möglichkeiten, was an
die Stelle des Alkohols treten kann. Mit einer Heilungsrate von nur ca
50% benötigt die Begleitung von alkoholkranken Menschen einen
langen Atem. Neben den medizinisch notwendigen Schritten der
qualifizierten Entzugsbehandlung im SGB-V-Bereich und der
nachfolgenden Entwöhnungsbehandlung im Rahmen einer
stationären oder ambulanten Rehabilitation (z.B. über die
Rentenversicherung finanziert) benötigt der Erkrankte parallel die
Anbindung an ein niedrigschwelliges soziales Hilfesystem mit
Selbsthilfegruppe und/oder an ambulant betreutes Wohnen für
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Grundlagen
Suchtkranke nach dem BTHG. Je nach Stadium der Erkrankung kann
auch eine hochfrequente psychotherapeutische Begleitung sinnvoll
sein. Langfristiges Ziel der Behandlung ist die Abstinenz, allerdings
wird dies inzwischen selbst beim Alkohol kontrovers diskutiert. Bei
den Suchtkranken, mit denen es der SpDi zu tun hat, geht es erst
einmal um Risiko- und Schadensminderung (harm reduction). Das
funktioniert meist nur mit einem akzeptierenden Ansatz.
Häufig ist man in der Arbeit im Sozialpsychiatrischen Dienst auch
mit Patienten konfrontiert, die an einer drogeninduzierten Psychose
erkrankt sind - deshalb an dieser Stelle ein paar spezifische Hinweise
zu dieser Personengruppe.
In ICD 10 lautet die Definition: Eine Gruppe psychotischer
Phänomene, die während oder nach dem Substanzgebrauch
auftreten, aber nicht durch eine akute Intoxikation erklärt werden
können und auch nicht Teil eines Entzugssyndroms sind. Die Störung
ist durch Halluzinationen (typischerweise akustische, oft aber auf
mehr als einem Sinnesgebiet), Wahrnehmungsstörungen, Wahnideen
(häufig paranoide Gedanken oder Verfolgungsideen),
psychomotorische Störungen (Erregung oder Stupor) sowie abnorme
Affekte gekennzeichnet, die von intensiver Angst bis zur Ekstase
reichen können. Das Sensorium ist üblicherweise klar, jedoch kann
das Bewusstsein bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt sein,
wobei jedoch keine ausgeprägte Verwirrtheit auftritt.
Bei einem relevanten Anteil der Personen mit Neuerkrankungen an
Psychosen besteht ein erheblicher und regelmäßiger Gebrauch von
Cannabinoiden im jugendlichen Alter im Vorfeld der Erkrankung. Oft
lässt sich auch bei eingehender Anamnese-Erhebung nicht klären, ob
erste mögliche Prodromalsymptome dem ersten THC-Konsum
vorangegangen sind oder umgekehrt. Vielfach besteht kein
Abstinenzwunsch, vielmehr wird die Cannabinoidwirkung als
heilsam wahrgenommen, und nicht mit dem Auftreten der in der
Regel als unangenehm erlebten psychotischen Symptome kausal
verknüpft, sondern wegen dieser intensiviert, bzw. bei erster
Gelegenheit wiederaufgenommen, sodass nicht beurteilbar ist, ob die
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Symptomatik nach längerer Abstinenz auch ohne Neuroleptikagabe
abklingt.
Wegen der das Bild dominierenden psychotischen Symptomatik und
der fehlenden Abstinenzbereitschaft sieht das Suchthilfesystem
keinen Handlungsansatz, aufgrund der fortgesetzten Zufuhr des
schädigenden Agens bleiben die Möglichkeiten einer psychiatrischen
Behandlung sehr begrenzt, selbst wenn die betroffene Person bereit
ist, Neuroleptika einzunehmen. Ein Teil der Personen kann durch
spezifische psychoedukative Programme und ein strukturiertes
Milieu motiviert werden, den Konsum zu reduzieren und ein
Verständnis für den Zusammenhang zwischen Konsum und Psychose
zu entwickeln. Inzwischen gibt es es vereinzelt auch Maßnahmen der
Eingliederungshilfe über das BTHG, wie z.B. eine therapeutische
Wohngemeinschaft für Menschen mit einer sogenannten
Doppeldiagnose.
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störung
In der Arbeit des SpDi stellen die davon betroffenen Menschen eine
weitere bedeutsame Gruppe mit besonderen Herausforderungen dar.
Das Spannungsfeld entsteht durch das Wissen um die Abhängigkeit
der Prognose vom frühzeitigen Behandlungsbeginn. Die
schizophrenen Erkrankungen zeigen im Verlauf eine grobe DrittelAufteilung:
30% der Erkrankten erleben eine Remission oder einen guten
Verlauf,
30% können unter Behandlung mit leichten Einschränkungen des
Alltagslebens leben,
30% verlaufen chronisch, verbunden mit erheblichen
Einschränkungen.
Neben den Leitsymptomen wie Wahn, Beeinträchtigungserleben,
Sinnestäuschungen (z.B. Stimmen-Hören) und nicht einfühlbaren
Verhaltensweisen sind die Krankheitsuneinsichtigkeit und eine
entsprechend eingeschränkte Inanspruchnahme von
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Grundlagen
Hilfsmaßnahmen typisch für die Betroffenen mit schizophrenen
Erkrankungen. Hier bedarf es viel Einfühlungsvermögen und der
Bereitschaft, sich in die Gedankenwelt des Gegenüber einzulassen,
um einen Zugang und letztlich das Vertrauen zu erreichen.
Nachvollziehbar erlebt der Kranke große Emotionalität, mit
Verzweiflung, Wut, mangelndem Verständnis bis hin zu Abscheu in
seiner Umgebung, durch Familie, Freunde, Arbeitgeber oder
Nachbarn. Die Not ist groß. Alle Mitmenschen möchten die betroffene
Person dringend in Behandlung wissen, auch gegen deren Willen und
meist mit den allerbesten Absichten. Allerdings kommt es nicht selten
durch die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten sowie
Zuständigkeits-Diskussionen zu Eskalationen, die schließlich in die
völlige soziale Isolation der Betroffenen führen können.
Die Erkrankung tritt am häufigsten im frühen Erwachsenenalter auf,
die Lebenszeitprävalenz liegt bei etwa 1%, wobei Männer
durchschnittlich drei Jahre früher erkranken als Frauen.
Diagnostisch lassen sich die F2-Störungen durch die Expressivität der
Symptome, Verlauf und Behandelbarkeit differenzieren.
Verlaufsformen mit dem Schwerpunkt auf sogenannte
Plussymptomatik zeichnen sich durch produktive Symptome wie
Halluzinationen, Wahn und formale Denkstörungen aus. Ebenso gibt
es Verläufe mit Minussymptomen wie Denkverarmung,
Antriebsminderung und Rückzug. Die Letztgenannten begleitet eine
häufig schlechtere Prognose, allerdings können auch die vorwiegend
mit Plussymptomatik belastenden Menschen in einen aus
Minussymptomatik geprägten Residualzustand geraten.
Episodische Verlaufsformen mit gleichzeitig affektiven und
psychotischen Symptomen werden als schizoaffektive Psychosen
bezeichnet; sie zeigen eine bessere Prognose. Auf neurobiologischer
Ebene werden Struktur- und Substanzdefizite vermutet, die vor allem
integrative Prozesse der Reizverarbeitung sowie das Denken und
Handeln betreffen. Sie sind Ausdruck der fortgesetzten Reiz- und
Informationsüberflutung. Auf Rezeptorebene wird eine Dysbalance
der Neurotransmitter mit einem Dopaminüberschuss angenommen.
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Epigenetisch wirksam scheinen auch Life-Events, Stressoren und
langdauernde Konfliktsituationen zu sein, die den Krankheitsverlauf
im Anfangsstadium beschleunigen und auch prolongieren können
(Vulnerabilitäts-Stress-Modell).
Abbildung 6: Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Diese Tatsachen können wichtig sein in der psychoedukativen
Aufklärung des Patienten wie des Umfelds.
Die paranoide Schizophrenie ist mit 70% die häufigste Form. Neben
den genannten Ursachen ist bei dieser Form auch an die
drogeninduzierte Variante zu denken und in der Exploration zu
erfragen.
Nach einem unspezifischen Prodromalstadium, was in der
Rückwärtsbetrachtung Aufschlüsse auf sogenannte Frühsymptome
geben kann, treten meist Wahn, Halluzinationen und formale
Denkstörungen wie Zerfahrenheit und starkes Beeinflussungserleben
in den Vordergrund. Häufig sind große Ängste unter der aggressiven
Abwehr spürbar, da die Erkrankten die Denkinhalte und
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Grundlagen
Wahrnehmungen als unverrückbare Realität erleben und Versuche,
sich anzunähern und von anderen Inhalten zu überzeugen, als große
Bedrohung wahrnehmen. Deshalb sollte man als Grundhaltung ein
akzeptierendes Verstehen einnehmen und der
Informationsverarbeitungs-Störung damit Rechnung tragen, dass alle
Inhalte sachlich, knapp und verständlich dargebracht werden. Neben
der benannten Psychoedukation ist in den akuten Stadien eine
Begleitung der Betroffenen in der Tagesstruktur hilfreich, da die
"verrückte" Situation zu einer starken Desorganisation führt und eine
Struktur von außen wieder Sicherheit vermitteln kann. Dies ist auch
Grundlage des gemeindepsychiatrischen Begleitens, z.B. durch
betreutes Wohnen oder berufsrehabilitative Maßnahmen.
Wichtige Säulen der Behandlung der schizophrenen Erkrankungen
sind die Psychopharmakotherapie und Psychotherapie. In der
Akutphase hat sich das behutsame Aufdosieren der ausgewählten
antipsychotischen Medikation als zielführend erwiesen. Bei
Abklingen der Symptomatik sollte die medikamentöse Behandlung
mit der niedrigsten erforderlichen Dosis fortgesetzt werden, ggf. in
Depotform.
Unerwünschte Arzneimittel-Wirkungen (UAW) sind der häufigste
Grund der verbreiteten Non-Compliance. Berichten von Betroffenen
ist zu entnehmen, dass das Denken und Empfinden im Schub neben
den unangenehmen auch zahlreiche reiche Momente voller wichtiger
Gedanken und Gefühle und auch Zeiten des Besonderen beinhalten.
Durch den Einsatz von Neuroleptika werden sie als nur noch
gedämpft und zusätzlich mit quälenden UAW wie sexuellen
Funktionsstörungen, Bewegungseinschränkungen und Müdigkeit
erlebt.
Kritisch sind die Zeiten nach erfolgter Behandlung, wenn sich die
Person wieder den Anforderungen des Alltags und des Umfelds stellt unabhängig von der Qualität der Remission. In dieser Zeit ist das
Suizidrisiko höher als in der akuten Psychose. Hier treten die SpDi
und der GPV in der Begleitung der weiteren Behandlung und sozialen
wie beruflichen Rehabilitation ein.
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Affektive Störungen
Bei den affektiven Störungen sind insbesondere Stimmung, Antrieb
und Denken (inklusive Ausrichtung der Interessen und Zukunftssicht)
beeinträchtigt. Wir unterscheiden hier die unipolaren (in eine
Richtung) Störungen depressiv (65%) und manisch (5%) von den
bipolaren Störungen (30%), die mehr oder weniger rasche Wechsel
zeigen. Diese sehr häufige (Prävalenz 10%) Erkrankung mit
durchschnittlich guter Prognose beschäftigt den
Sozialpsychiatrischen Dienst vor allem in seinen seltener
vorkommenden schweren Verläufen. Allgemein wird beobachtet, dass
die affektive Co-Morbidität bei allen psychiatrischen Erkrankungen
hoch ist. Auch bei der Gruppe der affektiven Störung wird von einer
multifaktoriellen Genese ausgegangen. Es zeigen sich deutliche
familiäre Häufungen und eine wohl zugrundeliegende
Neurotransmissions-Störung von Noradrenalin und Serotonin mit
einer gleichzeitigen postsynaptischen RezeptorMinderempfindlichkeit. Ebenso wird eine Störung des
Stresshormonhaushaltes angenommen.
Die Behandlung der depressiven Erkrankung richtet sich nach dem
Schweregrad der vorliegenden Episode. Das deskriptive System der
ICD-10 gliedert Haupt- und Nebensymptome auf und teilt nach der
Anzahl deren Vorliegens ein. Im praktischen Vorgehen hat sich
jedoch die Schwere der alltäglichen Belastung als tragfähiger
Anhaltspunkt erwiesen. Sobald die Versorgung des Haushalts sowie
die Bewältigung der persönlichen Angelegenheiten und des
beruflichen Alltags eingeschränkt oder erschwert sind, muss von
einer mittelschweren depressiven Episode ausgegangen werden. Hier
ist eine Kombination aus antidepressiver Medikation und
Psychotherapie am wirksamsten, zumal die Medikation eine
Psychotherapiefähigkeit gerade erst herstellen kann. Körperliche
Bewegung, ausreichend Sonnenlicht und Schlafrestriktion bzw.
Schlafentzug zeigen ebenfalls nachweisbare Wirkung. Im gleichen
Umfang wie eine medikamentöse Behandlung kann bei einer
singulären Episode nach einem Jahr durchgehender Einnahme über
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Grundlagen
das Ausschleichen nachgedacht werden. Schon bei der zweiten
Episode ist eine Langzeitprophylaxe anzuraten. Rasches Absetzen der
Medikation bei Remission führt sehr häufig zu Rezidiven und birgt
die Gefahr eines impulshaften Suizidversuchs.
Die Depression kommt zunächst so „normal“ daher, jeder Mensch
kennt Phasen der Trauer und Lustlosigkeit, allerdings lassen sich
diese situativ auflockern. Der depressive Mensch steckt in einer kaum
vorstellbaren Tiefe fest, die häufig Leere und Gefühllosigkeit
beinhaltet. Angehörige können dies oft nur schwer nachempfinden
oder fühlen sich schuldig (bei Konflikten), wollen etwas tun und
aufmuntern, bauen nach und nach Druck auf, womit ein negativer
Kreislauf beginnen kann. Der Kranke selbst fühlt sich ebenso
schuldig für sein Versagen und schämt sich, „es nicht zu schaffen“. In
dieser ganz häufigen Konstellation hilft Psychoedukation für
Betroffene und Angehörige enorm weiter.
Eine Episode kann Wochen bis 4-5 Monate oder länger andauern, die
Prognose ist gut, lediglich 10% chronifizieren. Bei Therapieresistenz
oder wiederholten schweren Verläufen hat sich die Elektro-KrampfTherapie oft als hilfreich erwiesen. Bei den bipolaren affektiven
Störungen treten manische Episoden hinzu. Bei gleichem
phasenhaften Verlauf sind die symptomfreien Intervalle hier kürzer
und die Chronifizierungsrate beträgt 20-30% mit einer hohen
Suizidmortalität. Der Katecholamin-Stoffwechsel zeigt anhaltende
Störungen in beide Richtungen. Das zusätzliche manische Verhalten
(schnelles Sprechen und Denken, Enthemmung, Selbstüberschätzung
etc.) birgt Gefahren wie Verschuldung und andere Risiken, die die
Familie miteinschließen können. Neben der Psychoedukation kann
hier im Sinne eines vorbereitenden Patientenvertrags auch ein
Einwilligungsvorbehalt nach dem Betreuungsrecht (siehe ebenda)
sinnvoll sein. Parallel zur Behandlung der Zielsymptomatik
(depressiv vs. manisch) ist die dauerhafte Einnahme eines
Phasenprophylaktikums angezeigt.
60
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
Diese Gruppe von Erkrankungen fasst sehr unterschiedlich
einschränkende Symptomkomplexe zusammen. Gemein ist ihnen der
Beginn und ein andauernd tief gestörtes Verhaltensmuster seit früher
Jugend, was sie von den anderen psychischen Störungen
unterscheidet. ICD-10 GM 2017 beschreibt in den allgemeinen
Leitlinien dazu „deutliche Unausgeglichenheit in Einstellung und
Verhalten in mehreren Funktionsbereichen.”
Das können sein:
Affektivität
Antrieb
Impulskontrolle
Wahrnehmung und Denken
Beziehung zu anderen.
Die Betroffenen zeigen bei schwerem Grad der Ausprägung
erhebliche Einschränkungen der beruflichen und sozialen
Einbindung durch fortgesetzte interaktionelle Schwierigkeiten. Dabei
unterscheidet sich das individuelle Leiden auch deutlich, meist
fußend auf einer starken Inkongruenz aus internem und externem
Erleben.
Eine grobe Charakterisierung der Subtypen (ebenfalls nach ICD-10
GM 2017) teilt die Persönlichkeitsstörungen nach sonderbarexzentrisch (paranoid, schizoid), dramatisch-emotional (dissozial,
emotional-instabil, narzisstisch) und ängstlich-vermeidend
(selbstunsicher, dependent, zwanghaft) ein. Ätiologisch werden
neben einer genetischen Anlage epigenetische Einflüsse durch
Stresshormone in Schwangerschaft und postpartaler Phase ebenso
angenommen wie eine Dysregulation im serotonergen wie
noradrenergen System. Dies wird für die Störung der
Impulskontrolle, die Übererregbarkeit und eine Häufung komorbider
Störungen in Richtung affektiver Störungen und
Abhängigkeitserkrankungen verantwortlich gemacht. Dazu treten
dann die Auswirkungen eines mehr oder weniger förderlichen
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Grundlagen
Familienmilieus mit ungünstigen Vorbild- bzw.
Nachahmungsfunktionen, sowie Bindungstörungen und sequentielle
Traumatisierungen.
Die Behandlung gestaltet sich insgesamt schwierig und bedarf einer
lang angelegten Beziehungsgestaltung und einer hohen
Frustrationsbereitschaft beim Behandler. Persönlichkeitsgestörte
Menschen erleben häufig als stabilste Form der Beziehung die
Ablehnung, sodass wohlwollendes Vorgehen des Gegenübers meist
zunächst idealisiert, aber auch stetig überprüft und misstrauisch
betrachtet wird. Da das „Überschwappen der Emotionen“
(sogenannte projektive Identifikation) auch ein Ausdruck mangelnder
Wahrnehmung der eigenen und der Gefühlswelt anderer sein kann,
ist dieses Symptom als solches zu verstehen und kann als Einstieg für
das Verständnis wertvoll sein. Die Prognose der
Persönlichkeitsstörung ist auch aufgrund einer nicht vorhandenen
Ursachenbehandlung weniger gut. Als hilfreich hat sich unter
anderem ein verhaltenstherapeutisches Training von
Alltagsfertigkeiten und Üben adäquater Verhaltensweisen in
Verbindung mit emotionaler Selbstkontrolle erwiesen. Hierbei kann
der SpDi durch ein stabiles Angebot mit klaren Verhaltensregeln sehr
dienlich sein, um eine positive Interaktion im Sozialraum zu
unterstützen.
Psychiatrische Notfälle
Prinzipiell ist in Psychiatrischen Notfallsituationen eine ruhige
Beziehungsgestaltung mit knapper, zielgerichteter Kommunikation
wichtig. Erläutern Sie jeden Schritt langsam und in kurzen Sätze.
Wahren Sie emotionale Distanz, auch in Situationen, in denen der
Betroffene verletzend und beleidigend agiert. Führen Sie möglichst
kursorische körperliche Untersuchungen und unbedingt
Fremdanamnese bezüglich der Begleitumstände der Situation durch.
Die häufigsten Notfallsituationen sind durch Erregungszustände und
Intoxikationen bestimmt. Sie machen allein 10% aller Notaufnahmen
in deutschen Krankenhäusern aus.
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Erregungszustand
Das Endbild des Erregungszustandes, mit Antriebssteigerung,
emotionaler und motorischer Enthemmung bis zum Kontrollverlust,
kann verschiedene Ursachen haben und kann mit fremd- aber auch
mit selbstgefährdendem Verhalten einhergehen. Die häufigsten
Ursachen sind akute Intoxikation, akuter Schub einer Schizophrenie,
manische Episode und akute Belastungsreaktion. Aufgrund der
Vielfalt der Gründe ist eine gute Anamnese und Diagnostik essenziell!
Das erfordert ruhiges, sachliches Auftreten und klare, deutliche
Ansprache, auch bei verbalen Übergriffen durch den Patienten. Eine
ständige Überwachung muss sichergestellt sein. Bei psychotischen
oder suchtmittelassoziierten Zuständen empfiehlt sich der
parenterale Einsatz typischer Antipsychotika, bei nichtpsychotischer
Erregung hat sich die parenterale Gabe von Benzodiazepinen
bewährt.
Bewusstseinsstörung / akute Verwirrtheit
Beide Symptome sind Anzeichen zahlreicher Erkrankungen, bedürfen
einer ausführlichen Diagnostik und sollten nicht mit
Psychopharmaka “maskiert” werden. Bei der Bewusstseinsstörung ist
die Wachheit, bei der akuten Verwirrtheit die Orientierung
eingeschränkt. Neben Intoxikationen jedweder Art kommen
neurologische und internistische Erkrankungen als auslösend in
Frage. Eine stationäre Überwachung mit Sicherung der
Vitalfunktionen und apparativer Diagnostik ist als erster Schritt
empfohlen.
Panikattacke
Plötzliches Gefühl der nahenden Vernichtung, begleitend durch
Herzrasen, Schwitzen, Engegefühl in der Brust und große Unruhe. DD
Drogenkonsum! Meist reichen verbindliches ruhiges Auftreten und
Erläuterung des Phänomens schon aus. Die Einmalgabe eines schnell
wirksamen Benzodiazepins kann hilfreich sein.
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Grundlagen
Akute Suizidalität
Unmittelbar bevorstehende Handlung mit verfügbarer bzw.
durchführbarer Methode und fehlender Möglichkeit, die Umsetzung
verlässlich aufzuschieben. Psychologische Untersuchungen im
Umfeld belegen bei Suizidenten das Vorliegen einer psychiatrischen
Erkrankung in 90% der Fälle. Dabei handelt es sich in abnehmender
Reihenfolge um affektive Störungen, Abhängigkeitserkrankungen,
Schizophrenien oder Persönlichkeitsstörungen. Es ist zu
unterscheiden zwischen Zuständen eines längeren sozialen Rückzugs
mit zunehmender Isolation und impulshaften, unter Umständen
wahnhaft bedingten Situationen. Bei knapp 10.000 vollendeten
Suiziden in Deutschland wird von 10 mal so vielen Versuchen
ausgegangen. Vorangegangene Versuche bilden neben dem
männlichen Geschlecht, jugendlichem oder höherem Alter und
Suiziden in der näheren Umgebung oder Familie weitere
Risikofaktoren. Der Anamnese und dem konkreten Benennen und
Nachfragen kommt somit eine wichtige Rolle zu. Bei festgestellter
akuter Suizidalität sollten die Betroffenen bis zur Klärung der
Situation auf gar keinen Fall mehr allein gelassen werden. Hilfreich
sind eine ruhige Ansprache, die Begleitung in Behandlung sowie der
Verzicht auf Werten oder Moralisieren. Auf jeden Fall sollten
erkennbare Gegenstände oder Mittel für die Durchführung eines
Suizidversuches entfernt werden. Nach Entaktualisierung haben sich
verhaltenstherapeutische Strategien wie Lebensvertrag bzw.
Notfallplan bewährt und sollten dementsprechend etabliert werden.
Prädelir, Delir
Die Kombination von quantitativer (Wachheit) und qualitativer
(Orientierung) Bewusstseinsstörung, Halluzinationen, Unruhe und
starker vegetativer Reaktion (Fieber, Übelkeit, Schwitzen, Herzrasen)
fasst unter dem Namen Delir Formen einer akuten organischen
Psychose unterschiedlichster Genese zusammen. Mit an die 20%
Letalität und vor allem im hohen Alter mit bis 25% bleibenden
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
kognitiven Defiziten muss der Früherkennung und Verhütung
besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Intoxikation
Folgeerscheinungen absichtlicher oder akzidenteller Überdosierung
von Drogen oder Medikamenten. Neben der eigenen (wenn möglich!)
die Fremdanamnese erheben, Drogenscreening, Labor und
Überwachung. (Hilfreich zur Veranschaulichung siehe: Tabelle 13.4.:
Symptome bei Intoxikation (S. 309) und Tabelle 13.5:
Therapiestrategien bei Drogennotfällen (S. 310) aus Payk T.R. & Brüne
M. Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie (2013) Thieme Verlag.)
Katatonie / Stupor
Führendes Symptom ist eine komplette Erstarrung - der Patient ist
reglos, stumm, amimisch, kann in bizarren Haltungen verharren. Er
ist gleichermaßen bewusstseinsklar und meist innerlich hochgradig
angespannt. Im Gegensatz zum Rigor im katatonen Zustand kann der
Tonus beim Stupor locker sein und der Patient noch sehr langsame
Bewegungen zeigen. Auch der katatone Stupor ist ein Stupor, der
nicht katatone Stupor hat nur nicht die spezifischen Merkmale des
katatonen. Katatonie (im ICD 10 noch eine Unterform der
Schizoprenie) kann sich außer als Stupor auch als Erregungszustand
äußern. Ursächlich können schizophrene Psychosen, schwere
affektive Störungen oder Traumata sein. Durchgehende
Überwachung mit Sicherung der Vitalfunktionen notwendigstationäre Einweisung
im Fall der affektiven Störung Trizyklika p.o + Lorazepam i.m.
bei schizophrener Psychose Typika + Lorazepam i.m.
Malignes neuroleptisches Syndrom
Durch den vermehrten Einsatz atypischer Neuroleptika als
Regelmedikation ist dieses Syndrom seltener geworden, durch die
möglichen Spätkomplikationen wie Nierenversagen sollte es
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
65
Grundlagen
weiterhin bekannt und vor allem rechtzeitig erkannt werden. Es tritt
in den ersten Wochen der Behandlung oder nach Dosissteigerung auf,
wahrscheinlich durch eine Blockade der Dopaminrezeptoren. Neben
Rigor, Akinese und Stupor tritt typischerweise sehr hohes Fieber
hinzu. Das Neuroleptikum muss sofort abgesetzt werden, Dantrolen
per os oder intra venös und symptomatische Behandlung
durchgeführt werden.
Rechtsgrundlagen
Gesundheitsdienstgesetze der Länder
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den öffentlichen
Gesundheitsdienst sind durch die Gesundheitsdienstgesetze (GDG)
der jeweiligen Länder geregelt.
Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitshilfe für
Erwachsene mit psychischen Erkrankungen werden überwiegend in
den unteren Gesundheitsbehörden durch den Sozialpsychiatrischen
Dienst geleistet. Da gemäß der föderalen Ordnung Deutschlands die
Bundesländer für die Gesundheitsversorgung verantwortlich sind, ist
auch die Ausgestaltung dieses Fachbereichs bundesweit sehr
unterschiedlich geregelt. Einige Bundesländer haben diese Aufgabe
an freie Träger delegiert.
Die Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze der Länder
Originär sind die Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze (PsychK(H)G) als
Ländergesetze aus dem Polizeirecht zur Gefahrenabwehr gewachsen
und werden in dieser Form nur noch im Saarland als sogenanntes
Unterbringungsgesetz vorgehalten.
Heute wird dem leitenden Präventions- und Fürsorgegedanken für
psychisch erkrankte Menschen durch die jeweiligen PsychK(H)Gs ein
gesetzlicher Rahmen gegeben und damit auch der Arbeit der
Sozialpsychiatrischen Dienste wie sie bereits in der Psychiatrie
Enquete gefordert war. Entgegen den früheren Ansätzen der reinen
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Gefahrenabwehr ist damit ein zentraler Gedanke Unterbringungen zu
vermeiden indem eine umfangreiche, bedarfsgerechte Versorgung
psychisch Kranker in der Gemeinde ermöglicht werden soll. In den
jeweiligen Gesetzen werden daher die Hilfen und
Versorgungsstrukturen ausgeführt die vorhanden sein sollen.
Befugnisse der Polizei des Ordnungsamtes, des SpDi, u.U. des
Maßregelvollzugs[1], Träger der Hilfen, Koordination der Hilfen und
verschiedene Arbeitsgemeinschaften und vieles mehr geregelt.
Die PsychK(H)Gs sind im Rahmen der föderalen Strukturen in
Deutschland inhaltlich abweichend und müssen daher jeweils
gesondert nach Dienstort betrachtet werden und bekannt sein, siehe
Tabelle 123. Wichtig ist dabei auch die kommunalen Gegebenheiten
und Ausführungen zu kennen, die sich zum Teil auch innerhalb des
Bundeslandes unterscheiden können.
Gemeinsam ist den PsychK(H)Gs jeweils, dass dort die Hilfen für
psychisch Erkrankte, die notwendig sind, um die Erkrankung zu, das
Fortschreiten zu verhüten und/oder die Krankheitsbeschwerden zu
lindern. Damit soll auch der gesellschaftlichen Ausgrenzung der
Betroffenen entgegengewirkt und ihre soziale Wiedereingliederung
ermöglicht werden. In der Behandlung psychisch Kranker gilt es dem
Leitgedanken ambulant vor stationär immer Rechnung zu tragen, vor
allem auch mit dem Ziel Zwangsmaßnahmen wie Unterbringungen
zu vermeiden (siehe Abbildung 4).
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
67
Grundlagen
Abbildung 7: Leitgedanken für die Intervention in der Krise (nach Götz T.)
Die Hilfen werden im Geist der mit der Psychiatrie Enquete
begonnenen und immer noch andauernden Reformbewegung
gestaltet. Mit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention
und darauf basierender Urteile des Bundesverfassungsgerichts
wurden Novellierungen in der Gesetzgebung des Bundes (BGB) und
der PsychK(H)G´s der Länder erforderlich.
Zweck der gesetzlichen Vorgaben ist es dem definierten
Personenkreis psychisch kranker einschließlich suchtkranker oder
von psychischer Krankheit (einschließlich Sucht) bedrohter
Menschen, beziehungsweise Menschen, bei denen Anzeichen einer
solchen Krankheit, Störung oder Behinderung vorliegen, ein
menschenwürdiges, möglich selbstbestimmtes und
eigenverantwortliches, gemeindenahes Leben in den gewohnten
Lebensverhältnissen zu ermöglichen.
Dafür gilt es bestimmte Hilfen und Angebote vorzuhalten:
vorsorgende Hilfen zur rechtzeitigen Erkennung und
Behandlung (frühzeitige Beratung und persönliche Betreuung,
soziale Unterstützung und Begleitung, Vermittlung geeigneter
68
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Hilfsmaßnahmen immer unter dem subsidiären Aspekt,
Untersuchungen insbesondere ärztliche Diagnostik)
begleitende Hilfen um mit der Krankheit zu leben, Besserung zu
erreichen und Verschlimmerung zu vermeiden, aber auch um
Unterbringungen zu vermeiden oder zu verkürzen
nachsorgende Hilfen um nach einer (teil-)stationären
Behandlung eine Wiedereingliederung zu ermöglichen und
möglichst eine erneute Unterbringung zu verhindern
Angehörigenarbeit mit Beratung und ggf. Betreuung (zur
Entlastung und Unterstützung, um Verständnis für die
besonderen Lebenslagen der Betroffenen zu entwickeln aber
auch um die Bereitschaft zur Mitwirkung zu erhalten und zu
fördern)
psychosoziale Krisenintervention einschließlich Unterbringung
zur Gefahrenabwehr bei Eigen- oder Fremdgefährdung (im
Vorfeld sollen dabei verschiedene Hilfen und Kontaktangebote,
Einladung in Sprechstunden, Hausbesuche, zwangsweise
Vorladungen, um eine Unterbringung zu vermeiden erfolgt sein).
Die Unterbringung sollte erst erfolgen wenn keine hinreichenden
Alternativen mehr zur Verfügung stehen; siehe
Unterbringungskapitel.
Die Durchführung der Hilfen erfolgt durch:
Sozialpsychiatrische Dienste, die multiprofessionell beraten
und betreuen. Dafür sollen Sprechstunden vorgehalten werden,
Hausbesuche durchgeführt, individuelle Hilfen vermittelt und
subsidiär Hilfen und Betreuung gewährt werden
enge Kooperation und Schnittstellenarbeit zu allen Versorgern
und Behandlern insbesondere auch:
-- Planung und Koordination des Versorgungssystems mit z.B. GPVs,
PSAGs, anderen Arbeitskreisen und Verbünden, Psychiatrie-Beiräten
oder auch durch Psychiatriekoordinatoren:
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
69
Grundlagen
-- Vermittlung und Vorhaltung von individuellen passenden Hilfen
wie Betreutes Wohnen, tagesstrukturierende und andere
komplementäre Angebote sowie beschützte Arbeitsplätze
-- psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle, Suchtberatungsstellen
und andere niedrigschwellige Angebote
-- ehrenamtliche Hilfe und Selbsthilfe
Wichtig ist dabei, dass die Würde und Integrität der psychisch
Kranken immer gewahrt wird, dass die Betroffenen in
höchstmöglichem Maße in die Entscheidungen einbezogen werden
und ihren Wünschen und Vorstellungen nach Möglichkeit Rechnung
getragen werden muss. Die Annahme von Hilfen sollte dabei auf
freiwilliger Basis erfolgen.
In den PsychK(H)Gs sind darüber hinaus auch Ausführungen zu
Unterbringungen, den Behandlungen gegen den (natürlichen) Willen
und von besonderen Sicherungsmaßnahmen und
Zwangsmaßnahmen genau ausgeführt. Es werden die Rechte der
Betroffenen gerade auch unter diesen Bedingungen dargelegt.
Zur Wahrung dieser Rechte und zur Aufsicht über die
durchführenden und mit den hoheitlichen Rechten beliehenen
Krankenhäusern bzw. Krankenhausabteilungen werden in den
jeweiligen Bundesländern unabhängige Besuchskommissionen
eingerichtet. Daneben üben je nach Landesgesetz die Auftrag
gebenden Länder bzw. Kommunen die Fachaufsicht über die mit
Unterbringungen beliehenen Psychiatrischen Kliniken aus.
In B, BBG, BW, HE, SA, TH werden zusätzlich auch gesetzlich
Patientenfürsprecher gefordert, in SH können ein
Patientenfürsprecher und /oder eine Besuchskommission eingerichtet
werden. Wobei auch in B, HE, und NRW Beschwerdestellen für
Psychiatrie vorgehalten werden müssen.
70
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Fachaufsicht der mit hoheitlichen Aufgaben beliehenen Kliniken
(Berlin, Schleswig-Holstein)
Mit der Privatisierung psychiatrischer Kliniken der Regelversorgung
wurde auch die Umsetzung hoheitlicher Aufgaben zur
Gefahrenabwehr, insbesondere freiheitsentziehender Maßnahmen, in
die Hände privater Träger gegeben. Um diese dem Gewaltmonopol
des Staates unterliegenden Maßnahmen hier rechtlich korrekt
umsetzen zu können wurde es erforderlich, die entsprechenden
Kliniken zu beleihen und die dort in diesem Zusammenhang tätigen
Mitarbeiter zur Ausübung staatlicher Gewalt zu ermächtigen. Der
Auftraggeber Staat (Ordnungsbehörde) trägt die Verantwortung für
die gesetzeskonforme und fachgerechte Umsetzung der in seinem
Namen durchgeführten Maßnahmen. Um dies zu gewährleisten, ist
die Kontrolle der Umsetzung durch die Behörde erforderlich. Diese
Aufgabe wird aufgrund der dort vorhandenen Fachkompetenz bei
den sozialpsychiatrischen Diensten in Schleswig-Holstein angesiedelt.
Geprüft werden neben der rechtlich korrekten Umsetzung von
Unterbringungs- und Zwangsmaßnahmen auch die räumlichen
Gegebenheiten, die quantitative und qualitative Personalausstattung
und die Einhaltung fachlicher Qualitätsstandards in Behandlung und
Pflege.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
71
Grundlagen
Tabelle: PsychK(H)G's der Länder
Bundesland
Brandenburg
Gesetze
Datum
Gesetz über Hilfen und
05.05.2009
Schutzmaßnahmen sowie über den
Vollzug gerichtlich angeordneter
Unterbringung für psychisch kranke
und seelisch behinderte Menschen im
Land Brandenburg
(Brandenburgisches PsychischKranken-Gesetz- BbgPsychKG)
Berlin
Gesetz über Hilfen und
17.06.2016
Schutzmaßnahmen bei psychischen
Krankheiten
(PsychKG)
Bayern
Bayrisches Psychisch-Kranken-Hilfe-
24.07.2018
Gesetz
(BayPsychKHG)
Baden-
Gesetz über Hilfen und
Württemberg
Schutzmaßnahmen bei psychischen
25.11.2014
Krankheiten
(Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz –
PsychKHG)
Freie
Gesetz über Hilfen und
Hansestadt
Schutzmaßnahmen bei psychischen
Bremen
Krankheiten (PsychKG)
Freie und
Hamburgisches Gesetz über Hilfen
Hansestadt
und Schutzmaßnahmen bei
Hamburg
psychischen Krankheiten
(HmbPsychKG)
72
Version 1.0
19.12.2000
27.09.1995
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Bundesland
Hessen
Gesetze
Hessisches Gesetz über Hilfen bei
Datum
04.05.2017
psychischen Krankheiten,
Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz
(PsychKHG)
Sachsen-
Gesetz über Hilfen für psychisch
Anhalt
Kranke und Schutzmaßnahmen des
30.01.1992
Landes Sachsen-Anhalt
(PsychKG SA)
Mecklenburg-
Gesetz über Hilfen und
Vorpommern
Schutzmaßnahmen für Menschen mit
14.07.2016
psychischen Krankheiten
(Psychischkrankengesetz - PsychKG MV)
Niedersachsen
Niedersächsisches Gesetz über Hilfen
16.06.1997
und Schutzmaßnahmen für psychisch
Kranke
(NPsychKG)
Nordrhein-
Gesetz über Hilfen und
17.12.1999 zuletzt
Westfalen
Schutzmaßnahmen bei psychischen
geändert 2.7.2019
Krankheiten
(PsychKG)
Rheinland-
Landesgesetz für psychisch kranke
Pfalz
Personen
17.11.1995
(PsychKG)
Sachsen
Sächsisches Gesetz über die Hilfen
10.10.2007
und die Unterbringung bei
psychischen Krankheiten
(SächsPsychKG)
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
73
Grundlagen
Bundesland
Gesetze
Datum
Schleswig-
Gesetz zur Hilfe und Unterbringung
14.01.2000
Holstein
psychisch kranker Menschen
zuletzt geändert 2015
(Psychisch-Kranken-Gesetz - PsychKG)
z.Z.in Überarbeitung
Saarland
Gesetz Nr. 1301 über die
11.11.1992
Unterbringung psychisch Kranker
(Unterbringungsgesetz - UBG)
bis jetzt kein PsychKG vorhanden
Thüringen
Thüringer Gesetz zur Hilfe und
05.02.2009
Unterbringung psychisch kranker
Menschen
(ThürPsychKG)
Das Betreuungsgesetz
1992 trat das “Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und
Pflegschaft für Volljährige” (Betreuungsgesetz-BtG) in Kraft und
wurde in den folgenden Jahren immer wieder angepasst und
schließlich 2013 novelliert. Mit dem „Gesetz zur Regelung der
betreuungsrechtlichen Einwilligung in ärztliche Zwangsmaßnahmen“
wurden umfangreiche Änderungen im § 1906 BGB vorgenommen um
die Rechte und Selbstbestimmung der Betreuten zu schützen.
Mit Beschluss des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom
29.01.2019 wurde aktuell die Rechtsposition der Personen die in allen
Angelegenheiten betreut sind, noch einmal deutlich gestärkt indem
die Verfassungswidrigkeit des vorher bestehenden Ausschlusses vom
aktiven Wahlrecht für diese Betroffenengruppe festgestellt wurde
und eine Wahlteilnahme auf Antrag nun möglich ist.
Die Ablösung von dem bis 1992 gültigen Rechtskonstrukt der
Entmündigung, Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft für
74
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Erwachsene hat zu deutlichen Verbesserungen für gesetzlich Betreute
geführt.
Rechtliche Betreuungen werden zum Wohle des Betroffenen
eingerichtet, um Hilfe in Aufgabenkreisen zu leisten die
krankheitsbedingt nicht mehr erledigt werden können. Dabei muss
der Wille und das unmittelbare Bedürfnis der Betroffenen
berücksichtigt werden, die Selbstbestimmung gewahrt und
Rechtseingriffe auf das notwendige Maß beschränkt werden, , wenn
dies nicht dem Wohle des Betreuten entgegensteht oder sich daraus
eine erhebliche Gefahr für den Betroffenen ergibt.
Das heißt, dass beispielsweise eine in der Vermögenssorge betreute
Person seine finanziellen Mittel zum persönlichen Eigenbedarf
gemäß seinen Bedürfnissen, Wünschen, Vorstellungen usw. einsetzen
kann. Damit kann ein Betreuter, der beispielsweise in einer
renovierungsbedürftigen Wohnung mit kaputten Möbeln wohnt,
trotzdem sein Geld dazu verwenden die kostspielige
Briefmarkensammlung weiter zu vervollständigen. Wichtig ist , dass
die Kosten für die lebensnotwendigen Bereiche (Wohnung,
Nahrung…) gedeckt sind.
Voraussetzungen der rechtlichen Betreuung
Das Betreuungsgesetz als Bundesgesetz ist in den §§ 1896ff. des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt. Die Verfahrensvorschriften
sind wie aus den PsychKGs der Länder bekannt im Gesetz über das
Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit im Buch 3 §§ 271-341 (FamFG), früher im
FGG, verankert.
Im BGB heißt es:
“
„Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen
Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen
Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
75
Grundlagen
nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf
seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer.“
Eine genaue Definition der anspruchsbegründenden Krankheitsbilder
wird vom Gesetzgeber nicht vorgegeben, was immer wieder zu
unterschiedlichen Auffassungen und vor allem auch im Rahmen der
richterlichen Unabhängigkeit zu unterschiedlichen Entscheidungen
führt.
Orientierend und vereinfacht nach dem ICD 10[1] ist festzustellen,
dass
psychische Erkrankungen nach dem BGB vorrangig:
organisch psychische Störungen (F0) bzw. seelische Störungen als
Folge anderer Erkrankungen: Z.n. Meningitis, Schädel-HirnVerletzungen, Krebsleiden, Parkinson etc. (oft Erkrankungen des
Nervensystems Kapitel VI des ICD 10)
Suchterkrankungen (F1) mit Folgeschäden, z.B. amnestisches
Syndrom oder Suchterkrankungen auf Grundlage/Komorbiditäten
anderer betreuungsrelevanter Erkrankungsbilder (vgl. z.B.
BayObLG, Beschluss vom 28.03.2001 - 3 Z BR 71/01, AG
Neuruppin, Beschluss vom 22.06.2005 - 23 XVII 159/04 )
Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (F2)
affektive Störungen (F3)
neurotische Störungen, Konfliktreaktionen (F4) und
Persönlichkeitsstörungen (F6) bei schwersten Ausprägungen
(vergleichbar mit den SMIs), da hier im Normalfall vor allem
andere Maßnahmen vorrangig in Betracht kommen
geistige Behinderungen nach dem BGB:
Angeborene oder frühzeitig erworbene Minderungen der
kognitiven Leistungsfähigkeit: klassisch Intelligenzminderungen
(F7) oder kognitive Störungen bei z.B. Trisomie 21, auch u.U.
frühkindlicher Autismus
76
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
(Anm.: In diesem Bereich gibt es fließende Übergänge zur
“Lernbehinderung”, siehe entsprechend dort)
und seelische Behinderung nach dem BGB:
bleibende Zustände psychischer Erkrankungen sind, schwer
ausgeprägte Demenzen, Residualzustände von schizophrenen
Erkrankungen etc.
Körperliche Behinderungen nach dem BGB sind Erkrankungen, die
eine Person daran hindern die eigenen Angelegenheiten ausreichend
zu besorgen (z.B. Bettlägerigkeit). Sie werden, soweit notwendig,
durch die jeweils zuständigen Fachbereiche im Gesundheitsamt mit
betreut. Daher werden sie in diesem Kapitel nicht weiter betrachtet.
Einen Antrag auf Bestellung eines Betreuers kann der Betroffene
selbst beim zuständigen Amtsgericht/Abteilung des
Betreuungsgerichts stellen oder er kann von Amts wegen gestellt
werden. Die Einrichtung einer Betreuung kann dabei grundsätzlich
auch von Dritten angeregt werden, was in Beratungskontexten im
Sozialpsychiatrischen Dienst auch immer Berücksichtigung finden
sollte.
Aufgabenkreise
“
„Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden,
in denen die Betreuung erforderlich ist“ (BGB §1896 (2)).
Dabei ist aber auch im Betreuungsverhältnis die Subsidiarität und
Verhältnismäßigkeit immer zu wahren.
Typische bestellte Aufgabenkreise sind:
Gesundheits(für)sorge/-angelegenheiten
Vermögenssorge/-angelegenheiten
Vertretung vor Behörden/ Ämtern/ Institutionen/
Sozialleistungsträgern/ Versicherungen/ Gerichten/ …
Wohn(ungs)angelegenheiten
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
77
Grundlagen
Postangelegenheiten (≈Entgegennahme und Öffnen der Post),
Entscheidungen über den Fernmeldeverkehr
Die Betitelung und Umfang der Aufgabenkreise können dabei je nach
Richter, Amtsgericht und Region, aber vor allem auch nach
Betreuungsbedarf, unterschiedlich sein. Prinzipiell kann ein Betreuer
für jeden notwendigen Aufgabenkreis auch in strenger Begrenzung
bestellt werden, beispielsweise zur Vertretung vor dem Jugendamt.
Um Auskünfte über den Umfang eines bereits bestehenden
Betreuungsverhältnisses zu erlangen, sollte immer Einsicht in den
Betreuerausweis genommen werden.
Eine Betreuung hat keinen Einfluss auf die Geschäftsfähigkeit der
betreuten Person, insofern sich aber erhebliche Gefahren für die
Person oder sein Vermögen ergeben, kann ein Einwilligungsvorbehalt
für bestimmte Aufgabenkreise, meist in der Vermögenssorge,
eingerichtet werden.
Das heißt, dass Geschäfte, die unter diesem Einwilligungsvorbehalt
stehen, ohne die Zustimmung des rechtlichen Betreuers nicht
rechtswirksam getätigt werden können.
Betreuungsverfahren
Eine Betreuung darf nicht gegen den freien Willen einer Person
eingerichtet werden und orientiert sich immer am Grundsatz der
Erforderlichkeit.
Zur Einrichtung einer rechtlichen Betreuung muss neben der
persönlichen Anhörung des Betroffenen durch den Richter auch ein
Sachverständigengutachten und ein Sozialbericht der
Betreuungsbehörde eingeholt werden. In seltenen Fällen kann die
Einholung des Sachverständigen-Gutachtens entfallen, wenn ein
aussagekräftiges, ärztliches Gutachten des Medizinischen Dienstes
der Krankenversicherung vorliegt.
Der Betroffene selbst kann einen Betreuervorschlag unterbreiten.
Unterbleibt dies, wird der Betreuer vom Gericht nach Vorschlag
78
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
durch die Betreuungsbehörde bestimmt. Ein Wechsel des
Betreuungsverhältnisses ist bei entsprechenden plausiblen Gründen
möglich. Eine rechtliche Betreuung kann auch von mehreren
Personen ausgeübt werden wenn sich hieraus Vorteile für den
Betreuten ergeben. Neben der Betreuung durch Betreuungsvereine
und selbstständige Berufsbetreuer können auch vorzugsweise
natürliche Personen zum Betreuer bestellt werden.
Die Dauer der Einrichtung eines neuen Betreuungsverhältnisses
variiert erheblich und kann oft mehrere Monate in Anspruch
nehmen.
Eine Betreuung kann auch im Eilverfahren einstweilig vom Gericht
bestellt werden, wenn Gefahr im Verzuge ist. Eine vorläufige
Betreuerbestellung darf höchstens für die Dauer von 6 Monaten
bestimmt werden. Bis dahin muss das Regelverfahren mit Einholung
eines Sachverständigengutachtens und einem Bericht der
Betreuungsbehörde erfolgen. Einstweilig eingerichtete Betreuungen
finden in der Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes selten
Anwendung, siewerden oft bei akut notwendigen ärztlichen
Eingriffen einer nicht mehr einwilligungsfähigen Person eingerichtet.
Zum Beispiel bei Zustand nach Verkehrsunfall und auch nach
Erstversorgung persistierender schwerer neurologischer
Beeinträchtigungen und indizierter Operationsbedürftigkeit ohne
vorliegende Vorsorgevollmacht.
Im psychiatrischen Kontext sollte man bei Gefahr im Verzuge auf die
Dringlichkeit der Einrichtung eines Betreuungsverhältnisses
hinweisen in dem die krankheitsbedingten Probleme und daraus
bereits bestehender und auch prognostisch relevanter Gefahren für
die betroffene Person beschrieben werden, um die Einrichtung einer
Betreuung zu beschleunigen.
Der Anspruch auf eine rechtliche Betreuung muss im
Sachverständigen-Gutachten für die einzelnen Aufgabenkreise und
die Dauer der Betreuung (maximal 7 Jahre) begründet werden. Dabei
müssen die krankheitsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
79
Grundlagen
hinsichtlich der Erledigung der persönlichen Angelegenheiten
dargestellt werden, und nicht nur die zugrundeliegenden Diagnosen
gestellt werden.
Beispielsweise kann eine Person mit wahnhafter Störung, die sich vor
allem auf ihre Mietergemeinschaft begrenzt, von der sie sich bedroht
und verfolgt fühlt, durchaus ihre finanziellen Angelegenheiten auch
ohne Unterstützung eines Betreuers erledigen.
Im Rahmen eines handlungsweisenden Wahnerlebens, das z.B. dazu
führt, dass die erkrankte Person sich beschwert, Ruhestörung
betreibt und die vermeintlichen Täter sogar bedroht oder gefährdet,
zeigen sich im Rahmen des krankheitswertigen Erlebens somit vor
allem Schwierigkeiten und Probleme in der Erledigung der
Wohnangelegenheiten und damit verbundener rechtlicher und
behördlicher Angelegenheiten. Hier wäre ein dringender
Unterstützungsbedarf und Stärkung der verfahrensrechtlichen
Position durch eine rechtliche Betreuung begründet.
Besteht behinderungsbedingt keine ausreichende Krankheitseinsicht
und Behandlungsbereitschaft, könnte unter Umständen die
Einrichtung einer Betreuung im Bereich Gesundheitssorge und
Aufenthaltsbestimmung zum Zwecke der Heilbehandlung hilfreich
sein. Dies ist vor allem dann angezeigt, wenn Erkenntnisse vorliegen,
dass ein drohender erheblicher gesundheitlicher Schaden für die
Betroffene zu erwarten ist. Der Grund für fehlende
Krankheitseinsicht kann u. a. sein, dass die erkrankte Person die
Symptome ihrer psychischen Erkrankung nicht erfassen kann und
daher keine subjektive Plausibilität für eine notwendige
psychiatrische Behandlung entwickelt.
Insofern der Erkrankte bei fehlender Krankheits- und
Behandlungseinsicht jegliche Hilfen, also auch die Einrichtung einer
Betreuung, ablehnt muss geprüft werden, ob diesbezüglich noch ein
freier Wille gebildet werden kann. Wenn die vorliegende Störung des
Realitätsbezugs einer angemessenen Abwägung von Für und Wider
entgegensteht und eine aufgehobene Kritik- und Urteilsfähigkeit
80
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
bedingt, wären die Voraussetzungen der freien
Willensbestimmung[2] nicht mehr gegeben. Diese Prüfung sollte aber
gerade in Hinsicht auf die erheblichen Eingriffe auf die
Selbstbestimmung und Grundrechte der Person sorgfältig erfolgen
und auch ausführlich begründet werden.
Vorsorgevollmacht
Die Bestellung eines rechtlichen Betreuers kann vermieden werden,
wenn eine Person des Vertrauens wirksam bevollmächtigt wird. Eine
Bevollmächtigung als milderes Mittel ist dabei der rechtlichen
Betreuung vorzuziehen. Sie wird gleichsam für die entsprechenden
Aufgabenkreise bestimmt.
Zur Beratung und Hilfestellungen empfiehlt es sich auf die
entsprechenden Betreuungsbehörden zu verweisen oder auf die
Internetpräsenz des Bundesministeriums der Justiz und für
Verbraucherschutz.
Unterbringungen bei Eigen- und Fremdgefährdung
Eine Unterbringung ist die Verbringung einer Person gegen oder
ohne Willen in eine geeignete geschlossene Einrichtung und stellt
damit als Zwangsmaßnahme einen erheblichen Eingriff in die
Grundrechte des Betroffenen dar. Hieraus bedingt sich
verständlicherweise, dass Unterbringungen möglichst vermieden
werden sollen. Vorrangige Hilfen und Alternativen sind daher
auszuschöpfen.
Unterbringungsvorschriften sind in verschiedenen Gesetzen
verankert:
öffentliches Recht (PsychK(H)G) – bei krankheitsbedingter
Eigengefährdung und vorrangig auch zum Schutz der
Allgemeinheit bei krankheitsbedingter Fremdgefährdung
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
81
Grundlagen
Zivilrecht (Betreuungsrecht, BGB) – zum Wohl des Betroffenen
und damit ausschließlich bei krankheitsbedingter
Eigengefährdung
Strafrecht (StGB) bei Fremdgefährdung
Besserung und Sicherung von schuldunfähigen (§§20, 63) oder
vermindert schuldfähigen (§§21, 63) und suchtkranken (§64)
Straftätern im Maßregelvollzug (MRV)
schuldfähige Straftäter im Justizvollzug (JVA)
In hoch akuten Situationen mit erheblicher Selbst- und/oder
Fremdgefährdung bei nicht einwilligungsfähigem Patienten kann
auch auf der Grundlage des “rechtfertigenden Notstands” (§ 34 StGB)
oder des “mutmaßlichen Willens” (BGHSt 40, 257) gehandelt werden.
(siehe Fallbeispiele)
Abbildung 8: Juristische Bezeichnungen, Unterbringung bei Eigen- und Fremdgefährdung
82
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Juristische Begrifflichkeiten bei Eigen- und
Fremdgefährdung
Der unbestimmte Begriff der Gefahr stellt im polizei- und
ordnungsrechtlichen Sinne eine Sachlage dar, die mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit zu einem Schaden,
beziehungsweise einer Störung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung führt. Dabei spricht man entweder von konkreten Gefahren
oder abstrakten Gefahren.
Im Fall von konkreten Gefahren werden Einzelfälle betrachtet, bei
denen bei ungehindertem Ablauf in überschaubarer Zeit mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einem Schadenseintritt
gerechnet wird.
Dies sind die typischen Sachlagen mit denen man im
Sozialpsychiatrischen Dienst häufig konfrontiert ist. Man kann hier
zum Beispiel an eine schizophrene Person mit Polydipsie denken, die
allein lebt und ohne Aufsicht täglich über 10 Liter Wasser trinkt,
sodass in absehbarer Zeit ohne weiteres Eingreifen der Tod eintreten
würde. Hier handelt es sich um einen Einzelsachverhalt, der
hinsichtlich des Ortes, der gegebenen Umstände und einer
absehbaren Zeit nach den bekannten wissenschaftlichen
Erkenntnissen und Erfahrungen zum Schadenseintritt unter den
gegebenen Umständen führen wird.
Von abstrakten Gefahren spricht man dagegen, wenn bei bestimmten
und häufiger vorkommenden Verhaltensweisen nach allgemeiner
Erfahrung die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines
Schadenseintritts für die sogenannten Schutzgüter der öffentlichen
Sicherheit zu befürchten ist.
Hier handelt es sich demnach eher um Gefahrenlagen, mit denen
man im Infektionsschutz konfrontiert ist, wie die Verbreitung von
Masern, wenn keine Herdenimmunität besteht.
Die grundgesetzlich verankerten bedeutenden Rechtsgüter Einzelner
wie Leben, Gesundheit, Freiheit der Person aber auch ihr Vermögen
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
83
Grundlagen
und ihre Ehre, sowie die Staats- und Rechtsordnung, umfassen
gemeinsam den Begriff der öffentlichen Sicherheit.
Der unbestimmte Rechtsbegriff der öffentlichen Ordnung verweist
auf die herrschende Moral, Werte und Normen des sozialen und
ethischen Zusammenlebens. Hier kann ein Einschreiten der
Behörden notwendig werden, wenn ein geordnetes Leben in der
Gemeinschaft bei anstößigem oder unanständigem öffentlichen
Verhalten Einzelner gefährdet ist.
Der Begriff der Gefahr enthält demnach die Merkmale des
“Schadens”, aber auch der “Eintrittswahrscheinlichkeit”. Die Prognose
ist also ein wichtiges Kriterium in Hinsicht auf
Unterbringungssituationen. Die Prognose basiert dabei auf
Erfahrungsgrundsätzen.
“
„Von einer gegenwärtigen Gefahr […] ist dann auszugehen,
wenn ein schadenstiftendes Ereignis unmittelbar bevorsteht
oder sein Eintritt zwar unvorhersehbar, wegen besonderer
Umstände jedoch jederzeit zu erwarten ist.“
heißt es in den jeweiligen PsychK(H)Gs. Beim Begriff der
gegenwärtigen Gefahr wird demzufolge eine höhere Anforderung an
das Zeitkriterium gestellt.
Gegenwärtig im Sinne der Gesetzeslage meint:
unmittelbar bevorstehend
bereits begonnen
jederzeit erwartbar
Eine dringende Gefahr besteht, wenn ein Schadenseintritt für
wichtige Rechtsgüter besteht oder für wenig bedeutsamere aber ein
Schaden großen Ausmaßes zu erwarten ist, hierbei wird der
Zeitdimension wenig Beachtung gewidmet. Es handelt sich also um
einen Gefahrenbegriff im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne,
der zum Beispiel im Rahmen von Wohnungsdurchsuchungen
angewendet werden kann, aber in der Arbeit des SpDi eine
84
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
untergeordnete Rolle spielt. Anwendungen wären zum Beispiel eine
zwangsweise herbeigeführte Begutachtung nach richterlichem
Beschluss im Rahmen des BGB, wenn Tatsachen bekannt sind, die auf
eine Eigengefährdung deuten, aber eine Begutachtung nicht
vollzogen werden kann, da die betroffene Person die Wohnungstür
nicht öffnet.
Bei Gefahr im Verzuge muss zur Verhinderung des drohenden
Schadens sofort eingeschritten werden. Andernfalls wäre der Erfolg
der notwendigen Maßnahme gefährdet, d.h. die eigentliche Abfolge
notwendiger Maßnahmen, bzw. die normale Verfahrensweise von
Behörden und Gerichten, ist nicht durchführbar. Sonst können die
Schäden bedeutsamer Rechtsgüter, vor allem großen Ausmaßes, nicht
verhindert werden. Dies sind vor allem Sachlagen die auf Grundlage
des § 34 StGB rechtfertigender Notstand betrachtet werden, wie z.B.
medizinische Notfallbehandlungen, mit denen man in der Arbeit des
SpDi auch konfrontiert wird.
Generell sind jedoch durch die PsychK(H)Gs, das Betreuungsgesetz
und die jeweiligen Polizei- und Ordnungsgesetze der Länder
hinreichende Möglichkeiten einstweiliger Maßnahmen durch die
Behörden gewährleistet.
Die Erheblichkeit von Gefahren wird im Einzelfall beurteilt. Hierbei
geht es um die Schwere, das Ausmaß der (möglichen)
Beeinträchtigung bedeutsamer Rechtsgüter wie Leib, Leben,
Gesundheit und Freiheit einer Person. Eine Prüfung erfolgt dabei auf
dem Boden der grundgesetzlich verankerten Werteordnung.
“
„Je größer und folgenschwerer der mögliche eintretende
Schaden ist, desto geringer sind die Anforderungen, die an
die Prüfung einer Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
zu stellen sind.“ Feststellung des
Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 45, 51 vom 26.
Februar 1974)
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
85
Grundlagen
Das heißt, dass der mögliche Schadenseintritt umso weiter entfernt
liegen kann je bedeutender das gefährdete Rechtsgut und auch das
Ausmaß der Schädigung ist.
Eine Gefahr im Rechtssinne ist auch gegeben bei begründetem
Gefahrenverdacht, dann also, wenn eine anzunehmende Gefahr
durch Tatsachen erhärtet ist.
Die jeweiligen Ordnungsbehörden sind für die Gefahrenabwehr
zuständig. Die Polizei als Ordnungsbehörde hat einen subsidiären
Auftrag in der Gefahrenabwehr, das heißt:
Sie ist zuständig, wenn Maßnahmen durch die jeweiligen zuständigen
Ordnungsbehörden nicht gewährleistet oder nicht möglich sind.
Die Zuständigkeiten ergeben sich aus den jeweiligen
Rechtsgrundlagen des Bundes und der Länder. In der Arbeit des
öffentlichen Gesundheitswesens - und damit in der Arbeit des SpDi sind die Behörden für die Gefahrenabwehr im Gesundheitswesen
zuständig. Die ordnungsbehördlichen Zuständigkeiten liegen bei den
Polizei- und Ordnungsgesetzen, z.B. Allgemeine Sicherheits-und
Ordnungsgesetz Berlin, Anlage Zuständigkeitskatalog
Ordnungsaufgaben.
In Berlin ist bspw. das Bezirksamt/Gesundheitsamt auch die
zuständige Ordnungsbehörde für die Gefahrenabwehr im öffentlichrechtlichen Raum. Das ist in den Gesundheitsdienstgesetzen und
PsychK(H)Gs der Länder geregelt. Damit ergibt sich aufgrund der
föderalen Strukturen eine unterschiedliche Zuständigkeit und somit
auch Unterschiede in notwendigen Antragstellungen nach dem
PsychK(H)G.
Für das Handeln des SpDi muss bei einer krankheitsbedingte
Gefahren immer eine Krankheit im Rechtssinne vorliegen, d.h.:
eine psychische Krankheit, vergleichbare psychische Störung,
Suchtkrankheit, geistige Behinderung und
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
eine aus dieser Krankheit heraus resultierende Gefahr vorliegen
(Kausalität).
Das heißt, dass sich aus den Symptomen heraus die Gefahr für
bedeutende Rechtsgüter ergibt, wie z. B. bei einem an einer
fortgeschrittenen Demenz erkrankten Menschen, der im Winter nur
leicht bekleidet ohne Beachtung der Verkehrsregeln auf die Straße
läuft. Bevor die Demenz (Krankheit) vorlag, kleidete sich die Person
witterungsbedingt sicher angemessen und beachtete die
Verkehrsregeln. Das heißt, dass eine Gefährdung für sich und andere
jetzt aus den Symptomen der schweren Demenz resultiert.
Im Rahmen der Arbeit in der Sozialpsychiatrie spricht man damit
von der krankheitsbedingten Fremdgefährdung und der
Eigengefährdung.
Die Fremdgefährdung im engeren Sinne ist:
körperliche Unversehrtheit, Leib und Leben sind bedroht
(Grundgesetz)
keine Fremdgefährdung:-- Belästigung-- Beleidigung-querulatorische Verhaltensweisen-- lästige Verhaltensweisen-Sachbeschädigung
Eigenfährdung ist:
Suizidalität
Eigengefährdung muss nicht zielgerichtet sein:
-- akut selbstgefährdende Fehlhandlungen (z.B. Selbstschädigung aus
psychotischer Motivation, Verwirrtheit, Selbstgefährdung verwirrter
Personen im öffentlichen Verkehrsraum…)
-- Hilflosigkeit mit Gefahr des Verhungerns, Erfrierens etc.
-- krankheitsbedingte Verweigerung von Nahrung und
lebensnotwendigen Medikamenten
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
87
Grundlagen
-- krankheitsbedingte Verkennung akut lebensbedrohlicher
Erkrankungen/Nichtbehandlung körperlicher Leiden
Im Betreuungsrecht bei gesundheitlichem Schaden aber auch:
Chronifizierung mit Persönlichkeitsabbau bei unbehandelter
Erkrankung (Schizophrenie, Manie)
z.T. krankheitsbedingte schwerste Verwahrlosung in
menschenunwürdiger Umgebung
Zum gesundheitlichen Schaden gibt es keine einheitliche Definition,
sodass medizinische und juristische Auffassungen oft divergieren. Als
praktische Darstellung hat sich die Einordnung des gesundheitlichen
Schadens auf den 4 Ebenen bewiesen. (Steinert et al. 2016):
strukturelle Organschäden
subjektives Leiden
Störung der sozialen Teilhabe
Funktionsstörung (Störung der Einsichts- und
Selbstbestimmungsfähigkeit)
Im Rahmen der Arbeit im öffentlichen Gesundheitswesen ist dabei
gerade in Unterbringungs-Angelegenheiten der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit immer zu beachten. Maßnahmen müssen
immer:
geeignet
erforderlich
angemessen
sein.
Das heißt: Einschränkungen der Grundrechte des Einzelnen sind nur
so weit verhältnismäßig, wie es zum Schutze der bedeutenden
Rechtsgüter (öffentliche Sicherheit und Ordnung) notwendig,
zielführend und angemessen erscheint. Öffentlich-rechtliche
Interessen und Rechtsgüter müssen gegeneinander abgewogen
werden und das mildeste Mittel muss gewählt werden.
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Der Freiheitsanspruch des Einzelnen ist immer zu beachten und der
Eingriff in dieses Grundrecht muss demnach verhältnismäßig sein.
Die Maßnahme einer zwangsweisen Unterbringung muss also dazu
führen, dass die Gefahr beseitigt werden kann, also ist sie geeignet
und erforderlich. Die Maßnahme sollte auf das geringstmögliche Maß
beschränkt sein, darf nur angewendet werden, wenn keine weniger
eingreifende oder weniger nachteilige Maßnahme zur Verfügung
steht. Der Eingriff ist unerlässlich, da sonst ein Schaden eintritt. Er
sollte auch zeitlich in einem angemessenen Rahmen stattfinden.
Amtsrichterliches Unterbringungsverfahren
Das gerichtliche Verfahren der Unterbringungen der PsychK(H)Gs
und dem Betreuungsgesetz ist im Gesetz über das Verfahren in
Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen
Gerichtsbarkeit (FamFG dort §§ 312 ff) festgelegt und erfolgt daher
bundeseinheitlich. Die inhaltlichen Entscheidungen unterliegen der
richterlichen Unabhängigkeit.
Unterbringungs-Angelegenheiten werden am zuständigen
Amtsgericht verhandelt. Die Betroffenen sind unabhängig von der
Geschäftsfähigkeit in Unterbringungssachen verfahrensfähig. Neben
der persönlichen Anhörung der Betroffenen (§ 319 FamFG) wird im
Rahmen der förmlichen Beweisaufnahme ein
Sachverständigengutachten (§321 FamFG), beziehungsweise ein
ärztliches Zeugnis, bei Unterbringungen nach den PsychK(H)Gs,
eingeholt. in diesem muss die Notwendigkeit der Maßnahme
begründet werden. Ärztliche Zeugnisse oder SachverständigenGutachten müssen dabei jeweils mindestens von einem in Psychiatrie
erfahrenen Arzt ausgestellt sein (Anm.: es handelt sich hierbei um
einen ungenauen Begriff. Oft wird für Sachverständigen-Gutachten
im Rahmen des Betreuungsrechtes eine mindestens 2-jährige
Erfahrung im Bereich der Psychiatrie vorausgesetzt, in
Unterbringungssachen nach dem PsychKG ist ein halbes Jahr
ausreichend, wie es für den FA ÖGW auch gefordert ist.)
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
89
Grundlagen
Dabei sind einstweilige Anordnungen bei dringenden Gefahrenlagen
oder auch Gefahr im Verzuge im FamFG §§331 -333 geregelt.
Einstweilige Unterbringungen erfolgen durch den Amtsrichter, mit
zusätzlichem ärztlichem Zeugnis über die krankheitsbedingte
Gefährdung. Die Unterbringung erfolgt für maximal 6 Wochen und
kann auf weitere 6 Wochen verlängert werden. In einem nächsten
Schritt wird ein Sachverständigengutachten eingeholt.
Unterbringung nach dem Betreuungsrecht
Wenn
“
„die Gefahr besteht, dass [..][ein Betreuter oder
Vollmachtgeber] sich selbst tötet oder erheblichen
gesundheitlichen Schaden zufügt, oder zur Abwendung
eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens
eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine
Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist,
[und] die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten
nicht durchgeführt werden kann“
ist zum Wohl des Betroffenen eine Unterbringung nach dem § 1906
BGB erforderlich.
Die Unterbringung nach dem BGB kann dabei je nach Art der
vorliegenden Eigengefährdung und der daraus resultierenden
notwendigen Hilfe in einem Krankenhaus, aber auch in einem
geschlossenen Heim, für längstens 2 Jahre angeordnet werden.
Dabei muss der Betreuer die Aufgabenkreise
“Aufenthaltsbestimmung” und “Gesundheitssorge” innehaben und
einen gesonderten Antrag beim zuständigen Amtsgericht stellen.
Nach Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens bedarf es der
Genehmigung des Gerichts, da es sich um Eingriffe in das Grundrecht
der betroffenen Person wie die körperliche Unversehrtheit handelt.
Dabei bestehen, wie im Fließschema dargestellt, grundsätzlich zwei
Möglichkeiten zur Unterbringung nach dem BGB.
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Abbildung 9: Vorgehen bei Selbstgefährdung
Im normalen Verfahren stellt ein Betreuer oder Vollmachtnehmer
einen Antrag auf Unterbringung des Betroffenen (bei
Eigengefährdung) beim zuständigen Amtsgericht. Im
Hauptsacheverfahren erfolgt dann eine gerichtliche Entscheidung
über die beantragte Zwangsunterbringung nach Einholung eines
Sachverständigen-Gutachtens.
Ist Gefahr im Verzug oder ein Betreuter befindet sich bereits im
Krankenhaus, möchte dieses aber trotz vorliegender
Eigengefährdung verlassen, kann der Betreuer den Aufenthalt
bestimmen. Es erfolgt dann mit begleitender ärztlicher
Stellungnahme, in der die bestehende krankheitsbedingte
Eigengefährdung dargestellt wird, ein Antrag auf Unterbringung. Es
erfolgt dann nach richterlicher Anordnung eine einstweilige
gerichtliche Unterbringung für längstens 6 Wochen danach wird das
eigentliche Hauptsacheverfahren eröffnet. Die Unterbringung wird
dabei von der jeweiligen Betreuungsstelle, u.U. mit Amtshilfe,
organisiert und durchgeführt.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
91
Grundlagen
Eine Unterbringung nach dem BGB ist bei Eigengefährdung einer
betroffenen bereits betreuten Person einer Unterbringung nach dem
PsychK(H)G vorzuziehen und muss als bundesgesetzliche Regelung
auch Vorrang finden ("Bundesrecht vor Landesrecht als milderes
Mittel").
Unterbringung nach dem PsychK(H)G
Die Zwangsunterbringungen bei krankheitsbedingter Eigen- und
Fremdgefährdung sind in den PsychK(H)Gs der Länder ausgeführt.
Dort heißt es‚
“
"wer infolge einer psychischen Störung sein Leben oder
seine Gesundheit erheblich gefährdet oder bedeutende
Rechtsgüter anderer erheblich gefährdet, oder in
erheblichem Maße die öffentliche Sicherheit gefährdet,
muss , wenn die Gefahr nicht anders abzuwenden ist,
untergebracht werden."
Dabei erfolgen Unterbringungen immer unter dem Aspekt der
Verhältnismäßigkeit als letzte Möglichkeit zur Gefahrenabwehr
(siehe: Fließschema Eigen- und Fremdgefährdung).
Abbildung 10: Fließschema Eigen- und Fremdgefährdung
92
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Die Ausführung der Unterbringung geschieht zumeist über Anträge
des zuständigen Ordnungsamts, Gesundheitsamts oder auch durch
die Polizei. In manchen Ländern sind auch hoheitlich beliehene
Krankenhäuser oder der Rettungsdienst/Notarzt antragsberechtigt.
Je nach Länderausführungen ist dem Antrag ein ärztliches Zeugnis
beizufügen. In HE darf die Exploration nicht länger als 14 Tage
zurückliegen, in MV, RP eine Woche, in SA, SL, TH nicht länger als 3
Werktage und SA, NI, NRW, SH nicht länger als 1 Tag.
Wenn dringende Gründe bestehen, dass die Voraussetzungen einer
Unterbringung bestehen, kann diese auch vorläufig vorgenommen
werden. Das zuständige Gericht muss anschließend unverzüglich
benachrichtigt werden und der Beschluss des Amtsgerichtes muss bis
zum Ablauf des Folgetages vorliegen. Ausnahmen bilden BadenWürttemberg und Thüringen, dort kann der SpDi eine vorläufige
Unterbringung, längstens für 24 Stunden anordnen in BBG muss die
richterliche Anhörung binnen 24 Stunden erfolgt sein.
Erfahrungsgemäß werden Unterbringungen nach den PsychK(H)Gs
nicht im Regelverfahren, sondern fast ausschließlich durch
vorläufige Unterbringungen eingeleitet.
Beispiel: Unterbringung nach dem PsychK(H)G und
Betreuungsrecht
Als Beispiel kann man hier an eine 35-jährige schizophrene Frau
denken, die gelernte Erzieherin ist und 5 Jahre in dem Beruf tätig
war. Sie lebte zusammen mit ihrem damaligen Lebensgefährten in
einer 3-Raumwohnung und war als zuverlässige, freundliche Kollegin
sehr geschätzt. Sie war im letzten Jahr ihrer beruflichen Tätigkeit
wegen Depressionen und Angststörungen krankgeschrieben (Anm.:
wahrscheinlich Prodromalstadium einer schizophrenen Erkrankung).
Die 35-jährige Frau wurde bei Erstdiagnose einer paranoidhalluzinatorischen Schizophrenie einmalig drei Wochen stationär
psychiatrisch behandelt. Es erfolgte damals eine vorläufige
behördliche Unterbringung mit nachfolgendem Beschluss des
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
93
Grundlagen
Amtsgerichts wegen Fremdgefährdung nach dem PsychK(H)G.
Hintergrund war eine krankheitsbedingte Gefährdung ihres
damaligen Lebensgefährten.
Bei der Frau bestand ein systematisierter Wahn, sie verkannte ihren
Freund als feindlichen Alien, der sie vergiften wollte (->Symptome
einer psychischen Krankheit bestehen, damit ist das
Eingangsmerkmal einer Person mit psychischer Krankheit erfüllt).
Der Lebensgefährte hatte sich schon mehrmals hilfesuchend an den
SpDi gewendet, Hausbesuche fanden statt, eine psychiatrische
Behandlungsnotwendigkeit wurde erkannt, wobei die Betroffene den
Empfehlungen nicht nachkam, und mehrmals weitere Gespräche mit
den Mitarbeitern des SpDi ablehnte. Bereits zum damaligen Zeitpunkt
zeigte sie verbale Aggressionen gegen den Lebensgefährten und
spuckte ihn an, beschimpfte Anwohner als menschenfressende Aliens
(->noch keine Gefahr für bedeutende Rechtsgüter anderer,
aufsuchende Arbeit erfolgt, Beratung und Hilfsangebote siehe
PsychK(H)G wurden vermittelt aber die Betroffene kam den
Maßnahmen freiwillig nicht nach).
Am Tag der Einweisung rief der Lebensgefährte aus einer akuten
Notlage heraus an. Er hatte sich im Schlafzimmer verbarrikadiert,
nachdem sie ihn tätlich angegriffen hatte. Sie hatte in der Küche
unvermittelt mit einem Schneidebrett mehrmals nach ihm
geschlagen (er gab an eine kleine Kopfplatzwunde zu haben, später
bestätigt) und habe dann nach einem Messer gegriffen und versucht
ihn abzustechen und immer wieder gebrüllt “ich bringe dich um”
wobei der Partner sich in das Schlafzimmer flüchten konnte. Den
Notruf hatte er schon getätigt.
Die Polizei und Feuerwehr konnten die Wohnung demnach bei
weiterer Gefahr im Verzug ohne Richtervorbehalt betreten. Die
erkrankte Person konnte ohne Gegenwehr überwältigt werden und
war bei ihrem Eintreffen kooperativ und ruhig, stimmte einer
Krankenhausbehandlung zu, wenn sie dort vor Aliens sicher sei.
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Die Voraussetzungen einer zwangsweisen Unterbringung nach dem
PsychK(H)G sind demnach gegeben. Es besteht eine Krankheit
aufgrund derer bedeutende Rechtsgüter anderer (Leben des
Freundes) gefährdet sind. Die Betroffene ist zwar ruhig und
kooperativ und stimmt einer freiwilligen Aufnahme zu. Die
Freiwilligkeit ist dabei aber nicht tragfähig. Im Rahmen wahnhafter
Verkennung bei unbehandelter Schizophrenie besteht eine
gegenwärtige erhebliche Fremdgefahr fort. Es besteht die
hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Frau neben ihrem
Lebensgefährten (bereits erfolgte Körperverletzung) auch andere
Menschen verkennt und ihnen dann Schaden zufügen wird. Eine
maßgebliche Freiwilligkeit besteht nicht, da die Freiwilligkeit nur
unter der Voraussetzung der Abwesenheit der krankheitsbedingten
Symptome angenommen wird. Alternativen ergeben sich zum
aktuellen Zeitpunkt nicht. Freiwillige Maßnahmen im Vorfeld wurden
nicht angenommen und im Rahmen der akuten Psychopathologie
steht die Gefahrenabwehr, die nur unter geschlossenen Bedingungen
gewährleistet werden kann, im Vordergrund. Demnach erfolgt eine
vorläufige behördliche Unterbringung der Betroffenen im
zuständigen psychiatrischen Krankenhaus und ein Antrag auf
Unterbringung der Betroffenen beim zuständigen Amtsgericht für die
Dauer von vorerst 3 Wochen. Dies erscheint bei vorliegendem
Krankheitsbild mit Erstbehandlung vorerst ausreichend. Es erfolgte
nach Anhörung durch den Richter am Folgetag der Beschluss der
Unterbringung für 14 Tage. Im Nachgang wurde eine Verlängerung
bei weiterer anzunehmender Fremdgefährdung bei noch
persistierenden Symptomen für weitere 9 Tage beschlossen, wobei
die Erzieherin noch weitere 4 Tage freiwillig stationär psychiatrisch
behandelt wurde.
Im Anschluss erfolgte für 1,5 Jahre eine ambulante
Weiterbehandlung. Nach langsamer Reduktion des Antipsychotikums
brach die Frau bei erneuter Exazerbation die Weiterbehandlung ab
und nahm keine anderen alternativen Hilfen an. Voraussetzungen
zwangsweiser Maßnahmen bestanden hier nicht.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
95
Grundlagen
Circa 4 Jahre später meldete die Hausverwaltung eine schwere
Wohnungsverwahrlosung bei der Betroffenen, wobei eine Kündigung
des Mietverhältnisses bereits erfolgt war. Trotz Beschwerden der
Nachbarn und Aufforderungen der Hausverwaltung die Wohnung zu
säubern, um Brandgefahren und Belästigungen der Mitmieter zu
beseitigen, zeigte sich keine Änderungsmotivation der Betroffenen.
Ein Zugang zur Wohnung wurde durch die Betroffene nicht erlaubt.
Sie wollte auch nicht in Kontakt mit dem SpDi treten.
Voraussetzungen einer zwangsweisen Vorführung zur Untersuchung
nach dem PsychK(H)G ergaben sich nicht, ebenso wenig kam ein
Betreten der Wohnung im Rahmen des PsychK(H)G, bzw.
Ordnungsrechts ohne dringende Gefahr oder Gefahr im Verzug in
Frage.
Es erfolgte ein behördlicher Antrag auf Errichtung einer rechtlichen
Betreuung für die Betroffene, mit dem Hintergrund einer bekannten
nicht behandelten Schizophrenie. Wobei die ehemalige Erzieherin
und jetzt Langzeitarbeitslose mindestens ihre Angelegenheiten in den
Wohnungsangelegenheiten nicht erledigte.
Eine Begutachtung der Betroffenen fand, nach richterlichem
Beschluss einer zwangsweisen Wohnungsöffnung zur Begutachtung,
in der Häuslichkeit statt, nachdem eine Exploration nicht realisiert
werden konnte und bereits das Verfahren einer Zwangsräumung
eröffnet wurde. Im Rahmen der Ermittlungen hatte sich bereits
gezeigt, dass die Betroffene keine sozialen Kontakte mehr pflegte.
Ihre Mutter hatte sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, sie
brachte ihr jeden zweiten Tag Lebensmittel, die sie an die
Wohnungstür hängte. Die Mutter stand in Kontakt mit dem Jobcenter
- nur für diesen Bereich lag eine Vollmacht vor - da ihre Tochter
keine Anträge mehr gestellt hatte und kurzfristige Mietschulden
aufgetreten waren. Damit ergaben sich Tatsachen für den Richter, die
einer zwangsweisen Vorführung zur Untersuchung im BGB Genüge
taten.
96
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Nach Begutachtung wurde eine Betreuung in sämtlichen
Aufgabenkreisen nach dem §1896ff BGB eingerichtet. Der rechtliche
Betreuer stellte im Nachgang einen Antrag auf Unterbringung zur
Heilbehandlung nach § 1906 BGB.
Eine Unterbringung wurde von Seiten des Sachverständigen im
Rahmen einer chronifizierten unbehandelten Schizophrenie für
notwendig beschrieben, , aber vom Betreuungsgericht abgelehnt,
sodass der Betreuer in Widerspruch trat. Es zeigte sich, dass die
krankheitsbedingte Eigengefährdung nicht ausführlich dargelegt
wurde nach einem Zweitgutachten, aus dem sich die
krankheitsbedingte Eigengefährdung ergab, fand eine Unterbringung
zur Heilbehandlung in einer geschlossenen psychiatrischen
Einrichtung statt.
Der zweite Gutachter zeigte auf, dass bei der betroffenen Frau ein
krankheitsbedingter tiefgreifender Verlust der
Selbstbestimmungsfähigkeit bestand. Im Rahmen der unbehandelten
chronisch verlaufenden Schizophrenie zeigte sich ein Bruch
gegenüber allen früheren Präferenzen, Einstellungen und Normen
der Person. Diese war vor Krankheitsbeginn eine liebevolle, saubere,
ordentliche und zuverlässige und beruflich tätige Person.
Bei unbehandelter Schizophrenie zeigte sich ein erheblicher
gesundheitlicher Schaden bei einem Persönlichkeitsabbau
mit kognitiven Einschränkungen
subjektivem Leiden bei akutem Wahn, in dem sie sich als Opfer
und Versuchsperson von Aliens wähnte
einer Berufsunfähigkeit
sozialem Rückzug mit krankheitsbedingter Funktionsstörung
Im Rahmen der schweren psychischen Erkrankung bestand ein
tiefgreifender Verlust der Einsichts- und Selbstbestimmungsfähigkeit,
der sich auch in der schweren Wohnungsverwahrlosung ausdrückte.
Die Frau sah keine Notwendigkeit mehr aufzuräumen, war aber auch
krankheitsbedingt nicht mehr dazu fähig und verließ die Wohnung
nicht mehr. Eine Unterbringung zur Heilbehandlung wurde
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Grundlagen
empfohlen, da trotz jahrelanger Nichtbehandlung eine Besserung der
Psychopathologie und des damit einhergehenden gesundheitlichen
Schadens, bei damals gutem Ansprechen auf eine multimodale und
vor allem auch medikamentöse psychosoziale-psychiatrische
Therapie, hinreichend wahrscheinlich war und die Maßnahme mit
Eingriff in die Grundrechte damit verhältnismäßig war.
Versorgungslandschaft
Selbsthilfe und soziale Unterstützung
Der Mensch ist als soziales Wesen auf die Gemeinschaft der
Mitmenschen angewiesen und kann sich den vielfältigen Konflikten,
die in diesem Zusammenhang entstehen, nicht entziehen. Solche
Konflikte können unter besonderen Belastungen im Verlauf der
Lebensgeschichte und der aktuellen sozialen Lage in psychosoziale
Krisen münden. Eine erfolgreiche Bewältigung einer Krise ist auch
davon abhängig, wie ausgeprägt die Fähigkeiten zur Selbsthilfe sind
und inwieweit soziale Unterstützung aus dem persönlichen Umfeld
geleistet wird. Es ist wichtig, diese Möglichkeiten der Selbst- und
Laienhilfe immer wieder neu zu entdecken, zu aktivieren und zu
erweitern.
Unter den Quellen sozialer Unterstützung für die gesunde
Bewältigung von psychosozialen Konflikten und Krisen ist die
vertraute Zweierbeziehung mit einer bedeutsamen Bezugsperson
(Dyade) von besonderer Bedeutung. Sie wird ergänzt durch
Familienangehörige, Freunde, Nachbarn und Bekannte, die das
primäre Netzwerk sozialer Unterstützung bilden. Es zeichnet sich aus
durch eine mehr oder minder große Vielfalt persönlicher
Beziehungen. Diese werden mal enger, mal unverbindlicher gestaltet.
Ein funktionierendes primäres Netzwerk wirkt in einem gewissen
Grade ausgleichend, wenn eine vertraute Zweisamkeit entweder fehlt
oder im Konfliktfall selbst Gegenstand der krisenhaften Entwicklung
ist. Das sekundäre oder institutionelle Netzwerk umfasst die
Organisationen der Gesellschaft, in denen die betreffende Person
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
mitwirkt. Dabei kann es sich um den Ausbildungs- oder Arbeitsplatz
handeln, um Mitgliedschaften in Vereinen und Verbänden, um
Kultureinrichtungen oder Kirchengemeinden. Je geringer diese
Netzwerke ausgeprägt sind und je schneller sie reißen, desto eher
wird der Einsatz von Fachleuten aus dem Netzwerk professioneller
Hilfen zur Überwindung einer Krise benötigt und desto intensiver
müssen diese sein (Abbildung: Das Netzwerk sozialer Unterstützung
und professioneller Hilfen).
Abbildung 11: Das Netzwerk sozialer Unterstützung und professioneller Hilfen
In den letzten Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine vielfältige
Selbsthilfe-Szene mit zahlreichen Gruppen für verschiedenste
psychosoziale und gesundheitliche Problemlagen entwickelt. Den
besten Überblick haben auf Bundesebene die Nationale Kontakt- und
Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von
Selbsthilfegruppen (NAKOS) sowie die kommunalen Informationsund Beratungsstellen (KIBIS) bzw. Kontakt- und Informationsstellen
(KISS) im Selbsthilfebereich. Im Einzelfall sind diese auch bei der
Vermittlung einer geeigneten Selbsthilfegruppe behilflich. Außerdem
existieren zu vielen Krankheitsbildern – auch zu Süchten,
Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen – SelbsthilfeVereine zur Bündelung der Aktivitäten und Interessenvertretung auf
kommunaler, Landes- und Bundesebene. Die Vereine gründen oder
unterstützen Selbsthilfegruppen vor Ort, schulen und beraten
Mitglieder in Leitungs- bzw. Moderationsfunktionen, engagieren sich
in der Öffentlichkeit und in Gremien für die Selbsthilfe-
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
99
Grundlagen
Freundlichkeit des professionellen Hilfesystems. Sie beruhen zumeist
auf ehrenamtlichen Aktivitäten, sie werden nur zum Teil und dann in
der Regel unzulänglich von der öffentlichen Hand bzw. den
Krankenkassen finanziell gefördert.
Für die Selbsthilfe in der Psychiatrie haben noch zwei spezielle
Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten eine besondere Bedeutung:
Ausgehend von der Universität Hamburg haben sich vielerorts
sogenannte trialogische Psychose-Seminare gebildet, in denen
Betroffene, Angehörige und Fachleute außerhalb eines
therapeutischen Kontextes ihre Erfahrungen austauschen. Und eine
ursprünglich vom EU-Sozialfonds geförderte und speziell für
Psychiatrie-Erfahrene entwickelte einjährige Ausbildung Experienced
Involvement (EX-IN) vermittelt Kompetenzen für
Genesungsbegleitung und Peer-to-Peer-Beratung. Eine Verknüpfung
von Selbsthilfe und Versorgungssystem stellt die Ergänzende
Unabhängige Teilhabe-Beratung (EUTB) nach § 32 SGB IX dar, die mit
dem BTHG eingeführt wurde und Peer-Beratung anbietet.
Überblick zum Versorgungssystem für psychisch
erkrankte Menschen
Deutschland verfügt über ein vergleichsweise hoch entwickeltes und
umfangreiches Versorgungssystem für psychisch erkrankte
Menschen, das durch Differenzierung, jedoch auch Fragmentierung
und regionale Ungleichmäßigkeit gekennzeichnet ist. Differenziert ist
es aufgrund starker Spezialisierung der Hilfsangebote, fragmentiert
mangels Koordination der zahlreichen Kostenträger und
Leistungserbringer, regional ungleichmäßig wegen des weitgehenden
Verzichts auf psychiatriepolitische Steuerung. Trotz des erheblichen
Einsatzes an Ressourcen werden viele Menschen mit zum Teil
schwerwiegenden psychischen Erkrankungen, darunter häufig
Suchterkrankungen, von den Angeboten dieses Versorgungssystems
nicht erreicht. Das gilt insbesondere für Menschen, die von Arbeitsund Wohnungslosigkeit betroffen sind oder in anderen Institutionen
100
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
betreut werden, z.B. in Justizvollzugsanstalten, somatischen Kliniken,
Alten- und Pflegeheimen.
Neben der Selbsthilfe und sozialen Unterstützung im Lebensumfeld
der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen sind im Vorfeld
der psychiatrischen Versorgung allgemeine medizinische und soziale
Hilfsangebote häufig erste Anlaufstellen.
Dazu zählen:
die Hausarztpraxen der kassenärztlichen Versorgung
verschiedenste psychosoziale Beratungsangebote durch
kommunale Sozialdienste, Familien- und ErziehungsBeratungsstellen (FEB)
allgemeine Sozial- und Lebensberatungsstellen
spezialisierte Beratungsstellen, z.B. für Schuldner und Menschen
mit Suchtproblemen.
Die Hausarztmedizin und der kommunale Sozialdienst (wo er noch
existiert) werden notfalls sofort und ggf. auch aufsuchend tätig. Die
anderen Beratungsangebote beschränken sich meist auf eine „KommStruktur" und führen oft Wartelisten, was ihre Nutzbarkeit in akuten
psychosozialen Krisen und bei unzureichendem Hilfesuchverhalten
der Betroffenen einschränkt.
Das Versorgungssystem lässt sich für einen ersten Überblick gliedern
in ambulante, teil- und vollstationäre Hilfsangebote in den Bereichen
medizinische Behandlung und Rehabilitation sowie Leistungen zur
Teilhabe und zur Pflege. Für die medizinische Behandlung (SGB V) in
Krankenhäusern gibt es Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie
sowie für Erwachsenenpsychiatrie. Diese wiederum haben häufig
spezielle Abteilungen für Gerontopsychiatrie, Suchterkrankungen
und Psychosomatische Medizin. Für die medizinische Rehabilitation
(SGB VI) existieren in Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern,
ungewöhnlich viele Betten in Kliniken für Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie sowie für Suchterkrankungen. Die Kliniken des
Maßregelvollzugs für psychisch kranke Straftäter werden von den
Justizministerien der Bundesländer finanziert. Die Leistungen zur
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Grundlagen
Teilhabe umfassen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie
solche zur sozialen Teilhabe, also zu Wohnen, Selbstversorgung,
Kontaktfindung und Tagesgestaltung. Außerdem gibt es noch
spezielle Leistungen zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen
und Familien sowie spezielle Leistungen der Suchthilfe (Gühne and
Riedel-Heller 2019). Die Einrichtungen der Leistungserbringer
können sich in öffentlicher, privater oder freigemeinnütziger
Trägerschaft befinden, die Zuständigkeiten der Leistungsträger regelt
das Sozialgesetzbuch (SGB).
Abbildung 12: Netzwerk professioneller Hilfen für psychisch erkrankte Menschen
Ein besonders Problem ist die ambulante psychosoziale
Krisenintervention und psychiatrische Notfallhilfe, für die rund um
die Uhr ein interdisziplinäres Team mit der Fähigkeit zu sofortiger
aufsuchender und nachgehender Hilfe bereitstehen muss. Dies ist
allerdings bisher nur in wenigen Kommunen realisiert. Allerdings
lässt sich nur mit einem solch niedrigschwelligen Angebot, das für
ein umschriebenes Gebiet zuständig und mit allen dort aktiven
Systempartnern gut vernetzt ist, der Einsatz von Zwang und Gewalt
in der Psychiatrie auf ein Minimum reduzieren. So ein
Kriseninterventionsdienst (KID) betrifft medizinische Behandlung
und komplementäre Versorgung, er müsste gemeinsam von den vor
Ort tätigen Leistungserbringern organisiert und den verschiedenen
102
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Leistungsträgern finanziert werden. Im Rahmen ihrer Verantwortung
für die Daseinsfürsorge psychisch beeinträchtigter Bürgerinnen und
Bürger sind dabei auch die kommunalen Gebietskörperschaften mit
ihrem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Pflicht.
Medizinische Behandlung und Rehabilitation
Leistungsträger der medizinischen Behandlung (SGB V) ist die
Krankenversicherung, die neben der Rentenversicherung (SGB VI)
auch für die medizinische Rehabilitation zuständig ist. Die ambulante
psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung im Rahmen der
Kassenärztlichen Versorgung (KV) führen entsprechend qualifizierte
Fachleute meist in einer freiberuflichen Einzel- oder Gruppenpraxis
durch. Daneben haben sich aufgrund entsprechender gesetzlicher
Regelungen inzwischen viele sogenannte Medizinische
Versorgungszentren (MVZ) etabliert, in denen Angehörige von
mindestens zwei Fachgebieten im Angestelltenverhältnis tätig sind.
Träger eines MVZ können die dort tätigen Fachleute sein, aber auch
die KV, eine Klinik oder eine Kommune. Zur Unterstützung der
Behandlung können unter bestimmten Bedingungen auch Leistungen
der Behandlungspflege und der Soziotherapie eingesetzt werden.
Zwei Probleme schränken die Wirksamkeit all dieser Hilfsangebote
im Rahmen des KV-Systems ein und sind ein Grund für die
verbreitete Über-, Unter- und Fehlversorgung in der Psychiatrie: Sie
sind erstens regional ungleichmäßig verteilt und vor allem in großen
Städten anzutreffen, und sie können zweitens meist nur über eine
Terminvergabe mit langer Wartezeit in Anspruch genommen werden.
Für spezialfachärztlich ambulante Behandlungen gibt es einige
Sonderformen: Ausgewiesene Fachleute, wie z.B. die ärztliche Leitung
einer psychiatrischen Klinik, können von der KV eine zeitlich
befristete persönliche Ermächtigung zur ambulanten Behandlung
ansonsten unterversorgter Patientengruppen erhalten. Die meisten
psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen
Kliniken betreiben multidisziplinär besetzte Institutsambulanzen für
Patientinnen und Patienten, die vom KV-Regelsystem nicht erreicht
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
103
Grundlagen
bzw. nicht ausreichend behandelt werden können. Sozialpädiatrische
Zentren (SPZ) und Medizinische Zentren für Erwachsene mit
Behinderungen (MZEB) können bei entsprechender Spezialisierung
unter Umständen auch psychisch erkrankte Minderjährige, bzw.
Erwachsene mit Behinderungen ambulant versorgen. Viele
Fachstellen für Sucht und Suchtprävention bieten im Rahmen eines
erweiterten Leistungsspektrums auch ambulante Rehabilitation im
Auftrag der RV an.
Eine psychiatrische oder psychotherapeutisch-psychosomatische
Klinik kann als Abteilung am Allgemeinkrankenhaus oder als
Sonderkrankenhaus betrieben werden. Die meisten psychiatrischen
Kliniken haben einen Versorgungsauftrag des Landes für die
Unterbringung psychisch erkrankter Menschen nach den
entsprechenden Landesgesetzen. Die organisatorische Gliederung
einer Klinik ist sehr unterschiedlich, abhängig von der Bettenzahl,
der Größe des Einzugsgebietes und den Vorlieben ihrer
Geschäftsführung, bzw. ihrer ärztlichen Leitung. Kleinere
Abteilungen am Allgemeinkrankenhaus verfolgen für ihre Stationen
eher das Prinzip der „Durchmischung", große Sonderkrankenhäuser
gehen oft den Weg der „Spezialisierung" mit besonderen Stationen
für die verschiedensten Krankheitsbilder. Diese Wahl betrifft auch
Tageskliniken und Institutsambulanzen, die bei größeren
Einzugsgebieten zwecks besserer Erreichbarkeit auch außerhalb des
Klinikgeländes dezentral lokalisiert sein sollten. Mit der Einführung
der sogenannten stationsäquivalenten Behandlung (StäB) können
psychiatrische Kliniken seit 2018 unter bestimmten Voraussetzungen
stationär behandlungsbedürftige Patientinnen und Patienten auch
aufsuchend im gewohnten Lebensumfeld behandeln (Home
Treatment).
Eine medizinische Rehabilitation für psychisch kranke Menschen ist
z.B. durch die RPK Richtlinien vorgesehen. Die entsprechenden
Einrichtungen zur kombinierten medizinischen und beruflichen
Rehabilitation wurden jedoch nur an relativ wenigen Standorten
eingerichtet. Inzwischen wird das Konzept der “virtuellen RPK”
104
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
favorisiert, d.h. die Funktionen sollen, ohne eine neue eigenständige
Organisation zu schaffen, in bestehenden Angeboten durchlaufen
werden. Auch dies erfolgt nur sehr zögerlich. An einigen Orten gibt es
die schon vor Erlass dieser Richtlinie entstandenen
Übergangseinrichtungen für psychisch kranke Menschen (sogenannte
Übergangsheime), wo vollstationäre medizinische Rehabilitation für
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, in der Regel im
Auftrag der DRV oder ggf. des Eingliederungs-Hilfeträgers,
durchgeführt wird. Angebote der wohnortnahen ganztägig
ambulanten medizinischen Rehabilitation gibt es nur in einigen
Bundesländern, obwohl es im Hinblick auf die Vorgaben der UN-BRK
zu Habilitations- und Rehabilitationsdiensten die am besten geeignete
Maßnahme wäre.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Die Teilhabe am Arbeitsleben hat in unserer Leistungsgesellschaft
eine hohe Bedeutung für die subjektive Sinngebung, den sozialen
Status und die gesellschaftliche Integration. Das gilt auch für
psychisch erkrankte Menschen. Entsprechend der Forderungen der
UN-BRK nach Inklusion aller Menschen mit Behinderungen müssen
die rehabilitativen Bemühungen eine Beschäftigung auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt anzielen. Wenn sie in ihrer beruflichen
Leistungsfähigkeit vorübergehend oder längerfristig eingeschränkt
sind, wollen und können sie doch in den meisten Fällen mit
entsprechender Förderung gesellschaftlich nützliche Arbeiten
verrichten. Doch gerade in diesem Bereich fehlen für sie trotz großer
Vielfalt an Instrumenten weithin geeignete Angebote, die ein auf
individuelle Belastbarkeit und inhaltliche Interessen ausgerichtetes
wohnortnahes Training ermöglichen. Die diesbezüglichen
Ausgangslagen psychisch erkrankter Menschen sind ebenso vielfältig
wie die im Einzelfall eventuell geeigneten Instrumente, ihnen eine
Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen (Abbildung 10).
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
105
Grundlagen
Abbildung 13: Vielfalt der Ausgangslagen psychisch erkrankter Menschen
Schwerpunkt der Beschäftigungsangebote für Menschen mit
schwereren psychischen Beeinträchtigungen ist immer noch der
„besondere" Arbeitsmarkt, vor allem in Werkstätten für behinderte
Menschen (WfbM). Deutlich geringer und über Deutschland sehr
ungleich verteilt sind die Trainingsplätze in Einrichtungen zur
beruflichen Rehabilitation psychisch Kranker (RPK). Offiziell dienen
RPK-Einrichtungen und WfbM der Vorbereitung auf den ersten
(allgemeinen) Arbeitsmarkt (first train, then place). In vielen
Untersuchungen hat sich jedoch die bisher wenig geförderte
Unterstützte Beschäftigung (supported employment) auf einem
Arbeitsplatz des ersten Arbeitsmarktes als wirksamer erwiesen (first
place, then train). Die Arbeit dort sollte mit der betroffenen Person
nach ihren Interessen und ihrer Belastungsfähigkeit ausgewählt und
bei Bedarf auch längerfristig durch eine Arbeitsassistenz (Jobcoach)
begleitet werden.
106
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Als erwerbsfähig auf dem ersten Arbeitsmarkt gilt, wer dort
mindestens drei Stunden pro Tag belastbar ist. Wer erwerbstätig ist,
kann bei Bedarf eine Arbeitsassistenz durch den
Integrationsfachdienst (IFD) für Schwerbehinderte im Arbeitsleben in
Anspruch nehmen. Eine andere Möglichkeit nach SGB IX (Teil 3) ist
die Beschäftigung in einer sogenannten Inklusionsfirma, die eine
Förderung erhält, wenn sie mindestens 25% schwerbehinderte
Personen beschäftigt. Für Arbeitssuchende auf dem ersten
Arbeitsmarkt offeriert die Agentur für Arbeit (SGB III), bzw. das
Jobcenter (SGB II) verschiedene Fördermaßnahmen zur Aus- und
Weiterbildung, Arbeitsaufnahme und Überwindung von
Vermittlungshemmnissen. Spezielle Programme gibt es für Menschen
unter 25 Jahren und Langzeitarbeitslose, für Menschen mit
Behinderungen und zur Beschäftigung von geflüchteten Menschen.
Auch Möglichkeiten für einen Zuverdienst gibt es auf dem ersten
Arbeitsmarkt.
Unterhalb des Belastungsniveaus für den ersten Arbeitsmarkt stellt
sich die Frage, ob die betroffene Person in der Lage ist, mindestens
vier Stunden pro Tag eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung
zu erbringen. Ist das der Fall, sind nach dem BTHG (SGB IX, Teil 2)
Rehabilitationsleistungen in einer WfbM möglich. Mancherorts gibt
es die WfbM als virtuelle Variante ohne eigene Produktionsstätte mit
betreuten Arbeitsplätzen in Firmen des ersten Arbeitsmarktes. Eine
weitere, von Menschen mit einer seelischen Behinderung jedoch
recht selten genutzte Möglichkeit, ist das Budget für Arbeit. Damit
kann die leistungsberechtigte Person mit dem Geld für ihren WfbMArbeitsplatz zu einem anderen Leistungsanbieter oder einer Firma
des ersten Arbeitsmarktes wechseln, wo sie dann beschäftigt und
betreut wird. Liegt die wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung
unter vier Stunden pro Tag, ist immer noch ein Zuverdienst möglich –
auch auf dem besonderen Arbeitsmarkt, z.B. auch in einer Tagesstätte
für Menschen mit einer seelischen Behinderung.
Besondere Maßnahmen sind erforderlich, wenn die Fragen zur
Erwerbsfähigkeit, bzw. zur wirtschaftlich verwertbaren
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
107
Grundlagen
Arbeitsleistung noch nicht eindeutig zu beantworten sind und es erst
einmal um Abklärung, Stabilisierung, Belastungserprobung und
Arbeitstraining geht. Das niedrigste Einstiegsniveau bietet die
Arbeitstherapie auf Heilmittelverordnung in einer ambulanten
Ergotherapie-Praxis oder in speziellen Arbeitstherapie-Gruppen
während einer ambulanten, teil- und vollstationären Behandlung in
einer Klinik (SGB V). Eine nächste Stufe auf diesem Weg können RPKEinrichtungen sein, die ambulante und/oder stationäre medizinische
(SGB V) und berufliche (SGB VI) Rehabilitation für einen begrenzten
Zeitraum integriert anbieten. Mit dem seitens der Leistungsträger
geforderten immer höheren Anteil erfolgreicher Vermittlungen auf
dem ersten Arbeitsmarkt erhöhen sich für die betroffenen Menschen
allerdings die Barrieren vor der Inanspruchnahme einer RPKMaßnahme. Weitere Spezialeinrichtungen zur beruflichen
Rehabilitation mit noch anspruchsvolleren Zugangsvoraussetzungen
sind Berufliche Trainingszentren (BTZ), Berufsförderungswerke
(BFW) und Berufsbildungswerke (BBW).
Leistungen zur sozialen Teilhabe und zur Pflege
Die gesetzlichen Grundlagen für Leistungen zur sozialen Teilhabe
wurden in Westdeutschland durch das 1962 verabschiedete
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Form von steuerfinanzierten
Eingliederungshilfen (EGH) geschaffen. Das BSHG wurde 2005 vom
SGB XII abgelöst Mit dem 2017 in Kraft getretenen
Bundesteilhabegesetz (BTHG) sind ab 2020 alle Regelungen zur EGH,
die nun auch eine Form der Rehabilitation ist, Bestandteil des SGB IX
(Teil 2). Mit dem BTHG reagiert der Gesetzgeber auf die Forderungen
der UN-BRK und übernimmt deren Behindertenbegriff: Die Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen wird nicht nur durch individuelle
körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigungen
eingeschränkt, sondern auch durch einstellungsbedingte und/ oder
umweltbedingte Barrieren. Menschen mit Behinderungen sind durch
Maßnahmen zur Rehabilitation in die Lage zu versetzen, ein
Höchstmaß an Unabhängigkeit und Fähigkeiten sowie die volle
Einbeziehung und Teilhabe bezogen auf alle Aspekte des Lebens zu
108
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
erlangen. Die Umsetzung des BTHG erfolgt zwischen 2017 und 2023 in
vier Reformstufen und beinhaltet zahlreiche Veränderungen, deren
Folgen für die Erbringung von EGH-Leistungen und ihre
Finanzierung vielfach noch nicht absehbar sind.
Bei der EGH für Menschen mit seelischen Behinderungen
(einschließlich Suchterkrankungen) gibt es im Hinblick auf Art und
Umfang der Angebote sowie Planung und Finanzierung der
Leistungen zwischen Kommunen und Bundesländern teilweise große
Unterschiede. Bei den Hilfen zum Wohnen wird grundsätzlich
unterschieden zwischen stationärer Betreuung im Heim (jetzt
„besondere Wohnform" genannt), ambulant betreutem Wohnen und
als Sonderform Wohnen in Gastfamilien (Abbildung 11). Die Anzahl
der Leistungsberechtigten pro 1.000 Einwohner/innen. im EGHBereich Wohnen lag bei den 23 Trägern der überörtlichen Sozialhilfe
2017, bezogen auf alle drei Behinderungsarten (geistig, seelisch,
körperlich), zwischen 3,1 und 7,7 (Bundesarbeitsgemeinschaft der
überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) 2017). Menschen mit
seelischen Behinderungen werden vergleichsweise häufiger
ambulant betreut, der Ambulantisierungsgrad schwankt hier je nach
Einzugsgebiet des Sozialhilfeträgers zwischen 47% und 91%; bei den
anderen Behinderungsarten schwanken die Werte zwischen 11% und
49%.
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Grundlagen
Abbildung 14: Kennzeichen betreuter Wohnformen für psychisch kranke Menschen
(modifiziert nach DGPPN (2013) S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren
psychischen Erkrankungen)
Das ambulant betreute Wohnen (abW, BEWO, BEW) als EGH-Leistung,
auch „mobil unterstütztes Wohnen" genannt, zielt auf die
Stabilisierung des psychosozialen Zustands und Förderung der
Teilhabe am Leben der Gemeinschaft.
Die Leistungsinhalte beschränken sich nicht nur auf Wohnen und
Selbstversorgung, sondern umfassen auch die Bereiche
soziale Beziehungsgestaltung und kulturelle Teilhabe
Selbstbestimmung und Krankheitsverarbeitung
Gesundheitsförderung
Inanspruchnahme erforderlicher medizinischer Behandlung
Mobilität
administrative Hilfen und Fallkoordination
Hier wird es zukünftig bei der Gesamt-, bzw. Teilhabeplanung
verstärkt darum gehen, die Notwendigkeit fachlich qualifizierter
Leistungen der ambulanten Eingliederungshilfe gegenüber einer
Begleitung durch höchstens angelernte Assistenzkräfte zu
rechtfertigen.
Von einer abW-Maßnahme abzugrenzen sind Leistungen zur Pflege,
sei es als Hilfe zur Pflege nach SGB XI oder als Psychiatrische
Häusliche Krankenpflege (PHKP) nach SGB V, früher auch
110
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
„Ambulante Psychiatrische Pflege (APP)" genannt. Aufgrund einer
Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs werden psychische
Beeinträchtigungen inzwischen bei der Prüfung des Anspruchs auf
Pflegeleistungen ähnlich ernst genommen wie körperliche
Beeinträchtigungen. PHKP-Leistungen zielen auf die Vermeidung,
bzw. Verkürzung eines Krankenhausaufenthaltes und/oder die
Unterstützung einer ärztlichen Therapie, sie dauern in der Regel
wenige Wochen oder Monate. Dabei geht es vorrangig um die
Erarbeitung von Pflegeakzeptanz, die Durchführung von Maßnahmen
zur Krisenbewältigung und um kompensatorische Hilfen. Ambulante
oder stationäre Hilfen zur Pflege nach der Pflegeversicherung (SGB
XI) sind angebracht, wenn Art und Umfang der damit angezielten
psychischen Beeinträchtigungen das EGH-Ziel einer Verbesserung
sozialer Teilhabe unerreichbar machen. PHKP- und abW-Leistungen
können im Einzelfall aufeinander folgen oder sich ergänzen. Sie sind
selbstverständlich auch mit weiteren Leistungen kombinierbar, z.B.
mit Pflegeleistungen nach SGB XI, einer psychiatrischen und/oder
psychotherapeutischen Behandlung oder einer ambulanten
Soziotherapie nach SGB V.
Eine wesentliche vom BTHG geschaffene Veränderung ist die
Aufhebung der bisherigen Trennung zwischen ambulanten, teil- und
vollstationären Eingliederungshilfen. Bei stationärer Betreuung in
einem Wohnheim, das nun eine „besondere Wohnform" ist, werden
nun nur noch die Fachleistungen über die EGH finanziert. Die
hilfsbedürftige Person schließt mit dem Heimträger einen separaten
Vertrag über die Kosten der Unterkunft, die dann nach
Bedürftigkeitsprüfung ggf. von der Sozialhilfe übernommen werden.
Derzeit ist noch völlig unklar, wie man mit den zweifellos in vielen
Fällen nicht unerheblichen Kosten umgehen will, die weder als
Fachleistung noch als Zimmermiete gebucht werden können. Dazu
zählen u.a. zusätzliche Kosten des Leistungserbringers für
persönliche Hygiene und Ernährung der betreuten Person, für
Zimmerreinigung und Milieugestaltung, auch die häufiger
anfallenden Reparaturen und Instandsetzungsarbeiten nach
Sachbeschädigungen.
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111
Grundlagen
Die gemeindepsychiatrischen Angebote zur Tagesgestaltung,
Kontaktfindung und kulturellen Teilhabe sind unterschiedlich
organisiert und richten sich meistens an Menschen mit chronisch
und schwer verlaufenden psychischen Erkrankungen. Die EGH
finanziert neben den ambulanten und stationären Hilfen zum
Wohnen auch teilstationäre Hilfen, nicht nur in einer WfbM, sondern
auch in Tagesförderstätten. Das ist unabhängig von der Art der
Behinderung dann der Fall, wenn bei der betroffenen Person ein
außerordentlicher Pflegebedarf besteht und ein Mindestmaß an
wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht erbracht werden
kann. Für Menschen mit einer seelischen Behinderung gibt es neben
der heiminternen Tagesstruktur bei stationärer Wohnbetreuung auch
für eigenständig lebende hilfsbedürftige Personen spezielle
Tagesstätten, die der Tagesstrukturierung und Kontaktfindung
dienen, ggf. auch Möglichkeiten zum Zuverdienst bieten. Daneben
gibt es eine Vielzahl verschiedener ambulanter psychosozialer
Kontakt- und Beratungsstellen (PSKB), die niedrigschwellig, spontan
und in der Regel auch anonym aufgesucht werden können. Sie
stützen sich oft auf ehrenamtliches Engagement und erhalten
zusätzlich eine finanzielle Förderung durch freiwillige Leistungen
der Kommune oder des Bundeslandes. PSKB werden von
gemeinnützigen Vereinen betrieben, sie sind überwiegend an eine
Tagesstätte oder den Sozialpsychiatrischen Dienst angegliedert.
Kommunales Qualitätsmanagement in der
Gemeindepsychiatrie
Psychiatrische Epidemiologie und regionale PsychiatrieBerichterstattung
Psychische Erkrankungen haben eine hohe sozialmedizinische
Relevanz. Aktuelle Zahlen zur Verbreitung psychischer Erkrankungen
in Deutschland zeigen bei Einschluss aller Schweregrade, dass pro
Jahr zumindest zeitweilig 22,0% der männlichen und 33,3% der
weiblichen Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren unter einer voll
ausgeprägten psychischen Störung leiden (Gühne et al. 2015b).
112
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Die Gesamtprävalenz für diese Altersgruppe liegt bei 28%,
häufige Diagnosen sind
Angststörungen (15,3%)
depressive Störungen (7,7%)
Störungen durch Alkohol- und Medikamentenkonsum (5,7%)
Zwangsstörungen (3,6%)
somatoformen Störungen (3,5%).
Bevölkerungsbezogen vergleichsweise selten sind posttraumatische
Belastungsstörungen (2,3%), psychotische (2,8%) und bipolare (1,5%)
Störungen sowie Essstörungen (0,9%).
Fast die Hälfte aller psychischen Erkrankungen beginnt bereits in der
Pubertät. Rund 22% der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren
sind von psychischen Störungen und Verhaltensproblemen betroffen,
6% sind behandlungsbedürftig psychisch krank und erfüllen die
Diagnosekriterien (KiGGS-Basiserhebung 2003-2006). In der
Altenbevölkerung dominieren neben depressiven Störungen die
Demenzerkrankungen, deren Prävalenzraten mit zunehmendem
Alter exponentiell ansteigen; jeder zweite Pflegeheimbewohner leidet
an einer Demenz (Riedel-Heller, Luppa, and Angermeyer 2004).
Eine besondere Rolle für die Versorgungsplanung spielen Menschen
mit schweren chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen
(Severe mental illness; SMI), die etwa 1-2% der Gesamtbevölkerung
ausmachen (Gühne et al. 2015a). Sie weisen in verschiedenen Lebensund Funktionsbereichen deutliche Einschränkungen auf und
benötigen infolge ihres komplexen Hilfebedarfs intensive
psychiatrisch-psychotherapeutische und psychosoziale Hilfen. Die
Häufigkeit dieser Problemlagen nimmt mit der Siedlungsdichte der
Kommune und der Arbeitslosigkeit der in ihr wohnenden
Bevölkerung zu. Von SMI betroffenen Menschen weisen eine deutlich
häufigere somatische Komorbidität auf. Die Sterblichkeitsrate für
psychotische Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen,
bipolare und schwere unipolare Depressionen ist ebenfalls erhöht,
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113
Grundlagen
der Lebenszeitverlust beträgt je nach Alter, Geschlecht und
Erkrankung 2,6 bis 12,3 Jahren (Schneider et al. 2019).
Die Gesundheitsberichterstattung stellt einen Teilbereich der
Öffentlichen Gesundheit (public health) dar und ist in den jeweiligen
Gesundheitsdienstgesetzen der Länder geregelt. Die regelmäßige
Erhebung und Auswertung von Daten zum regionalen Angebot von
Hilfen für psychisch Kranke und ihrem Bedarf liefern wertvolle
Erkenntnisse für die Koordination und Planung der Versorgung der
Bevölkerung; der Sozialpsychiatrische Dienst spielt hierbei eine
wichtige Rolle (siehe Kernaufgabe 4). Vulnerable, besonders
gefährdete Gruppen mit höherer Krankheitslast können durch
kleinräumige Analysen besser identifiziert werden, sodass Prävention
und Gesundheitsförderung gezielt geplant werden können. Daneben
werden im Rahmen ordnungsbehördlicher und hoheitlicher
Funktionen Sozialpsychiatrischer Dienste ebenfalls relevante Daten
erhoben und den oberen, bzw. mittleren Gesundheitsbehörden zur
Verfügung gestellt; Regelungen hierzu finden sich in den jeweiligen
PsychKG der Länder.
Planung und Qualitätsentwicklung der Versorgung
Jede Planung ist an Zielen ausgerichtet und beinhaltet Maßnahmen
zur Zielerreichung. Grundlegendes Ziel der Psychiatrieplanung ist
eine individuell bedarfsgerechte, ethisch-fachlichen Standards
entsprechende Hilfeleistung überall da, wo sie benötigt wird (Elgeti
2019). Dazu muss der sogenannte Zirkelprozess der
Qualitätsentwicklung am Laufen gehalten werden. Eine konzeptionell
fundierte Planung von Maßnahmen (policy adjustment) setzt eine
kritische Situationsanalyse (assessment) voraus und bleibt wertlos,
wenn sie nicht mit Hilfe von Zielvereinbarungen zur Umsetzung
(administration) gebracht wird. Nur eine aussagefähige
Dokumentation und Berichterstattung über den tatsächlichen Verlauf
der geplanten Maßnahmen ermöglicht eine Ergebnismessung
(evaluation), die dann im Rahmen eines Soll-Ist-Vergleichs zu
bewerten ist und in eine neue Situationsanalyse mündet. Dieser
114
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
PDCA-Zirkelprozess (Plan-Do-Check-Act) hat viele Varianten und lässt
sich für die individuelle, institutionelle, regionale und politische
Planungsebene konkretisieren (Abbildung 12: Qualitätsentwicklung:
Zirkelprozess auf verschiedenen Ebenen).
Abbildung 15: Qualitätsentwicklung: Zirkelprozess auf verschiedenen Ebenen
Für die regionale Steuerung der Versorgung müssen die
Gebietskörperschaften Verantwortung übernehmen, ggf. in
interkommunaler Zusammenarbeit benachbarter Kommunen, wenn
eine allein dafür zu klein ist. Das Land muss ihnen die hierzu
notwendigen Kompetenzen verschaffen und einen
landeseinheitlichen Rahmen vorgeben. Kommunale
Psychiatrieplanung ist genauso wie andere Fachplanungen auf eine
übergreifende Sozialplanung zu beziehen, wenn die psychiatrische
Versorgung nicht in einem stationären oder ambulanten Ghetto,
sondern als Teil einer inklusiven sozialen Infrastruktur funktionieren
soll (Elgeti 2015).
Eine recht verstandene kommunale Psychiatrie baut sich kein
abgeschlossenes eigenes Versorgungssystem, sondern bringt ihre
spezifische ethisch-fachliche Expertise in den verschiedenen
Handlungsfeldern kommunaler Daseinsfürsorge mit ein. Die dabei
vorrangigen Handlungsfelder lassen sich z.B. so gruppieren:
Lebensphasen mit besonderem Förder- und
Unterstützungsbedarf: Kinder und ihre Eltern stärken,
Jugendliche und junge Erwachsene bei der Verselbständigung
unterstützen, Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter sichern;
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Grundlagen
Kernbereiche gesellschaftlichen Lebens: Teilhabe durch Arbeit
und Beschäftigung ermöglichen, bedarfsgerechtes und
bezahlbares Wohnen fördern;
Grundformen sozialer Ungleichheit: Inklusion von Menschen mit
Behinderung fördern, Menschen mit Migrationserfahrung
integrieren, Armutsfolgen mildern.
Eine integrierte Fach- und übergreifende Sozialplanung der
Kommune unterstützt die Koordination und Steuerung solcher
Handlungsfelder im Rahmen eines sinnvoll abgestuften Hilfesystems
(stepped care). Es sollte eine klare Abgrenzung geben zwischen der
Selbst- und Laienhilfe der Bürgergesellschaft, den Anlaufstellen der
„Generalisten“ (Hausarztmedizin und psychosoziale Beratungsstellen,
ambulante Pflege und kommunale Sozialarbeit) und den Angeboten
der psychiatrischen „Spezialisten“. Dabei geht es nicht nur um die
Entwicklung und regelmäßige Fortschreibung von Konzepten und
Plänen. Genauso wichtig sind ein handlungs- und
wirkungsorientiertes Berichtswesen zur Qualitätssicherung von
Hilfsangeboten sowie eine Vernetzung der Akteure und deren
Beteiligung an den Planungsprozessen. Die Netzwerkgremien sind
mitverantwortlich sowohl für den trialogisch zu gestaltenden
Diskurs, als auch für eine praktikable und aussagekräftige regionale
Psychiatrie-Berichterstattung.
Wesentlich für den Erfolg kommunaler Psychiatrieplanung ist die
Verknüpfung der Ebenen individueller, institutioneller und
regionaler Planung: Aus den kumulierten Erfahrungen bei der
Planung und Durchführung von Einzelfallhilfen (case management)
lassen sich wertvolle Erkenntnisse für die Versorgungsplanung in der
Region (care-management) gewinnen. Dabei geht es einerseits um die
Identifizierung von guten Beispielen (best practice) und Lücken im
Hilfesystem (unmet needs), andererseits aber auch um datengestützte
Vergleiche verschiedener Hilfsangebote innerhalb einer
Angebotsform und zwischen einzelnen Teilregionen (benchmarking).
Für alle, die den Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention auf
Inklusion ernst nehmen, ist Transparenz und Partizipation dabei
116
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
oberstes Gebot. Deshalb gehört es zu einer guten Planung in der
Psychiatrie, die beteiligten Akteure – einschließlich der SelbsthilfeOrganisationen – konsequent und in allen Phasen zu beteiligen, bei
der Situationsanalyse, Konzeptentwicklung und Planung, bei der
Umsetzung geplanter Maßnahmen und der Ergebnisprüfung.
Beschwerdemanagement / Qualitätsmanagement
Bislang steht eine bundesweite Evaluation des Tuns in der
Sozialpsychiatrie aus, allerdings gibt es auf Basis der Leitlinien der
psychiatrischen Fachgesellschaften, allgemeine Grundlagen, auf die
sich die handelnden Personen verständigen. Auf Landesebene sind in
einzelnen Gesetzen auch Evaluationen der Leistungen der SpDi
festgelegt - mit dem Ziel, auf Basis einer Bestandserhebung die
Weiterentwicklung in Bezug auf z.B. Zwangsmaßnahmen
voranzutreiben, jeweils auf einen Sozialraum bezogen. Auf
Amtsebene sollten eine Standardisierung des Formularwesens und
die Handlungs- und Beratungspfade selbstverständlich sein und
regelmäßig auditiert werden.
Allerdings müssen wir uns im psychiatrischen Handeln immer der
kritischen Betrachtung der Angehörigen, Betroffenen, der politischen
und allgemeinen Öffentlichkeit stellen. Als einziges medizinisches
Gebiet, das auch stark in die persönliche Freiheit der Bürger eingreift
und gegen den Willen der Menschen agieren kann, um medizinische
Ziele zu erreichen, ist kritische Reflexion im Dialog mit der
Öffentlichkeit notwendig. Strukturell können unabhängige
Beschwerdestellen Psychiatrie wirksam sein, wie sie schon in den
meisten Bundesländern vorgehalten werden. Ein Gremium aus
Professionellen, Betroffenen und Angehörigen befasst sich
institutionsungebunden mit persönlich, auch anonym formulierten
Beschwerden gegen psychiatrisches Handeln. Die Beschwerdestellen
können als neutrale Partner vermitteln und neben den allgemein
wirksamen Patientenfürsprechern spezifischer tätig sein.
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Grundlagen der
praktischen Arbeit
Grundlagen der praktischen Arbeit
Der sozialpsychiatrische Dienst ist in der Bevölkerung relativ wenig
bekannt und führt auch in Fachkreisen ein Schattendasein. Er ist aus
den Reformbemühungen der ehemaligen Bundesrepublik
Deutschland (BRD) entstanden, insbesondere in den Empfehlungen
der Expertenkommission 1988. In der Deutschen Demokratischen
Republik (DDR) hingegen gab es vor der Wende die sogenannten
nervenärztlichen Beratungsstellen als vergleichbare Einrichtung in
der ambulanten Versorgung. Zielgruppe der SpDis sind insbesondere
die Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung (noch) nicht in der
Lage sind, die Angebote des regulären Versorgungssystems
wahrzunehmen. Damit werden die SpDi´s zur “letzten Wiese” der
psychiatrischen Versorgung.
Aufgabenspektrum
Das Aufgabenspektrum der SpDi beinhaltet nach den Empfehlungen
der Expertenkommission der Bundesregierung (1988) zur Reform der
Versorgung im psychiatrischen, psychotherapeutischpsychosomatischen Bereiche zufolge (Wikipedia 2020):
1. Beratung:von Hilfesuchenden, Angehörigen und Personen des
sozialen Umfeldes einschließlich betreuender oder
behandelnder Institutionen
2. Medizinische und soziale Abklärung des Einzelfalls
zur fachgerechten Einleitung von Einzelhilfen
3. Vorsorgende Hilfen
mit dem Ziel, bei beginnender Erkrankung oder
Wiedererkrankung und bei sich anbahnenden
Konfliktsituationen zu gewährleisten, dass die Betroffenen
rechtzeitig ärztlich behandelt und im Zusammenwirken mit der
Behandlung geeignete betreuende Einrichtungen in Anspruch
genommen werden können
120
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
4. Nachgehende Hilfen
mit dem Ziel, den Personen, die aus stationärer psychiatrischer
Behandlung entlassen werden, durch individuelle Betreuung,
Beratung und Einleitung geeigneter Maßnahmen die
Wiedereingliederung in die Gemeinschaft zu erleichtern sowie
eine erneute Krankenhausaufnahme zu verhüten
5. Sprechstunden
Psychisch Kranke, Behinderte und andere Ratsuchende sollen
jederzeit – zumindest während der Dienststunden – Mitarbeiter
vorfinden, die in der Lage sind, weiterzuhelfen. Daher sind
Sprechstunden durchgängig einzurichten. Daneben können
Sprechstunden für einzelne Personen oder spezielle
Patientengruppen verabredet werden.
6. Aufsuchend-ambulante Tätigkeiten
Zur Durchführung vorsorgender und nachsorgender Hilfen, als
auch zur Krisenintervention oder für notfallpsychiatrische
Maßnahmen, sind Hausbesuche erforderlich, um die Situation
in der Wohnung und dem näheren sozialen Umfeld persönlich
kennenzulernen, ggf. auch, um unmittelbar eingreifen zu
können. Nicht wenige psychische Kranke und Behinderte lassen
sich überhaupt nur über den Besuch zuhause erreichen, in ein
Gespräch ziehen und etwa zur Inanspruchnahme eines
behandelnden Arztes oder betreuender Einrichtungen
motivieren.
7. Eingliederung oder Wiedereingliederung in das
Arbeitsleben
Viele psychisch Kranke und Behinderte bedürfen zur
Stabilisierung beruflich-rehabilitativer Hilfen z auch um sie
möglichst unabhängig von Sozialhilfe zu machen. SpDi müssen
daher, wenn entsprechende spezialisierte ambulante oder
psychosoziale Dienste fehlen, auf den Einzelfall bezogen mit der
Arbeitsverwaltung, den Werkstätten für Behinderte und den
Rentenversicherungsträgern zusammenarbeiten.
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Grundlagen der praktischen Arbeit
8. Notfallpsychiatrische Maßnahmen/Krisenintervention
Psychiatrische Notfälle und Zuspitzungen kritischer Situationen
vor Ort können prinzipiell zu allen Tages- und Nachtzeiten
auftreten.
9. Zusammenarbeit mit allen Diensten und Einrichtungen der
Versorgungsregion, die mit der Betreuung und Behandlung
psychisch gefährdeter, kranker und behinderter Menschen
befasst sind, insbesondere mit den regional zuständigen
psychiatrischen Krankenhauseinrichtungen.
10. Zusätzliche Hilfsangebote in Form von Gruppenangeboten
für einzelne Patienten, Gruppen und Angehörige, Initiierung
von Laienhelfer- und Angehörigengruppen,
Öffentlichkeitsarbeit, Institutionsberatung
Die Leistungen der sozialpsychiatrischen Dienste sind für den Bürger
kostenfrei, da dieser in der Regel am Gesundheitsamt in der
kommunalen Verwaltung angesiedelt ist. In Bayern, BadenWürttemberg und einzelnen Kommunen anderer Bundesländer sind
die Sozialpsychiatrischen Dienste bei Freien Trägern (z.B. Diakonie,
Caritas, AWO) angesiedelt. Aber auch hier entstehen keine Kosten für
Menschen, die ihn in Anspruch nehmen.
Durch die Einbindung in den Öffentlichen Gesundheitsdienst gibt es
auch Kontakte zu anderen Abteilungen des Gesundheitsamtes, wie
z.B. den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, Hygiene und
Umweltmedizin. Dies ist bei Fragen des Kinderschutzes oder der
hygienischen Lebensbedingungen von Vorteil.
In den meisten Gesundheitsämtern übernimmt der
sozialpsychiatrische Dienst auch Aufgaben, für die es in einigen
großen Gesundheitsämtern einen eigenen kinder- und
jugendpsychiatrischen Dienst gibt, soweit dies ohne entsprechendes
Fachpersonal möglich ist. In der Regel ist der sozialpsychiatrische
Dienst multiprofessionell t aus Ärzten, Sozialarbeitern, Psychologen
und Verwaltungsangestelltenzusammengesetz. Aber auch
Krankenpfleger, Ergotherapeuten und ähnliche Berufe können
vertreten sein. Bislang eher selten arbeiten sogenannte
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Der Sozialpsychiatrische Dienst
Genesungsbegleiter mit. Dabei handelt es sich um Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung, die eine gezielte Fortbildung mit einem
Zertifikat (experienced involvement EX-IN) durchlaufen haben.
Die personenbezogenen Leistungen des sozialpsychiatrischen
Dienstes unterscheiden sich in einigen Punkten grundlegend von den
Angeboten anderer Leistungserbringer im psychiatrischen Hilfe- und
Versorgungssystem:
Die Dienstleistungen des sozialpsychiatrischen Dienstes sind für
den Bürger kostenfrei
Sie erfolgen niedrigschwellig ohne Zugangsvoraussetzungen, auf
Wunsch auch anonym
Sie werden bei Bedarf aufsuchend erbracht
Das Umfeld betroffener Menschen kann mit einbezogen werden
Menschen aus dem Umfeld psychisch Kranker können Hilfen in
Anspruch nehmen, auch wenn die/der Betroffene dies nicht tut
Sie erfolgen häufig in aktiver Kontaktaufnahme nach Hinweisen
Dritter
Neben dem Angebot von Hilfen erfolgt auch eine Klärung von
Gefährdungspotentialen infolge psychischer Erkrankung und bei
Bedarf die Ergreifung geeigneter Maßnahmen zur
Gefahrenabwehr.
Der Erstkontakt kann nicht nur durch die Betroffenen
selbstveranlasst werden, oder durch ihre Angehörigen bzw.
rechtlichen Betreuer, Nachbarn, Freunde oder Kollegen, sondern
auch durch Arbeitgeber, Vermieter, Behörden (z.B. Polizei,
Allgemeiner Sozialer Dienst im Jugend- oder Sozialamt,
Arbeitsagentur, Ordnungsamt) oder medizinische Dienste (Hausarzt,
Krankenhaus).
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
123
Grundlagen der praktischen Arbeit
Abbildung 16: Ablauf des Erstkontaktes
Wie es dann weitergeht, hängt maßgeblich davon ab, ob eine
Beratung und im Weiteren ggf. Begleitung geboten ist oder ob es sich
um eine Krise mit entsprechend sofortigem Handlungsbedarf
handelt. Das entsprechende weitere Vorgehen ist in den beiden
folgenden Kapiteln dargestellt.
124
Version 1.0
Aufgaben der
Sozialpsychiatrischen
Dienste
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Die Aufgaben der SpDi sind:
Kernaufgabe 1: Beratung / Begleitung
Eine der wichtigsten Aufgaben Sozialpsychiatrischer Dienste ist die
niederschwellige Beratung und Begleitung. Sie richtet sich nicht nur
an Bürgerinnen und Bürger mit psychischen und sozialen Problemen,
sondern auch an ihre Angehörigen und ihr soziales Umfeld. So wird
diese Leistung beispielsweise auch von gesetzlichen Betreuern in
Anspruch genommen.
Kernaufgabe 1a - Niederschwellige Beratung
Sie kann telefonisch, in der Beratungsstelle oder aufsuchend
erfolgen. Hier geht es zunächst um eine kurzfristige Klärung der
Frage, ob einer Problematik eine psychiatrische Störung zugrunde
liegt. In diesem Fall ist eine diagnostische Einschätzung und eine
zeitnahe Beratung mit Klärung der oftmals komplexen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen und sozialen Nöte erforderlich.
Bei Hinweisen durch Dritte (z.B. Angehörige, Vermieter, Polizei u.a.)
erfolgt eine aktive Kontaktaufnahme zu dem/der Betroffenen in
geeigneter Form. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal des
sozialpsychiatrischen Dienstes. Anhand der Vorinformationen muss
eingeschätzt werden, welcher Zugangsweg am
erfolgversprechendsten erscheint. Dies kann eine schriftliche
Einladung zu einer Beratung, eine telefonische Kontaktaufnahme, ein
schriftlich angekündigter Hausbesuch oder auch ein
unangekündigter Hausbesuch sein. Der Hausbesuch bietet in der
Regel die Möglichkeit, die Lebensbedingungen und Umfeldressourcen
der/des Betroffenen unmittelbar zu erfassen. Damit wird eine die
Lebenswirklichkeit der/des Betroffenen einbeziehende Diagnostik
und Problemerfassung möglich, die dann zu bedarfsgerechten
Hilfsangeboten und Maßnahmen führt, wie es auch in der ICF
vorgesehen ist.
126
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Mitarbeiter des SpDi können zunächst durch Erklärung und
Erläuterung der bestehenden Erkrankung und deren
Behandlungsmöglichkeiten Verständnis und Perspektiven für die
eigene Situation und damit Entlastung herstellen. Auch eine
sozialrechtliche Beratung und gegebenenfalls kurzfristige
Unterstützung beim Umgang mit Behörden und/oder Institutionen
kann die aktuelle Problematik beseitigen oder zumindest Entlastung
schaffen, indem Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Ebenso
kann die Vermittlung bei konflikthaft zugespitzten Problemlagen
(Partnerschaftskonflikte, Nachbarschaftskonflikte, Konflikte mit
Vermietern etc.) hilfreich sein. Die Veranlassung medizinischer
Behandlungen (Hausarzt, Facharzt, Institutsambulanz etc.) ist ein
weiteres Element der direkten Hilfen im Rahmen der Beratung. Bei
Bedarf kann eine kurz- oder mittelfristige Weiterleitung in andere
Hilfesysteme erfolgen (siehe Grundlagen “Versorgungssystem”).
Wesentlicher Bestandteil des Beratungsangebots, insbesondere wenn
der Kontakt durch Dritte veranlasst wurde, ist es, eine Beziehung zu
der/dem Betroffenen aufzubauen. Die Intervention kann zu einer
ausreichenden Problemlösung führen oder mit der Weiterleitung in
andere Hilfestrukturen abgeschlossen werden. Wenn im Rahmen der
Beratung bei bestehender behandlungsbedürftiger, psychiatrischer
Erkrankung noch keine Krankheits- und Behandlungseinsicht
erreicht werden kann, bzw. dazu keine Bereitschaft erkennbar ist,
kann auf dieser Grundlage im Rahmen einer weiterführenden
niedrigschwelligen Begleitung an der Bereitschaft, Hilfen und/oder
Therapieangebote anzunehmen, gearbeitet werden. Auch sich
anbahnende Krisen können frühzeitig erkannt werden, und man
kann entsprechend darauf reagieren.
Kernaufgabe 1b - Niederschwellige Betreuung bzw.
Begleitung
Daneben gibt es Menschen mit schweren, chronisch verlaufenden
psychischen Störungen, bzw. Suchterkrankungen, die
krankheitsbedingt trotz entsprechender Notwendigkeit noch nicht
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
127
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
oder nicht mehr die hier eigentlich einzusetzenden Hilfsangebote in
Anspruch nehmen. Oft sind diese Menschen gar nicht in der Lage,
ihren Hilfebedarf wahrzunehmen, zu äußern oder gar einzufordern.
Auch hier ist eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, der Aufbau
einer von Akzeptanz getragenen Beziehung und daran anknüpfend
eine langfristig angelegte, niedrigschwellige multidisziplinäre
Begleitung, oft aufsuchend und nachgehend, Aufgabe des SpDi. Im
Rahmen dieser “Kontaktpflege” kann es sich handeln um
lebenspraktische Hilfen (z.B. Hilfe beim Ausfüllen eines
Antragsformulars),
kurzfristige Unterstützung in besonderen Lebenslagen (z.B.
Organisation von Unterstützung bei einem Umzug),
Ermöglichung akut erforderlicher medizinischer Behandlung
(z.B. Terminvereinbarung und erforderlichenfalls Begleitung zum
Haus- oder Facharzt),
frühzeitiges Erkennen und adäquates Reagieren auf
Verschlechterung des Zustands und/oder sich anbahnenden
Krisen
Darüber hinaus geht es auch darum, “Nischen” zu finden, in denen
die Betroffenen in ihrer “Andersartigkeit” leben können.
Ein langfristiges Ziel ist das Erarbeiten der Bereitschaft, Hilfen
anzunehmen und schließlich eine Krankheits- und
Behandlungseinsicht zu erreichen.
Beratung (K 1a) beschränkt sich gemäß den fachlichen Empfehlungen
von 2018 in der Regel auf höchstens fünf persönliche Kontakte in
einem Zeitraum von weniger als drei Monaten. Dauert die Hilfe
länger, liegt eine niederschwellige Betreuung (Kernaufgabe 1b) vor.
Wird bei Bekanntwerden des Problems aufgrund seiner Dringlichkeit
ein sofortiger (kein Absatz)Kontakt noch am selben Tag erforderlich,
ist von einer Krisenintervention Kernaufgabe 2 auszugehen.
128
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Leistungsbestandteile und Qualitätsstandards
Die folgenden Standards beschreiben einen Expertenkonsens des
Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste in Deutschland zur
aufgabengerechten Bearbeitung des nachfolgend genannten
Leistungsspektrums.
Allgemeine Standards
Zur Erfüllung der Kernaufgabe »niederschwellige Beratung und
Betreuung« gibt es eine offene Sprechstunde für mindestens vier
Stunden täglich an allen Werktagen. Grundsätzlich sollte eine
multiprofessionelle Beratung und Betreuung mit
sozialpädagogischem Fachpersonal im Vordergrund und ärztlichem
Fachpersonalim Hintergrund gewährleistet sein. Für die Dauer der
Hilfe im Einzelfall bleibt dieselbe primäre Bezugsperson zuständig.
Bei der Terminvergabe sollte dafür gesorgt sein, dass innerhalb von
fünf Werktagen ein erstes persönliches, mindestens halbstündiges
Beratungsgespräch erfolgen kann. Die Beratung bzw. Begleitung
erfolgt grundsätzlich in Form von persönlichen Kontakten
mindestens alle vier Wochen, bei Bedarf auch als aufsuchende Hilfe.
Bei einer mittel- oder längerfristigen Begleitung wird fortlaufend
überprüft, ob sie beendet oder die betroffene Person in ein
geeignetes, vorrangig zuständiges Hilfeangebot vermittelt werden
kann. Eine gelegentlich angezeigte, lose Begleitung mit nur
sporadischen Kontakten oder ausschließlich telefonischer bzw.
schriftlicher Kommunikation wird in Teamkonferenzen regelmäßig
auf ihren Sinn hinterfragt.
Kernaufgabe 1a - niederschwellige Beratung:
Die Beratung suchende Person bekommt sofort telefonisch oder
kurzfristig in einem persönlichen Gespräch die Gelegenheit, einer
Fachperson die Problemlage zu schildern. Bei Bedarf werden weitere
Termine ermöglicht, ggf. auch im Rahmen von Hausbesuchen. Die
betroffene Person erhält eine der Problemlage angemessene
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
129
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Unterstützung bei der vorläufigen Klärung und Lösung des Problems.
Wichtige Bezugspersonen werden dabei – falls erforderlich –
einbezogen. Bei fortbestehendem Hilfebedarf wird die betroffene
Person an eine geeignete Stelle weitervermittelt.
Die Beratung beinhaltet folgende Schritte:
1. Informationsaufnahme und Indikationsstellung für eine
Beratung
2. Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung des
Erstkontakts
3. Folgekontakte mit den im Einzelfall erforderlichen begleitenden
Aktivitäten
Kernaufgabe 1b - niederschwellige Begleitung:
Die hilfsbedürftige Person wird durch eine Fachperson so lange
kontinuierlich, und bei Bedarf auch aufsuchend betreut, bis eine
dafür vorrangig zuständige und geeignete Stelle die Betreuung
übernimmt oder der Hilfebedarf nicht mehr besteht. Die Begleitung
gleicht zunächst der Beratung (Schritte 1 bis 3), daran schließen sich
folgende Schritte (4 bis 6) an:
1. Klärung eines mittel- oder längerfristigen Betreuungsbedarfes
2. Kontinuierliche Betreuung mit den im Einzelfall erforderlichen
begleitenden Aktivitäten bei fortlaufender Überprüfung der
Möglichkeit, die Begleitung zu beenden oder die betroffene
Person an ein geeignetes, vorrangig zuständiges Hilfsangebot zu
vermitteln
3. Behutsame Vorbereitung des Betreuungsendes, bzw. der
Weiterbetreuung an anderer Stelle
4. Abschlussgespräch und -dokumentation
Die Beratung und Begleitung durch die sozialpsychiatrischen Dienste
sollte in enger Abstimmung und ggf. in Kooperation mit den anderen
in der Region vorhandenen Angeboten erfolgen.
130
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Wirkungen und Ziele
Durch das niedrigschwellige Beratungsangebot soll es betroffenen
Menschen ermöglicht werden, möglichst frühzeitig einen für sie
geeigneten Zugang zum psychiatrischen und/oder
nichtpsychiatrischen Hilfesystem zu finden. Insbesondere in den
Fällen, in denen die Kontaktaufnahme über die Hinweise Dritter
erfolgt, können oft Menschen erreicht werden, bei denen noch kein
Krankheitsbewusstsein entstanden ist. Durch das frühzeitige
Implementieren von Hilfen und Behandlung können so
Chronifizierungen, soziale Desintegration und Dekompensationen mit
ggf. nachfolgend erforderlichen Zwangsmaßnahmen vermieden
werden.
Die langfristig angelegte niedrigschwellige Begleitung unterstützt
eine Stabilisierung, oft auf niedrigem Niveau. Sie ermöglicht es, sich
anbahnende Krisen und drohende Dekompensationen frühzeitig zu
erkennen und darauf zu reagieren, sodass hierdurch oft Zwang
vermieden werden kann. Weiter besteht die Chance, eine Krankheitsund Behandlungseinsicht zu entwickeln und die Bereitschaft zu
erzeugen, strukturiertere Hilfeangebote in Anspruch zu nehmen.
Häufig kann so eine vollstationäre, möglicherweise geschlossene
Unterbringung vermieden werden.
Im Folgenden ist das Vorgehen ab dem Erstkontakt schematisch
dargestellt:
Vorgehen bei der niederschwelligen Beratung (Kernaufgabe 1A)
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
131
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Abbildung 17: Fluss-Schema Beratung
132
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Kernaufgabe 2: Krisenintervention
Menschen können einmalig, mehrmals oder im Rahmen lang
dauernder Beeinträchtigungen
immer wieder in gefährliche Zuspitzungen ihrer psychosozialen
Problemlage geraten. Eine solche Krise kann auftreten als
akute seelische Notlage unter besonderer Belastung,
als psychiatrischer Notfall bei akutem Krankheitsbild oder
als akute Zuspitzung einer schon länger bestehenden psychischen
Erkrankung.
In der Regel sind neben der betroffenen (Index-)Person auch andere
Personen beteiligt.
Kernaufgabe 2a - Krisenintervention und Notfallhilfe
Notwendig ist ein aktives, die Situation gestaltendes und
veränderndes Handeln unter Anwendung spezifischer diagnostischtherapeutischer Fähigkeiten und Erfahrungen. Vorrangig geht es
darum
die Krise zu entschärfen,
eine Eskalation zu vermeiden
konstruktive Lösungen anzubahnen
Zwangsmaßnahmen sind zu vermeiden. Ambulante Lösungen haben
Vorrang vor stationären.
Kernaufgabe 2b - Mitwirkung an Unterbringungen:
Bei einer akuten und mit ambulanten Mitteln nicht zu bewältigenden
Selbst- oder Fremdgefährdung ist dafür zu sorgen, dass die
betroffene Person nach der rechtlich gebotenen Prüfung auch gegen
ihren Willen in der nächstgelegenen dafür geeigneten Klinik
untergebracht werden kann. Ein hohes Maß an Fachkompetenz und
ethischer Fundierung des Handelns sowie ausgeprägte
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Dialogbereitschaft und Respekt gegenüber allen Beteiligten sind
Voraussetztungen, um in diesen Situationen angemessen handeln zu
können.
Für diese Aufgaben muss eine multidisziplinär besetzte, mobile
Notfallbereitschaft verfügbar sein, die eine Krisensituation sofort,
ggf. auch vor Ort, fachkompetent klären und die notwendigen
Maßnahmen ergreifen kann.
Dazu gehören insbesondere auch folgende Hilfeangebote:
funktionsfähige, niederschwellige und mobile Krisendienste für
medizinische, pflegerische und soziale Notlagen
rund um die Uhr verfügbare Notfallbereitschaften der
Ordnungsbehörde, des Amtsgerichts und der Betreuungsbehörde
bzw. der rechtlichen Betreuer
Alternativen zur stationären Krisenintervention in einer
psychiatrischen Klinik (z. B. aufsuchende Krisenteams, Home
Treatment, Assertive Community Treatment, Krisenbetten,
Weglaufhäuser)
Leistungsbestandteile und Qualitätsstandards
Die folgenden Standards beschreiben einen Expertenkonsens des
Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste in Deutschland zur
aufgabengerechten Bearbeitung des nachfolgend genannten
Leistungsspektrums.
Allgemeine Standards
Erforderlich ist eine qualifizierte Notfallbereitschaft, die auf
Grundlage klarer, mit allen Systempartnern vereinbarter
Verfahrensregeln zur Vorbeugung und Bewältigung suizidaler oder
gewaltförmiger Eskalation tätig werden kann. Der
Sozialpsychiatrische Dienst hat hier einen subsidiären Auftrag und
gewährleistet einen Krisendienst in Kooperation mit geeigneten,
134
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
vorrangig zuständigen Diensten und Einrichtungen. In einem solchen
kooperativen Krisenkonzept sollte der gesamte Krisendienst
24 Stunden an sieben Tagen pro Woche zur Verfügung stehen
mit mindestens zwei Fachpersonen interdisziplinär besetzt sein
Ressourcen der Selbsthilfe im Bedarfsfall mit einbeziehen
sofort telefonisch oder am Dienstort eine Krisenintervention
durchführen
im gesamten fg vb Zuständigkeitsgebiet unverzüglich auch
aufsuchend tätig werden
fachärztlich bei Bedarf auch vor Ort eine akute Selbst- bzw.
Fremdgefährdung der betroffenen Person abklären
in diesem Zusammenhang ggf. selbst Zwangsmaßnahmen ärztlich
begründen
Kernaufgabe 2a Krisenintervention und Notfallhilfe:
Mindestens zwei kompetente Fachkräfte stehen rund um die Uhr für
ein telefonisches oder persönliches Krisengespräch zur Verfügung
und können die betroffene Person bei Bedarf auch unverzüglich
aufsuchen. Sie sind in der Lage, geeignete Hilfen zur Vermeidung
einer Klinikeinweisung selbst anzuwenden, herbeizurufen bzw.
wohnortnah ohne Wartezeit zu vermitteln.
Der Sozialpsychiatrische Dienst einer Kommune muss in die Lage
versetzt werden, diese Aufgabe immer dann wahrzunehmen, wenn
andere Dienste nicht zuständig sind oder nicht rechtzeitig in
geeigneter Weise tätig werden können.
Kernaufgabe 2b Mitwirkung an Unterbringungen:
Zu den im Krisendienst tätigen Fachkräften gehört auch eine Person
mit fachärztlich-psychiatrischer Kompetenz und Erfahrung in der
Vorbeugung und Bewältigung akuter Selbst- und Fremdgefährdung,
die das Gefährdungspotenzial umsichtig abschätzen und notfalls eine
Unterbringung auf qualifizierte Weise einleiten und begleiten kann.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
135
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Abbildung 18: Fluss-Schema Krisenintervention
In wenigen Bundesländern (Schleswig-Holstein, Brandenburg) gibt
das PsychKG einen solchen mit fachlich qualifizierten Ärztinnen und
Ärzten besetzten Rufbereitschaftsdienst des SpDi auch außerhalb der
Dienstzeiten für 24 Stunden an 7 Wochentagen vor. Die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser hochschwelligen Dienste
(Inanspruchnahme nur, wenn die Frage einer Unterbringung im
Raum steht) stellen eine der Situation zugrundeliegende psychische
Störung am Ort des Geschehens fest (Diagnostik). Sie schätzen das
Gefährdungspotential ein und nutzen die Möglichkeiten einer
qualifizierten Krisenintervention vor Ort, ggf. unter Einbeziehung
der verschiedenen Angebote des Versorgungssystems, um
136
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Zwangsmaßnahmen zu vermeiden. Falls erforderlich, leiten sie eine
Unterbringung ein und begleiten sie.
Beispielhaft seien hier die Effekte eines solchen Dienstes im Kreis
Ostholstein gezeigt, der die “Verschleppung” der betroffenen
Menschen in die Klinik zur Klärung und Diagnostik vermeidet:
Abbildung 19: Maßnahmen bei aufsuchenden Einsätzen im
Rufbereitschaftsdienst (n=216 aufsuchende Einsätze außerhalb der
regulären Dienstzeit des SpDi)
Kernaufgabe 3: Planung & Koordination von
Hilfen im Einzelfall
Menschen mit schweren und chronisch verlaufenden psychischen
Störungen gemäß Kapitel F der ICD 10 haben nicht selten einen
komplexen Hilfebedarf, der den Einsatz unterschiedlicher Hilfen
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137
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
erfordert. Dabei sind neben den Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung (SGB V), wie (fach-)ärztliche Behandlung,
Psychotherapie, Ergotherapie, ambulante psychiatrische Pflege oder
Soziotherapie (sofern verfügbar), auch gemäß dem
Bundesteilhabegesetz (BTHG), Teilhabeleistungen nach dem SGB IX
wie zur Teilhabe am Arbeitsleben oder zur medizinischen
Rehabilitation oder zur sozialen Teilhabe erforderlich. Diese werden
von verschiedenen Leistungsträgern wie z.B. der Bundesagentur für
Arbeit, der DRV, der GKV, des Eingliederungshilfeträgers oder auch
des Jugendhilfeträgers erbracht. Konkret beziehen sich diese Hilfen
dann auf die verschiedenen Lebensbereiche (Gesundheit, Wohnen,
Arbeit und Beschäftigung sowie soziale und kulturelle Teilhabe als
menschliche Grundbedürfnisse), in denen die betroffene Person
infolge von Funktionsstörungen und daraus resultierenden
Aktivitätseinschränkungen in Wechselwirkung mit den
Umgebungsbedingungen an einer wirksamen Teilhabe gehindert ist,
wie z.B. der Selbstversorgung, den sozialen Beziehungen, der Rolle
als Arbeitnehmer, Elternteil oder Partner oder auch bei der Nutzung
von Gesundheitsleistungen.
Institutionszentriertes versus personenzentriertes
Vorgehen
Die verschiedenen Bedarfe zu erfassen, darzustellen und zu einem
durchführbaren Plan zusammenzufügen, der am Lebensort des
Betroffenen umsetzbar ist, ohne dass dieser sein angestammtes
soziales Umfeld verlassen muss, entspricht einem Vorgehen, das als
“personenzentrierter Ansatz” bezeichnet wird. Das Gegenteil von
“personenzentriert” wäre “institutionszentriert”: der Betroffene
bekommt die Leistungen, die die Institution, an die er sich wendet,
anbietet, und wenn er noch etwas Anderes braucht, muss er dazu
später zu einer anderen Institution - auch wenn er beide Hilfen
gleichzeitig benötigt.
138
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Beispiel institutionsbezogenes Vorgehen
Ein Betroffener mit einer sozialen Phobie und einer
Alkoholabhängigkeit wird vom Psychotherapeuten zur
Suchtberatungsstelle geschickt, um erst einmal eine
Entwöhnungsbehandlung zu beantragen, weil ohne gefestigte
Abstinenz keine Psychotherapie möglich ist. Aus der medizinischen
Rehabilitation wird er disziplinarisch entlassen, weil er in der
Gruppe nicht über seine Probleme spricht und erst einmal eine
ambulante Psychotherapie seiner Angststörung machen soll, bevor an
seiner Sucht gearbeitet werden kann.
Beispiel personenzentriertes Vorgehen
Die personenzentrierte Leistungserbringung verlangt eine
Veränderung der Arbeitsabläufe nicht nur bei der Hilfeplanung und
bei der Finanzierung durch die Leistungsträger, sondern auch bei der
Leistungserbringung für die Personen, die die
Unterstützungsleistungen erbringen. Dies soll nun am selben
Fallbeispiel veranschaulicht werden:
Unter dem Dach des von der kommunalen Psychiatriekoordination
initiierten Gemeindepsychiatrischen Verbundes haben sich alle
beteiligten Leistungserbringer verpflichtet, bei der Hilfeplanung
nicht nur die Hilfen zu beschreiben, die sie beabsichtigen, selbst zu
erbringen, sondern auch solche, die von anderen erbracht werden.
Auch, wenn es keine Eingliederungshilfeleistungen sind. Sie haben
sich auch dazu verpflichtet sich darüber zu einigen, wer die
Fallverantwortung hat, also die “koordinierende Bezugsperson” ist.
Der Patient mit der Alkoholabhängigkeit und der sozialen Phobie
wird vom Psychotherapeuten zur Suchtberatungsstelle geschickt, weil
dieser erkannt hat, dass ein komplexer Hilfebedarf besteht und
neben Psychotherapie und Entwöhnung, die beide im Moment nicht
durchführbar sind, eine Unterstützung im Alltag erforderlich ist. Ein
Mitarbeiter der Suchtberatung klärt mit dem Klienten die aktuelle
Lebenssituation und stellt fest, dass der aktuelle Rückfall dadurch
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
bedingt ist, dass der Arbeitgeber die zuverlässige Arbeit des seit 15
Jahren als Gesellen beschäftigten Malers und Lackierers sehr schätzt
und ihn mit mehr Verantwortung betrauen will. Vor den Kollegen in
Erscheinung zu treten ist für diesen aber unerträglich. Er löst die
Spannung durch Alkohol. Da er schon länger unentschuldigt gefehlt
hat und es nicht wagt, mit dem Chef zu reden, ist die Stelle in Gefahr.
Aus der Vergangenheit bestehen aus ähnlichen Situationen
entstanden noch Schulden, ein Insolvenzverfahren läuft. Die
Wohnung ist verwahrlost, die Kartons vom letzten Umzug vor 2
Jahren sind noch nicht ausgepackt. Der Klient hat keine sozialen
Kontakte außer zu seiner ehemaligen Pflegemutter, die jedoch 500
Kilometer entfernt wohnt und gebrechlich ist. Der Berater erstellt mit
dem Betroffenen einen Hilfeplan über einen Zeitraum von 6 Monaten
für ein ambulant betreutes Wohnen. Neben Wohnungs- und
Arbeitsplatzerhalt geht es um Kontaktaufnahme zu einer Kontaktund Beratungsstelle für psychisch kranke Menschen, um sich an
Gruppensituationen anzunähern, da die Suchtberatung über keinen
eigenen Kontaktladen verfügt. Der Integrationsfachdienst (IFD) wird
eingeschaltet und der Betroffene motiviert, beim Versorgungsamt den
Grad der Behinderung feststellen zu lassen. Die Fachkraft des
ambulant betreuten Wohnens unterstützt den Betroffenen, in einem
Allgemeinkrankenhaus eine körperliche Entzugsbehandlung zu
machen, um den Alkoholkonsum zu durchbrechen. Danach will er
mit dem Psychotherapeuten an seinem sozialphobischen Verhalten
weiterarbeiten. Er hat das Ziel, bei erhaltenem Arbeitsplatz und
einem Mindestmaß an Gruppenfähigkeit an der ambulanten
medizinischen Rehabilitation teilzunehmen und zuvor den
entsprechenden Antrag an die Rentenversicherung zu stellen.
Das nachfolgende Diagramm (Abb. 1 Integrierte Hilfeplanung als
Prozess) stellt den Prozess der personenzentrierten Hilfeplanung
(Link erstellen) als Problemlösezirkel dar. Ausgehend von der vom
Patienten gewünschten Lebensform wird ein Maßnahmenplan
verhandelt, umgesetzt und überprüft. Wenn immer möglich sollen
vorzugsweise allgemeine gesundheitliche und soziale Hilfen genutzt
werden.
140
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Abbildung 20: Integrierte Hilfeplanung (modifiziert nach Gromann, 2001)
Feststellung der wesentlichen Behinderung
Zunächst wird ausgehend vom psychischen Befund (internen Link
erstellen) und der biographischen Anamnese (siehe Psych.
Grundlagen) die Diagnose nach ICD 10 (bzw. zukünftig ICD 11)
gestellt.
Dann ist zu ermitteln, welche “Körperfunktionen” - dazu zählen auch
die “mentalen Funktionen” der ICF beeinträchtigt sind. Die mentalen
Funktionen entsprechen, sofern sie für Menschen mit Diagnosen aus
dem Kapitel F der ICD 10 relevant sind, den Symptomen des
psychischen Befundes, wie sie z.B. im AMDP-System definiert und
operationalisiert sind. Dieses kann als “Messinstrument” zur
Beurteilung des Beeinträchtigungsgrades der jeweiligen mentalen
Funktion benutzt werden, bzw. erlaubt die Liste der mentalen
Funktionen der ICF praktisch anzuwenden. Als nächstes ist zu
entscheiden, ob die aus der Gesundheitsstörung resultierende
Beeinträchtigung einer Person oder des Umfeldes kompensiert wird
oder aber durch mangelnde Ressourcen oder vorhandene Barrieren
verstärkt wird und in weiteren Wechselwirkungen hiermit zu
Aktivitätsstörungen und Beeinträchtigungen der Teilhabe führt.
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Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Erst diese Gesamtwürdigung ergibt ein Bild davon, ob eine
Teilhabestörung vorliegt oder nicht. Keinesfalls folgt sie unmittelbar
aus der Diagnose oder auch aus den Symptomen. Handelt es sich um
eine Diagnose aus dem Kapitel F6 Persönlichkeitsstörungen, bei
denen oftmals keine oder nur wenige Symptome im
psychopathologischen Befund vorliegen, aber überdauernde
dysfunktionale Verhaltensmuster, die das Verhalten prägen, sind in
erster Linie diese Aktivitätsstörungen der Beobachtung zugänglich.
Aktuelle, zum Teil durch Forschungsbefunde gestützte Theorien,
deuten darauf hin, dass den Funktionsstörungen wie erhöhte
Impulsivität oder mangelnde Impulskontrolle, “boredom
susceptibility” oder affektive Instabilität zugrunde liegt, die mit den
üblichen diagnostischen Verfahren jedoch nicht direkt erfasst werden
kann. Auch hier ist natürlich relevant, die persönlichen Ressourcen
wie die Umfeldfaktoren zu betrachten, um die Teilhabestörung zu
beurteilen.
Abbildung 21: Faktoren der Teilhabestörung
Oft benötigen sowohl die betroffenen Personen selbst, als auch die
Leistungserbringer und Leistungsträger Unterstützung, um den
individuellen Hilfebedarf sachgerecht festzustellen und die
erforderlichen Leistungen in ihrem Gesamtzusammenhang zu planen
und im Sinne einer kooperativen Hilfebedarfsermittlung zu
koordinieren. Sozialpsychiatrische Dienste können diese Aufgabe gut
erfüllen, nicht nur aufgrund ihrer fachlichen multiprofessionellen
Kompetenz und Unabhängigkeit, sondern auch aufgrund ihrer guten
Kenntnis der Unterstützungsmöglichkeiten im Sozialraum und der
Hilfsangebote im gemeindepsychiatrischen Netzwerk.
142
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Folgende Unterstützungsmöglichkeiten sind von besonderer
Bedeutung:
familiäre Strukturen und soziales Umfeld, Selbst- und Laienhilfe,
bürgerschaftliches Engagement
allgemeine medizinische, pflegerische und soziale Dienste
spezielle Hilfsangebote für psychisch erkrankte Menschen zur
psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung,
psychiatrischen Pflege und medizinisch-beruflichen
Rehabilitation sowie zur sozialen und beruflichen Teilhabe
Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (§32 SGB IX)
Alle Akteure sollten in jedem Einzelfall flexibel auf die individuellen
Bedarfslagen eingehen, bei Erfordernis weitere Spezialkompetenz
hinzuziehen, und in einem regionalen Verbundsystem zuverlässig
miteinander kooperieren.
Leitende Prinzipien sind Prävention und Inklusion, ambulant vor
stationär, Wohnortnähe, integrierte Hilfeleistung, Verhandeln statt
Behandeln, bzw. Verhandeln über das Behandeln. Alle Planungen
erfolgen grundsätzlich gemeinsam mit der betroffenen Person, ggf.
mit ihrer rechtlichen Betreuung, auf Wunsch auch unter
Hinzuziehung einer Vertrauensperson. Planung, Durchführung und
Fortschreibung der Hilfe werden in angemessener Form
dokumentiert und in anonymisierter Form für eine auch Einzelfall
übergreifende Evaluation und Qualitätsentwicklung des regionalen
Hilfesystems genutzt.
Soll der SpDi diese Aufgabe nicht nur da, wo er gerade von sich aus
mit einem Fall befasst ist, wahrnehmen, sondern für alle Personen in
seinem Zuständigkeitsbereich, muss der Träger der
Eingliederungshilfe den Auftrag erteilen und das zu seiner Erfüllung
erforderliche Personal finanzieren.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Kernaufgabe 4: Koordination und Steuerung
Ohne eine kommunale bzw. regionale Koordination und Planung der
Hilfen für psychisch erkrankte Menschen lässt sich eine
bedarfsgerechte, wohnortnahe Versorgung nicht gewährleisten. Diese
Aufgabe der Gebietskörperschaften ist in einigen Bundesländern im
jeweiligen Gesundheitsdienstgesetz, in anderen im PsychKG geregelt.
Sie wird entweder von einer dezidierten Psychiatriekoordination
übernommen oder dem Sozialpsychiatrischen Dienst zugewiesen. Im
Rahmen der Organisationshoheit der Gebietskörperschaften sind
auch andere Lösungen möglich. Die Herausforderungen auf diesem
Gebiet steigen nicht nur mit der Vielfalt der individuellen Bedarfe,
sondern auch mit der Zersplitterung der Kostenträger, der
Spezialisierung der Hilfsangebote und ihrer Konkurrenz
untereinander. Hier sind Sozialpsychiatrische Dienste notwendig und
fachlich qualifiziert, im Auftrag der Kommune für eine regionale
Planung der Angebotsentwicklung und eine Vernetzung der
verschiedenen Akteure zu sorgen. Dabei hilft ihnen die strikte
Orientierung auf den Sozialraum der Kommune und auf die
gleichberechtigte Teilhabe der betroffenen Menschen am Leben in
der Gemeinschaft, unabhängig von Art und Umfang ihrer
Beeinträchtigungen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe sind
Sozialpsychiatrische Dienste auf eine enge Zusammenarbeit sowohl
mit den Leistungserbringern und Kostenträgern als auch mit den
kommunalen sozialen Diensten und nicht zuletzt auch mit den
Selbsthilfe-Initiativen der Betroffenen und ihrer Angehörigen
angewiesen.
Kernaufgabe 4a - Netzwerkarbeit
Ziel ist die Förderung der Vernetzung und Zusammenarbeit im
Verbund. Wichtig sind dabei die gemeindepsychiatrischen Dienste
und Einrichtungen sowie die Interessenvertretungen der Betroffenen
und ihrer Angehörigen. Besonderes Augenmerk erfordern die für das
Versorgungssystem wichtigen Schnittstellen und die reibungslose
144
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Gestaltung der Übergänge. Netzwerkarbeit in diesem Sinne ist eine
Aufgabe, die alle Teammitglieder angeht.
Bei den Adressaten der Netzwerkarbeit werden alle relevanten
internen und externen Systempartner beteiligt. Ein jährlich
aktualisiertes Verzeichnis der Hilfsangebote im regionalen Netzwerk
sollte zur Verfügung gestellt werden. Eine kontinuierliche Arbeit in
den Verbundgremien sollte - oft mithilfe der Geschäftsführung durch
die SpDi gewährleistet werden. Um eine lebendige
Verbundentwicklung und eine Verbesserung der Zusammenarbeit
unter den Netzwerkpartnern zu fördern, wird die regelmäßige
Durchführung themenbezogener Veranstaltungen und Fachtagungen
angeregt, ggf. fachlich und organisatorisch unterstützt. Zur vertieften
Bearbeitung definierter Schwerpunktaufgaben werden befristete
Projekte initiiert und organisatorisch begleitet.
Kernaufgabe 4b - Steuerung
Ziel ist die regionale Planung der Angebotsentwicklung und die
Optimierung der Versorgungsstrukturen unter Berücksichtigung
fachlicher und finanzieller Gesichtspunkte. Hier geht es um die
Sicherung wohnortnaher gemeindepsychiatrischer Hilfen, die
Verbesserung der Passgenauigkeit und Wirksamkeit von Hilfen.
Leitvorstellung soll dabei sein, dysfunktionale Schnittstellen im
Versorgungssystem zu vermeiden bzw. gut zu überbrücken,
Anzeichen von Über-, Unter- und Fehlversorgung zu erkennen und
gemeinsam mit den anderen Akteuren des Verbundes
Gegenmaßnahmen zu entwickeln.
Das Aufgabenspektrum der Psychiatriekoordination ist breit,
innerhalb und außerhalb der Kommunalverwaltung. Es reicht von
der Organisation und Leitung der Verbundgremien, der
Unterstützung unabhängiger Beschwerdestellen im regionalen
Verbund, der Durchführung von Fortbildungen und Fallkonferenzen
bis zur Erstellung von Konzepten für die Planung bzw. Steuerung des
Versorgungssystems.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
145
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Controlling und Gesundheitsberichterstattung gehören ebenso dazu
wie Qualitätssicherung und Öffentlichkeitsarbeit, Fachberatung und
Steuerungsunterstützung der Entscheidungsträger in Politik und
Verwaltung.
In Abstimmung mit den Entscheidungsträgern in Politik und
Verwaltung, bei Kostenträgern und Leistungserbringern erfolgt unter
Einbeziehung der Nutzerinteressen eine kontinuierliche Planung der
Angebotsentwicklung. Dazu erfolgt jeweils eine systematische
Bestandsaufnahme und Situationsanalyse der regionalen Versorgung,
an die sich der Prozess von Zielfindung und Politikformulierung
anschließt. Auf Grundlage verbindlicher Vereinbarungen zwischen
den beteiligten Akteuren zur Qualitätsentwicklung des Hilfesystems
erfolgt die Umsetzung der geplanten Maßnahmen, zu denen Berichte
mit quantitativen Daten und qualitativen Bewertungen gesammelt
und ausgewertet werden. Die Auswertungsergebnisse werden in den
Gremien zur Koordination der regionalen Verbünde diskutiert und
bilden den Ausgangspunkt für eine Evaluation und Fortschreibung
der regionalen Planung.
Wichtige Strukturen und Einflussfaktoren im Kontext dieser
Kernaufgabe
Bei diesen Aufgaben sind Sozialpsychiatrische Dienste auf enge
Zusammenarbeit mit allen beteiligten Akteuren angewiesen.
Dazu gehören
Politik und Verwaltung
Leistungserbringer
Kostenträger
kommunale soziale Dienste
und nicht zuletzt die Selbsthilfeinitiativen der Betroffenen und
ihrer Angehörigen
Der hier zu betreibende Aufwand und der damit zu erzielende Erfolg
ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Zu nennen sind hier
146
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
insbesondere Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft sowie
bestehende Koordination zwischen den verschiedenen kommunalen
Fachdiensten und Behörden, zwischen Verwaltung und Politik
innerhalb der Kommune, zwischen ihr und der Landesebene. Auch
der Umfang und die Qualität der Berichterstattung sowie die Fachund Sozialplanung in der Kommunalverwaltung spielen eine
entscheidende Rolle. Die Traditionen der Netzwerkarbeit vor Ort und
gewachsene Strukturen zur Koordination der Aktivitäten,
Verfügbarkeit und Vielfalt externer Systempartner im Verbund sowie
deren Fähigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit sind
wesentliche Faktoren.
Leistungsbestandteile und Qualitätsstandards
Die folgenden Standards beschreiben einen Expertenkonsens des
Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste in Deutschland zur
aufgabengerechten Bearbeitung des nachfolgend genannten
Leistungsspektrums. Hier findet sich auch eine Checkliste der
einzelnen Aufgaben im Rahmen der Netzwerkarbeit und Steuerung
im regionalen Verbund.
Allgemeine Standards
Art und Umfang des Einsatzes für die Netzwerkarbeit und Steuerung
im regionalen Verbund sind vor dem Hintergrund der spezifischen
Strukturen und zahlreichen Einflussfaktoren vor Ort sehr
unterschiedlich. Diese Aufgabe erfordert in besonderer Weise
Gestaltungswillen und Moderationsfähigkeit. Leitend sind die
Prinzipien der Gemeindepsychiatrie:
Prävention und Inklusion
Personenzentrierung und Lebensweltorientierung bei der
Gesamt- und Hilfeplanung unter Mitwirkung der betroffenen
Menschen
zuverlässig verfügbare, qualifizierte und bei Bedarf langfristige
wohnortnahe Hilfen auf Basis sektorisierter
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
147
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Versorgungsstrukturen mit einem Vorrang ambulanter vor
stationären Hilfen
besondere Sorge für Menschen mit chronisch und schwer
verlaufenden psychischen Beeinträchtigungen mit guter
Koordination bei komplexem Hilfebedarf
In welcher Breite und Tiefe die verschiedenen Teilaufgaben zur
Netzwerkarbeit und Steuerung im regionalen Verbund
wahrgenommen werden (ggf. als “Psychiatriekoordination”), lässt
sich quantitativ und qualitativ nur schwer definieren, u.U. sind auch
Aufgaben der Fachaufsicht wahrzunehmen.
Weitere Aufgaben 5
Neben den vier bisher beschriebenen Kernaufgaben können für
einen SpDi noch weitere Aufgabenfelder zum Arbeitsauftrag gehören,
die in unterschiedlicher Breite und Tiefe wahrgenommen werden.
Prävention
“
„Der öffentliche Gesundheitsdienst fördert und schützt die
Gesundheit der Bevölkerung“
so lautet die allgemeine gesetzliche Prämisse des Handelns. Dazu
zählt die Aufgabe,
“
„Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung zu
veranlassen und zu koordinieren.”
Außerdem hat sich die Bundesrepublik mit dem Präventionsgesetz
aus 2015 (Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der
Prävention PräVG) auf den Weg gemacht, die Zusammenarbeit der
Kostenträger mit den Ländern und Kommunen zu verbessern.
Bevorzugt sollen die Leistungen sozialräumlich in den Lebenswelten
für alle Altersgruppen erbracht werden. Primärprävention in der
sozialpsychiatrischen Tätigkeit bedeutet einerseits in Verbindung mit
der Öffentlichkeitsarbeit die Aufklärung über
148
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Entstehungsbedingungen psychischer Erkrankungen und ihrer
Risikofaktoren. Andererseits geht es um die Förderung von
Wissensvermittlung bspw. zu den Themen Resilienz, Konflikt-und
Stressmanagement, Training sozialer und emotionaler Kompetenzen
und um Emotionsregulation. Vor allem sind für die besonders
belastenden Familien innerhalb einer Gebietskörperschaft auch die
frühe Förderung der Erziehungskompetenzen im Rahmen z.B. der
Frühen Hilfen zu nennen, die Familien in prekären
Lebenssituationen mit praktischer Unterstützung die Teilhabe am
Leben ermöglichen.
Im Zwischenbereich Primär- und Sekundärprävention ist die gezielte
Suizidprävention und auch die Suchtprävention zu verorten.
Natürlich liegt der Schwerpunkt hier auf der Früherkennung der
Risikofaktoren oder schon ausgebildeten, noch nicht diagnostizierten
Erkrankungen wie der Depression, die eine der Hauptursachen für
den Suizid eines Menschen bilden. Als Mittel des ÖGD sind
unterschiedliche Veranstaltungen sinnvoll, die Volkskrankheiten wie
die Depression in den Fokus der Öffentlichkeit bringen. Neben den
klassischen Fortbildungen haben sich öffentliche Diskussionen mit
Betroffenen, Lesungen, Filme etc. bewährt, um verschiedene
Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Selbst bei der Depression lässt
sich ein gesellschaftliches Unwissen konstatieren. Dem ist mit
fachlichen Informationen in einfacher Sprache und handhabbarer
Weise entgegenzutreten. Das ermöglicht eine frühzeitige adäquate
Behandlung, die wie bei den meisten Erkrankungen einer
Chronifizierung entgegen wirken kann und großen
volkswirtschaftlichen Schaden vermindern kann. Immerhin bilden
die psychischen Krankheiten den größten Anteil an den
Frühverrentungen (DRV, 2019) sowie Steigerungen um mehrere
hundert Prozent bei den Arbeitsunfähigkeitskosten bei den GKV seit
Ende der 90er Jahre. Hierbei handelt es sich nicht um einen
tatsächlichen Zuwachs von Inzidenz oder Prävalenz, sondern darum,
dass Störungen, die früher unter Deckdiagnosen wie “vegetative
Dystonie” oder anhand der präsentierten Symptome als Störungen
von Herz-Kreislauf-System, Verdauungstrakt oder Bewegungsapparat
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
149
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
falsch eingeordnet wurden, nun zutreffend erkannt werden und
dementsprechend eine deutlich gesteigerte Inanspruchnahme
psychiatrischer/ psychotherapeutischer Maßnahmen zur Folge haben.
Dem muss nun durch angemessene Maßnahmen Rechnung getragen
werden. Die nationale Präventionsleitlinie fördert zusätzlich
verstärkt den Aufbau der Selbsthilfe.
Die Tertiärprävention schließlich, die Milderung von
Krankheitsfolgen, Vermeidung von Rückfällen und Verschlimmerung
der Erkrankung, erfolgt im ÖGD in der individuellen Betreuung,
Beratung und Begleitung der Patienten.
Der öffentliche Gesundheitsdienst hat ob seiner herausgehobenen
Funktion im Gesundheitswesen sowohl den Auftrag der Verhaltens-,
wie auch der Verhältnisprävention und übergreifend auch der
geschlechtersensiblen Prävention. Die Gesundheitskompetenzen zu
stärken und Risikoverhalten zu erkennen und zu reduzieren, dient
auf der individuellen, aber auch auf der öffentlichen Ebene der
Verhaltensprävention. Das gemeindenahe Sozialpsychiatrische
Wirken befördert durch bedarfsgerechte Koordination der AngeboteNetzwerke zudem die Verhältnisprävention. Ein bislang nicht
hinreichend beachteter Teil der Präventionsmöglichkeiten sind die
geschlechtsspezifischen Aspekte einzelner Erkrankungen und auch
Behandlungsformen. Als ein wichtiges Beispiel sei an dieser Stelle
nur die unterschiedliche Ausprägung und Behandlungsnotwendigkeit
der depressiven Erkrankung bei Männern erwähnt. Eine gezielte
Aufklärung und Früherkennung der Depression bei Männern könnte
bei der stark geschlechterabhängigen Suizidrate (3-7:1) eine
Reduktion der Suizidrate zur Folge haben. Erste großangelegte
Studien dazu sind abzuwarten.
Beratung in der Schnittstellenarbeit
Aufklärung und Beratung sind im Fachbereich Prävention,
Gesundheitsförderung und Gesundheitshilfe für Erwachsene eine der
150
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
zentralen Aufgaben und daher in den Ländergesetzen zum
öffentlichen Gesundheitsdienst verankert.
Der Beratung und Hilfeleistung wird dabei nicht nur im Einzelnen
(Kernbereich 1) begegnet, sondern der Sozialpsychiatrische Dienst
nimmt in subsidiärer Stellung vielfältige Aufgaben in diesem Bereich
war.
Die Aufklärung und Beratung zu den entsprechenden psychiatrischen
Gesundheitsthemen kann in der Schnittstellenarbeit zu anderen
Akteuren unterschiedlichste Ausprägungen annehmen.
Die manchmal auch als sozialpsychiatrische Liasonarbeit bezeichnete
Funktion der Sozialpsychiatrischen Dienste spiegelt sich dabei wider
in der Zusammenarbeit und Beratung und Aufklärung von u.a.:
Gemeinschaftseinrichtungen wie z.B.-- Obdachlosenheimen-Einrichtungen für Asylbewerber-- Erstaufnahmeeinrichtungen-Senioren-, und Pflegeheimen
Polizei- und anderen Ordnungsbehörden
Jugendamt
Wohnungsbaugenossenschaften
ehrenamtlichen Betreuern u.v.m.
Antistigmaarbeit / Öffentlichkeitsarbeit
Der öffentliche Gesundheitsdienst als dritte Säule des
Gesundheitswesens ist neben der ambulanten und stationären
Gesundheitsversorgung der Öffentlichkeit meist nur im Sinne eines
Kontrollorgans, bzw. einer Überwachungsbehörde bekannt.
Allgemeinplätze wie "psychische Erkrankungen sind in unserer
Gesellschaft ein Tabu", "psychisch Kranke werden stigmatisiert"
klingen bedrohlich und haben gleichermaßen einen
Aufforderungscharakter. Leider werden sie auch im 21. Jahrhundert
durch die junge Disziplin der Antistigma-Forschung wiederholt
bestätigt. In Teilbereichen wird sogar eine weitere Zunahme der
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
151
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
Ausgrenzungstendenz wahrgenommen (Bandelow, 2018). Diese ist
wahrscheinlich auf eine einseitige Propagierung eines biologistischen
Krankheitsmodells durch frühere Antistigmakampagnen
zurückzuführen, die die Vorurteile stärkten, statt sie zu mindern.
Neben den Erkenntnissen dazu, wie auf individueller oder
gesellschaftlicher Ebene Stigmata entstehen und sich verfestigen,
sind entsprechende Interventionsansätze entwickelt worden
(Aktionsbündnis Seelische Gesundheit, Gaebel, Ahrens, Schlamann,
07/2010).
Im Rahmen des öffentlichen Gesundheitsdienstes stehen evaluierte
Maßnahmen zur Wissensvermittlung zur Verfügung. Dazu dienen
niedrigschwellige Informationsportale wie Homepage, Flyer in
leichter Sprache, Informationsmaterial in verschiedenen Sprachen,
Tage der offenen Tür, Kooperationen mit Schulen z.B. für
Gesundheitstage, kostenfreie Informationsreihen für die Bürger zu
den verschiedenen relevanten Themen von Impfkampagnen bis zur
Sexualität im Alter.
In Bezug auf die stärker tabuisierten Themen hat sich zur Aufklärung
der Allgemeinbevölkerung eine zielgruppenspezifische
Vorgehensweise zur vertieften Vermittlung krankheitsspezifischer
Merkmale und Möglichkeiten der Begegnung bewährt, z.B.
Veranstaltungen zur male depression in Bereichen mit hohem
Männeranteil wie Polizei und Feuerwehr oder
Suizidpräventionsangebote in Schulen und Altersheimen.
Als entscheidender Wirkfaktor im Hinblick auf eine tatsächliche
Veränderung der Einstellungen zu psychisch kranken Menschen, und
insbesondere die Reduzierung des Distanzwunschs, haben sich
Veranstaltungsformate erwiesen, in denen es zu einem persönlichen
Kontakt zu Betroffenen kommt. Diese berichten davon, wie sie mit
ihren Krisen und ihrer Erkrankung umgehen und so als Rollenmodell
für die Bewältigung von als katastrophal angesehenen Problemen
dienen und so zugleich die Resilienz der Teilnehmer stärken wie
Stigmata reduzieren. Auf reine Informationsvermittlung begrenzte
Kampagnen scheinen eher den Distanzwunsch zu steigern.
152
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Innerhalb des sozialräumlich psychiatrischen Versorgungssystems
kann eine Öffnung in die Lebenswelten durch gemeinsame
Veranstaltungen Betroffene und Interessierte zusammenbringen und
helfen Schwellen und Berührungsängste abzubauen - so z.B.
Aktionsgemeinschaft oder Psychiatriewoche. Hilfreich ist hier die
Netzwerkbildung verschiedenster Akteure innerhalb der
Gebietskörperschaft, die sich unter einem Thema zusammenfinden
und unterschiedliche Sichtweisen repräsentieren. Als Beispiel sei hier
das Frankfurter Netzwerk für Suizidprävention benannt. Hier haben
sich mehr als 70 Institutionen zusammengeschlossen, die vielfältige
Angebote und Handreichungen für Zielgruppen, Betroffene,
Angehörige und Profis entwickelt haben. Hier ein Link zu
Ablaufschema und Hilfsangeboten: www.frans-hilft.de.
Psychosoziale Notfallversorgung
Die unteren Gesundheitsbehörden der Länder haben als untere
Katastrophenschutzbehörde (Katgesetz) vielfältige Aufgaben und
koordinierende Funktionen einzunehmen. Hierbei kann unter
Umständen bei einem Massenanfall von Verletzten auch der
Sozialpsychiatrische Dienst, in die Funktion der psychosozialen
Notfallvorsorge (PSNV) eingebunden, maßgeblich mitbeteiligt bis
leitend tätig werden.
Nur wenige Gesundheitsämter bzw. Sozialpsychiatrische Dienste
haben sich bisher mit diesem Thema eingehender beschäftigt. Hier
sollen als "best practice" Beispiele vor allem auf die Einbindung der
PSNV in Frankfurt am Main und Düsseldorf verwiesen werden. Im
Kern geht es um die kurz- bis mittelfristige psychosoziale Versorgung
von Betroffenen, deren Angehörigen und der Einsatzkräfte sowie die
anlassbezogene Vorhaltung spezifischer Bürgertelefone (Hotline).
Nach Abschluss der mittelfristigen Phase (ca. 1 Jahr) steht die
abgeschlossene Vermittlung in das Hilfesystem, sofern notwendig. Die
PSNV muss dazu in die reguläre Alarmierungskette der
Sicherheitsbehörden eingebunden und Teil des Krisenstabes sein.
Hierzu ist die Bildung eines PSNV-Teams erforderlich, das
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
153
Aufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste
hierarchisch aufgebaut ist und den Strukturen der örtlichen
Katastrophen- bzw. Notfallstrukturen angepasst sein sollte.
Die bisherigen europäischen Notfalllagen wurden dahingehend
betrachtet und Schwachstellen wie die mangelnde
Angehörigenbetreuung und die Lücke der mittelfristigen Versorgung
hervorgehoben. Deshalb sind strukturierte Ablaufpläne und
fortlaufende Beübung unterschiedlicher Szenarien unabdingbar.
Der Bundesverband für den öffentlichen Gesundheitsdienst hat in
einer Unterarbeitsgruppe PSNV ein Positionspapier auf den Weg
gebracht
Heilpraktikerüberprüfung eingeschränkt auf
Psychotherapie
Nach der ersten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die
berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung
(Heilpraktikergesetz) führen die Gesundheitsämter die Überprüfung
der Kenntnisse und Fähigkeiten durch. Grundlage der Überprüfung
ist ausschließlich die Frage, ob die Person
“
„eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung (oder für
Patientinnen und Patienten)...bedeuten würde“ (§2 Abs. i
des Heilpraktikergesetzes).
Im Rahmen der psychischen Erkrankungen gibt es den Bereich der
sektoralen Heilpraktikererlaubnis Psychotherapie. Aus den Leitlinien
zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärterinnen- und anwärtern
nach §2 des Heilpraktikergesetzes gehen in §1 die allgemeinen
Inhalte der Überprüfung hervor, die sich bei sektoralen Anträgen
jeweils auf dieses Fachgebiet unter Einbezug
differentialdiagnostischer Fragestellungen beschränken. Die
Überprüfung gliedert sich in einen mündlichen und schriftlichen Teil.
Verfügt ein Antragsteller über einen „bundesgesetzlich geregelten
Heilberuf“ oder einschlägig nachgewiesene Kenntnisse kann die
überprüfende Behörde einen Kenntnisüberprüfungsverzicht,
154
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
insbesondere des schriftlichen Teils, erlassen. Der schriftliche Teil der
Überprüfung umfasst beim Heilpraktiker Psychotherapie 28 Fragen in
60 Minuten, der mündlich-praktische Teil der Überprüfung dauert
höchstens 45 Minuten. Länderspezifisch erfolgt nach bestandener
Überprüfung die Anzeige einer selbstständigen Tätigkeit im
Gesundheitsamt. Eine weitere regelmäßige Überwachung der
Berufsausübung ist für den Heilpraktikerberuf nicht vorgesehen.
Für diese Aufgabe der Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten
wird oft auf die Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und
Psychotherapie des Sozialpsychiatrischen Dienstes zurückgegriffen.
Beteiligung bei der Heimaufsicht (in SchleswigHolstein)
Die heimaufsichtliche Prüfung der vollstationären psychiatrischen
Eingliederungshilfe- und Pflegeeinrichtung erfolgt unter
Einbeziehung der fachlichen Kompetenz der Mitarbeiter des SpDi.
Hier wird besonderer Augenmerk auf die Prüfung der Konzepte und
deren Umsetzung sowie die Einhaltung von fachspezifischen
Qualitätsstandards gelegt.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
155
Aspekte aus der Praxis
Aspekte aus der Praxis
Im Folgenden werden verschiedene Aspekte aus der praktischen
Arbeit der SpDi in Form von exemplarischen Handlungsabläufen,
Fallbeschreibungen und Darstellung spezieller Problembereiche
dargestellt.
Beispiel einer sozialpsychiatrischen
Exploration
In der Exploration geht es darum, in einem Gespräch mit dem
Klienten oder Patienten einen Eindruck von seiner aktuellen
Lebenssituation sowie Vorgeschichte zu erhalten, um zumindest zu
einer vorläufigen Einschätzung zu kommen, ob eine relevante
psychische Störung vorliegt - und ob daraus ein Handlungsbedarf
resultiert. Hierbei steht im Vordergrund die Frage, wie ein
selbstbestimmtes Leben im angestammten sozialen Umfeld
unterstützt bzw. aufrecht erhalten werden kann. Dazu muss
zumindest ein orientierender psychischer Befund erhoben werden, in
der Interaktion mit der Umwelt problematische Verhaltensweisen
eruiert werden, potentielle Gefährdungsaspekte überprüft werden
und die soziale Sicherung betrachtet werden.
Wenn die Person von sich aus über psychische Probleme berichtet,
sei es diese explizit thematisierend:
“
“Wegen meiner Angstanfälle kann ich die Wohnung nicht
mehr verlassen, und jetzt hat mich das JobCenter total
gekürzt, weil ich 3x unentschuldigt nicht gekommen bin.”
oder implizit:
“
“Wenn die Nachbarn nicht immer mit diesem Modul meine
Gehirnströme entziehen würden, könnte ich wieder
schlafen, und dann könnte ich auch wieder arbeiten gehen.
Sonst habe ich überhaupt keine Probleme. Sie müssen mit
den Nachbarn reden, nicht mit mir”
158
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
ergibt sich das Gespräch fast wie von selbst. Wir müssen nur,
anknüpfend an die Äußerungen unseres Gegenübers, unsere geistige
Checkliste abarbeiten, indem wir durch entsprechende Fragen oder
Kommentare das Gespräch lenken.
Ist die Person eher abwehrend, zögerlich oder nur unbeholfen in der
Reflexion über sich selbst, hilft es mit dem Anlass des Besuches zu
beginnen, z.B.:
“
“Ich bin ja zu Ihnen gekommen, weil sich XY Sorgen macht,
dass es Ihnen nicht gut geht bzw. weil QW beunruhigt ist
über die nächtlichen Schreie aus Ihrer Wohnung. Was
halten Sie davon?”
Auch wenn dann in erster Linie eine Gegendarstellung folgt, mischt
sich oft ein Hinweis auf das Erleben hinein und es gibt Aussagen zu
z.B. Schlafproblemen (weil über das WLAN Impulse ausgestrahlt
werden, die ihm Schmerzen bereiten) und das Gespräch kann leicht
dazu übergeleitet werden , ob er eine Idee hat, wer der Verursacher
sein könnte und warum er als Opfer gewählt wurde.
Womit wir vom Thema Sinnestäuschungen zum Thema Wahn
gekommen wären. Wir können auch fragen, wie sehr er darunter
leidet, ob er, so er ihn zu kennen glaubt, gegen den Verursacher
etwas unternehmen will und wenn ja, was oder ob er schon daran
gedacht hat, sich der Qual durch Suizid zu entziehen (womit Fremdund Eigengefährdung abgeklärt wären) oder er an einen Umzug
denkt. Vielleicht ist er genau deswegen in den letzten 5 Jahren schon
7 mal umgezogen und darum jetzt in der Insolvenz, woraus sich
zahlreiche weitere Fragen ergeben. Aber es zeigen sich auch
Ansatzpunkte für Unterstützungsangebote, vielleicht auch eine
Brücke zu einer Problembeschreibung, in der eine psychiatrische
Behandlung eine sinnvolle Handlungsoption sein könnte. Wenn das
Gespräch nicht recht vorangeht, kann man sich auch den Tagesablauf
Schritt für Schritt schildern lassen.
So bekommt man ein anschauliches Bild von Antriebslage und
Tagesstruktur, aber auch sozialen Kontakten, dem Stil der
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
159
Aspekte aus der Praxis
Beziehungsgestaltung und Kompetenzen. Wie man sieht, kann die
Antwort auf ein einzige Frage Aufschluss über zahlreiche
Sachverhalte geben. Viele Symptome hängen in ihren Auswirkungen
auf die Aktivitäten eng miteinander zusammen, sodass man
innerhalb von 30 bis 45 Minuten zu einem tragfähigen Eindruck
gelangen kann.
Genügt es uns, sicher zu sein, dass die Person an einer schweren
psychischen Störung leidet und dringend Räumungsschutz,
Rücknahme einer Sanktion oder die Einrichtung einer gesetzlichen
Betreuung nötig ist, kann man daraufhin das entsprechende Attest
ausstellen.
Soll man ein wissenschaftliches Gutachten anfertigen, in dem es auf
eine exakte diagnostische Einordnung ankommt, muss man
selbstverständlich einen höheren Aufwand betreiben, für eine
umfassende biographische Anamnese muss man auch in einfachen
Fällen ohne relevante Persönlichkeitsproblematik wenigstens 2
Stunden ansetzen. Sofern der Auftraggeber die Kosten dafür
übernimmt, sollte auch eine testpsychologische Persönlichkeits- und
Leistungsdiagnostik erfolgen. Dies kann kaum in weniger als 5 bis 6
Stunden erfolgen.
Auch wenn wir in der Dokumentation Befund und Anamnese fein
säuberlich voneinander trennen, erfassen wir im
Untersuchungsgespräch, jedenfalls in den freien, nicht strukturierten
Gesprächsabschnitten, diese Informationen miteinander. Die Punkte,
die im freien Gespräch nicht geklärt wurden, werden dann in einem
halbstrukturierten Abschnitt angesprochen. Man sollte darauf achten,
besonders heikle Fragen, wie die nach der Orientierung, der
Merkfähigkeit, dem Gedächtnis und der Auffassung zum Schluss zu
stellen. Die damit einhergehende Konfrontation mit kognitiven
Defiziten kann zu heftigen Erregungszuständen führen und
zumindest das Ende der Exploration bedeuten. Hat man es geschafft,
diese Klippe zu umschiffen, ist es empfehlenswert, noch einen freien
Teil anzuschließen, indem man anbietet:
160
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
“
“
“Jetzt habe ich Ihnen viele Fragen gestellt, aber vielleicht
gibt es noch etwas, über das wir noch nicht gesprochen
haben, und das Ihnen noch wichtig ist.”
Folgende Formulierungen haben sich bewährt, um ein
Explorationsgespräch zu strukturieren:
“...Das habe ich nicht verstanden, können Sie mir das näher
erklären?”
“...Was meinen Sie damit?”
“Was verstehen Sie darunter?”
“Sie haben vorhin erwähnt, dass.....Wie meinen Sie das?”
“Viele Patienten berichten, dass.....Kennen Sie das auch?”
“Ich möchte Sie noch besser verstehen, daher frage ich
noch einmal genauer nach. ...”
“Warum ist das mit Ihnen geschehen?”
“Können Sie mir ein Beispiel nennen?”
In der gesamten Anamnese wird aus der Art und Weise der
Darstellung des Anliegens und der Beantwortung der Fragen auf die
allgemeine Differenzierung und die Introspektionsfähigkeit
geschlossen.
Auftreten und Erscheinung
Fragen zu Auftreten und Erscheinung beziehen sich auf Übertragung
und Gegenübertragung in der Untersuchungssituation und mögliche
Beeinflussungen der gegenseitigen Wahrnehmung.
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Aspekte aus der Praxis
Anlass der Untersuchung, Beschwerden und
Probleme
Die Darstellung der vom Betroffenen vorgebrachten Äußerungen zum
Anlass der Untersuchung, zu seinen Beschwerden und Problemen,
geben Auskunft über seine Sicht der Dinge. Was ist für ihn wichtig?
In welcher Reihenfolge? Ist er sich im Klaren über Sinn und Zweck
sowie Ziel und Folgen der Exploration?
Lebensgeschichte
Die zeitlich geordnete Lebensgeschichte gibt Überblick und Auskunft
über mögliche frühere Erkrankungen und Krisen oder Konflikte im
Leben, die der aktuellen Erkrankung vorausgehen und diese
beeinflussen können. Allgemeine Zielrichtungen, Brüche und
Beeinflussungen durch andere Personen werden erkennbar, Lücken
im Lebenslauf werden gefüllt, sie sind meist besonders wichtig für
die psychische Entwicklung.
Derzeitige Lebenssituation
Die Frage nach der Lebenssituation zielt auf die Beeinflussung des
Alltags durch die Erkrankung. Inwieweit strukturiert die Erkrankung
das normale Alltagsleben vor, wie ist der Lebensvollzug
eingeschränkt, wieviel Kraft wird von der Krankheit beansprucht?
Wie ist das soziale Leben strukturiert? Die Lebensachsen werden
abgefragt:
Beziehung(en), Familie
Arbeit
Finanzen
Freizeit und Urlaub
Hilfen, Therapie, Versorgung
Konflikte
162
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Primärobjektbeziehung und Familiendynamik
Hier wird der psychische Hintergrund der Lebensgeschichte und der
derzeitigen Lebenssituation erhellt. Die auf Nachfragen spontan
geäußerten ersten Kindheitserlebnisse lassen - wie auch spontan
geäußerte Träume - Rückschlüsse auf unbewusste Grundhaltungen
und Einstellungen zu. Jemand, der als Erstes über die Mutter
berichtet, die ihn als Kleinkind eingecremt hat, wird ein anderes
Lebensbild haben, als ein Mensch, der zunächst von
Tieffliegerangriffen berichtet, die er als Kleinkind im Luftschutzkeller
erlebte. Fragen nach Lob und Strafen durch die Eltern,
Schulleistungen und Rollenverhalten sowie psychosexueller
Entwicklung decken weitere Lebenslinien auf, die von den
Probanden nicht bewusst gesteuert werden können, da es keine
richtigen oder falschen gibt, sondern nur wahre oder unwahre
(verschwiegene) Antworten gibt.
Hierzu gehören auch Fragen zu
religiöser Ausrichtung
Gewissen
psychosexueller Entwicklung
schulischer Leistung und Sozialisation
grob orientierende Leistungsprüfung
Sprichwörter
Alltagslogik
Je nach Einschätzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit werden
auch zusätzliche Orientierungen vorgenommen. Das Kopfrechnen 100
– 7 usw. dient auch zur Überprüfung der Ausdauer. (s. MMST- Mini
Mental Status Test)
Es empfiehlt sich, die Ergebnisse mitzuschreiben und dann, wenn die
Betroffenen fertig sind, nachzuhaken, die Fehler nochmals
abzufragen. Ganz besonders bei Psychosen ist es durchaus möglich,
richtig kopfzurechnen aber die lange Dauer, bei „100 minus sieben“
vom vorigen Ergebnis wiederum sieben abzuziehen, bis es nicht
mehr geht, überfordert die Konzentration der Betroffenen.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
163
Aspekte aus der Praxis
Sprichwörter
“
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Wenn irgendeine Assoziation mit Eltern oder Vorfahren genannt
wird, reicht es aus, um ein Verstehen oder eben Abstraktionsfähigkeit
zu notieren. Wenn das Sprichwort unbekannt ist, gleich nachfragen,
was es denn bedeuten könnte, auch wenn kein Apfelbaum oder kein
Apfel in der Nähe sind, wenn jemand diesen Satz sagt. Wenn
Probleme mit der Erläuterung bestehen, kann man auch als Hilfe
nennen: “Bitte erklären Sie es wie einem Kind, das mit fünf Jahren
danach fragt: Papa da hat jemand gesagt “der Apfel fällt nicht weit
vom Stamm”, aber es war überhaupt kein Apfelbaum in der Nähe.”
Häufig hilft es auch zu bitten, dass eine Situation im Leben als
Beispiel genannt wird, für die das Sprichwort passen könnte .
“
"Morgenstund hat Gold im Mund."
Die meisten haben es gehört und meinen dann, dass man besser
drauf sei, wenn man früh aufstehe.
Da muss man dann nachhaken, was denn derjenige will, der zu
jemandem sagt, dass die Morgenstund Gold im Mund hat. Er will
nämlich, dass jemand früher aufsteht. Es klingt oft so, als ob der
Auffordernde zu überzeugen versucht, dass es leicht sei, früh
aufzustehen - der Tag sei dann schöner. Der tatsächliche Sinn des
Sprichworts bedeutet aber, dass, wer früher beginnt, auch mehr
Erfolg im Leben hat, sich dann mehr verdient und sich z.B.
Goldzähne leisten kann. Wenn als Antwort ein Vergleich mit dem
englischen Sprichwort
“
„Der frühe Vogel fängt den Wurm“
kommt, bedeutet die Übersetzung in ein ganz anderes, aber
äquivalentes Sprichwort, dass er es zumindest verstanden hat. Aber
dann sollte er trotzdem noch den frühen Vogel erläutern können.
Antworten auf
164
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Stufe 1: Wenn man früh aufsteht, ist man besser drauf. konkretistisch
(ganz konkretistisch)
Stufe 2: Wenn man früher aufsteht, erreicht man mehr im Leben
(ebenfalls konkretistisch, es kann nicht vom frühen Aufstehen
abstrahieren).
Stufe 3: Wenn man Aufgaben schneller als andere beginnt, erreicht
man mehr
“
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Stufe 1: Wenn man mit einem Stein im Glashaus wirft, fallen
Scherben auf einen herunter” (konkretistisch).
Stufe 2: Jeder kehre vor der eigenen Tür. Wer Anderen eine Grube
gräbt, fällt selbst hinein. Nicht den Splitter im Auge des Nächsten
sehen, sondern den Balken im eigenen Auge. Das ist wieder die
Nennung eines äquivalenten Sprichworts, wie der frühe Vogel.
Stufe 3: Man sollte andere nicht kritisieren mit Dingen, für etwas,
dass an einem selbst kritikwürdig ist.
“
Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Viele kennen dieses Sprichwort nicht mehr. Es wird anscheinend
selten verwendet.
Stufe 1: Wenn ein Krug aus Ton häufig verwendet wird, um Wasser
vom Brunnen zu holen, geht er auch einmal kaputt (konkretistisch).
Stufe 2: Wenn man etwas lange verwendet, nützt es sich ab und geht
kaputt. (genau so konkretistisch wie 1)
Stufe 3: Wenn man eine Sache überzieht oder etwas
Gefährliches/Böses öfter tut, geht es auch einmal schief, selbst wenn
es oft gut gegangen ist.
Die vier Sprichwörter sind in der angegebenen Reihenfolge immer
schwieriger und verlangen eine jeweils höhere Abstraktionsfähigkeit.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Aspekte aus der Praxis
Die Erläuterung mit anderen Sprichwörtern zählt auch als
verstanden. Wenn Beispielsituationen gefunden werden können,
heißt dies , dass Abstraktionsfähigkeit vorliegt, aber eben ein
Sprachschatz/Wortschatz/Verbalisation zum Ausdruck der abstrakten
Zusammenhänge nicht vorhanden ist.
Alltagslogik 1:
Captain Cook hat drei große Weltumsegelungen im 17. Jahrhundert
gemacht. Auf einer seiner drei großen Weltumsegelungen wurde er
von Eingeborenen auf Tahiti totgeschlagen. Auf welcher seiner drei
Weltreisen wurde er totgeschlagen?
Stufe 1: Wir hatten keine Geschichte in der Schule. Ich kenne Captain
Cook nicht.
Stufe 2: Von Captain Cook habe ich schon gehört und er wurde auf
der ersten/zweiten Weltreise totgeschlagen.
Stufe 3: Ich kenne zwar Captain Cook nicht, aber er müsste wohl auf
der dritten Weltreise totgeschlagen worden sein, weil er sonst ja die
anderen beiden nicht hätte machen können.
Stufe 4: Auf der dritten Weltreise.
Falls jemand auf Stufe eins oder zwei geantwortet hat, können Hilfen
gegeben werden. Was wäre passiert, wenn Captain Cook auf der
ersten Weltreise totgeschlagen worden wäre? Falls keine Antwort
kommt weiterfragen: Hätte er dann die zweite Weltreise machen
können? Falls dann ein “nein” kommt, wäre die nächste sinnvolle
Frage: Auf welcher der drei Reisen wurde er also totgeschlagen?
Wenn auch jetzt ein Schulterzucken kommt oder nur „auf der
zweiten“ geantwortet wird, kann man weiterfragen: „Hätte er die
dritte Weltreise machen können wenn er auf der zweiten
totgeschlagen worden wäre?“ Und erst wenn hier dann keine
Antwort kommt, muss man von völlig fehlender Alltagslogik
ausgehen.
166
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Auch in diesen verzweifelten Fällen gibt es noch etwas Einfacheres:
Woraus ist ein Kupferpfennig gemacht?
Falls auch hier ein Schulterzucken erfolgt, nicht aufgeben. Sie haben
die Auswahl: Aus Gold, aus Silber, aus Kupfer? Aus Kupfer! Sehr gut!
Dann aber noch eine Kontrollfrage: Woraus ist ein Silberdollar
gemacht?
„Machen Sie sich nichts draus, wenn Sie das nicht wissen, jetzt
kommt was Leichteres“.
Alltagslogik 2: Briefkastenbeispiel
Was würden Sie tun, wenn sie auf der Straße einen verschlossenen
Brief mit aufgeklebten Briefmarken und Absender und Empfänger
finden würden?
Stufe 1: liegen lassen, der geht mich nichts an.
Stufe 2: zum Fundbüro bringen.
Stufe 3: zum Empfänger bringen.
Stufe 4: zur Post bringen.
Stufe 5: in einen gelben Postbriefkasten werfen.
Völlig daneben liegende Antwort: Brief aufmachen und durchlesen,
um festzustellen, wem er gehört. Auch hier kann man den Umgang
und die Logikfähigkeit im Alltag erkennen.
Verbale Fähigkeiten, Gemeinsamkeiten finden:
Was ist das Gemeinsame an Bach und See?
Stufe 1: der Bach fließt und der See steht. (konkretistisch, trennende
Merkmale werden genannt)
Stufe 2: das Gemeinsame ist Wasser.
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167
Aspekte aus der Praxis
Stufe 3: Gewässer
Wenn nur Stufe 2 genannt wird, sollte ein deutsches Wort verlangt
werden, mit dem beide gleichzeitig benannt werden. Am besten mit
der Vorgabe: „Bach und See beides sind mmm.“ Oft kommt dann erst
das deutsche Wort Gewässer. Bei Sprachproblemen würde natürlich
der Einzelbegriff Wasser auch ausreichen.
Tisch und Stuhl?
“
„Beides sind mmm.“
Stufe 1 : Gegenstände
Stufe 2: Einrichtungsgegenstände
Stufe 3: Möbel
Als Hilfe kann auch noch angedeutet werden: „Tisch und Stuhl und
Bank und Schrank, alles sind mmm.“
Es ist erstaunlich, wie häufig die verbalen Dinge leicht, locker und
spontan gelöst werden, das Kopfrechnen jedoch unüberwindliche
Schwierigkeiten macht, z.B. Personen mit Lernbehinderung, aber
guten sozialen Fähigkeiten.
Bei dieser grob orientierenden Leistungsüberprüfung können nur
pauschale Aussagen getroffen werden.
Kopfrechnen: Abziehen der Zahl 7 von 100, vom Ergebnis wieder 7
abziehen usw., möglichst schnell und flüssig.
unauffällig
bildungsentsprechend gering, langsam, mit Fingerhilfe richtig
mehrere Konzentrationsfehler aber selbstständige
Verbesserungen möglich
mehrere Fehler aber bei Nachfragen Richtigstellung
bei Nachfragen weitere Fehler
freies Phantasieren.
168
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Abstraktionsfähigkeit
gering,
bildungsentsprechend gering
an Beispielen möglich, rudimentär
unauffällig.
Alltagslogik
Eingeschränkt
Unauffällig
Kurze Bewertung, ob Verbalteil und Kopfrechnen oder
Abstraktionsfähigkeit insgesamt zusammenpassen.
Spezialitäten
Sexueller Hintergrund der Fragestellung
Bei Fragestellungen mit sexuellem Hintergrund (Missbrauch,
Spanner, Video-Spanner, Stalker, Vergewaltigung, Blitzer,
Exhibitionisten, Transvestiten, Transsexuelle).
Ausführliche und genaue, konkrete Sexualanamnese:
Stichworte: Erste sexuelle Erinnerungen, erste Ejakulationen, TabuErfahrungen, Tabu-Übertretungen mit Onanie-Erfahrungen,
Masturbationspraxis, Hilfsmittel, Ort, Zeit, Häufigkeit, mit wem,
Verhältnis zur Religion, erster GV, jetzige Praxis, Prostitution eigene
bei Fremden, Preise!, finanzieller Aufwand, Freundinnen und
Freunde, Partnerinnen und Partner, mehr oder weniger häufiger
Wechsel, Zeitdauer der Bekanntschaften, Pornohefte, -Filme, eigene
Herstellung
Alles muss, am besten an Beispielen, explizit abgefragt werden. Nicht
nur: Haben sie masturbiert? Sondern wann fingen Sie an? Wie (oft)
derzeit? Mit wem? Vor Wem? Mit welchen Hilfsmitteln? Wie wurden
oder werden diese gelagert, versteckt, gereinigt, entsorgt?
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
169
Aspekte aus der Praxis
Sinn und Zweck: Die wenigsten Patienten können die Hintergründe
und seelisch zugrunde liegenden Problematiken benennen. Aber aus
der Art und Weise und den Inhalten der Antworten kann man darauf
schließen.
Asylgutachten, Migrantenbegutachtungen sind erschwert durch
Sprachprobleme, Übersetzerprobleme, Retraumatisierungsgefahr und
Druck durch auftraggebende Stellen.
Bei Täteransprache und vom Umfeld gemeldeten „Gefährdern“
kommt die Eigensicherung beim Gespräch als Problem hinzu.
Bei der Opferberatung, z. B. gestalkter Menschen ist die geduldige
Begleitung und sensible Beratung gefragt.
Die Vermieterberatung undder Kontakt mit
Wohnungsbaugesellschaften sollte dazu verwendet werden, die
Antistigma-Bemühungen weiter zu führen..
Fallbeispiele
Beispiel: Herr Schlag
(Themen: Schizophrenie, Komorbidität, Maßregelvollzug,
Fremdgefährdung, Hausbesuch mit Eigensicherung)
Frau Angst ruft Sie an und berichtet dass ihr Nachbar Herr Schlag in
den letzten Tagen mehrmals bedrohlich und laut schreiend durch
den Eingang gerannt sei. „Er brüllt dann ‚ich töte euch alle, die Jedis
siegen, die Macht ist stark‘. Vor zwei Tagen habe er das Glas der
Eingangstür mit bloßer Faust zerschlagen. Eben sei er schreiend
nach Hause gekommen. Sie traue sich nicht aus ihrer Wohnung - „der
ist doch so ein Irrer!“ Die Polizei habe gesagt sie solle doch bitte im
SpDi anrufen, die seien für so etwas zuständig.
Es gibt eine Akte bei Ihnen im Amt. Herr Schlag ist dem SpDi noch
nicht persönlich bekannt. In 2 Wochen ist eine Helferkonferenz
geplant zur Fortführung eines betreuten Einzelwohnens, nach
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
erfolgtem Umzug. Herr Schlag wurde vor 3 Jahren aus dem
Maßregelvollzug (gemäß §63 StGB untergebracht nach §20 StGB
exkulpiert) entlassen. Dort war er 3,5 Jahre wegen gefährlicher
Körperverletzung. Eine Bewährung bestehe noch, aber ein neuer
Bewährungshelfer ist nicht genannt. Es ist eine paranoide
Schizophrenie (ED im MRV) und ein polyvalenter Drogenkonsum
(v.a. Cannabinoide, Amphetamine) dokumentiert. Eine rechtliche
Betreuung besteht nicht.
Sie rufen den ehemaligen Bewährungshelfer an: Herr Schlag ist in
seine Heimatstadt gezogen nachdem er dort die Zusage für eine
Maßnahme im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
erhalten habe. Der Umzug sei schon lange angedacht gewesen damit
er auch wieder soziale Kontakte habe, ein Kontakt mit dem SpDi zur
Helferkonferenz sei allerdings erst nach dem Umzug erfolgt.
Der Behandlungsverlauf nach Entlassung aus dem
Maßregelvollzug i sei gut gewesen. Herr Schlag habe nachweislich
keine Drogen gebraucht, seine Medikamente genommen und seine
Termine regelmäßig wahrgenommen. Er habe verschiedene 450
Euro- Jobs gehabt und Maßnahmen vom Jobcenter wahrgenommen.
Der Bewährungshelfer habe Herrn Schlag sehr zugänglich, freundlich
und offen erlebt. Er sei nicht aggressiv in Erscheinung getreten. Der
letzte Kontakt bestand vor 3 Wochen, eine Woche nach dem erfolgten
Umzug. Bei dem neuen Bewährungshelfer ist ein Termin in 1 Woche
geplant, die Wiederaufnahme des betreuten Einzelwohnens sei
angebahnt. Ein neuer Telefonanschluss bestehe noch nicht, Herr
Schlag besitze seit kurzem kein Handy mehr “wegen der
Strahlung”.
Sie sprechen sich im Amt ab und geben den Ort des Hausbesuchs
bekannt. Sie bitten um einen Anruf in 1 Stunde, wenn man sich bis
dahin nicht gemeldet hat. Falls Sie anrufen und um die “grüne Akte”
bitten, solle man die Polizei alarmieren.
Sie fahren zu zweit und sprechen sich vorher gut ab. Das Codewort
für sofortigen Rückzug sei: “Orthopäde”. Das Diensttelefon halten
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Aspekte aus der Praxis
sie griffbereit, den Schmuck und Schal legen sie vorsorglich ab
und ziehen flache Schuhe an.
Die Eingangstür zum Wohnhaus steht offen. Es ist notdürftig eine
Spanplatte angebracht. Sie gelangen bis vor die Wohnungstür, wo
Herr Schlag Ihnen nach Klingeln die Tür zögerlich öffnet. Sein
Allgemein- und Ernährungszustand sind regelrecht, er ist sportlich
trainiert, auffällig ist nur, dass er seine Kleidung links herum trägt.
Sie stellen sich vor und erklären den Grund ihres Besuchs und
fragen ob Sie miteinander sprechen könnten. Herr Schlag lächelt Sie
erfreut an. Er sagt:„Der Widerstand und Prinzessin Leia wollen mir
helfen, ich bin geehrt Sie hereinzulassen.“ Sie achten darauf, dass der
Fluchtweg frei bleibt. Im Flur liegen Tüten und ausgerollte Alufolie
auf dem Fußboden. Herr Schlag bittet Sie in die Küche, dort seien
Stühle. Sie lehnen dies ab und bitten um ein Gespräch im
Wohnzimmer und lassen Herrn Schlag vorgehen. Dort bietet sich
ein Bild des Chaos. Möbelteile, Müll und Isolierdecken liegen
zwischen Kleidungsstücken. Sie bleiben im Türbereich stehen, der
Betroffene befindet sich im Raum.
Herr Schlag redet offen mit Ihnen, manchmal flüstert er, da “die
zuhören” könnten. Es besteht ein systematisierter Wahn mit
thematischen Inhalten von Star-Wars. Da Sie wissen, dass ihre
langjährig erfahrene Sozialarbeiterin Star-Wars-Fan ist, lassen Sie sie
das Gespräch führen. Herr Schlag habe “Darth Vader in der Scheibe
der Tür gesehen” und daher zugeschlagen. Darth Vader habe sich
aber in die Wohnung im 2. Stock unter ihm geflüchtet. Um die dunkle
Macht von dort abzuwehren, habe er alles mit Folie ausgelegt. Bei
gezielter Nachfrage berichtet Ihnen Herr Schlag, dass er sich bereits
bewaffnet habe, er habe sich als Lichtschwert einen elektrischen
Viehtreibstock gekauft, dieser sei in der Küche. Bei der Frage ob Sie
Angst vor ihm haben müssten, zeigt sich Herr Schlag erschrocken,
Sie seien doch Verbündete und würden ihn heute noch im Kampf
gegen die dunkle Macht unterstützen. Es sei dringlich, denn die
dunkle Macht breite sich aktuell aus und der gesamte zweite Stock sei
betroffen. Man müsse zugreifen, denn die Entwicklung mache Angst.
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Er berichtet Ihnen, dass der Jedi nach dem Umzug zu ihm Kontakt
aufgenommen habe und sagte, er müsse die Medikamente absetzen
und “die Macht wieder inhalieren”. Jetzt sei ihm aber das Cannabis
ausgegangen. Herr Schlag sei nicht krank und wolle erst recht nicht
in ein Krankenhaus. Zunehmend wird er dysphor-gereizt,
aggressiver und bedrohlicher. Als Sie ihm mitteilen, dass Sie nun
doch Angst vor ihm bekommen würden, kann er sich kaum
regulieren und rennt schimpfend durch den Raum. Er redet vom
nahenden Todesstern und dem Ende, guckt gehetzt hin und her und
brüllt unvermittelt kurz los. Er schreit jemand Imaginären im Raum
an.
Ihnen wird zunehmend unwohl zumute und Sie verabschieden sich
mit den Worten, dass Sie sich noch orthopädischen Rat einholen
müssen. Beim Rückzug beeilen Sie sich und versuchen Herrn Schlag
dabei im Blickfeld zu haben. Der Betroffene geht auf und ab, redet
zunehmend verworren vor sich hin, lacht dabei auf und tritt immer
wieder in die Luft.
Vor der Haustür kontaktieren Sie die Polizei und Feuerwehr zur
Einweisung des Betroffenen nach dem PsychKG bei
krankheitsbedingter Fremdgefährdung.
Bei akuter Psychose nach Medikamenten-Incompliance und erneutem
Drogenkonsum weisen Sie den nicht mehr absprachefähigen, nicht
steuerungsfähigen Herrn Schlag bei akuter Gefährdungslage ein. Bei
unmittelbar bevorstehender krankheitsbedingter Gefahr für
Andere sehen Sie keine Alternative zu einer Unterbringung zur
Sicherung und möglichst stationären Behandlung des nicht
einsichtsfähigen Betroffenen, nachdem dieser bereits in Verkennung
die Tür eingeschlagen habe und sich bewaffnet hat. Eine freiwillige
Aufnahme lehnt er ab. Er ist nicht krankheits- und
behandlungseinsichtig im ambulanten Setting.
Weiterhin nehmen sie Kontakt mit dem ehemaligen
Bewährungshelfer auf, erklären die aktuell erfolgten Maßnahmen bei
fraglich deliktnahem Verhalten. Sie bitten notwendigenfalls um
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Aspekte aus der Praxis
Überprüfung ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme in den
Maßregelvollzug nach 67h StGB oder § 453c StPO vorliegen.
Im Rahmen der Amtshilfe durch die Polizei versuchte Herr Schlag die
Beamten zu verletzen, da er sie als „Stormtrooper“ verkannte. Es
erfolgte kurze Zeit später eine Rücknahme des Betroffenen zur
Krisenintervention in den Maßregelvollzug gemäß § 67h StGB.
Im Rahmen der Krisenintervention erfolgt eine gezielte Planung und
bereits frühzeitige schrittweise Einbindung in das
gemeindepsychiatrische Hilfesystem vor Ort mit gutem Erfolg. Sie
nutzen auch die familiäre Anbindung im Ort, vor allem die
stützende Großmutter, die Sie noch einmal gut bezüglich des
Krankheitsbildes und möglicher Frühwarnsignale aufklären.
Merke:
Informationen einholen bevor man in eine unbekannte Situation
startet,
Hausbesuch planen und vorbereiten (Adresse, Rückruf erbeten,
Codewörter, Handy griffbereit (Anm.: hier sollte man auch
überlegen ein eher altes Modell mitzunehmen, bei Aufregung,
nassen Händen etc ist die Smartphone-Bedienung im Eilfall oft
schwierig))
Eigensicherung hat Vorrang, frühzeitig zurückziehen, Amtshilfe
anfordern
Voraussetzungen der Unterbringung nach PsychKG (einstweilig)
und Verfahrenswege kennen
Gefährdungen einschätzen (z.B. hier: jung, männlich, Erkrankung
aus dem schizophrenen Formenkreis - akute Psychose,
zunehmend angetrieben und verworren, fühlt sich selbst bedroht
und hat Ängste, komorbider Drogengebrauch (mit aktueller
unfreiwilliger Abstinenz), Fremdgefährdung im Vorfeld, vgl. z.B.
Kröber: Kann man die akute Gefährlichkeit schizophren
Erkrankter erkennen? Forensische Psychiatrie, Psychologie,
Kriminologie 2, 2008, S. 128-136)
174
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Versorgungssystem kennen und nutzen
nachsorgende Hilfen planen um erneute Krisen zu verhindern:
sozialen Empfangsraum schaffen, Einbindung in das
gemeindepsychiatrische Versorgungssystem
Beispiel: Frau Sauber
Themen (geistige Behinderung, Alkohol und Folgeschäden,
Hausbesuch, Ressourcen nutzen, Selbstbestimmung)
Frau Biene ruft Sie hilfesuchend an. Sie sucht Hilfe für ihre
langjährige Freundin Frau Sauber. Ihre Freundin habe eine
rechtliche Betreuerin aber “die hilft einfach nicht” und lasse sie oft
allein mit ihren Problemen Sie sage einfach immer Frau Sauber solle
endlich aufhören Alkohol zu trinken. Frau Biene begleite Frau Sauber
daher zu allen offiziellen Terminen, da sie beim Amt „ja nichts
versteht“. Sie sei „kein ganz normaler Mensch“, sondern langsamer.
Wenn sie dann nichts verstehe, rege sie sich immer fürchterlich
auf, werde laut und schreie. Zuhause trinke sie dann wieder
Alkohol, dies passiere nach diesen Terminen immer. Die Fenster der
Wohnung seien undicht, Schimmel trete auf und Frau Sauber habe
Allergien entwickelt. Sie sei immer wieder krank. Ihr Hausarzt sei
seit 2 Jahren in Rente und alle Ärzte in der Nähe hätten sie abgelehnt,
sie finde doch aber den Weg nicht bei größeren Entfernungen.
Sie vereinbaren einen gemeinsamen Termin zum Hausbesuch (Frau
Sauber und Frau Biene, Sozialarbeiter und Arzt/Psychologe des
SpDi[1]), um sich ein Bild vor Ort zu machen.
Frau Sauber ist im Amt nicht bekannt. Die rechtliche Betreuerin wird
über den Termin informiert und um Unterlagen gebeten: im
eingereichten, sehr kurzem Betreuungsgutachten (6 Jahre alt) steht:
leichte geistige Behinderung, Abhängigkeit von Alkohol, ein Sohn
vor 14 Jahren in Obhut genommen, rechtliche Betreuung erneut
verlängert in sämtlichen Aufgabenkreisen.
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Aspekte aus der Praxis
Vor Ort sind Sie in einer sauberen, sehr spartanisch eingerichteten
Wohnung, an den Außenwänden ist die Tapete entfernt. Frau Biene
zeigt Bilder nasser Wände unterhalb der Fenster bei Regen und
Schimmelbildung in der Wohnung. Der Regen trete durch die
undichten Fenster ein - seit Jahren, die Hausverwaltung habe Tapete
und Schimmel nach einem Schreiben der rechtlichen Betreuerin
entfernt, mehr nicht.
Frau Sauber: Anfang 40, kleinwüchsig, sehr schmale Schultern, lange
Arme, Mikrozephalie, verstrichenes Philtrum, Augen auffällig
zurückgesetzt; Gedankengang und Arbeitsgeschwindigkeit
verlangsamt, Auffassungs-, Aufmerksamkeits- und
Konzentrationsstörungen, schulpraktische Fertigkeiten gering
(Hauptschulabschluss nach 10 Jahren erlangt), (MOCA 11 von 30
Punkten (Normbereich ≥26 Punkte), Mehrfach-WortschatzIntelligenztest-B 12 Punkte entspricht im MWT-B einem IQ von 79);
schnelle Affektdurchbrüche, verbal-aggressives, impulsives
Verhalten bei geminderter Frustrationstoleranz und UmstellungsErschwernis; Alkohol: 12 Bier + 1 Flasche Likör mit Kontrollverlust,
mit kurzen tageweisen (max. 1 Woche) Konsumpausen; einmalig
teilstationärer Entzug vor circa 15 Jahren, abgebrochen ohne Erfolg;
Kein Kontakt mehr zur Herkunftsfamilie, 6 Geschwister, Eltern
haben Alkohol getrunken. Keine Arbeit, die rechtliche Betreuerin
sagetsie „muss in eine WfbM“. Lange Anfahrtswege, frühes Aufstehen
und die Art der Arbeit will sie nicht.
Leidet unter Einsamkeit, Konflikte mit der Betreuerin und Zustand
der Wohnung, erwartet sich Begleitungen zum Jobcenter, Jugendamt
„verstehe doch da nichts, dann rege ich mich auf und trinke wieder
Alkohol.“ Will weniger trinken, am besten aufhören „kaufe einfach
keinen Alkohol mehr, manchmal klappt es“.
Frau Biene unterstützt sie, begleitet sie zu Terminen, sei damit aber
auch überfordert und könne ja nicht handeln. „Sie weiß auch, dass sie
mich betrunken nicht anzurufen braucht“, und „wenn sie wieder ihre
176
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Phase hat, lass ich sie einfach und gehe, wenn sie schreit. Sie meldet
sich dann von ganz allein wieder.“
Nach einer eingehenden Beratung zeigt sich, dass Frau Sauber gerne
eine Tagesstruktur und Aufgabe hätte. Sie könne sich sehr gut
vorstellen einen Reinigungsjob anzunehmen, sie mache gern sauber.
Hilfe in Form eines betreuten Einzelwohnens würde sie gerne
annehmen, auch eine niedrigschwellige Anbindung an die
ambulante Suchthilfe lehnt sie nicht ab, um langfristig ihren
Alkoholkonsum zu kontrollieren oder bestenfalls abstinent zu leben.
Ihre rechtliche Betreuerin habe sie seit über 15 Jahren. Sie ist auch
bereit mit ihr weiter zu arbeiten, wenn sie sie vor allem auch vor der
Wohnungsbaugenossenschaft besser vertreten würde und sie nicht
immer nur wegen des Alkoholkonsums maßregeln würde. Sie würde
gerne wieder einen Hausarzt haben. Sie hatte früher immer ein
Spray, da habe sie besser atmen können und nicht so oft gehustet.
Auf Nachfrage bestätigt Frau Sauber, dass ihre Mutter während iherr
Kindheit viel Alkohol konsumiert habe. Frau Sauber sei nie in
psychologisch-psychiatrischer Behandlung gewesen. Im Rahmen der
Ihnen vorliegenden Erkenntnisse besteht bei Frau Sauber der
dringende Verdacht auf ein Fetales Alkohol Syndrom (FASD), welches
oft mit kognitiven Beeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten und
komorbider Abhängigkeit von Alkohol einhergeht.
Merke:
gründliche Anamnese mit Fremdanamnese, Diagnostik ->
Differentialdiagnosen (hierdurch erklären sich Komorbiditäten,
Eigenarten/Verhaltensauffälligkeiten)
aufsuchende Arbeit mit zusätzlich gewonnenen Erkenntnissen
Ressourcen nutzen und den Willen der Betroffenen beachten –
zielführende inklusive Hilfen nutzen, erreichbare Zielsetzungen
(kontrollierter, reduzierter Alkoholkonsum durch Tagesstruktur,
Copingmechanismen, niedrigschwellige Beratung und
Begleitung…)
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Aspekte aus der Praxis
Beispiel: Herr Politox - Hausbesuch mit
Eigensicherung
Meldung von der Hausgemeinschaft, Melder wünscht anonym zu
bleiben. Herr Politox sei Alkoholiker und schreie „nachts immer
herum“. Die Wohnung wäre vermüllt, es werde ein Brand befürchtet,
weil er seine Zigaretten mit der immer glühenden Herdplatte
anzünde. Er werfe Gegenstände aus dem Fenster. Es müsse was
geschehen. Wenn die Ämter sich nicht bald darum kümmern würden,
müsse man sich an die Presse wenden. Herr Politox müsse „weg“.
Es findet ein unangemeldeter Hausbesuch gegen Mittag (beste Zeit
bei Alkohol kranken Menschen, da kein Entzug mehr, weil oft um
diese Zeit wieder Alkohol getrunken , aber auch noch nicht der volle
Pegel) durch den SpDi statt) Klingelanlage defekt, keine
Namensschilder, Dachgeschoß. Es wird nicht geöffnet.
Erkundigungen bei den Nachbarn werden mit großem Interesse
begrüßt und liefern ein Füllhorn an Informationen über Herrn
Politox. Zum Beispiel: Er sei auch gewalttätig. Nach Hinterlassung
eines Ankündigungsbriefs (Wir werden Sie am … um … Uhr nochmal
besuchen) und Tesafilmanwendung (Kleben eines Tesafilmstreifens
von der Wohnungstür zum Rahmen zur Überprüfung, ob die Tür bis
zum nächsten Hausbesuch geöffnet wurde, Herr P. lebt also noch)
wird auch eine Scheinbeendigung des Hausbesuchs ( lautstarkes
Verlassen des Hauses jedoch sofort leise wieder nach oben gehen)
durchgeführt, verläuft jedoch frustran. Ein weiterer Versuch findet
am Folgetag gegen 10 Uhr statt. Mit Hilfe der HandyAnkündigungsmethode (unmittelbar vor der Tür stehend mit dem
Handy anrufen) gelingt es, Kontakt herzustellen. Herr P. meint, dass
er keinen Besuch wünsche. Nach weiterem, beharrlichem
Seitwärtsklingeln (nicht vor der Tür frontal stehend auf den
Klingelknopf drücken, sondern neben der Tür stehend) reißt Herr P.
plötzlich schreiend die Tür auf und schleudert einen Schuh heraus,
der jedoch nicht trifft, weil er erwartet hat, dass jemand direkt vor
der Tür steht.
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Unter Hinweis, dass es sehr erfreulich sei, Herrn P. endlich
persönlich sprechen zu können, wird ihm laut und deutlich
bekundet, dass weitere Kontakte erforderlich sind und man ihm nur
so helfen kann , seine Wohnung aufzuräumen. Herr P. zeigt sich zwar
wenig erfreut, hört aber immerhin doch zu. Seine Alkoholquelle, der
Taxifahrer, der immer den Alkohol und Joints vorbeibringe, wolle
nämlich nicht mehr liefern, nur weil er mal kurz in einem
kurzfristigen, finanziellen Engpass sei. Wenn er jemanden hätte, der
seine Frührente vorbeibringen könne, würde ihm das sehr helfen.
Über diesen Einstiegkann weiterer Kontakt gehalten werden. Herr P.
stimmt einer Begleitung zur Bank zu, denn seine Karte sei nicht
auffindbar und er müsse eine neue beantragen. Dazu muss er (zum
ersten Mal seit Monaten) einigermaßen nüchtern sein und,
irgendwoher und wie auch immer, saubere Kleidung anziehen. Die
Nachbarn sind etwas beruhigt, weil hin und wieder jemand vom Amt
vorbeischaut und jemand die Herdplatten abgeschaltet hat und die
Griffe vom Herd rätselhaft verschwunden sind. Sie verschieben die
Unterschriftensammlung gegen Herrn P. bei der
Wohnbaugesellschaft. (Ein Reservat der inneren Unordnung sichern.)
Nach mehreren Hausbesuchen, bei denen er meist öffnet, stimmt
Herr P. schriftlich zu, dass von der Frührente die Gebühren für die
Wohnungs-Entmüllung in 50 €-Raten abgebucht werden können. Bei
der Entmüllung durch eine Firma werden nur die Funktionsräume
(Küche bzw. Kochplatz, Bett, Sitzgelegenheit im Wohnzimmer, Bett,
Toilette, Waschbecken) benutzbar gemacht und eine nächste Aktion
in 6 Monaten avisiert. (Erfahrungsgemäß laufen die Wohnungen
immer wieder voll.)
Seit etwa 20 Hausbesuchen, einem Jahr und einer Krisenintervention
bei Akohol-Intoxikation mit Kurzzeit-Drehtür-Entgiftung in der
Notaufnahme lebt Herr P. weiterhin in seiner Wohnung, jetzt mit
lautstarkem Fernseher und Kopfhörern und holt sein
Alkoholkontingent (nur so viel er auf den 1,5 km bis zur
Einkaufsmögchlichkeit tragen kann) selbst.
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Aspekte aus der Praxis
Beispiel: -Vorführung im SpDi
Hochpsychotischer junger Mann wird von der Polizei vorgeführt, ob
ZE ( Zwangseinweisung) nötig ist . Er sitzt ohne Handschellen im
Wartebereich zwischen zwei Polizisten. Die Sekretärin sitzt 10 m
entfernt sichtbar im Vorzimmer und tippt etwas in den PC. Ohne
jeden vorherigen Gesprächskontakt oder irgendwelche anderen
Anzeichen springt er auf, spurtet auf die Mitarbeiterin zu, die sich
ängstlich von ihm abwendet und die Hände schützend über den Kopf
hält. Er stürzt sich von hinten auf sie, und beide fallen über die
Tastatur zwischen Bildschirm und Diktiergerät über den Bürotisch,
bevor die beiden Polizisten in die Situation eingreifen könn
Kommentar und Tipp:
Unberechenbares Verhalten ist immer möglich, und
primärprozesshafte Instinkthandlungen können raptusartig
ausgeklinkt werden. Wartende Psychotiker brauchen reizarme
Umgebung. Emotionales Abkühlen dauert lange. Eine Unterbringung
wurde für erforderlich erachtet.
Beispiel: Pistole auf dem Tisch
Nach der Begutachtung eines Patienten mit einer
Persönlichkeitsstörung ist sich der Untersucher mit diesem “einig”,
auch bezüglich der erforderlichen Maßnahmen. Mit den Worten, dass
er diese ja nun nicht mehr brauche, zieht der Patient eine geladene
Waffe aus seiner Hose und legt sie vor dem Untersucher auf den
Tisch. Der herbeigerufene Polizist wird ganz blass, hat er den Mann
doch vorher abgetastet.
Kommentar und Tipp:
Es ist kann vorteilhaft sein, im Zweifel in unmittelbarer Anwesenheit
von Polizeibeamten, die entweder mit dabei sitzen oder an der Tür
stehen, zu explorieren. Man kann auch die Möglichkeit nutzen,
Möglichkeit, den Patienten vor der Exploration medizinisch (flüchtig)
zu untersuchen. Nach Blutdruck Messung und Puls fühlen, kann man
180
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
natürlich auch die Leber tasten, sodass eine versteckte Waffe bei den
Manipulationen auffallen wird
Beispiel: Rechtfertigender Notstand
Anruf der Rettungssanitäter beim SpDi: Sie wurden zu einem
verwirrten Patienten gerufen. Der Betroffene sei sehr unruhig und
rede “wirres Zeug”. Er wolle nicht mit in die Klinik. Auf Nachfrage: Er
behaupte, da seien fremde Männer im Zimmer, und Riesenspinnen
liefen über die Decke. Auf weitere Nachfrage: Der Betroffene habe
einen Puls von 130, zittere stark und sei kaltschweißig. Er stehe recht
wackelig auf den Beinen. In der Wohnung stünden diverse leere
Spirituosenflaschen.
Da es sich vermutlich um ein akutes Delir handelt, wurde die
sofortige Verbringung des Betroffenen auf die nächstgelegene
Intensivstation, auch unter Anwendung von Zwang, auf der
Rechtsgrundlage “rechtfertigender Notstand” bei vitaler Bedrohung
angeordnet.
Beispiel: Eigensicherung, auch im Amt
Wir empfehlen sich bei Hausbesuchen nicht hinter dem
Wohnzimmertisch in einen weichen Polsersessel zu setzen, aus dem
mit Mühe t aufsteht, wenn sie Situation sich krisenhaft zuspitzt..
Auch in der Dienststelle sollten sie versuchen, "Sackgassen" zu
vermeiden. Die einfachste Maßnahme ist schon der Standpunkt des
Schreibtisches. Er muss im Raum und darf nicht in einer Ecke stehen,
so dass man notfalls auf die andere Seite flüchten kann.
Eine professionelle Gefahrenabschätzung und Erwägung eventueller
Maßnahmen ist immer angezeigt. Bitte malen Sie sich aber keine
Angst erzeugenden Eventualitäten aus. Man schnallt sich ja im Auto
auch ohne Angst an und malt sich nicht aus, was einem alles
passieren kann, wenn man sich nicht anschnallt.
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Aspekte aus der Praxis
Auch in der Dienststelle sollte man an Krisensituationen denken und
besonders bei Vorführungen durch die Polizei mögliche
Wurfgeschosse (Aschenbecher, Vasen) und potentielle Waffen
(Scheren, Brieföffner etc.) wegräumen. Auch den Kaffee nicht allzu
heiß servieren! Regel: alles was als Wurfgeschoss oder Schlag- und
Stichwaffe griffbereit liegen könnte, so weit wie möglich und
unauffällig entfernen. Ein Tischdeckchen am Besprechungstisch ist
ganz wertvoll für die Aggressionsabfuhr des Klienten.
Besondere Problembereiche
Kinder psychisch kranker Eltern
Zwei bis drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben
nach Angaben der Kinderkommission im Deutschen Bundestag in
Familien, in denen ein Elternteil eine psychische Erkrankung , z.B.
eine Depression, eine Schizophrenie oder Borderline-Erkrankung hat.
Ungefähr 500.000 von ihnen leben in einer Familie mit einem
alleinerziehenden Elternteil.
I Jährlich werden ca. 6.000 Sorgerechtsentzüge entschieden. Davon
betrifft etwa ein Drittel Eltern mit einer psychiatrischen Diagnose.
Das Aufwachsen mit einem psychisch erkrankten Elternteil kann für
Kinder eine gravierende, dauerhafte Belastungssituation darstellen,
die mit einer Vielzahl an alltäglichen Anforderungen, Konflikten und
Spannungen verbunden ist - sowohl innerhalb der Familie, als auch
im sozialen Umfeld.
Die Erkrankung von Eltern steht nicht selten in Wechselwirkung mit
der psychischen Entwicklung ihrer Kinder bzw. Jugendlichen:
Kinder schizophren erkrankter Eltern tragen ein Risiko von ca. 13
%, selbst an Schizophrenie zu erkranken
bei Kindern schizoaffektiv erkrankter Eltern liegt das
Erkrankungsrisiko sogar bei 37%
ein Drittel der Kinder in stationärer Kinder- und
Jugendpsychiatriebehandlung hat ein psychisch erkranktes
182
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Der Sozialpsychiatrische Dienst
Elternteil. Bereits Säuglinge und Kleinkinder können in ihrer
gesunden Entwicklung beeinträchtigt werden, wenn ein Elternteil
an einer psychiatrischen Erkrankung leidet.
Trennungsängste, Angst vor Verschlimmerung der Krankheit und vor
einem möglichen Suizid, Hoffnungslosigkeit, Schamgefühle und
Resignation, aber auch Wut kennzeichnen die Gefühlslage der älteren
Kinder. Bei den Jugendlichen stehen die Angst vor einer möglichen
eigenen Erkrankung, Schuldgefühle, starke Verantwortungsgefühle
gegenüber der Familie und oft auch Trauer über den Verlust der
elterlichen Identifikationsfigur im Vordergrund.
Die Bewältigungsstrategien sind unterschiedlichm und damit sind es
auch die Rollen, die die Kinder innerhalb der Familie einnehmen:
sie können sich als „Helden“ fühlen (Parentifizierung und damit
häufig Selbstüberforderung)
manche fühlen sich als „Sündenbock“
manche ziehen sich still und verloren zurück, fliehen in eine
Fantasiewelt und meiden soziale Kontakte
Ein Teil der Kinder nimmt die Rolle des „Clowns“ oder
„Maskottchens“ ein.
Hilfebedarfe:
Seit Anfang der 2000er ist das Thema “Kinder psychisch kranker
Eltern” deutlich mehr in den öffentlichen Fokus sowohl, was die
wissenschaftliche Forschung betrifft, als auch die Einrichtung einer
Vielzahl von Initiativen, Projekten und Einrichtungen. Aus den
vorliegenden Forschungsergebnissen und empirischen
Praxiserfahrungen lassen sich die nachfolgend aufgeführten Bedarfe
verallgemeinern:
Schaffung präventiver und Resilienz fördernder Angebote für
Kinder und Jugendliche
altersgerechte Informations-, Beratungs- und Therapieangebote
für Kinder und Jugendliche
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
183
Aspekte aus der Praxis
Informations- und Beratungsangebote für Eltern und
Bezugspersonen
niedrigschwellige entlastende und unterstützende Angebote für
betroffene Familien
Schaffung von Hilfenetzen und Krisenplänen zur raschen
Intervention im Krisenfall
koordinierte Behandlungs- und Hilfeplanung aller beteiligten
Institutionen und
Fachkräfte
Dennoch ist in der täglichen Praxis immer wieder festzustellen, dass
eine bedeutende Hürde beim Aufbau von Hilfen für betroffene
Familien die Versäulung der verschiedenen Sozialleistungsbereiche
anzusehen :
Leistungen des Gesundheitswesens im SGB V (gesetzliche KV)
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen im SGB IX
Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen im SGB XII
Die Verantwortung für Unterstützungsangebote für betroffene
Familien liegt auf vielen Schultern:
Kommune
freie Träger der Gemeindepsychiatrie
freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe
Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie
niedergelassene Ärzte (erwachsenenpsychiatrische, kinder- und
jugendpsychiatrisch sowie pädiatrische Praxen)
psychotherapeutische Praxen
psychiatrische und kinder- und jugendpsychiatrische
Krankenhäuser
Selbsthilfe
bürgerschaftliches Engagement (sehr selten)
Alle diese Institutionen und Professionen sind idealtypisch in
fallübergreifende Kooperationsstrukturen einbezogen.
184
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Jedoch ist das Wissen um die unterschiedlichen professionellen
Aufgaben, Kompetenzen, Zuständigkeiten, Blickwinkel und Grenzen
zur Begleitung von Familiensystemen noch nicht ausreichend
ausgeprägt und pendelt zwischen den Spannungsfeldern
pädagogisch und medizinisch
Kindeswohl und Eltern-Interesse
Hilfe und Kontrolle
Systemlogik und Professionslogik
Autonomie und Zwang
familienzentriert und individuumszentriert
ressourcenorientiert und defizitorientiert (weil die
Voraussetzungen für die Hilfegewährung an eine störungs- oder
krankheitsrelevante Diagnose gebunden ist)
Fazit:
Trotz vielfältiger potenzieller Möglichkeiten und größtenteils
rechtlich abgesicherter Finanzierungen zeigt die Praxis, dass
betroffene Familien notwendige Hilfen nicht erhalten, weil
es an Wissen über die vorhandenen Möglichkeiten mangelt
unterschiedliche Herangehensweisen zu erheblichen
Verständigungsschwierigkeiten in der Kommunikation zwischen
den (professionellen) Akteuren führen
es abweichende Bedarfseinschätzungen für die Implementierung
von Hilfen gibt
Zeitmangel, Arbeitsverdichtung, Fallzunahmen die Arbeit der
Fachkräfte erschweren
es eine Diskrepanz zwischen der zeitlichen Befristung von
Hilfemaßnahmen und dem oft langfristig bestehenden
Krankheitsbild der Eltern gibt
Angst vor Eingriffen in die Erziehung oder das Sorgerecht,
teilweise mangelnde Krankheitseinsicht, aber auch Scham bei
den Betroffenen die Inanspruchnahme verhindern
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
185
Aspekte aus der Praxis
auch im sozialen Umfeld das Thema psychische Erkrankung
vermieden wird und Kinder selten als Angehörige
wahrgenommen werden
es am bedarfsgerechten Zuschnitt der Hilfen fehlt
Kommunikationswege zu lang und zu unübersichtlich sind
finanzielle Ressourcen begrenzt sind
im Bereich der Prävention keine gesetzliche Verpflichtung, jedoch
Handlungsbedarf besteht
Da Präventionsangebote für Kinder psychisch kranker Eltern weder
im Rahmen des Gesundheitsversorgungssystems noch im Rahmen der
Jugend- oder Sozialhilfe regelhaft finanziert werden, ist es dringend
erforderlich, dass klare gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen
werden, die eine Finanzierung von Präventionsangeboten dieser Art
ermöglichen.
Psychisch kranke Menschen im Alter
Mit zunehmender Lebenserwartung nimmt nicht nur die Zahl von
Menschen zu, die altersbedingt ein erhöhtes Demenzrisiko haben und
daher im Alltag Unterstützungsbedarf entwickeln. Der Verlust an
Rollen und sozialen Kontakten, geringere körperlicher Aktivität,
Sinnesbeeinträchtigungen und eingeschränkte finanzielle
Möglichkeiten begünstigen das Auftreten von Depressionen.
Alleinleben oder die Pflege eines dementen Partners stellen
besondere Belastungssituationen dar.
In vielen Gebietskörperschaften haben die allgemeinen kommunalen
Sozialdienste nur noch Aufgaben im Bereich der Jugendhilfe, sind
jedoch nicht mehr für Senioren zuständig. Trotz diverser Angebote
der Pflegeberatung gibt es keine klare Versorgungsverpflichtung.
Alt gewordene psychisch kranke Menschen, die langjährig Angebote
der Gemeindepsychiatrie genutzt haben, haben mit Erreichen des
Rentenalters keinen Zugang mehr zu Angeboten der WfbM. Wenn ein
Pflegebedarf hinzutritt, kann dieser in den Einrichtungen der
Gemeindepsychiatrie oft nicht gedeckt werden, zumal die
186
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Räumlichkeiten häufig nicht barrierefrei für
mobilitätseingeschränkte Menschen sind.
Obdachlosigkeit/mit Alkohol, Wohnungslosigkeit
Wohnungslosigkeit ist ein Problem mit einer außerordentlich
komplexen Genese. Gesundheitliche Aspekte haben bei ihrer
Entstehung eine eher untergeordnete Rolle, sie begünstigen ihrerseits
jedoch stark das Auftreten vieler Arten von Gesundheitsstörungen,
auch psychischen und sie erschweren deren Behandlung.
In der Endstrecke des Wohnungsverlustes, wenn ein zügiges und
entschlossenes Handeln eine Räumung noch verhindern könnte,
spielen Depression und Sucht oft eine entscheidende Rolle.
Unter den Menschen, die tatsächlich von Obdachlosigkeit betroffen
sind, findet man eine hohe Prävalenz von Substanzgebrauch und
Persönlichkeitsstörungen, wobei der Substanzkonsum auch eine
durchaus adaptive Rolle beim Überleben “auf der Platte” hat, ebenso
wie die vollständige Konzentration auf die im aktuellen Moment
gerade im Vordergrund stehende Bedürfnislage unter Hintanstellung
weniger dringender Bedürfnisse, wie z.B. nach ärztlicher Behandlung
einer lebensbedrohlichen Krankheit.
Problemkreis Sucht (Alkohol, Drogen, Internet)
In praktisch allen PsychKGs und GDGs werden ganz
selbstverständlich suchtkranke Menschen zu den Personen gezählt,
für die der SpDi zuständig ist. Allerdings ist die Suchtkrankenhilfe ein
in seiner Historie sehr klar vom medizinischen Bereich abgegrenztes
Hilfesystem. Der Zugang zu den Leistungen der Rentenversicherung,
also der Entwöhnungsbehandlung und der Adaption, geschieht über
die in der Regel in reiner Komm-Struktur arbeitenden
Suchtberatungsstellen, die aber nur zu einem geringen Anteil der
suchtkranken Menschen Kontakt haben. Die Hausärzte, in deren
Praxen sich wesentlich mehr Menschen mit Suchtproblemen in
Behandlung befinden, erkennen und adressieren das Problem jedoch
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
187
Aspekte aus der Praxis
nur selten, wobei sich die suchtmedizinische Kompetenz im
hausärztlichen Bereich erkennbar verbessert hat.
Der SpDi wird häufig über Meldungen wegen
Wohnungsverwahrlosung (hier Verweis auf Kapitel WohnungsVerwahrlosung und psychische Erkrankung) bitte Verweis erstellen
oder durch Unterbringungsmitteilungen von Ordnungsbehörde,
Gericht oder Klinik auf suchtkranke Menschen aufmerksam .
Auch Störungen im öffentlichen Raum durch alkoholisierte oder
öffentlich intravenös Drogen konsumierende Personen führen dazu,
dass das Gesundheitsamt aufgefordert wird, tätig zu werden.
Selbstverständlich ist es erforderlich, individuelle Problemlagen und
Unterstützungsbedarfe der solcherart in Erscheinung tretenden
Personen zu klären, eine Beschränkung auf eine rein medizinische
Betrachtungsweise ist nicht geeignet Probleme durch
Wohnungsmangel, Beschäftigungslosigkeit, verfehlte
Stadtentwicklung und unzweckmäßige Gestaltung öffentlicher Räume
zu beheben.
Auf sogenannte “nicht-wartezimmerfähige” Patienten ist das
medizinische Regelversorgungssystem nicht ausgerichtet. Das führt
dazu, dass insbesondere Personen mit Opioidabhängigkeit selbst bei
ausreichender Versorgung durch eine Substitutionsbehandlung bei
niedergelassenen Ärzten, sofern sie im Praxisablauf störend in
Erscheinung treten, oft schnell wieder aus der Behandlung
herausfallen.
Im Rahmen der kommunalen Suchthilfeplanung muss daher geklärt
werden, wie die erforderliche psychosoziale Betreuung, eine
tragfähige Substitution auch von (Streichung bitte rückgängig
machen, ich verstehe den Teilsatz ab tragfähige Substitution nicht)
Menschen mit psychiatrischer Komorbidität und der Notwendigkeit
von speziellen Beratungs- und Betreuungsangeboten wie von
Drogenkonsumräumen abgedeckt ist. Ebenso ist zu klären, ob das
Gesundheitsamt hierbei mit eigenen Angeboten einen Beitrag leisten
kann oder soll.
188
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Aus dem Bereich der nicht-substanzgebundenen Abhängigkeiten sind
die Probleme pathologisches Glücksspiel (das oftmals mit hoher
Verschuldung einhergeht), exzessives Spielen von OnlineRollenspielen (auch hier laufen durch “pay to win” erhebliche
Ausgaben auf ), exzessiver Gebrauch sozialer Medien und exzessiver
Gebrauch von Online-Pornographie-Plattformen besonders relevant.
Während beim Glücksspiel (hierzu sind auch die Wetten zu zählen)
neben den Online-Casinos auch die zahlreichen Spielhallen eine
große Rolle spielen, erfolgen die anderen drei
Problemverhaltensweisen unter Nutzung von entsprechenden
Angeboten im Internet.
Über sozialen Rückzug und Vernachlässigung aller anderen
Aktivitäten kommen die Betroffenen oft erst mit einer drohenden
Zwangsräumung wegen Mietrückständen ins Blickfeld des
Hilfesystems. Prädisponierend sind sozialphobische und depressive
Züge. Allen diesen Angeboten ist gemeinsam, dass über integrierte
Chatangebote eine anonyme Community entsteht. Diese ist oft der
einzige Kontakt, in dem die Betroffenen Anerkennung und
Wertschätzung erfahren. (Den Satz verstehe ich ebenfalls nicht,
beziehen sich die Angebote auf die Wohnungslosigkeit?)
Beratungs- und Behandlungsangebote müssen den sozialen
Kompetenzdefiziten wie der Überschuldung Rechnung tragen.
Migration
Die Erfahrung von Migration birgt Chancen und Risiken für die
seelische Gesundheit. Eine einseitig defizitorientierte Betrachtung ist
nicht angemessen. Insbesondere im städtischen Umfeld haben 20 - 40
% der Wohnbevölkerung einen Migrationshintergrund. Das macht
einen kultursensiblen Umgang erforderlich, hierzu gehört ein guter
Kontakt zu Schlüsselpersonen in den Communities. Die psychiatrischpsychotherapeutische Regelversorgung beginnt erst damit, sich des
Problems anzunehmen. In Deutschland haben Bürger mit
Migrationshintergrund oft einen erschwerten Zugang zum
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
189
Aspekte aus der Praxis
Gesundheitswesen, wobei die Sprache allein nur eine der Barrieren
ist. Hier haben sich Sprachmittler, ausgebildete Laien im Sinne von
Gesundheitslotsen, als wertvoll erwiesen. Allerdings bergen
kulturelle Sozialisationen, wie z.B. eine kollektivistische vs. einer
individualistischen Sichtweise auf das Sein, Herausforderungen in
der Behandlung. Hier bieten spezifische Angebote in Kliniken mit
muttersprachlichen Angeboten Unterstützung. Desweiteren fällt in
der Forschung der transkulturellen Psychiatrie auf, dass die
Symptompräsentation nach wie vor eine Quelle der Unter- und
Fehldiagnostik darstellt, hier gilt es die eigene kulturell bedingte
Wahrnehmung immer wieder zu überprüfen.
Flüchtlinge
Geflüchtete Menschen sind keine homogene Gruppe, es ist jeweils
eine genaue Bedarfsanalyse nötig. Traumatisierende Erfahrungen
und schwere Verlusterlebnisse kommen bei geflüchteten Menschen
häufig vor. Es müssen aber auch vorbestehende psychische
Störungen bedacht werden. Hier ist auch an Benzodiazepine und
Opioidanalgetika, die in vielen außereuropäischen Ländern frei
verkäuflich sind, zu denken. Sprachbarrieren spielen eine große
Rolle. Eine restriktive Auslegung der Regelungen des
Asylbewerberleistungsgesetzes kann den Zugang zu Hilfen
erschweren. Bei anerkannten Asylbewerbern stellt die
ausgeschlossene Finanzierung von Dolmetscherkosten im SGB V ein
immenses Problem beim Zugang zur psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung dar. In den ersten 15 Monaten
besteht im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes die
Möglichkeit, schwerwiegende, behandelbare Erkrankungen in die
Behandlung zu nehmen. In dieser Zeit können Dolmetscherkosten
über Sozialleistungen getragen werden. Hilfreich haben sich für die
Abdeckung auch seltener Dialekte die Nutzung VideoDolmetscherdienste erwiesen.
190
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Arbeit mit Angehörigen
Auch die Beratung von Angehörigen zählt zm gesetzlichen Auftrag
des SpDi.
Oft kommt der Kontakt zu einer psychisch kranken Person über
deren Angehörige zustande, die sich, oft nach längerer anderweitiger
Suche, an den SpDi wenden. Manchmal werden die Angehörigen über
längere Zeit beraten, bevor erstmals ein Kontakt zum Klienten
gelingt. In jedem Fall ist die Berücksichtigung der Perspektive der
Personen, die mit dem psychisch kranken Menschen zusammenleben,
von größter Bedeutung. Hierzu gehören selbstverständlich auch die
minderjährigen Kinder. Die biologisch geprägte leitlinienorientierte
Behandlung psychiatrischer Erkrankung hat in ihrer fortlaufenden
Überprüfung in den letzten Jahren Ergänzungen erfahren. Gerade bei
zu Chronifizierung neigenden Erkrankungen ist Psychoedukation des
sozialen Umfelds und Begleitung mitentscheidend für das Outcome.
Begleitung findet in der Regel außerhalb der stationären Versorgung
statt.
Als hilfreiche Instrumente haben sich Angehörigengruppen und
Netzwerkarbeit, z.B. mit den Methoden des offenen Dialogs, erwiesen.
Angebote des Entlassmanagements wie Soziotherapie und ambulante
psychiatrische Pflege über SGB V sollen ebenfalls den Übergang in
den ambulanten Versorgungsbereich unterstützen und Behandlungsund Beziehungsabbrüche vermindern. Familienmitglieder, Freunde,
Bekannte, Kollegen, Unterstützer sollten ausreichend Information
und Kenntnisse vermittelt bekommen, um Verständnis für die
Erkrankung des Betroffenen zu erhalten, um auch schwierige Zeiten
gemeinsam bestehen zu können. Ablehnung, Isolation, Verweigerung
oder gar Feindseligkeit gegenüber den Nächsten kann ein Ausdruck
der Erkrankung, eines Konfliktes oder einer Dynamik sein. Die (zu)
schnelle Beurteilung und Einordnung stellt eine vermeidbare
Problematik dar. Im übergeordneten Blick auf das
gemeindepsychiatrischen Versorgungssystem sollten Angehörige wie
Betroffene neben den professionell Tätigen Rat- und Impulsgeber der
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
191
Aspekte aus der Praxis
politischen Entscheider sein, da diese unverzichtbares
Erfahrungswissen mitbringen.
Schulvermeidung
Schulvermeidendes Verhalten kann viele verschiedene Ursachen
haben. Besonders relevant ist Angst um oder Sorge für psychisch
oder suchtkranke Eltern, Lernprobleme, Mobbingsituationen in der
Klasse, Defizite in der sozialen Wahrnehmung, die zu paranoiden
Fehlinterpretationen führen und expansives Verhalten.
Das Problemverhalten beginnt oft schon in der Grundschule,
manchmal wird schon der Lernstoff der 3. Klasse nicht mehr
erreicht, auf der weiterführenden Schule nehmen dann die
Abwesenheitszeiten massiv zu. Ein Schulabschluss kann nicht mehr
erreicht werden. Das Vermeidungsverhalten generalisiert oftmals
rasch, und wenn nach Vollendung der Schulpflicht und mit Erreichen
der Volljährigkeit der junge Mensch einen Antrag auf SGB II
Leistungen stellen muss, zeigt sich, dass er zur Vorsprache beim
JobCenter oder der Teilnahme an Maßnahmen nicht in der Lage ist.
Schule, Jugendhilfe, Jugendamt, U25 Fallmanagement im JobCenter,
im Gesundheitsamt der KJGD und, wo vorhanden, der KJPD sind
wichtige Kooperationspartner. Bei den jungen Erwachsenen sind die
Berufskollegs in vielerlei Hinsicht von ganz herausragender
Bedeutung, einerseits als Option, Versäumtes nachzuholen, aber auch
als Ort, an dem viele bis dahin nicht erkannte Probleme klar zu Tage
treten und erstmals der Bedarf nach psychiatrischpsychotherapeutischer Abklärung für die Klienten deutlich wird, die
nicht in der Lage sind, eine/n niedergelasse/n Psychiater/in oder
Psychotherapeuten/in aufzusuchen.
Transitionspsychiatrie
Psychische Störungen des Kapitels F der ICD 10 können schon vor
Erreichen der Volljährigkeit, in manchen Fällen schon im
Grundschulalter, meist jedoch im Jugendalter beginnen (z.B.
192
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Suchtmittelabhängigkeit oder psychotische Störungen). Andererseits
klingen typische kinder- und jugendpsychiatrische Störungen
keineswegs mit Vollendung des 18. Lebensjahres ab, sondern
bestehen auch im Erwachsenenleben weiter (, z.B.
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom).
Heranwachsende zwischen 16 und 24 Jahren verändern sich in
besonderem Maße: Sie entwickeln eine eigene Persönlichkeit und
verselbständigen sich. Sie setzen sich intensiv mit grundsätzlichen
Lebensfragen auseinander und beschäftigen sich mit ihrer Zukunft.
Schätzungsweise über 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind
von psychischen und/oder Verhaltensproblemen bzw. -störungen
betroffen. Deren adäquate Versorgung stößt im Gesundheitssystem
an Grenzen: Während Kinder- und
Jugendpsychiater/psychotherapeuten/innen Jugendliche ambulant bis
zum 21. Lebensjahr weiter behandeln können, ist die teilstationäre
und stationäre Behandlung ziemlich genau an die Altersgrenze der
Volljährigkeit mit 18 Jahren gekoppelt. Dementsprechend können die
jeweiligen Entwicklungsbedingungen und unterschiedliche
Reifungsprozesse nicht berücksichtigt werden. Dieses Phänomen
bildet sich auch in den SpDi sowie beim Übergang von
Eingliederungshilfen nach SGB VIII und SGB XII (künftig BTHG im
Rahmen des SGB IX) ab: Die Zuständigkeit wird quasi von heute auf
morgen mit Erreichen der Volljährigkeit für adoleszente Menschen
verschoben. Wenngleich im SGB VIII Übergangszeiträume der
Versorgung bis zum Erreichen des 27. Lebensjahrs formuliert und
somit theoretisch möglich sind, stellt sich in der Praxis häufig das
Phänomen eines abrupten Zuständigkeitswechsels mit Erreichen der
Volljährigkeit dar.
Eine Analyse der stationären psychiatrischen Versorgung zeigt, dass
vor allem Entwicklungs- und Verhaltensstörungen deutlich seltener
in der Erwachsenenpsychiatrie behandelt werden. Dies könnte ein
Hinweis auf eine erhöhte Abbruchquote in der Transition sein und
somit für mangelhafte Schnittstellen. Im Kindes und Jugendalter
auftretende psychische Störungen haben oft zur Folge, dass
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
193
Aspekte aus der Praxis
alterstypische Entwicklungsaufgaben verspätet oder gar nicht
bewältigt werden, sodass mit Erreichen der Volljährigkeit und
Wegfall des Zugangs zu entwicklungsalterspezifischen pädagogischen
und psychotherapeutischen Hilfen ein durch die Struktur des
Jugendhilfe- und Gesundheitssystems bedingter zusätzlicher
Chronifizierungsprozess in Gang gesetzt wird. Hier wäre es geboten,
eine durchgängige Versorgung, die fächerübergreifend ambulante,
teilstationäre, stationäre und komplementäre Angebote bündelt, zu
schaffen. Erste Schritte zu einer reibungsärmeren Überleitung der
Betroffenen aus der Jugendhilfe in die Erwachsenenhilfe stellen
gemeinsame Arbeitsgruppen und Kooperationsvereinbarungen dar.
Die Herangehensweise in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
unterscheidet sich deutlich von der der Erwachsenenpsychiatrie: Bei
minderjährigen Menschen steht eine familienzentrierte Arbeitsweise
im Fokus der Behandlung, in die Eltern-/Familiengespräche,
Elterntraining und Hilfen zur Erziehung eingesetzt und
gegebenenfalls Geschwister einbezogen werden. Eine
Einverständniserklärung der Sorgeberechtigten ist notwendig und
(beispielsweise bei Zwangsmaßnahmen wie einer Fixierung)
hinreichend. Das weitere Lebensumfeld (z.B. Schule und Peers) wird
in die Behandlung einbezogen. Neben dem psychiatrischenpsychotherapeutischen Auftrag steht ein pädagogischer Auftrag im
Zentrum der Versorgung. Häufig müssen Medikamente wegen
unzureichender Datenlage in dieser Altersgruppe im „off-label-use“
angewendet werden. Ganz anders sind die Bedingungen im
Erwachsenenalter: Eine auf das Individuum bezogene,
patientenzentrierte Arbeitsweise steht im Vordergrund. Auf Wunsch
des Betroffenen können Angehörige, ggf. auch der Sozialdienst
einbezogen werden. Zwangsmaßnahmen wie eine Fixierung sind nur
mit richterlichem Beschluss möglich. Die Autonomie des Betroffenen
ist zu beachten.
Bei diversen Krankheitsbildern sind altersabhängige Besonderheiten
zu beachten. Besonders Betroffene dieser Schnittstelle des
Gesundheitssystems zwischen KJPD und SpDi sind Patienten mit
194
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Schizophrenie. Sie erhalten die Erstdiagnose durchschnittlich im
Alter von 18 Jahren und älter, was zu dramatischen Einbrüchen in
der krankheitsunabhängigen psychosozialen Entwicklung führen
kann. Die Betroffenen werden möglicherweise mit noch
unspezifischen Symptomen im Jugendalter von einem
Kinderpsychiater gesehen, der vergleichsweise wenig Erfahrung mit
psychotischen Störungen hat und die Diagnose einer schizophrenen
Störung nicht stellt Erst nach einem unbehandelten Zeitraum werden
diese Menschen dann in der Erwachsenenpsychiatrie, idealerweise in
einer Früherkennungsambulanz, behandelt. Eine frühe Diagnose und
durchgängige Interventionen wären für die Langzeitprognose von
großem Vorteil. Gleichwohl kann dadurch das Risiko einer
Pathologisierung und Psychiatrisierung bei auffälligem Verhalten in
der Adoleszenz entstehen.
Wohnungsverwahrlosung und psychische Erkrankung
Als Anlass oder als Begründung für die Meldung von Menschen beim
SpDi dient für das Umfeld oft die Wohnungs-Verwahrlosung. Geruch
oder Gestank und „unordentliches“ Aussehen der Klienten oder ihrer
Wohnung werden beklagt, oft verbunden mit der Drohung, dass
endlich „etwas“ geschehen müsse, die „Ämter etwas tun“ müssten
oder die Presse benachrichtigt würde. Die Hilfe für die Betroffenen
gestaltet sich schwierig, weil diese oft aus Scham keinen Einlass
gewähren wollen.
Bei vielen psychischen Erkrankungen gerade in chronischen Stadien
kommt die W-V = Wohnungs-Verwahrlosung als begleitende
„Endstrecke“ vor. Meist kann die psychiatrische Erkrankung nicht
behandelt werden, sondern als Erfolgskriterium für den Umgang mit
Menschen mit Wohnungs-Verwahrlosung muss die Glättung und
Befriedung der Konflikte mit dem Umfeld bei den Kontaktaufnahmen
und Maßnahmen ausreichen. Tatsächliche „Ordnung“ der
Verhältnisse oder gar Gesundung ist meist nicht mehr möglich. Ziel
sollte die „Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von
menschenwürdigen Wohnsituationen, Vermeidung von
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
195
Aspekte aus der Praxis
Wohnungsverlust und Aufrechterhaltung und Erweiterung der
Selbständigkeit der Klientin / des Klienten“ sein.
“
„Nur in den seltensten Fällen gehen von einer
verwahrlosten Wohnung Gesundheitsgefahren für die
Umgebung aus. Weder der Gestank verwesenden Mülls,
noch Schimmelgeruch rufen Erkrankungen hervor. Selbst,
wenn Fliegen und Kakerlaken auftreten, übertragen sie in
Mitteleuropa keine Infektionskrankheiten, die unter das
Infektionsschutzgesetz fallen. Für die Rattenbekämpfung
auf Privatgrundstücken ist der Eigentümer zuständig.
Insbesondere in Altbauten mit Holzdecken kann extremes
Sammeln z.B. von Zeitungen zu statischen Problemen bis
hin zur Einsturzgefahr führen, hier ist die Bauaufsicht
gefragt. Ebenso kann es beim Sammeln brennbarer
Gegenstände und Versperren von Fluchtwegen zu
Brandschutzproblemen kommen. Das betrifft die
Feuerwehr.“ Matthias ALBERS, Gesundheitsamt Stadt
Köln (Albers 2017)
Als sozialpsychiatrische Maßnahmen kommen in Frage:
“
„ambulant betreutes Wohnen, gesetzliche Betreuung,
Arztüberweisung, Krankenhauseinweisung, Entgiftung,
Langzeittherapie, Sicherung materieller Lebensgrundlagen,
Kontakt Vermieter, Kontakt Nachbarn, Entmüllung durch
Sozialamt, Haushaltshilfe durch das Sozialamt, praktische
Hilfen durch Mitarbeiter des SpDi,“ in Betracht. Thomas
LENDERS, Gesundheitsamt Stadt Dortmund (Lenders et
al. 2014)
Beim konkreten Vorgehen ist die folgende Reihenfolge sinnvoll
(Lindstedt, n.d.):
Informieren
Motivieren
Entscheiden
Mithelfer suchen
196
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Finanzierung sichern
Ausrüsten
Kontrollieren
Erfolg sichern
In der Kontaktaufnahmephase kann durch entsprechende schriftliche
oder telefonische Ankündigung Vertrauen aufgebaut und Verständnis
signalisiert werden. Die Motivationsphase erfordert vorsichtige,
achtsame Vereinbarung von Fristen und Zeiten sowie finanzieller
Regelungen und Verwertungs- und Auslagerungsmöglichkeiten.
Nötigenfalls ist an die Anregung einer Betreuung zu denken. Eine
Kontrolle durch eine Probe-Teilentrümpelung deckt präventiv
eventuelle Probleme bei der tatsächlichen, vollständigen Maßnahme
auf.
In der Entscheidungsphase werden Kriterien, Indikationen und
Interessenlagen nochmals reflektiert und in Helferkonferenzen die
gesetzliche Grundlage, die Planung, die Kostenübernahme und die
personelle Durchführung mit Zeitplan, auch langfristig entschieden,
mit
resoluter Reinigungskraft
Nachsorge
regelmäßiger Räumung
Kontrollbesuchen
In der Aktionsphase wird je nachdem, mit oder ohne Auslagerung des
Betroffenen durchgeführt:
das gemeinsame Räumen
das Mithelfen durch Betreuer oder SpDi oder Helfer oder
Verwandte, (ohne oder mit Betreuung nach Betreuungsgesetz)
die Kontrolle der Firma, der Helfer, der Verwandten
die Sicherung von Akten, Papieren, persönlich wertvollen
Andenken
In der Konsolidierungsphase sollte die zukünftige Entwicklung
vorstrukturiert werden, z.B. durch Vollräumen mit Leerkartons,
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
197
Aspekte aus der Praxis
durch eine resolute Reinigungskraft und deren Beratung, durch die
dauerhafte Finanzierung (Dauerauftrag), durch die Sicherung des
Zugangs zur Wohnung und durch die Vereinbarung regelmäßiger
Kontrollen, und seien es „Kaffeetrink-Besuche“.
Entrümpelungen zu steriler, kahler, hygienischer Wohnung sind
kontraproduktiver Aufwand, weil die Wohnung umso schneller
wieder vollläuft. Im Gegenteil, die Herstellung der Minimalfunktion
der Wohnung in Küche, Bad und Schlafgelegenheit ist meist
ausreichend hygienisch, sicher und für den Betroffenen erträglicher
und billiger.
Davon sollten die “Messies” unterschieden werden.
Seit etwa 30 Jahren in Deutschland und seit Anfang der 80 er Jahre in
den USA gibt es zusätzlich in der Laienpresse und mittlerweile auch
als Selbsthilfegruppen-Thema die sogenannten “Messies”. Es handelt
sich dabei um Menschen, die oft noch in ihrem Beruf leistungsfähig
sind, deren Wohnung aber so verwahrlost oder vollgesammelt ist,
dass sie z.B. keinen Besuch einladen können. Es ergeben sich
Unterschiede zum Wohnungs-Verwahrlosungssyndrom.
“Messies” definieren sich selbst etwa wie folgt:
“
“Messies sind eine Gemeinschaft von Menschen, die mit
Unordnung, Desorganisation und der Anhäufung von
nutzlosem Krempel kämpfen. Ihr Ziel ist es, mit Würde und
Selbstachtung zu leben und ihre Lebensaufgabe zu
erfüllen.”
Seit Anfang der 80 er Jahre in den USA durch Sandra FELTON
begründet, haben sich auch zahlreiche Selbsthilfegruppen gebildet.
(Felton 1999) Das Thema ist beliebt in der Presse und in anderen
Medien
Wie weit beim “Messie-Syndrom” Neurosen und andere
Erkrankungen, z. B. das Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom, im
Erwachsenenalter zugrunde liegen, ist nur im Einzelfall zu
198
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
entscheiden. Zumindest sind die Messies eine Sondergruppe, welche
die Wohnungs-Verwahrlosung selbst erkennen und als zu verändernd
anerkennen und oft noch arbeitsfähig sind. Im internen Gebrauch
werden alle Menschen in verwahrlosten Wohnungen, die noch
arbeiten, zunächst einmal als Messies bezeichnet. Erst wenn
zusätzlich z. B. Alkohol hinzukommt, wird eine WohnungsVerwahrlosung bei Alkoholismus daraus. Der Verein zur Erforschung
des Messie-Syndroms bestand schon im Anmeldungsformular darauf,
dass nur Mitglied werden darf, wer der Meinung ist, dass es nicht am
ADS Syndrom liegt. Mittlerweile wurde dies aber aus dem
Anmeldeformular getilgt.
Übersicht: Maßnahmen bei WohnungsVerwahrlosung
eigene Einstellung, Maßstab nicht unbesehen anwenden
Eigenes Milieu, Herkunft, Toleranz? Nüchterne Beurteilung mit
großzügigem Maßstab? Tatsächliche Bedrohung, echte Gefahr,
echter Gestank? (Haut goût der Verwahrlosung, Menschengeruch,
Schweiß)
Vertrauen, Kontakt, Gewöhnung mit den Betroffenen
geplantes Vorgehen, Regelmäßigkeit, Normalität betonen,
persönliche Autonomie und Integration belassen, Partizipation
anbieten
Hilfe, Finanzen, Initiative verhandeln
Probesammeln, Müllsäcke mitbringen, Kontinuierliche Füllung
der Tonnen, Kostenvoranschläge, Anträge zur Unterstützung
(„Kartei der Not“)
Diskussionen mit den Betroffenen über die Notwendigkeiten,
Probeaktionen
Gefahr? Brandgefahr (vgl. Checkliste Brandgefahr)? Vermieter?
Gericht? Erkrankung? Betreuung und Auffangen nach der
Entrümpelung möglich? Vollstellen mit Leer-Kartons?
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199
Aspekte aus der Praxis
Toleranz, Laissez-faire, gute Nerven
Was ist, wenn gar nichts passiert?
Obdachlosigkeit vermeiden!
nur Funktionsräume entrümpeln
Minimal intensive Intervention bei maximal extensiver
Befriedungsfunktion
200
Version 1.0
Ausblick
Ausblick
Trotz umfangreicher Aufgaben sind sozialpsychiatrische Dienste
(SpDi) in der Öffentlichkeit und selbst in Fachkreisen nur wenig
bekannt.
Sie wirken in der Versorgung, Gestaltung und Steuerung der
Versorgungsstrukturen für insbesondere schwer und chronisch
psychisch kranke Menschen im Rahmen der Daseinsvorsorge der
Kommune. Ihre wichtige Rolle in der Früherkennung psychiatrischer
Erkrankungen ist oft nicht bekannt ebenso wie im Bereich der
Prävention und Anti Stigma Arbeit in Ihrer Rolle als “letzte Wiese” in
der Betreuung psychisch kranker Menschen, für die die Schwelle zum
regulären Versorgungssystem zu hoch ist.
All das wird bisher kaum wahrgenommen.
Auch der gesellschaftliche Klärungsauftrag in durch psychische
Erkrankungen bedingten Konfliktkonstellationen ist wenig bekannt.
In Forschung und Lehre werden die, oft ausschließlich durch die
sozialpsychiatrischen Dienste erbrachten Leistungen, nur am Rande
thematisiert. In den Weiterbildungsordnungen der Ärztekammern
zum Facharzt für Psychiatrie wird die Tätigkeit im
sozialpsychiatrischen Dienst nicht berücksichtigt. Auch in den
Studienordnungen der psychosozialen Fächer sind sie nicht
berücksichtigt. So ist es zurzeit noch kaum möglich, eine Famulatur
im Sozialpsychiatrischen Dienst zu absolvieren. An den
psychologischen Fakultäten werden ebenfalls so gut wie keine
Hinweise zur Möglichkeit eines Praktikums im SpDi gegeben.
Praktika von Studierenden der Sozialarbeit im SpDi sind zwar
möglich, haben aber seit der Abschaffung des (bezahlten)
Anerkennungsjahres im Studium erheblich an Bedeutung verloren.
Dies alles geschieht in einer Zeit, in der Frühberentungen und
Arbeitsausfälle infolge psychischer Erkrankungen stark zunehmen
und inzwischen einen Spitzenplatz einnehmen.
Es wird also eine der wesentlichen Aufgaben der Zukunft sein, die
spezifischen Aufgaben der sozialpsychiatrischen Dienste
öffentlichkeitswirksam darzustellen und ihre fundamentale
202
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
Bedeutung in der Versorgung und Inklusion psychisch kranker
Menschen, der Früherkennung und der Prävention auf allen Ebenen
offensiv zu vertreten.
Dabei geht es nicht nur darum, die Bekanntheit durch entsprechende
Öffentlichkeitsarbeit zu erhöhen, sondern auch für eine ausreichende
Personalausstattung zur Gewährleistung qualitativ guter Arbeit auch
bei höherem Bekanntheitsgrad zu kämpfen. Dazu muss vor allem auf
politischer Ebene deutlich gemacht werden, dass diese Leistungen
nicht nur die Lebensqualität in der Kommune verbessern, sondern
auch erheblich zu Kosteneinsparungen beitragen. Eine Intensivierung
der Forschung in diesem Bereich ist dringend erforderlich.
In den Ausbildungsplänen für zukünftige Ärzt/innen und andere
Berufsgruppen im sozialen Bereich sollte erreicht werden, dass die
Tätigkeit und Funktion sozialpsychiatrischer Dienste als feste
Bestandteile verankert sind. Insbesondere in der Ausbildung zum
Facharzt für Psychiatrie darf dieser Bereich nicht fehlen. Denn
psychische Erkrankung ist immer in der Lebenswelt der Betroffenen
und in enger Wechselwirkung mit dem sozialen Umfeld zu sehen.
Dementsprechend muss Hilfe und Behandlung unter Einbeziehung
dieser Lebenswelt und in ihr erfolgen.
Die sozialpsychiatrischen Dienste sollten sich dabei als
“selbstlernendes System” verstehen, das sich in permanenter
kritischer Selbstreflexion unter Berücksichtigung gesellschaftlicher
Veränderungen weiterentwickelt. Außerdem sollten sie ihre Rolle in
der Versorgung und Gestaltung gesellschaftlicher
Rahmenbedingungen für psychisch kranke Menschen selbstbewusst
wahrnehmen und vertreten. Diese Aspekte haben unter anderem zur
Gründung und Weiterentwicklung des Netzwerkes
Sozialpsychiatrischer Dienste mit seinen regionalen Netzwerken
beigetragen. Es wird sich zeigen, inwieweit diese Arbeit Früchte
tragen wird und somit Einfluss auf die kommunale Berücksichtigung
der SpDi nehmen wird.
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203
Annex-Abkürzungen
Annex-Abkürzungen
ABFB Angebot zur Beschäftigung, Förderung und Betreuung
ABW ambulant betreutes Wohnen (d.h. in der eigenen Wohnung oder
einer WG), es handelt sich um eine Leistung der Eingliederungshilfe.
APK Aktion Psychisch Kranke e.V
APP Ambulante Psychiatrische Pflege, auch Häusliche Krankenpflege
(HKP) für psychisch Kranke § 37 SGB V
ASOG Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung in Berlin
AWG Außenwohngruppe / Ausgelagerte Wohngruppe eines
Wohnheims, als solche eine stationäre Maßnahme der
Eingliederungshilfe.
BApK Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker e.V.
BADO-K Basisdokumentation für Einrichtungen der komplementären
psychiatrischen Versorgung. Die Verwendung dieses
Dokumentationssystem war im Freistaat Sachsen Bedingung für die
Auszahlung von Landesmitteln an die Gebietskörperschaften für die
Angebote nach PsychKG (SpDi, Suchtberatung, Kontakt- und
Beratungsstellen etc.). BADO-K umfasst den “Kerndatensatz” der DHS.
Der Merkmalsbestand dieses Systems findet sich mit kleineren und
größeren Modifikationen in verschiedenen Fachanwendungen wieder
BAR Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation
BBRP Berliner Behandlungs- und Rehabilitationsplan. Eine
Adaptation des IBRP
BEI Bedarfsermittlungs-Instrument. Die Bezeichnung des BTHG für
die Hilfeplanungs- und Bedarfsermittlungs-Instrumente in der
Teilhabeplanung bzw. Gesamtplanerstellung des
Eingliederungshilfeträgers, die die Länder zu entwickeln bzw.
festzulegen haben. (z.B. BENI (Niedersachsen), BEI-NRW, ITP (Hessen
u.a.). Es handelt sich um Weiterentwicklungen des IBRP (integrierter
Behandlungs- und Rehabilitationsplan) bzw. der aus diesem
206
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
abgeleiteten Manuale IHP (Integrierter Hilfeplan) und ITP
(Integrierter Teilhabeplan). Sie beruhen auf einer Vereinbarung von
Zielen und der zu deren Erreichung erforderlichen Maßnahmen für
einen konkreten Planungszeitraum, typischerweise ein Jahr.
BEST Berliner Enthospitalisierungsstudie
BEW(O) betreutes Einzelwohnen, auch BW oder ABW (ambulant
betreutes Wohnen). Im Altenhilfebereich werden auch Altenheime als
“Betreutes Wohnen” bezeichnet. Darum wird zunehmend der Begriff
ABW bevorzugt
BGB Bürgerlichen Gesetzbuchs
BPE Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen e.V
BTHG Bundesteilhabegesetz, eine Novellierung des SGB IX zur
Überführung der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII (Sozialhilfe)
ins Rehabilitationsrecht (SGB IX-neu, Teil 2, §§ 90-150)
BTS Beschäftigungstagesstätte
DGSP Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
DRV Deutsche Rentenversicherung
DSM-5 diagnostic statistical manual der APA 5. Version
EGH Eingliederungshilfe
EUTB Ergänzenden Unabhängigen Teilhabe-Beratungsstelle
FEB Familien- und Erziehungs-Beratungsstellen
FNA Forensische Nachsorge Ambulanz
GDG Gesundheitsdienstgesetz
GKV Gesetzliche Krankenversicherung
GPV Gemeindepsychiatrischer Verbund
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Annex-Abkürzungen
HB Hausbesuch
HBG Hilfebedarfsgruppe, meist über HMB-W ermittelt. Die
Hilfebedarfsgruppe gibt den durchschnittlichen Betreuungsbedarf
innerhalb eines bestimmten Einrichtungstyps an.
HMB-W Hilfebedarf von Menschen mit Behinderung – Wohnen nach
Metzler. Ein Verfahren zur Bedarfsbemessung ohne vorausgehende
Zielplanung. Wegen fehlender ICF-Orientierung zukünftig nicht mehr
anwendbar.
ICD-10/-11 International Classification of Diseases 10.
Version/11.Version (voraussichtlich ab 2020 verfügbar)
ICF International Classification of Functioning, Disability and Health
JVA Justizvollzugsanstalt
KoB Kontakt- und Beratungsstelle, auch: K(o)BS, KoBe, KuB oder
PSKB. Offenes, niederschwelliges Angebot mit Kontakt-, Freizeit- und
Beratungsmöglichkeiten. Früher auch “Patientenclub”. Die
entsprechenden Angebote im Suchtbereich nennen sich oft
Kontaktladen oder Cafe
KV Kassenärztlichen Versorgung
KID Kriseninterventionsdienst
KIBIS kommunalen Informations- und Beratungsstellen
KISS Kontakt- und Informationsstellen
MZEB Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen
MRV Maßregelvollzug
MVZ Medizinische Versorgungszentren
NAKOS Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und
Unterstützung von Selbsthilfegruppen
ÖGD Öffentliche Gesundheitsdienst
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Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
PIA psychiatrische Institutsambulanz gem. §118 SGB V
PHKP Psychiatrische Häusliche Krankenpflege
PSAG Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft
PSB psychosoziale Betreuung für Menschen in OpioidSubstitutionsbehandlung
PSKB psychosoziale Kontakt und Beratungsstelle s. KoB
PSNV psychosozialen Notfallvorsorge
PsychK(H)G Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze
RPK Rehabilitation psychisch Kranker
SGB Sozialgesetzbuch
SMI schweren psychischen Beeinträchtigungen (engl. Severe Mental
Illness)
SpD/SpDi Sozialpsychiatrische Dienste
SpP Sozialpsychiatrischen Plan
SPZ Sozialpädiatrische Zentren
StäB stationsäquivalenten Behandlung
StGB Strafrecht
TS Tagesstätte (auch BTS für Beschäftigungstagesstätte). In den
meisten Bundesländern eine Einrichtung der Eingliederungshilfe. Sie
bietet in der Regel an 5 Tagen in der Woche ein verbindliches
tagesstrukturierendes Angebot an. In der Regel ist eine
Mindestanwesenheit vorgeschrieben. Darin unterscheidet sie sich
von der KoB als einem offenen Angebot (“drop-in”)
TWG therapeutische Wohngemeinschaften
UN United Nations
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Annex-Abkürzungen
ÜWH Übergangswohnheim, heißt in der Terminologie des primär
zuständigen Leistungsträgers DRV (Deutsche Rentenversicherung)
Übergangseinrichtung und wird nach den RPK-Richtlinien als
stationäre medizinische Rehabilitation belegt
WfMB Werkstätten für Menschen mit Behinderungen
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Version 1.0
Annex-Websites
Annex-Websites
AMDP-System. https://www.amdp.de/
Betreuungsgesetz. https://www.gesetze-iminternet.de/bgb/__1896.html
Rechtskonstrukt der Entmündigung, Vormundschaft und
Gebrechlichkeitspflegschaft für Erwachsene.
https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstat
istik/Betreuung/Betreuung_node.html
Elgeti, Herrmann. Publikationen. https://mhhpublikationsserver.gbv.de/servlets/solr/find?
condQuery=Hermann+Elgeti
Erzeugung eines ICF-basierten Dokumentationsbogens.
https://www.icf-core-sets.org/de/page0.php
Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in
ärztliche Zwangsmaßnahmen.
https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?
start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl113s0266.pdf
ICF-Lotse. https://www.rehadat-icf.de/de/
ICF-Core-Set. https://www.icf-core-sets.org/de/page0.php
Katastrophenschutzbehörde (Katgesetz).
https://www.bbk.bund.de/DE/Service/Fachinformationsstelle/Rechtund
Vorschriften/Rechtsgrundlagen/Bundeslaender/bundeslaender_node.h
tml
Leistungsspektrums. https://www.sozialpsychiatrischedienste.de/kernaufgaben-leistungsstandards-personalbedarf
Netzwerk Sozialpsychiatrischer Dienste. www.sozialpsychiatrischedienste.de
Mini-ICF-APP. https://www.deutscherentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Experten/infos_reh
-
212
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
a_einrichtungen/klassifikationen/dateianhaenge/icf/2010_8_icf_awk_b
eitrag_1_baron.html
RehaDat. ICF-Lotse. https://www.rehadat-icf.de/de/
Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz. https://www.icf-coresets.org/de/page0.php
Psychiatrie-Kranken(Hilfe) Gesetze
BBG. Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen sowie über den
Vollzug gerichtlich angeordneter Unterbringung für psychisch
kranke und seelisch behinderte Menschen im Land Brandenburg
(Brandenburgisches Psychisch-Kranken-Gesetz- BbgPsychKG).
https://bravors.brandenburg.de/gesetze/bbgpsychkg_2016
BE. Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen
Krankheiten (PsychKG). http://gesetze.berlin.de/jportal/?
quelle=jlink&query=PsychKG+BE&psml=bsbeprod.psml&max=true&ai
z=true
BY. Bayrisches Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG).
https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayPsychKHG?
AspxAutoDetectCookieSupport=1
BW. Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen
Krankheiten (Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz – PsychKHG).
http://www.landesrecht-bw.de/jportal/?
quelle=jlink&query=PsychKG+BW&psml=bsbawueprod.psml&max=tr
ue&aiz=true
HB. Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen
Krankheiten (PsychKG).
https://www.transparenz.bremen.de/sixcms/detail.php?
gsid=bremen2014_tp.c.69288.de&template=20_gp_ifg_meta_detail_d
HH. Hamburgisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen
bei psychischen Krankheiten (HmbPsychKG).
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
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Annex-Websites
http://www.landesrechthamburg.de/jportal/portal/page/bshaprod.psml?
showdoccase=1&st=lr&doc.id=jlr-PsychKGHArahmen
HE. Hessisches Gesetz über Hilfen bei psychischen Krankheiten,
Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG).
https://www.lexsoft.de/share/pdf/285874e8-2857-47f6-9567e5b7c7bf702c.pdf
SA. Gesetz über Hilfen für psychisch Kranke und
Schutzmaßnahmen des Landes Sachsen-Anhalt (PsychKG SA).
http://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/jportal/?
quelle=jlink&query=PsychKG+ST&psml=bssahprod.psml&max=true&a
iz=true
MV. Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für Menschen mit
psychischen Krankheiten (Psychischkrankengesetz - PsychKG M-V).
http://www.landesrechtmv.de/jportal/portal/page/bsmvprod.psml;jsessionid=3FBBF8F997A410
5002C437FC02830E46.jp20?showdoccase=1&st=lr&doc.id=jlrPsychKGMV2016rahmen&doc.part=X&doc.origin=bs
NI. Niedersächsisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen
für psychisch Kranke (NPsychKG). http://www.nds-voris.de/jportal/?
quelle=jlink&query=PsychKG+ND&psml=bsvorisprod.psml&max=true
&aiz=true
NRW. Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen
Krankheiten (PsychKG).
https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?
v_id=10000000000000000086
RP. Landesgesetz für psychisch kranke Personen (PsychKG).
http://landesrecht.rlp.de/jportal/portal/t/25y7/page/bsrlpprod.psml?
pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&fromdoc
todoc=yes&doc.id=jlrPsychKGRPrahmen&doc.part=X&doc.price=0.0&doc.hl=0
214
Version 1.0
Der Sozialpsychiatrische Dienst
SA. Sächsisches Gesetz über die Hilfen und die Unterbringung bei
psychischen Krankheiten (SächsPsychKG).
https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/2015-SaechsPsychKG
SH. Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker
Menschen (Psychisch-Kranken-Gesetz - PsychKG). http://www.gesetzerechtsprechung.sh.juris.de/jportal/?
quelle=jlink&query=PsychKG+SH&psml=bsshoprod.psml&max=true&
aiz=true
SL. Gesetz Nr. 1301 über die Unterbringung psychisch Kranker
(Unterbringungsgesetz - UBG) bis jetzt kein PsychKG vorhanden.
http://sl.juris.de/cgi-bin/landesrecht.py?
d=http://sl.juris.de/sl/gesamt/UbrgG_SL_1992.htm#UbrgG_SL_1992_rah
men
TH. Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch
kranker Menschen (ThürPsychKG).
http://landesrecht.thueringen.de/jportal/portal/t/xlt/page/bsthueprod.p
sml?
pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&docume
ntnumber=1&numberofresults=54&fromdoctodoc=yes&doc.id=jlrPsychKGTH2009rahmen&doc.part=X&doc.price=0.0&doc.hl=1#focuspo
int
Kommentar mit hypothes.is DOI https://doi.org/10.25815/aacp-4461
215
Literaturverzeichnis