1 Einleitung
Der Faktor Religion innerhalb demokratischer Gesellschaften wie Deutschland und der Schweiz verändert sich zunehmend. Neue religiöse Formen und
Gruppierungen, hervorgerufen durch Individualisierung, Globalisierung und
Migration, haben eine Pluralisierung der religiösen Akteure, des Verständnisses von Religiosität und der Gesellschaft zur Folge (vgl. zum Beispiel Lambert,
2014; Pollack et al., 2014; Stolz et al., 2014; Zurlinden, 2015). Parallel dazu
verändern institutioneller Wandel und (De-)Säkularisierungsprozesse die Religionslogik sowie deren Einfluss auf die Gesellschaft und soziale Identitäten
und steuern diese nachhaltig (vgl. zum Beispiel Casanova, 1994, 2001; Krech,
2014; Lambert, 2014; Pollack, 2016; Riesebrodt, 2001).
Aktuelle Forschungs- wie auch politische Debatten sind daher geprägt von
Themen wie zivilgesellschaftlichen Potenzialen, sozialem Kapital, religiösen
Netzwerken (vgl. zum Beispiel Liedhegener & Werkner, 2011; Nagel, 2012b;
Putnam, 2000), Identitätspolitik und Polarisierungen (vgl. zum Beispiel Fox,
2013; Giddens, 2013; Klein, 2020), Gefahren- und Diskriminierungsdiskursen
(vgl. zum Beispiel Pickel et al., 2020; Pickel & Hidalgo, 2013) sowie Integration
innerhalb pluraler und (post-)migrantischer Gesellschaften (vgl. zum Beispiel
Foroutan, 2019).
Mit der Rückkehr religiöser Sichtbarkeit in säkularen Staaten und den immerwährenden Debatten rund um Migration und Integration scheinen sowohl
die Forschung als auch die Gesellschaft ihren Blick verstärkt auf muslimische
Individuen und Organisation zu richten. Dies scheinen jene »fremden« Individuen, Organisationen und Religionssysteme zu sein, die nicht in der Gesellschaft zu verorten sind. Im Vergleich dazu sind das Christentum und insbesondere die römisch-katholische Kirche in der Forschung nach den 1960er Jahren und den grossen Säkularisierungsparadigmen (vgl. zum Beispiel Casanova, 1994; Hellemans, 2005; Luhmann, 1972, 2000) sowie nach den 1980ern mit
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Rebekka Rieser: Kroatisch, katholisch, konservativ
Fokus auf den religiösen Markt (vgl. zum Beispiel Chaves & Cann, 1992; Iannaccone, 1998; Miller, 2002; Smith, 1776/2003), in den Hintergrund getreten.
Dabei gilt der Katholizismus weltweit immer noch als jene Religion mit
den meisten Zugehörigen und den grössten Diaspora-Communitys in der
Schweiz wie auch in Deutschland sind in ihrer Konfession christlich respektive römisch-katholisch (vgl. Albisser, 2016, 18ff.).
Bereits seit den 1950er Jahren waren es vor allem Gastarbeiter aus Spanien und Italien, die sich in der Schweiz niederliessen und katholische Diaspora-Communitys errichteten. Ab den 1980er Jahren kamen dann aufgrund
von Krieg und Zerfall des europäischen Ostens sowie auch mit der zunehmenden Globalisierung weitere katholische Migrant:innen nach Deutschland und
in die Schweiz (vgl. ebd., 17).
Forschungen zu katholischen Migranten-Communitys in der Schweiz
und in Deutschland sind zunehmend marginalisiert und deuten auf ein Forschungsdesiderat hin. Jüngste Diskussionen in Europa und insbesondere in
der Schweiz, beispielsweise über das Thema der Abtreibung oder das Recht der
Ehe für homosexuelle Paare, verdeutlichen aber die Dringlichkeit, römischkatholische Gemeinschaften und Länder bei diesen Fragen nicht aus dem
Blick zu verlieren.
Als ein zweites, jedoch kleineres Forschungsdesiderat im Hinblick auf das
Thema Religion in der Gesellschaft gelten neoinstitutionelle und organisationssoziologische Forschungen zur Mesoebene und mit direktem Blick auf den
Gegenstand der »religiösen Organisation«.
Religionswissenschaftliche Untersuchungen richten ihren Blick verstärkt
auf die Mikro- und die Makroebene. So analysieren aktuelle qualitative und
quantitative Studien oftmals den Einfluss individueller Religiosität und Spiritualität auf andere Werte-Orientierungssysteme (vgl. zum Beispiel Pickel
et al., 2020) oder sie untersuchen, ob sich Religiosität beim Individuum innerhalb der Gesellschaft verändert und wandelt (vgl. zum Beispiel Stolz et al.,
2015).1
Auf der Makroebene hingegen rücken die Bedeutung und der Wandel der
Religion als System oder Teilbereich in den Fokus. Hier untersuchen Forschende, welchen Einfluss Religion auf andere Teilbereiche wie Politik oder Kultur
1
Zu nennen sind allerdings die Werke von Alexander Kenneth-Nagel, der sich in seinen
Werken intensiv und netzwerktheoretisch mit religiösen Gemeinschaften respektive
religiösen Organisationen auseinandersetzt, vgl. zum Beispiel Nagel (2012a, 2015).
1 Einleitung
noch hat oder welche Verbindungen und Spannungen daraus entstehen (vgl.
Casanova, 1994, 2001; Hidalgo, 2016).
Die Mesoebene, also die intermediäre organisationale Ebene, dient in diesen Forschungen eher als erklärende Variable. Beispielsweise ziehen empirische Analysen den Kirchgang oder die Beziehung zwischen Individuum und
religiöser Autorität als Datengrundlage heran, um tendenzielle Veränderungen von Religiosität innerhalb von Gesellschaften zu messen. Ebenso dient die
Untersuchung rechtlicher Beziehungen und Rahmenbedingungen zwischen
Staat und Organisationen dazu, Phänomene und Konsequenzen von Säkularisierung oder Pluralisierung zu erklären (vgl. zum Beispiel Beckford, 2015; Gabriel, 2015). Richtet sich der Fokus doch auf die Mesoebene, tun sich die meisten Forschungen schwer mit der Definition von Organisation und weichen auf
einen diffuseren Term, wie Gemeinschaft aus (vgl. Beckford, 2015; vgl. Petzke
& Tyrell, 2012).
Der konzentrierte Fokus auf die Organisation, ihre Rolle und ihre Funktion in solchen Prozessen ist in der (deutschen) Religionswissenschaft jedoch
immer noch eine Seltenheit (vgl. Kaufmann, 1974, 34; Petzke & Tyrell, 2012,
286). Das liegt unter anderem daran, dass sich die deutschsprachige Religionswissenschaft mit dem Begriff der religiösen Organisation schwertut (vgl.
ebd., 286). Denn es gilt nicht nur zu definieren, was religiös ist und was nicht,
sondern was eine Organisation ist und was nicht.
In Sachen Religionsdefinition gehen die meisten Forschenden einen pragmatischen Weg, indem sie zwischen einem funktionalen (Religion als Leistung
oder Funktion) und einem substanziellen Religionsbegriff (Kern und Wesen
von Religion) unterscheiden (vgl. Fülling, 2016, 258f.). In Fragen von religiösen
Organisationen treffen hingegen beide Definitionen aufeinander, vermischen
sich und lassen sich kaum voneinander abgrenzen. Denn sowohl die Kernfrage, ab wann eine Organisation als eine religiöse Organisation einzustufen ist
(substanziell) (vgl. zum Beispiel Jeavons, 1998; Tyrell, 2008), sowie die Frage,
welche Funktionen und Leistungen religiöse Organisationen für ein Individuum oder die Gesellschaft übernehmen (vgl. Luhmann, 2000), sind zentrale
Einstiege in diesen Forschungsschwerpunkt.
Richtet sich die Forschung, wie es diese hier tut, auf einen Gegenstand, der
sowohl im Eigenverständnis als auch in Fremdzuschreibungen das Label »Religion« und »religiös« innehat, wie es im Fall der römisch-katholischen Kirche
respektive des Katholizismus der Fall ist, ist die Organisationsdefinition nicht
so leicht zu handhaben.
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Rebekka Rieser: Kroatisch, katholisch, konservativ
Forschungsgeschichtlich betrachtet gibt es in der deutschen Religionswissenschaft insbesondere drei Ansätze, die bis heute herangezogen werden,
wenn sich Forscher:innen der Mesoebene zuwenden: Niklas Luhmanns (1972)
Beitrag »Die Organisierbarkeit von Religion und Kirchen«, Max Webers (1920,
1921, 1976) und Ernst Troeltschs (1912) Kirchen-Sekten-Typologie sowie der
Rational-Choice-Ansatz (vgl. Beckford, 2015; Daiber, 2008; Krech, 2014; Petzke
& Tyrell, 2012).
Webers und Troeltschs spätere Forschung sind als Pionierarbeiten im
Umgang mit religiösen Organisationen zu verstehen. Weber liess sich von
seiner damaligen Reise in die USA zu seiner Kirchen-Sekten-Typologie inspirieren. Anders als in Deutschland oder der Schweiz existieren in den USA
keine Staatskirchen, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen religiösen,
zu Webers Zeit insbesondere christlichen Vergemeinschaftungen, Verbänden
und Organisationen, die er innerhalb dieses Spektrums zwischen Kirche als
strukturierte Organisation und Sekte als lose Vergemeinschaftung einordnete
(vgl. Daiber, 2008, 33ff.). Dem Kirchentyp schrieben Weber und Troeltsch
Attribute zu, die alle dem Zweck dienten, eine »Weltherrschaft« zu erreichen.
Diese Form der organisierten Religion ist laut ihnen sozial konservativ, geht
Allianzen mit den politischen Ordnungen ein und erreicht die Masse über
verschiedene politische oder organisationale Instrumente. Der Sektentyp
hingegen entzieht sich als Gegenteil davon jeglichen weltlichen Werten und
definiert sich durch das Ziel, der pure und nach innen gerichtete Weg für ein
Leben nach Christus zu sein (vgl. Beckford, 2015, 407f.; Chang, 2003, 125).
Die Konzentration auf christliche Organisierung und Organisationen ist
jedoch zugleich als eine Hauptproblematik dieses Ansatzes anzusehen (vgl. dazu auch Petzke & Tyrell, 2012). Denn auch in Forschungen über nichtchristliche Religionen lässt sich diese Typologie finden und wirft die berechtigte Frage auf, ob dieser Ansatz nicht eine normative Komponente besitzt, indem versucht wird, anderen religiösen Traditionen und Formen des Organisierten einen »christlichen Stempel« zu verpassen (vgl. ebd., 279ff.).
Niklas Luhmanns Werke stammen aus den 1960er und 1970er Jahren, einer Zeit, in der Forschungen zur Säkularisierung höchst aktuell waren. Anders als bei Weber und Troeltsch standen für Luhmann daher weniger die Organisationstypen im Vordergrund als vielmehr der Versuch, den Rück- und
Abfall der Grosskirchen (evangelische und römisch-katholische) in ihren Mitgliedschaftszahlen und ihrem Einfluss im Staat zu erklären (vgl. Hellemans,
2005, 12f.). Für Luhmann sind Organisationen soziale Systeme, die klar durch
Mitgliedschaften abgegrenzt sind. Mitglieder einer Organisation richten sich
1 Einleitung
dann nach vorgegebenen Ordnungen und Leistungsstrukturen der Organisation. Die dritte Ebene umfasst schliesslich einfache soziale Systeme wie Zusammenkünfte oder kleinere Gruppen (vgl. Daiber, 2008, 27–30; Luhmann,
2009 [1977], 295ff.).2 Damit schliesst Luhmanns Definition religiöse Organisationen aus, die keinen klaren und formalen Mitgliederstatus vorweisen können, und ist daher nur begrenzt anwendbar.
In den 1980er Jahren kamen beim Umgang mit religiösen Organisationen
Einflüsse aus der amerikanischen Religionswissenschaft in die deutschsprachige Religionswissenschaft. Forscher wie Williams Bainbridge, Rodney Stark,
Roger Finke und Lawrence Iannaccone versuchten mit einer Kosten-NutzenRechnung, hergeleitet aus dem Rational-Choice-Ansatz und der daraus resultierenden Wettbewerbssituation, religionssoziologische Phänomene zu erklären. Dazu zählen beispielsweise (fehlende) Vitalität und Prosperos, Veränderungen und Muster von religiösen Organisationen (vgl. dazu auch Beckford,
2015, 407; Finke & Wittberg, 2000; Hellemans, 2005, 14; Iannaccone, 1995, 1998;
Stark & Iannaccone, 1994).
Als Prämisse für den Kosten-Nutzen-Ansatz steht die Gewinnbringung beziehungsweise die transzendente Bedürfnisbefriedigung des Individuums im
Vordergrund. Was jedoch unter transzendentaler Befriedigung oder Gewinnbringung zu verstehen ist, war zumeist ungenügend definiert und verkomplizierte auch empirische Untersuchungen. Denn zum einen erschwert dieser
transzendente Aspekt die Einordnung von Personen, die Dienstleistungen von
2
Diese drei Ebenen von einfachen, organisationalen und gesellschaftlichen Systemen
zeigen für Luhmann auch die Grenze der Organisierbarkeit von Religion, da sie nur in
einem Teilbereich als Organisation erfassbar ist. Insbesondere der Punkt der Mitgliedschaft bleibt jedoch für Luhmann jener Aspekt, der für die Organisationen wie die Kirche organisationssoziologisch schwer zu greifen ist. Denn ein Mitglied müsse sich, so
Luhmann, seiner Mitgliedschaft vollends bewusst sein, damit dies wirklich einen Organisationscharakter entwickele. Ansonsten sei es ein Ergebnis des Gesellschaftssystems und »das Bewusstsein« weiche einer normativen kulturellen Prägung (vgl. Daiber, 2008, 27–30). Zudem kommt für Luhmann die Beobachtung hinzu, dass nicht alle
Mitglieder die vorgegebenen Ordnungen und Leitungsstrukturen der Organisationen
übernehmen, wie dies aber nach seiner Definition der Fall sein müsste. So gibt es Mitglieder mit Funktionen (wie beispielsweise der Priester), die aktiv sind und bestimmte
Ämter oder Aufgaben übernehmen, und, insbesondere bei den Grosskirchen, auch nur
rechnerische Mitglieder, die beispielsweise nur die Kirchensteuer zahlen. Nur der innere Kreis der Mitglieder, also die aktiven und diejenigen mit einer organisationalen
Funktion, übernehmen derweil Leitlinien und Strukturen der Organisation (vgl. Petzke
& Tyrell, 2012, 29; Luhmann 2009, 296ff.).
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Kirchen oder anderen religiösen Organisationen, beispielsweise Beerdigungen oder Hochzeiten, beziehen, diese aber nicht als transzendentale Gewinnbringung einstufen (vgl. »free-riding«/»free-riders«, Miller, 2002, 438). Zum
anderen macht es die Abgrenzung zu anderen Organisationen, die ebenfalls
transzendente oder ähnliche Dienstleistungen anbieten, sich selbst aber nicht
als religiös bezeichnen, mühevoll (vgl. dazu auch Beckford, 2015, 407; Iannaccone, 1995, 1998; Miller, 2002, 438f.; Stark & Iannaccone, 1994).
Trotz gewissen Schwächen in der Abgrenzung ermöglichen das RationalChoice-Modell oder zumindest die Marktmodelle den Umgang mit religiösen
Organisationen in einer bestimmten Weise. So kann von Dienstleistungen,
Angeboten und unterschiedlichen Akteuren und deren Interessen gesprochen
sowie von einer ständigen Wettbewerbssituation ausgegangen werden (vgl.
dazu auch Hellemans, 2005, 13ff.; Zimmer, 2013, 52). Zudem rückt dieses
Modell, ähnlich wie Luhmann es tut, die Mitglieder in eine wichtige Position,
wenn es um Aufbau und Struktur von Organisationen geht.
In allen drei Ansätzen sind Organisationen sowohl Produkt als auch Produzenten von makro- und mikrosoziologischen religiösen Prozessen und Entwicklungen. Denn Organisationen beeinflussen den Menschen und die Umwelt beeinflusst die Organisation (vgl. DiMaggio & Powell, 1983, 148; Kirchner,
2012, 33; Meyer & Rowan, 1977, 340; Pries & Sezgin, 2012b, 1; Zucker, 1983, 1).
Sie funktionieren als wichtige Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Individuum und sollten daher mehr ins Zentrum des religionswissenschaftlichen
Interesses rücken.
Um das Verhältnis zwischen Organisation und Gesellschaft zu klären, die
vor allem die organisationale Perspektive miteinschliesst, gibt es unterschiedliche theoretische Ansätze. Zentral in diesen Theorien sind Thematisierungen
des Einflusses und der Erwartungen des Individuums, anderer sozialer Akteure oder der Gesellschaft in Bezug auf die Organisationen sowie der Effekt und
die Konsequenzen der Organisationen auf ihre Umwelt und die Individuen.
Gerade mit Blick auf Forschungen zu Organisationen in der Diaspora zeigte sich, dass die Organisation sowohl den Erwartungen ihrer Mitglieder als
auch den (teilweise einander widersprechenden) Erwartungen anderer sozialer Akteure wie anderer Organisationen oder des Staats ausgesetzt sind, und
dies in doppelter Ausführung. Denn der Term Diaspora beinhaltet zugleich
eine transnationale und grenzüberschreitende Dimension und somit auch
ein mögliches exterritorialisiertes institutionelles Spannungsfeld zwischen
sozialen Akteuren der Herkunfts- und Residenzgesellschaft (vgl. dazu auch
Faist, 2010, 14ff.). Erschwerend kommt für Organisationen in der Diaspora
1 Einleitung
hinzu, dass sich mit dem Wechsel von der ersten zur zweiten Mitgliedergeneration auch die Erwartungen an die Organisationen ändern (vgl. Pries &
Sezgin, 2012b, 13ff.). Effekte und die Konsequenzen sind für Organisationen
eng an die Erwartungshaltungen ihrer Umwelt geknüpft. Hieraus folgen die
theoretischen wie auch die empirischen Annahmen, dass es im Sinne der
Organisation ist, eine bestimmte strategische Effizienz zu erreichen sowie
in der organisationalen Umwelt akzeptiert und legitimiert zu sein. Denn nur
mithilfe dieser Legitimität können sie auf ihre Umwelt wie auch auf Individuen Effekte erzielen und besitzen Existenzberechtigung (vgl. Pries & Sezgin,
2012b, 13ff.). Auf diesen Theorien und Forschungen aufbauend, gehe ich daher
folgenden übergeordneten Fragen nach:
Wie reagieren religiöse Organisationen in der Diaspora auf von ihnen
wahrgenommene aktuelle Erwartungen? Und welche Konsequenzen resultieren daraus für die Organisation, das Individuum und die (Aufnahme-)Gesellschaft?
Die Fragen sollen zudem anhand der zweiten Generation der gewählten
Migrantengemeinschaft und religiösen Organisation weiter konkretisiert
werden. Aufgrund fehlender Erkenntnisse zu religiösen Organisationen sowie
mangelnder Forschungen zur römisch-katholischen Diaspora insbesondere
in der Schweiz, aber auch in Deutschland wende ich mich zur Beantwortung
dieser Forschungsfrage der kroatischen Migrantenpastoral der katholischen
Kirche und ihren Mitgliedern in Deutschland und der Schweiz zu.
Mit 4 071 000 Einwohner:innen gehört Kroatien zu den kleinsten Ländern
in Europa (vgl. »Kroatien«, europa.eu [Stand: 29.1.2022]). Dazu kommt, dass
eine Minderheit an Kroat:innen in Bosnien-Herzegowina lebt. Bosnien-Herzegowina stellt in diesem Kontext somit die zweite Herkunftsgesellschaft für
kroatische Migrant:innen dar. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass BosnienHerzegowina ein Land ist, das drei ethnische Gruppierungen beheimatet, die
sich allein anhand der Religionsgrenze unterscheiden. Daran orientiert sich
die (national-)ethnische Zuteilung; so gehören die orthodoxen Bosnier und
Bosnierinnen auch zum serbischen Volk, haben aber Staatsangehörigkeiten
zu beiden Staaten und die katholischen Bosnierinnen und Bosnier zum kroatischen Volk, ebenfalls mit doppelter Staatsangehörigkeit. Die muslimischen
Bosnier und Bosnierinnen bezeichnen sich indes zur Abgrenzung als Bosniaken und Bosniakinnen (vgl. Iveljić, 2002/2006; Steindorff, 2007). Auch in
Kroatien gibt es eine ethnische Trennung zwischen serbischen Kroat:innen
und kroatischen Kroat:innen, die sich wiederum anhand der Religion vonein-
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Rebekka Rieser: Kroatisch, katholisch, konservativ
ander unterscheiden, wobei der serbische Anteil seit den 1990er Jahren enorm
zurückgegangen ist (vgl. Grünefelder, 2010, 181ff.; Iveljić, 2002/2006, 192).
Seit 2013 ist Kroatien Mitglied der Europäischen Union und damit ihr
jüngstes Mitglied. Mit Inkrafttreten des Schengen-Abkommens im Jahr 2019
gehören Kroat:innen aktuell zu den Topzuwanderern in Deutschland.3 In
der Schweiz leben ca. 63 000 Kroatinnen und Kroaten mit einem ständigen
Wohnsitz (SBK/RKZ, 2019, 23) und 414 000 in Deutschland (Graf, 2019, 17).
Im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppierungen machen Kroat:innen sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland einen geringen Anteil
der ausländischen Bevölkerung aus. Von den ca. 2,5 Millionen Personen mit
Migrationshintergrund in der Schweiz (vgl. »Ständige Wohnbevölkerung 2
020«, bfs.ch [Stand: 29.1.2022]) sind gerade einmal 1,4 Prozent kroatischer
Herkunft – in Deutschland sind es 3,4 Prozent. Es ist somit eine sehr kleine
Gruppierung, die zu untersuchen ist.
Da sie katholisch sind, steht den Kroat:innen die katholische Migrantenpastoral offen. Damit sind die kroatisch-katholischen Missionen innerhalb
dieser Arbeit als eine Art Suborganisation des globalen »Multikonzerns« der
römisch-katholischen Kirche zu betrachten. Das bedeutet, dass diese Art der
religiösen Migrantenorganisation vermutlich bereits in feste organisationale
Strukturen eingebettet ist und die römisch-katholische Kirche einen wichtigen Platz in Bezug auf Strukturen, Rollen, Aktivitäten sowie Legitimität für
die kroatischen Pastoraleinheiten einnimmt. Mit dieser Forschungsarbeit fällt
der Blick somit nicht nur auf die Themen Gesellschaft, Migration und Organisation, sondern auch auf Multikonzerne und Tochterorganisationen. Dies
macht diese Arbeit auch ausserhalb des religionswissenschaftlichen Bereichs
besonders fruchtbar, da sie sich komplexen Wechselwirkungen wie universalen versus lokale Strategien, Machtkämpfe und Einflussnahmen sowie
Narrativen und Identitäten in grossen Organisationsgeflechten widmet.
Diese religionswissenschaftliche Forschung ist eingebettet in das grössere interdisziplinäre Forschungsprojekt RESIC, »Religious and Social Identity
in Civil Society«, welches sich in ein quantitatives und ein qualitatives Teilprojekt aufsplittet. Im Setting des qualitativen Teilprojekts »Migrantengemeinschaften, religiöse Identitäten und zivilgesellschaftliche Einbindung. Qualita3
2018 waren es noch 395 000 Kroatinnen und Kroaten in Deutschland, das heisst, allein im Jahr 2019 sind fast 20 000 Personen nach Deutschland ausgewandert (vgl. Graf,
2019, 17). In der Schweiz dagegen ist die Zahl der kroatischen Einwander:innen rückläufig.
1 Einleitung
tive Befunde für Deutschland und die Schweiz im Vergleich« sind für das Forschungsdesign bestimmte Vorgaben festgelegt, an denen sich diese Arbeit orientiert, wie zum Beispiel Erhebungsorte, Stichprobe und Erhebungszeitraum.
Als Teil der Publikationsstrategie für RESIC richten sich auch die übergeordnete Fragestellung sowie die Wahl des theoretischen Zugangs nach dem Forschungsprojekt.
Die Arbeit gliedert sich in drei grosse Bereiche. Am Beginn steht eine theoretische Reflexion zum Thema der religiösen Organisationen, zum Wechselspiel zwischen Institutionen, zu Legitimität und Organisation sowie zur Sprache. In einem zweiten Schritt soll der Untersuchungsgegenstand mit Blick auf
Migrationsgeschichte, Aufbau und Struktur katholischer Ekklesiologie sowie
auf Forschung rund um Religion in der Diaspora konkretisiert werden. Des
Weiteren wird hier auch die gewählte Methode der qualitativen Erhebung und
der Auswertung erläutert sowie die Stichprobe vorgestellt. Analyse, Synthese
und Diskussion des Materials stellen abschliessend den dritten und grössten
Teil und somit das Herzstück dieser Arbeit dar. Die Analyse gliedert sich dazu
in zwei grosse Bereiche. Einerseits setzt sie sich intensiv mit den Erwartungen
und dem organisationalen Management seitens der Missionen auseinander,
andererseits illustriert sie die Prozesse und Endergebnisse rund um die Legitimität der kroatischen Migrantenpastoral. Die aus der Analyse resultierende
Diskussion ist ganz der Erkenntnisgewinnung, der Einbettung in bestehende
Forschung sowie der theoretischen und methodischen Reflexion gewidmet.
Abschliessend soll anhand des einschlägigen Statements von Lynne Zucker (1983: 1) »Organizations are everywhere« die Mesoebene in dieser Arbeit
im Kontext aktueller sozialwissenschaftlicher Religionsforschung in den Fokus rücken, um Erkenntnisse zu Mechanismen und Effekte von Religion, Migration und Organisation in säkularen Gesellschaften zu gewinnen.
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