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Werner Vogd Ärztliche Entscheidungsprozesse des Krankenhauses im Spannungsfeld von System- und Zweckrationalität Eine qualitativ rekonstruktive Studie unter dem besonderen Blickwinkel von Rahmen (»frames«) und Rahmungsprozessen VWF für Margarita Erstauflage 2004 Angenommen als Habilitationsschrift zur Erlangung der Lehrbefähigung für das Fach Soziologie am Fachbereich für Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin 3 Inhalt Vorwort 9 I. Einführung 11 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) 19 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 20 (a) Entscheiden unter Unsicherheit 21 (b) Medizinisches Wissen 23 (c) Patientenbedürfnisse 28 (d) Ökonomische Zielkonflikte 30 (e) Rechtliche Rahmenbedingungen 32 (f) Soziale Variablen und sonstige Bedingungen ärztlichen Entscheidens 34 (g) Resümee 36 2. Der Arzt als „psychisches System“ 36 (a) Erkennen und Entscheiden unter dem Blickwinkel des neurobiologischen Konstruktivismus (b) Kognitive Täuschungen 39 (c) Expertenwissen 43 (d) Resümee 45 3. Ärztliches Handeln in sozialen Systemen 46 (a) Klassiker krankenhaussoziologischer Forschung 46 (b) Systemtheoretische Analysen 48 (c) Aktuelle rekonstruktive Arbeiten 49 (d) Resümee 52 4. Reformulierung der Ausgangsfrage 52 III.Dokumentarische Methode: vom immanenten Sinn zum „Modus Operandi” sozialer Praxis 61 (a) Grundlagen der dokumentarischen Methode 61 (b) Erhebungsverfahren 66 (c) Fallauswahl 70 (d) Transkription und Beobachtungsprotokolle 72 (e) Ergebnisdarstellung 72 (f) Maskierung der Daten 72 36 Inhalt 4 IV. Soziologie des Entscheidens: theoretische und metatheoretische Konzeptionen 75 1. Beziehung zwischen Theorie und Forschungspraxis 75 (a) Metatheoretische Annahmen, Kompatibilitäten und Unvereinbarkeiten 75 (b) Integration in die Forschungspraxis der dokumentarischen Methode 77 2. Rational-Choice-Theorie: Handeln nach berechenbaren Kosten-Nutzen-Kalkülen 83 (a) Webers Theorie zweckrationalen Handelns 85 (b) Nutzenfunktionen 88 (c) Situationslogik und Situationsdefinition 89 (d) Soziale Systeme 91 (e) Organisationen 93 (f) Zusammenfassung 96 3. Rahmen: Die Herstellung dessen, was der Fall ist 97 (a) Zusammenfassung 100 4. Feld und Habitus: „Zweckhaftigkeit ohne bewusstes Anstreben von Zwecken” 100 (a) Soziales Feld und Macht 101 (b) Habitus und sozialisierter Körper 103 (c) Rationales Entscheiden – ein scholastischer Irrtum 105 (d) Zusammenfassung 107 5. Interaktionsstruktur: professionelles Handeln im Spannungsfeld von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung 108 (a) Sozialisationstheoretische Begründung 109 (b) Das prekäre Verhältnis von Theorie und Praxis 110 (c) Professionstheoretische Konsequenzen 111 (d) Zusammenfassung 113 6. Systemtheorie: Das Organisationssystem konstruiert die Zwecke, die es braucht 114 (a) Grundlagen 114 (b) Funktionssysteme 117 (c) Professionalisierung 119 (d) Entscheidungstheorie 120 (e) Organisation 123 (f) Zusammenfassung 128 Inhalt 5 V. Das medizinische Feld 139 1. Patienten und Angehörige 141 (a) Alltäglichkeit vs. Außeralltäglichkeit 141 (b) Aufklärung 143 (c) Patienten haben wenig zu entscheiden 148 (d) Exotische Patientenwünsche 153 (e) Angehörigeneinflüsse 156 (f) Zusammenfassung Laienbereich 160 2. Pflegebereich (inkl. paramedizinische Berufe) 161 (a) Aufgaben des Pflegebereichs 162 (b) Die Beziehung zwischen Pflege und ärztlichem Feld 167 (c) Rolle der Pflege in medizinischen Entscheidungen 172 (d) Zusammenfassung Pflegebereich 175 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 176 (a) bürokratischer Alltag im Krankenhaus 177 (b) Soziale Indikation 178 (c) Beziehung zu den Krankenkassen 179 (d) Ökonomie und ärztliche Freiheit 188 (e) Zusammenfassung ökonomisch-administrativer Bereich 193 4. Exkurs: Wissenschaft 194 VI. Ärztliches Feld 207 1. Spielregeln des ärztlichen Feldes 207 (a) Grundlegende Regeln und ärztlicher Arbeitsethos 208 (b) Ärztlicher Auf- und Abstieg 214 (c) Glücklich sein - Aufgehen im ärztlichen Handeln 222 2. Ärztliche Hierarchie 225 (a) Verhältnis der Stationsärzte zum Chefarzt 227 (b) „Veranstaltung” Chefvisite 233 (c) Oberärzte in der Mittler-Rolle 237 3. Externe Ärzte 242 (a) Systemgrenzen 243 (b) konsiliarische Ärzte 245 (c) Ärzte des ambulanten Bereichs 249 Inhalt 6 4. Formelle Entscheidungsgremien 253 (a) tägliche Routinebesprechungen 254 (b) Team- oder Abteilungsbesprechungen 258 (c) Interdisziplinäre Fallkonferenzen 263 5. Zeitliche und räumliche Koordination ärztlicher Arbeit 267 (a) Räumliche Organisation 267 (b) Zeitliche Koordination 269 6. Zusammenfassung „Ärztliches Feld” 273 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse 287 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 289 (a) Herr Spondel, Innere Medizin (Allgemeinkrankenhaus) 290 (b) Herr Schmidt-Bauer, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) 300 (c) Herr Wusel, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) 306 (d) Herr Beckenbauer, psychosomatiche Station (Universitätsklinikum) 311 (e) Frau Siegel, psychosomatische Station (Universitätsklinikum) 321 (f) Herr Mertelsmann, Onkologie (Universitätsklinikum) 326 (g) Zusammenfassung, zugleich abschließende komparative Analyse 337 2. Behandlung palliativer Patienten 339 (a) Frau Mohn, Innere Medizin (Allgemeinkrankenhaus) 339 (b) Frau Hof, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) 349 (c) Herr Brugger, onkologische Station (Universitätsklinikum) 351 (d) Herr Kranz, onkologische Station (Universitätsklinikum) 360 (e) Zusammenfassung, zugleich abschließende komparative Analyse 363 3. „Schwierige” Patienten 365 (a) Herr Haase, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) 365 (b) Frau Zenker, internistische Station (Allgemeinkrankenhaus) 369 (c) Frau Zwinger, psychosomatische Station (Universitätsklinikum) 371 (d) Herr Hardt, psychosomatische Station (Universitätsklinikum) 376 (e) Herr Masur, onkologische Station (Universitätsklinikum) 378 (f) Frau Menzel, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) 382 (g) Zusammenfassung, zugleich abschließende komparative Analyse 383 Inhalt 7 VIII. Diskussion 391 1. Typologie ärztlicher Entscheidungsprozesse 391 (a) Basistypik 391 (b) Ausdifferenzierung der Typologie 397 2. Organisation von Entscheidung 401 (a) Mikropolitik ärztlichen Entscheidens 402 (b) Entscheiden als Kontingenzbewältigung 403 3. Implikationen für eine Soziologie des (ärztlichen) Entscheidens 406 4. Fragen an die Forschungspraxis 414 (a) Krankenhausforschung 414 (b) Professionalisierung 416 IX. Literatur 421 X. Zusammenfassung 433 9 Vorwort Zuallererst möchte ich all den Ärzten und Ärztinnen danken, die mir in den vergangenen drei Jahren erlaubt haben, an ihrer Arbeit teilzuhaben. Mit dem Arztkittel bekleidet durfte ich an ihrem intensiven Alltag teilnehmen und lernte ihren unermüdlichen Einsatz für die ihnen anvertrauten Patienten bewundern. Von den meisten Ärzten würde ich mich oder meine Freunde und Angehörigen im Krankheitsfalle auch behandeln lassen, denn ich habe erlebt, dass hinter der ruppigen und unfreundlichen Art manches Mediziners ein Arzt mit hochgradigem Verantwortungsgefühl steckt. Auch wenn all diese Personen aufgrund der Maskierung der Daten namenlos bleiben müssen, es sei ihnen nochmals herzlich für alles gedankt. Viele von ihnen sind mir als Mensch noch lebendig vor Augen. Außerdem bin all denen zu großem Dank verpflichtet, die mich in meinem Forschungsprozess durch Kritik, wertvolle Anregungen und Diskussionen unterstützt haben. Insbesondere sind hier Ralf Bohnsack und seine Forschungswerkstatt sowie der Diskussionskreis inside medical institutions um Manfred Zaumseil zu nennen. Namentlich möchte ich darüber hinaus noch Silvia Hedenigg, Anja Hermann, Cornelius Schubert, Jörn Koeppsell und Peri Terzioglu erwähnen. Frau Monique Kriescher-Fauchs danke ich für die wertvolle Hilfe in allen bibliothekarischen Fragen. Für die vielen notwendigen ärztlichen Hinweise und Anregungen bin ich darüber hinaus meiner Frau (Dr. med.) Margarita Sanchez Garcia außerordentlich dankbar. Für die Transkription der Tonbandprotokolle danke ich Heike Grosse, Inge Kuhlo und Johanna Nordheim; fürs Korrekturlesen: Jutta Begenau, Jutta Kleber, Inge Kuhlo und Franz Kustor. Nicht zuletzt möchte ich den medizinischen Fakultäten der Freien Universität Berlin und der Humbold Universität Berlin danken, da sie es mir in den vergangenen 5 Jahren am Institut für Medizinische Soziologie (damals noch Institut für Soziale Medizin) ermöglichten, diese und eine Reihe andere Forschungsarbeiten abzuschließen. Berlin, den 8 Februar 2004 Werner Vogd 11 I. Einführung „Wir können nur jene Fragen entscheiden, die prinzipiell unentscheidbar sind.“ Heinz von Foerster (1994: 351) Was ist die Einheit einer ärztlichen Entscheidung? Entscheidet der Arzt darüber, was im Hinblick auf die medizinischen Belange im Krankenhaus zu geschehen hat? Auf den ersten Blick scheint die Antwort klar. Wer sonst als der Arzt hat die Autorität und die Kompetenz zu entscheiden, und falls der Arzt mal nicht entscheidet, dann tut es eben der Patient oder ein ihn stellvertretender Angehöriger. Wir sind es gewohnt, Entscheidungen mit einer Person zu verbinden, um dieser dann nachvollziehbare Motive als Gründe für das beobachtete Handeln zuzurechnen. Vom Arzt erwarten wir natürlich, dass er heilen und helfen möchte und darüber hinaus, dass seine Behand lungsentscheidungen durch medizinisches Wissen begründet sind. Gelegentlich unterstellen wir ihm auch andere Motive, etwa ökonomischer Art. Aber stellt sich die Sache wirklich so einfach dar – und wenn ja: Wer oder was ist überhaupt der Entscheider? Zunächst ein kleiner Exkurs, um die Natur des Problems zu erhellen. In den 60er-Jahren wurden Patienten, die unter einer schweren Epilepsie litten, nicht selten einer Hirnoperation unterzogen, in der das corpus callosum, der „Balken“ zwischen den beiden Hirnhälften, durchtrennt wurde. Durch die Zerstörung der verbindenden Nervenfaser war nun die rechte Hirnhälfte nicht mehr in der Lage, unmittelbar mit der linken Hirnhälfte zu kommunizieren und umgekehrt. Entsprechend konnten sich auch die epileptischen Krampfanfälle nicht mehr über das ganze Gehirn ausbreiten. Was bedeutet nun dieser Eingriff für das Alltagsleben der so genannten Split-Brain-Patienten? Auf den ersten Blick scheinen sie normal zu reagieren. Üblicherweise regelt die dominante linke Hirnhälfte die Aktivitäten und ist auch für das Körperempfinden verantwortlich. Was geschieht aber, wenn die rechte Hirnhälfte plötzlich „beschließt“, einen Spaziergang zu machen? Wie reagiert darauf die dissoziierte andere Gehirnhälfte und was denkt sie dabei? Solche Fragen wurden unter Laborbedingungen in der Arbeitsgruppe um den Nobelpreisträger Roger Sperry untersucht (Gazzaniga 1989). Nur mit einer Hirnhälfte zu kommunizieren lässt sich für einen Versuchsleiter technisch relativ einfach realisieren. Üblicherweise geschieht dies dadurch, dass man eine Information – etwa ein Bild oder einen Satz durch eine optische Apparatur nur auf die rechte bzw. linke Seite der Netzhaut des Auges projiziert und hierdurch entsprechend nur eine Hirnhälfte „ansprechen“ kann. Eine Reihe von Split-Brain-Patienten wurde auf diese Weise untersucht. Bei einigen der Versuchsteilnehmer zeigten erstaunlicherweise beide Hirnhälften die Fähigkeit, Schrift und Sprache zu verstehen, sowie sich verbal auszudrücken. Ein gut dokumentierter Fall, bei dem eine Reihe dieser Experimente durchgeführt wurde, war jener des 15-jährigen Paul: »Der Testleiter begann zum Beispiel eine mündliche Frage mit „Wer ...?“ – und die offenen Stellen wurden durch eine Projektion in einem der Gesichtsfelder ergänzt, zum Beispiel durch die geschriebenen Worte „... bist du“. Auf die beiden Seiten vorgelegte Frage folgte die gleiche Antwort: „Paul.“ Auf die Frage: „Was für ein Tag ist morgen?“ kam beide Male die richtige Antwort: „Sonntag.“ Auf die Frage an die linke Hirnhälfte: „Was willst du werden, wenn du groß bist?“ antwortete Paul: „Rennfahrer.“ Und dies ist faszinierend, weil auf die gleiche Frage an die rechte Gehirnhälfte die Antwort kam: „Designer“« (Maturana/Varela 1987: 248). Ein ebenso erstaunliches Ergebnis zeigt sich, wenn man die rechte Hirnhälfte zu einer Aktivität veranlasst, von der die linke nichts weiß: »Eine einfache Aufgabe wie „gehen“ 12 I. Einführung wird in die stumme rechte Gehirnhälfte geblitzt, und der Patient reagiert darauf typischerweise, indem er seinen Stuhl zurückschiebt und sich aus dem Testbereich entfernt. Wenn man ihn dann fragt, wohin er gehe, so lautet die Antwort meist etwa: „Ich gehe nach Hause, um mir eine Cola zu holen“« (Gazzaniga 1989: 89f.). Erstaunlicherweise antwortet die linke Hirnhälfte nicht im Sinne dessen, was sie eigentlich entsprechend der durch die Versuchsanordnung erzeugten Realität hätte empfinden müssen. Sie sagt etwa nicht „ich weiß es nicht“ oder „ich habe mich irgendwie getrieben gefühlt“, sondern erfindet eine Erklärung, die mit dem erlebten Handeln des eigenen Körpers in Einklang steht1. Das Gehirn konstruiert hier post hoc eine Rationalität, die dem vollzogenen Verhalten eine intentionale Handlungsabsicht unterlegt. Paul gibt vor, zweckrational zu handeln, wenngleich die Sache hier offensichtlich anders liegt, denn nicht das Motiv, seinen Durst befriedigen zu wollen, veranlasst ihn aufzustehen, sondern die ins Hirn geblitzte Anweisung des Versuchsleiters. Für Maturana und Varela erklären sich diese Befunde aus der Perspektive des neurobiologischen Konstruktivismus folgendermaßen: »Was wir sagen, reflektiert - außer wenn wir lügen - das, was wir leben, und nicht das, was aus dem Blickwinkel eines unabhängigen Beobachters geschieht. [...] All diese Experimente sagen uns Grundlegendes über die Weise, auf die der anhaltende Fluß von Reflexionen, den wir Bewußtsein nennen und mit unserer Identität assoziieren, organisiert ist und seine Kohärenz bewahrt. [...] Im sprachlichen Bereich von Paul kann es keine Inkohärenz geben. [Er muß kohärente Antworten geben]. [...] Im Falle von Paul erleben wir drei verschiedene Personen in einem Körper. Zu bestimmten Zeiten können diese Personen unabhängige, selbstbewußte Wesen sein. Das zeigt uns in dramatischer Weise, daß es die Sprache ist, in der ein Selbst, ein Ich, entsteht und zwar als jene soziale Singularität, die durch die operationalen Überschneidungen, in denen das Ich unterschieden wird, im menschlichen Körper entsteht. Daraus ersehen wir, daß in dem Netzwerk der sprachlichen Interaktionen, in dem wir uns bewegen, eine andauernde deskriptive Rekursion aufrechterhalten wird, die wir unser »Ich« nennen. Sie erlaubt uns, unsere sprachlich operationale Kohärenz zu bewahren sowie unsere Anpassung im Reich der Sprache« (Maturana/Varela 1987: 249f.). Um hier eine soziologische Erklärung dieses Phänomens zu wagen: Der signifikante andere, hier in Gestalt des Versuchsleiters, ist nicht nur Anlass von Pauls Verhalten, sondern zugleich auch Ursache für die Intentionalität, die hier in Pauls Antwort zu Tage tritt. Denn provoziert er nicht durch seine Frage Paul dazu, einen Grund dafür zu konstruieren, warum er eben so und nicht anders gehandelt habe? Sozial handelnd folgt Pauls rechte Hirnhälfte der Erwartung, dass man der Versuchsanleitung doch Folge leisten solle. Und ebenso sozial handelnd wird die linke Hirnhälfte der an sie gestellten Erwartung gerecht, dass man doch für sein Verhalten eine Begründung zu geben habe. Handeln wie Intentionalität liegen hier gewissermaßen außerhalb des Akteurs, bilden sich aus einem überpersonalen Interaktionszusammenhang, der in diesem Fall aus drei Einheiten besteht: der rechten Hirnhälfte, der linken Hirnhälfte und dem Versuchsleiter. Der Entscheider, das intentionale Selbst, würde aus dieser Perspektive letztlich nichts anderes sein als ein Sprachspiel, aus dem es dann jedoch kein Entrinnen gibt. Man kommt mit dem Denken nicht über die Sprache hinaus – es gibt hier keine Leiter, die einen weiterführt. Bewusstseine reproduzieren sich nun mal genau wie soziale Systeme durch Kommunikationen. Die so genannte freie Entscheidung würde dann aus diesem Blickwinkel nur eine weitere Runde innerhalb eines komplexen sozialen Tanzes darstellen. Entsprechend den Regeln dieses Spiels attribuiert man auf sich selbst, sagt „ich“ und hat entsprechend so zu tun, dass der Grund, warum man eben so und nicht anders handelt, in einem selbst liege, und irgendwann glaubt und fühlt man sich dann 1. Einführung 13 in Einklang mit all diesen Zurechnungen. Um mit Metzinger zu sprechen: Man verwechselt nun das Selbstmodell mit dem Selbst2. Man könnte jetzt vielleicht geneigt sein, sich damit herauszureden, dass Paul eben kein normaler Akteur sei und dass sein bemerkenswertes Verhalten nur ein Artefakt des hirnchirurgischen Eingriffes darstelle, während ja zumindest der Versuchsleiter Herr seiner selbst sei und entsprechend intentional, aus sich heraus nach zweckrationalen Kriterien handeln könne. Ein in der Weberʼschen Unterscheidung von Verhalten und Handeln geschulter Soziologe könnte jedoch auch hier die Intentionalität des Versuchsleiters kritisch hinterfragen: Denkt dieser wirklich darüber nach, was er tut, oder verhält er sich vielleicht auch nur entsprechend jener Routinen, die in seinem Metier eben üblich sind? Und falls er dann dennoch sein Handeln als freie Entscheidung seines bewussten Selbst erlebt, könnte es sich hierbei nicht auch um ein »naiv-realistisches Selbstmißverständnis« handeln (Metzinger 1998: 361), um ein Artefakt seiner neurologischen Prozesse? Haben nicht schon Lebets bahnbrechende neurophysiologische Untersuchungen über die zeitliche Verarbeitung von Wahrnehmungsreizen gezeigt, dass das Bewusstsein in der Regel nur am Ende einer langen Kette von Verarbeitungsprozessen erscheint, sozusagen als verspäteter Zuschauer, nicht jedoch unbedingt als Hauptakteur (Lebet et al. 1979)3. Eine Reihe namhafter Hirnforscher kommt heute mittlerweile zu dem Schluss, dass es sich bei vielen subjektiven Konnotationen der Ich-Erfahrung um sozial hergestellte Zurechnungskonstrukte handelt (Singer 2002)4. In Hinblick der anfangs gestellten Frage „Wer ist der Entscheider?“ hilft es angesichts dieser Perspektiven wenig weiter, die Einheit der Entscheidung im Subjekt zu lokalisieren. Auch wenn es im Sinne des common sense und der eigenen psychischen Kohärenz wohl weiterhin ratsam ist, in alltagspraktischen Dingen von dieser Annahme auszugehen, darf jedoch in einer ernst zu nehmenden soziologischen Auseinandersetzungen über Entscheidungsprozesse in Organisationen hier kein Tabu gelten. Der wissenschaftlich ausgebildete Arzt verkörpert per se die Werte einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft. Er stellt gleichsam das Sinnbild eines zweckrationalen Menschen dar und auch die Ärzte selbst sehen sich gerne in der Rolle des hyperrationalen Akteurs (vgl. hierzu Berg 1995). Doch stimmt dieses Selbstbild mit der Wirklichkeit überein oder ist die Rationalität des Mediziners letztlich nur ein Artefakt, das dadurch genährt wird, weil eben alle von ihm erwarten, dass er rational und wissend handelt? Wird er nicht erst deshalb zum Entscheider, weil ihm die Rolle des Entscheiders zugewiesen wird und ihm schließlich nichts anderes übrig bleibt, als die an ihn gestellte Herausforderung anzunehmen? Zeigt sich dann – beim genaueren Hinsehen – vieles, was vermeintlich rational und überlegt erscheint als Routine – man macht es, weil man es schon immer so gemacht hat, und die vor einem es auch so gemacht haben -, als Habitus – mehr fühlend als denkend weiß man, was man zu tun und was man besser zu unterlassen hat, oder als Systemrationalität, als überindividuelle Gesetzlichkeiten, deren Regeln man bestenfalls erahnen kann? Sind dann oftmals vielleicht sogar die Verhältnisse „klüger“ als die Individuen? Werden nicht viele Behandlungsentscheidungen durch die vielfältigen sozialen Prozesse innerhalb des Behandlungssystems vorstrukturiert (Patientenakte, diagnostische Routinen, Tagesablauf des Krankenhauses etc.), so dass die ärztliche Entscheidung gleichsam dann nur noch das Tüpfelchen auf dem „i“ darstellt? Wie gelingt es Ärzten angesichts von medizinischer, psychischer, ökonomischer, sozialer und rechtlicher Unsicherheit zu entscheiden? Oder anders herum: Wie gewinnt medizinische Praxis ihre Sicherheit des Handelns auch unter der Voraussetzung von Nicht-Wissen? Liegen die Mechanismen der Unsicherheitsabsorption 14 I. Einführung wirklich im Individuum oder sind sie nicht doch eher im System verborgen? Kann es weiterhin sinnvoll sein, Entscheidungen einem Individuum zuzurechnen, oder kommt man in der Analyse ärztlicher Entscheidungsprozesse weiter, wenn man diese Phänomene als ein überpersonales bzw. „transpersonales“ Phänomen auffasst? Solche Fragen ernsthaft angehen zu wollen, verlangt tief in die Welt der Praxis einzudringen. Die sozialen Bedingungen ärztlichen Entscheidens liegen nicht auf der Straße, sondern müssen erst durch einen intensiven Forschungsprozess rekonstruiert werden. Hierbei kann es nicht ausreichen, sich auf die Schilderungen und Reflexionen der Akteure zu verlassen, denn könnte es nicht sein, dass auch sie unter einem rationalistischen Selbstmissverständnis leiden, wenngleich in „Wirklichkeit“ – wie im Fall von Paul - soziale Konditionen ihr Handeln und Entscheiden provozieren? Aus diesem Grunde ist die Feldforschung für meine Fragestellung die Methode der Wahl, denn die Prozesse der Praxis müssen unter Realbedingungen verfolgt werden können. Insbesondere den Beobachtungsprotokollen kommt damit die Aufgabe zu, die realen Zeitverhältnisse dieser Abläufe widerzuspiegeln, denn erst hierdurch gelingt es, die Spannung zwischen der Praxis einerseits und der Begründung und den Reflexionen andererseits über die Praxis für die Rekonstruktion der Dynamik der Entscheidungsprozesse nutzen zu können. Entsprechend hat sich der Forscher zunächst den weißen Arztkittel übergezogen und dabei mit dem Notizblock in der Hand in vier verschiedenen Feldforschungsaufenthalten am täglichen Leben von Chirurgen, Internisten und Psychosomatikern teilgenommen. Um bei Visiten, Fallkonferenzen, Aufklärungsgesprächen, diagnostischen und therapeutischen Prozeduren sowie anderen Aktivitäten dabei sein zu können, reichte es in der Regel aus, den Ärzten zu folgen. Nur in einigen wenigen Fällen wurde der Forscher explizit aus einem Geschehen ausgeschlossen. Prinzipiell zeigte sich also die Logik der Praxis offen, was jedoch nicht bedeutet, dass man damit zugleich in der Lage ist, dieselbe in ihrem immanenten Sinngehalt zu verstehen. Zunächst war es hierfür für mich notwendig, mich meinerseits in die Logik der üblichen medizinischen Abläufe einzuarbeiten und hierbei immer wieder mein Verständnis des Geschehens mit den verschiedenen Ärzten in Experteninterviews abzugleichen. Meine Arbeit ist zugleich zwei Disziplinen verpflichtet: der Medizin und der Soziologie, wobei sich jedoch diese beiden Disziplinen entsprechend dem Duktus dieser Arbeit in einem doppelten Zweck-Mittel-Verhältnis zueinander befinden. Gleich den Kippbildern der Gestaltpsychologie tritt mal das eine und mal das andere in den Vordergrund. In weiten Teilen dieser Untersuchung erscheint es so, als ob die Soziologie hier die methodologische Hilfswissenschaft darstellt, zu einem Mittel wird, um die Bedingungen und Verhältnisse im Krankenhaus besser verstehen zu können. Demgegenüber erscheinen die Geschehnisse im Krankenhaus in anderen Teilen der Arbeit ihrerseits als Mittel zum Zweck, nämlich als Beispiel für komplexe Arbeitsabläufe, an denen die sozialen Bedingungen menschlichen Entscheidens in Organisationen untersucht werden können. Das Krankenhaus liefert hier die empirische Fundierung der eher theoretisch angelegten Fragen einer „Soziologie des Entscheidens“. Der Forschungsprozess pendelt gleichsam „dialektisch“ zwischen diesen beiden Polen. Zunächst wird versucht, die empirische Wirklichkeit zu rekonstruieren, um dann hieraus theoretische Konzepte zu generieren, die dann helfen, den untersuchten Gegenstand tiefer aufzuschließen. Diese Ergebnisse wiederum helfen, die Vorstellung darüber zu konkretisieren, welche die Konstituenten einer begründeten soziologischen Entscheidungstheorie darstellen könnten. Im Gegensatz zu den meisten Projekten, die unter dem Label „grounded theory“ laufen, werden in dieser Arbeit die gegenstandsorientierte und die theoretische Perspektive nicht kurzgeschlossen. Die Spannung zwischen soziologischer 1. Einführung 15 Theorie und (untersuchter) Praxis soll gerade hier genutzt werden, um eine allzu flache Analyse und vorschnelle Typenbildung, die dann letztlich nur ein wenig über das Verständnis des common sense hinausgeht, zu vermeiden. Gleichsam als eine Brille, die manches überzeichnet, anderes aber hierdurch erst sehen lässt, sollen hier verschiedene theoretische Perspektiven genutzt werden, um auch die Empirie an der Theorie zu brechen – denn da mein Erkennen selbst eine Wirklichkeit konstruiert, ist das, was ich als empirische Wirklichkeit erkenne, ebenso von meinen blinden Flecken durchsetzt. Gerade qualitative Forschung kann einen dazu verleiten, zu schnell Muster und Strukturen zu entdecken - um dann damit letztlich nur die eigenen Vorurteile zu bestätigen. Anders herum macht auch die überzeugendste soziologische Theorie nur wenig Sinn, wenn sie nicht an der Empirie gebrochen wird. Im Sinne einer konstruktivistischen Epistemologie ist dem eigenen Erkenntnisvorgang zu misstrauen. Der grundsätzliche und berechtigte Zweifel am Empirismus und am Rationalismus soll hier jedoch nicht zu einem Verzicht auf Wissenschaft und stringente Methodik im Sinne eines „everything goes“ führen (Feyerabend 1983). Im Gegenteil: Die Bewusstheit der eigenen Erkenntnisgrenzen, die Einsicht in die „Standortgebundenheit des Wissens“ (vgl. Mannheim 1980:161ff.) ermöglichen es erst dem Wissenschaftler, systematisch den eigenen Wissenshorizont zu überschreiten, indem er sich ständig neuen Vergleichshorizonten aussetzt und sich durch die Methode der systematischen komparativen Analyse irritieren und überraschen lässt. Anstatt die Empirie zu missbrauchen, um die eigenen Hypothesen zu bestätigen oder umgekehrt zu Gunsten eines naiv-realistischen Pragmatismus auf die Theorie zu verzichten, wird hier der Konstruktivismus zur Methode – erlaubt es doch gerade erst der systematische Selbstzweifel, die eigenen Wirklichkeitsmodelle in Richtung einer gehaltreicheren Komplexität zu erweitern. In diesem Sinne sind die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven hier keine soziologische Pflichtübung, sondern dienen als wertvolle Hilfestellung und Irritationsquelle, um interessante Fragen stellen zu können. Erst durch die Trias von Abduktion, Induktion und Deduktion kann es gelingen, das empirische Material aufzuschließen. Das induktive Vorgehen dient der Mustererkennung. Die deduktive Herangehensweise konfrontiert das Material mit theoretischen Konzepten und erlaubt, die eigenen Modelle und Muster zu falsifizieren. Und nicht zuletzt wird die Abduktion zum Teil der Methode. Der kreative Prozess der Hypothesengenerierung kann nur gelingen, wenn man sich des Öfteren in das Chaos der Unsicherheit, des Zweifels und des Nichtwissens begibt. Die konstruktivistische Epistemologie erscheint hier nicht als Not oder Verlegenheit, sondern als Tugend (vgl. auch Knorr-Cetina 1989)5. Über diese erkenntnistheoretischen Eskapaden hinausgehend, könnten von einigen Lesern der Duktus sowie einige Ergebnisse dieser Arbeit als Herausforderung empfunden werden, denn stellenweise wird eine Analyseperspektive eingenommen, in der ärztliches Handeln nicht mehr zweckrational erscheint und die Dinge im Krankenhaus manchmal auch so betrachtet werden, als geschehen sie nur ihrer selbst willen. Wie in den meisten organisatorischen Bezügen dreht sich auch im Krankenhaus vieles um die Aufrechterhaltung der eigenen Identitäten, um die Herstellung von Handlungslegitimität und um die Reproduktion von Hierarchie und Machtverhältnissen. Aber was ist überhaupt der eigentliche Zweck des Krankenhauses? Ist es nicht so – um eine ketzerische Frage aufzuwerfen –, dass insbesondere in den Grenzgebieten der modernen Medizin – dort wo eben auch die Entscheidungsprobleme emergieren – dieser Zweck keineswegs mehr so leicht zu bestimmen ist? Besteht dann hier nicht manchmal die eigentliche Aufgabe der Ärzte darin, in den unentscheidbaren Fällen Entscheidungen zu treffen, wo aufgrund ethischer, rechtlicher, medizinischer und anderer Gründe der richtige Zweck eben nicht auf der Straße liegt? In diesem Sinne liegt in den Ergebnissen dieser Arbeit durchaus eine Provokation. I. Einführung 16 Aufbau der Arbeit Zunächst wird im Kapitel »Ärztliches Entscheiden (II)« versucht, einen interdisziplinären Einblick in das Thema „ärztliches Entscheiden“ zu geben. Die überwiegende Zahl innermedizinischer und gesundheitswissenschaftlicher Studien betrachtet den Arzt dabei als zweckrational agierenden Akteur. Entsprechend werden die Probleme ärztlichen Entscheidens hier eher in der Frage des Transfers medizinischen Wissens in die Praxis sowie in der Zweckspannung zu nichtmedizinischen Funktionsbezügen (etwa zur Ökonomie und zum Recht) gesehen. Allerdings zeigt die Auseinandersetzung mit den immanenten Rationalitäten ärztlichen Handelns auch, dass Mediziner oftmals hyperkomplexe Sachverhalte zu bewältigen haben und entsprechend unter den Bedingungen hoher Unsicherheit entscheiden müssen (1). Darüber hinaus wird die ärztliche Expertise auch aus einem psychologischen Blickwinkel heraus zu beleuchten sein. So muss etwa gefragt werden, ob Ärzte als intuitive Statistiker agieren oder ob sich ärztliche Handlungsorientierungen vielleicht besser als ein Netzwerk aus Metaphern und Narrativen verstehen lassen (2). Drittens ist schließlich von einer soziologischen bzw. systemischen Perspektive her aufzuzeigen, wie es ärztlichen Akteuren unter der Voraussetzung begrenzter psychischer und kognitiver Ressourcen gelingen kann, selbst hyperkomplexe Probleme zu bewältigen. Geschehen kann dies nur in Form von kollektiven, arbeitsteiligen Prozessen, in denen die Aufgaben zerteilt, routinisiert und die diesbezüglichen Verantwortlichkeiten in „kleine“ tragbare „Pakete“ aufgeteilt werden (3). Wenngleich die Krankenhaussoziologie auf eine stattliche Anzahl qualitativ angelegter Studien zurückblicken kann, zeigt sich, dass in Hinblick auf die Rekonstruktion der Bedingungen ärztlichen Entscheidens eine deutliche Forschungslücke besteht. Der Grund hierfür liegt auch darin, dass die üblichen methodologischen Zugänge auf handlungstheoretischen Annahmen fußen, die den Blick gerade für diese Prozesse verstellen. Entsprechend stellt sich die Ausgangsfrage meines Forschungsprojektes zum Abschluss dieses Kapitels in differenzierterer Form (4). In Kapitel III wird mit der dokumentarischen Methode ein wissenssoziologischer Zugang vorgestellt, der es ermöglicht, die sozialen Prozesse, und weniger die Personen, in das Zentrum der Analyse zu stellen, und der darüber hinaus erlaubt, den Unterschied zwischen Handlungspraxis und den Theorien über diese Handlungspraxis weitaus mehr als üblich ernst zu nehmen. Neben einer Einführung in die Grundlagen der Methode (1) wird ausführlich auf die Datenerhebung (2), die Fallauswahl (3) und die Ergebnisdarstellung (4) eingegangen werden. Im folgenden Kapitel (IV) werden verschiedene theoretische Angebote einer Soziologie des Entscheidens vorgestellt und daraufhin abgeklopft, inwieweit sich hieraus sinnvolle Fragen an das empirische Material ergeben. Zunächst wird dabei der metatheoretische Rahmen dieser Arbeit etwas ausführlicher zu erörtern sein (1), um dann anschließend relevante Konzeptionen unterschiedlicher Provenienz einführen zu können. Beginnend mit der Rational-Choice-Theorie (2), über die Goffmanʼschen Rahmenanalyse (3), der Bourdieuʼschen Konzeption von Habitus und Feld (4), den Oevermannʼschen sozialen Deutungsmustern (5) bis hin zur Luhmannʼschen Organisationstheorie (6) wird eine Reihe für diese Arbeit relevanter Diskurse aufgegriffen und in Beziehung zur Ausgangsfrage gesetzt. Bevor die Rekonstruktionen der ärztlichen Entscheidungsprozesse in der ihnen gebührenden Ausführlichkeit vorgestellt werden, wird in den Kapiteln das »medizinische Feld (V)« und das »ärztliche Feld (VI)« versucht, dem Leser einen systematischen Einblick in die Abläufe Aufbau der Arbeit 17 und Strukturen der untersuchten Institutionen zu geben. Dies geschieht hier empirienah unter Zuhilfenahme von kurzen Beobachtungssequenzen, die geeignet erschienen, um wesentliche Bedingungen der Arbeit im Krankenhaus zu illustrieren. Beginnend mit den Patienten und den Angehörigen (V.1), dem Pflegebereich (V.2), dem ökonomisch-administrativen Bereich (V.3) und der Wissenschaft (V.4) werden zunächst die wichtigen Akteursgruppen innerhalb des medizinischen Feldes vorgeführt. Im Sinne meines Erkenntnisinteresses wird der ärztliche Bereich anschließend ausführlicher behandelt. Angefangen mit den Regeln des ärztlichen Feldes (VI.5), der ärztlichen Hierarchie (6), über die Rolle der externen Ärzte (7) und den formellen Entscheidungsgremien (8) bis zur zeitlichen und räumlichen Organisation ärztlicher Arbeit (9) werden hier grundlegende krankenhaussoziologischer Fragen angesprochen. In diesen beiden Kapiteln wird auf die ausführliche komparative Analyse zu Gunsten der Systematik verzichtet, denn das Ziel der Darstellung liegt hier weniger in einer umfassenden Analyse, denn in der Schilderung des organisatorischen Umfelds, um dann später folgende ausführliche Fallrekonstruktionen inhaltlich leichter nachvollziehbar werden zu lassen. Leser, die mehr an der methodologisch fundierten Rekonstruktion von Entscheidungsprozessen und weniger am Gegenstand Krankenhaus interessiert sind, mögen diese Kapitel überspringen. Die »Rekonstruktion der ärztlichen Entscheidungsprozesse (VII)« stellt das eigentliche Herzstück dieser Arbeit dar. In vergleichenden Analysen wird hier untersucht, wie auf den verschiedenen Stationen bestimmte Thematiken be- und verhandelt werden. In drei Unterkapiteln werden die Verhandlung von medizinisch komplexen Fallproblematiken (1), die Behandlung palliativer, dem Sterben naher Patienten (2) sowie der Umgang mit Irritationen durch so genannte „schwierige“ Patienten (3) im Fallvergleich ausführlich beleuchtet. Für jedes Fallbeispiel6 werden dabei zunächst die grundlegenden Orientierungsrahmen der beteiligten Akteure herausgearbeitet, um diese dann in einem zweiten Schritt in der komparativen Analyse miteinander in Beziehung setzen zu können. Erst hierdurch gelingt es, über die Fallbesonderheiten hinweg Schlüsse zu ziehen und die Ergebnisse in gewissen Rahmen verallgemeinern zu können. In der abschließenden »Diskussion (VIII)« werden die unterschiedlichen Kapitel dieser Studie nochmals miteinander verbunden. Zunächst möchte ich in einer abschließenden komparativen Analyse die Typologie ärztlicher Entscheidungsprozesse (1) diskutieren, um dann anschließend die soziale Organisation von Entscheidungen im Krankenhaus ausführlicher in den Blick zu nehmen (2). Im nun folgenden Unterkapitel stehen eher die theoretischen Implikationen für eine Soziologie des Entscheidens im Vordergrund. Die zitierten entscheidungstheoretischen Ansätze müssen sich seitens der Ergebnisse aus den empirischen Rekonstruktionen auf ihre Erklärungskraft befragen lassen (3). Schließlich sind zum Schluss einige Fragen an die Forschungspraxis zu stellen. Insbesondere nach aufschlussreichen weiteren Kontrasten sowie nach den Grenzen der hier vorgelegten Methodologie muss gefragt werden (4). Anmerkungen Für Maturana und Varela erklären sich diese Befunde aus der Perspektive des neurobiologischen Konstruktivismus folgendermaßen: »Was wir sagen, reflektiert - außer wenn wir lügen - das, was wir leben, und nicht das, was aus dem Blickwinkel eines unabhängigen Beobachters geschieht. [...] All diese Experimente sagen uns Grundlegendes über die Weise, auf die der anhaltende Fluß von Reflexionen, den wir Bewußtsein nennen und mit unserer Identität assoziieren, organisiert ist und seine Kohärenz bewahrt. [....] Im sprachlichen Bereich von Paul kann es keine Inkohärenz geben. [Er muß kohärente Antworten geben]. [....] Im Falle von Paul erleben wir drei verschiedene Personen in einem Körper. Zu bestimmten Zeiten können diese Personen unabhängige, selbstbewußte Wesen sein. Das zeigt uns in dramatischer Weise, daß es die Sprache ist, in der ein Selbst, ein Ich, entsteht und zwar als jene soziale Singularität, die durch die 1 18 operationalen Überschneidungen, in denen das Ich unterschieden wird, im menschlichen Körper entsteht. Daraus ersehen wir, daß in dem Netzwerk der sprachlichen Interaktionen, in dem wir uns bewegen, eine andauernde deskriptive Rekursion aufrechterhalten wird, die wir unser »Ich« nennen. Sie erlaubt uns, unsere sprachlich operationale Kohärenz zu bewahren sowie unsere Anpassung im Reich der Sprache« (Maturana/Varela 1987: 249f.). 2 »Der naive Realismus ist für biologische Systeme wie uns selbst eine funktional adäquate Hintergrundannahme gewesen. Diesen Gedanken muß man nun im letzten Schritt wieder auf das Selbstmodell anwenden. Wir selbst sind Systeme, die nicht in der Lage sind, ihr eigenes subsymbolisches Selbstmodell als Selbstmodell zu erkennen. Deshalb operieren wir unter den Bedingungen eines „naiv-realistischen Selbstmißverständnisses“: Wir erleben uns selbst, als wären wir in direktem und unmittelbarem epistemologischen Kontakt mit uns selbst. De facto sind wir selbst also Systeme, die sich selbst ständig mit dem von ihnen selbst erzeugten subsymbolischen Selbstmodell »verwechseln«. Indem wir dies tun, generieren wir eine stabile und kohärente »Ich-Illusion«, die wir auf der Ebene des bewußten Erlebens nicht transzendieren können. Und genau das ist es, was es bedeutet, eine nicht-begriffliche Erste-Person-Perspektive zu besitzen, einen präreflexiven, phänomenalen Standpunkt, der allen späteren Formen begrifflich vermitteltem und reflexivem Selbstbewußtsein zugrunde liegt, allen späteren Formen von sozialer Kognition und Ich-Du-Beziehungen. Der Kern der Subjektivität des Mentalen liegt also in diesem Akt der „Selbstverwechselung“: Ein Mangel an Information, ein Mangel an epistemischer Transparenz führt zur Entstehung eines phänomenalen Selbst. Dies ist vielleicht die wichtigste Einsicht über den menschlichen Geist, die man mit den Mitteln der Kognitionswissenschaft und mit Blick auf die philosophische Anthropologie formulieren kann. Ist das naiv-realistische Selbstmißverständnis ein Kandidat für die universelle Eigenschaft, durch die alle Menschen ausgezeichnet sind?« (Metzinger 1998: 361) 3 Siehe auch Popper und Eccles (1991: 309 ff.). 4 Hierzu der Neurophysiologe Singer: »Mir scheint hingegen, daß die Ich-Erfahrung bzw. die subjektiven Konnotationen von Bewußtsein kulturelle Konstrukte sind, soziale Zuschreibungen, die dem Dialog zwischen Gehirnen erwuchsen und deshalb aus der Betrachtung einzelner Gehirne nicht erklärbar sind. Die Hypothese, die ich diskutieren möchte, ist, daß die Erfahrung, ein autonomes, subjektives Ich zu sein, auf Konstrukten beruht, die im Laufe unserer kulturellen Evolution entwickelt wurden. Selbstkonzepte hätten dann den ontologischen Status einer sozialen Realität. In die Welt kämen diese, wie die sie ermöglichenden Kulturen erst, nachdem die Evolution Gehirne hervorgebracht hatte, die zwei Eigenschaften aufwiesen: erstens, ein inneres Auge zu haben, also über die Möglichkeit zu verfügen, Protokoll zu führen über hirninterne Prozesse, diese in Metarepräsentationen zu fassen und deren Inhalt über Gestik, Mimik und Sprache anderen Gehirnen mitzuteilen; und, zweitens, die Fähigkeit, mentale Modelle von den Zuständen der je anderen Gehirne zu erstellen, eine „theory of mind“ aufzubauen, wie die Angelsachen sagen. Diese Fähigkeit ist dem Menschen vorbehalten und fehlt dem Tier. Allenfalls Schimpansen haben eine wenn auch sehr begrenzte Möglichkeit, sich vorzustellen, was in anderen vorgeht, wenn er bestimmten Situationen ausgesetzt ist« (Singer 2002: 73). 5 »Der Konstruktivismus wird, und dies sei der letzte Punkt, eine Instrumentierung benötigen, die die Welt erweitern kann. Er braucht, um es nochmals zu sagen, eine Entdeckungstechnologie. Bei einer solchen ist es nicht auszuschließen, daß sie invasiv vorgeht – daß sie sich etwa eines Sezierbestecks bedienen will, um tieferliegende Details eines Entdeckungsraums zu isolieren. [...] Vor allem aber kann eine solche Technologie nicht auf Distanz gehen. Die Nähe zu einem Untersuchungsfeld, die Intimität mit dessen Bestandteilen dient hier nicht in erster Linie der Verifikation bzw. Verbesserung von Deskription, sie ist nach vorliegender Auffassung Bedingung der Möglichkeit und Motor von Entdeckung. Will man über den Rand eines Erfahrungsraums hinwegblicken, so muß man sich an dessen Rand begeben. Der hier in Frage stehende Konstruktivismus lehnt eine auf Distanz bleibende Modellbildung nicht ab, weil ihn deren Abweichung von der Wahrheit stört, weil er sich von ihr keine Erschließung von Entdeckungsräumen verspricht. Der Konstruktivismus traut sozusagen der Modellbildung auf Distanz genügend Phantasie nicht zu, um welterweiternd zu wirken« (Knorr-Cetina 1989: 95). 6 Innerhalb der hier vorliegenden Analysen meint der Begriff Fall nicht wie im medizinischen Fallverständnis den Patienten, sondern bezeichnet einen sich innerhalb einer medizinischen Abteilung abspulenden Entscheidungsprozess. 19 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) Wie entscheiden Ärzte? Natürlich stellt sich diese Frage nicht nur aus soziologischer Perspektive, sondern unter anderem auch aus dem Blickwinkel der Medizin, der Psychologie und der Pädagogik. Darüber hinaus widmen sich auch einige transdisziplinäre Forschungsrichtungen, wie die Kognitionswissenschaften und die „künstliche Intelligenz“, den Problemen menschlichen Entscheidens im Allgemeinen und dem ärztlichen Entscheiden im Besonderen. Auch der überwiegend rekonstruktiv vorgehende Forscher, der sich primär an der konkreten Alltagswelt der von ihm untersuchten Akteure orientiert, sollte sich diesen Forschungsfeldern nicht per se verschließen. Ein solches Vorgehen wäre einerseits arrogant – würde es doch ganze Forschungstraditionen ausblenden - und würde andererseits auf ein reiches Material verzichten, das dem Forscher helfen könnte, intelligente Hypothesen darüber zu bilden, wie sein Datenmaterial zu interpretieren ist und was in der von ihm beobachteten Wirklichkeit der Fall ist. Zudem würde der Forscher auch darauf verzichten, seine Arbeit in Beziehung zur Tradition zu setzen. Er würde sich vor der Aufgabe drücken, sich dem breiteren wissenschaftlichen Diskurs zu stellen, um auch hier die Berechtigung für sein eigenes Projekt einzufordern. Gerade auch für den qualitativ und rekonstruktiv vorgehenden Forscher zeigt sich die Legitimation seiner Methodologie und seines erheblichen Aufwandes, den er treiben muss, nur, wenn er zeigen kann, dass sein Vorgehen anderes beleuchtet und einen notwendigen Kontrapunkt zu den bestehenden Studien setzt. Die diesbezügliche Beweislast liegt beim Forscher, und aus diesem Grunde muss er seine Arbeit in Beziehung zum aktuellen Stand der Forschung stellen. Denn sonst würde er nichts Weiteres tun, als ein paar weitere interessante und lesenswerte Geschichten - eben ethnographische Stories - zu produzieren, ohne jedoch zu zeigen, wofür sein Vorhaben eigentlich gut ist, auf welche Fragen es eine Antwort liefert und wo seine Grenzen liegen. Erst der Überblick zum Stand der Forschung erlaubt die Verortung der eigenen Arbeit und lässt deutlich werden, ob nun Neues gefunden oder nur Altes bestätigt wird, ob hierdurch ein Beitrag zur Theoriebildung geleistet wird, ob bewährte Modelle bestätigt werden, oder ob die von den untersuchten Akteuren gelebte Realität anderen Regeln gehorcht als den Modellen, die zur Zeit in den gesundheits- und sozialwissenschaftlichen Diskursen des main stream präferiert werden. In diesem Sinne werden mit dem folgenden Kapitel zwei Ziele verfolgt. Zum einen soll die vorliegende Arbeit in Beziehung zur Tradition gesetzt werden, zum anderen wirft sie Forschungsfragen - wenn man so will: Forschungslücken - auf. Entsprechend der Kapitelfolge dieser Monographie steht hier zunächst Letzteres im Vordergrund: Die folgenden Ausführungen sollen den Blick für die Natur der Problemstellung weiter schärfen: Zunächst wird hierzu die Problematik ärztlichen Entscheidens aus der Perspektive der Medizin beleuchtet: Aus einer innermedizinischen Perspektive reduziert sich das Problem weitgehend auf die Frage nach dem richtigen Modell, entsprechend dem die Ärzte ihre Entscheidungen zu treffen haben. Der Arzt erscheint dabei im Idealbild seiner Selbstbeschreibung überwiegend als »zweckrational handelnder Akteur (1)«. Das Problem ärztlichen Entscheidens wird hier eher in der Frage des Transfers medizinischen Wissens, der Wissensorganisation bzw. der Zweckspannung zu nichtmedizinischen Funktionsbezügen (etwa der Ökonomie und dem Recht) gesehen. Nichtsdestotrotz zeigt aber auch die Auseinandersetzung mit den immanenten Rationalitäten ärztlichen Handelns, dass Mediziner in der Regel unter Unsicherheit und in Anbetracht von überkomplexen Sachverhalten entscheiden müssen. Pointierter ausgedrückt: 20 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) Als strukturelles Merkmal ärztlichen Entscheidens erscheint schon hier als Leitmerkmal das Phänomen der Hyperkomplexität. Darüber hinaus muss die Thematik des ärztlichen Entscheidens auch unter dem Blickwinkel »der Arzt als „psychisches System“ (2.)« gesehen werden. Dem Idealbild des zweckrationalen Akteurs wird hier sozusagen der psychologische Spiegel vorgehalten. Hier ist zu fragen, wie Ärzte überhaupt denken, wie ihre kognitiven Prozesse verlaufen und was dies für ihre Funktion als medizinische Experten bedeutet. Aus dieser eher psychologischen Perspektive lässt sich etwa fragen, ob Ärzte wirklich - wie im normativen Modell angenommen - als intuitive Statistiker agieren oder ob sich ärztliche Handlungsorientierungen nicht angemessener als ein Netzwerk von Metaphern und Narrativen verstehen lassen. Nicht zuletzt muss hier die Frage gestellt werden, wie und unter welchen Bedingungen es psychischen Systemen gelingen kann, auch in den komplexen, oftmals schlecht definierten Entscheidungsfeldern medizinischer Problemstellungen kontextsensitiv zu einer Entscheidung zu gelangen. Das heißt, ihre jeweiligen Eigenleistungen dürfen nicht nur unter dem Defizitaspekt – als Diskrepanz zum Idealbild – gesehen werden, sondern müssen auch unter dem Leistungsaspekt betrachtet werden. Diese funktionale Betrachtungsweise leitet über zu dem eigentlichen Schwerpunkt dieser Untersuchung. Denn nun muss aus einer eher soziologischen Perspektive die Frage gestellt werden, wie Menschen innerhalb sozialer Systeme selbst unter der Voraussetzung eines begrenzten psychischen Bewusstseins überkomplexe Probleme bewältigen können. Letztlich kann dies nur in Form von kollektiven, arbeitsteiligen Prozessen geschehen, in denen Aufgaben zerteilt und routinisiert und die Verantwortlichkeiten in kleine und tragbare Pakete aufgeteilt werden. In dem Unterkapitel »ärztliches Handeln in sozialen Systemen (3)« wird diesbezüglich auf eine Reihe von krankenhaussoziologischen Arbeiten zurückgegriffen werden, um dann abschließend meine »Ausgangsfrage (4)« zu reformulieren. Die Frage „wie entscheiden Ärzte“ erscheint nun unter dem Blickwinkel, wie Entscheidungen hergestellt, vermieden und prozessiert werden - etwa durch Routinen und Verfahren -, d. h. sozial konstruiert werden. Erst unter dieser Perspektive macht das aufwendige rekonstruktive Vorgehen dieser Studie – die Mühen einer komparativen Feldstudie – Sinn: Denn nun müssen ärztliche Entscheidungsprozesse auch als Eigenleistungen sozialer Systeme verstanden werden. 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur Auf einer abstrakten Ebene formuliert ist es relativ einfach, den Sinn ärztlichen Handelns zu bestimmen. Der Arzt soll Krankheiten erkennen und diese heilen. Falls dies nicht möglich ist, soll er zumindest eine Linderung verschaffen. Die Organisation des Krankenhauses ist dabei als Zweckveranstaltung der Diagnose, Therapie, Pflege und Isolierung anzusehen (Rohde, 1974: 181 ff.). Sobald man jedoch auf die konkrete Ebene wechselt, stellt sich die Bestimmung der „richtigen“ Zweck-Mittel-Relation ärztlichen Handelns alles andere als trivial dar. Das Problem fängt schon bei der Problembestimmung an. Zum einen stellt der Körper des Patienten – auch bei bester Vorbereitung – immer eine black box mit einer nie ganz berechenbaren Eigenaktivität dar. Ärztliches Handeln spielt sich immer in einem Raum der Unsicherheit ab. Zudem zwingt allein der Handlungsdruck der Praxis die Ärzte, eine Behandlungsentscheidung aufgrund einer begrenzten Informationsbasis zu treffen. Nicht jede Eventualität kann diagnostisch vorher abgeklärt werden (a). Selbst unter medizinischen Experten scheint es darüber hinaus keineswegs so 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 21 klar zu sein, welche therapeutischen und diagnostischen Methoden bei einem gegebenen Problem angebracht sind und was diese dann bringen, über die „richtigen“ Mittel besteht keinesfalls immer fachliche Einigkeit (b). Darüber hinaus ist der Patient – es sei denn, er wird bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert – nicht nur Körper, sondern auch Subjekt. Als solches muss man ihn – zumindest rudimentär – an den therapeutischen und diagnostischen Entscheidungen beteiligen. Möglicherweise hat der Patient auch Präferenzen oder Wünsche, die den ärztlichen Vorstellungen widersprechen, aber dennoch mit verhandelt werden müssen. Auch hier kann es zu Zweck-MittelKonflikten kommen (c). Über die Beziehungs- und fachlich-medizinischen Ebenen hinausgehend zeigen sich einige außermedizinische Zweckspannungen, da das Krankenhaus zugleich auch ökonomischen Primaten unterliegt (d) sowie einigen rechtlichen Rahmenbedingungen unterworfen ist (e). Nicht zuletzt findet ärztliches Handeln in einer Vielzahl sozialer Kontexturen statt. Menschen unterschiedlichen Status, Geschlechts und Alters, Personen mit individuellen Karrierewünschen und spezifischer Kultur treffen hier aufeinander. Auch diese sozialen Faktoren können unter bestimmten Bedingungen das ärztliche Entscheidungsverhalten beeinflussen (f). (a) Entscheiden unter Unsicherheit Als Beginn der systematischen Auseinandersetzung mit den Fragen klinischer Entscheidungen lässt sich wohl die 1980 erschienene Monografie von Weinstein und Fineberg (1980) mit dem Titel „Clinical Decision Analysis“ sowie parallel hierzu die Gründung der Society of Medical Decision Making (SMDM) nennen. Im gleichen Jahr startete auch das Journal of Medical Decision Making als Publikationsorgan der Gesellschaft. Allerdings richteten sich die innermedizinisch geführten Debatten und Auseinandersetzungen kaum auf die sozialen Prozesse ärztlichen Entscheidens, sondern vielmehr auf den immanenten Sinn medizinischen Handelns, nämlich dorthin, wie modellhaft bei einem spezifizierten Anwendungsproblem eine ideale Entscheidung auszusehen habe. Üblicherweise werden die Probleme innerhalb der Entscheidungsanalysen in Entscheidungsbäume aufgeteilt und die Vor- und Nachteile an jeder Verzweigung benannt, wenn möglich in Form numerischer Daten kodiert und schließlich zu einem Modell von Entscheidu ngsalternativen verrechnet, an dem der Anwender sich dann orientieren kann. Die Zielkriterien ergeben sich in der Regel aus epidemiologischen Untersuchungen zu Interventionsergebnissen. Die Resultate dieser Entscheidungsanalysen haben dann etwa folgende Form: Wenn man unter der Diagnose x sofort den chirurgischen Eingriff y durchführt, besteht eine Heilungschance von 40%, eine Wahrscheinlichkeit von schweren Komplikationen von 30%, wobei in 3% mit therapiebedingten Todesfällen zu rechnen ist. Demgegenüber führt die konservative Behandlung zu einer mittelfristigen krankheitsbedingten Mortalität von 20% und einer Heilungschance von 30%. Entsprechend diesen Zahlen könne nun der Arzt anhand der sich hieraus ergebenden Risikosemantik entscheiden. Prinzipiell ließe sich auf diese Weise jeder Eingriff bewerten. Man kann beispielsweise abschätzen, ob ein risikoreicher diagnostischer Eingriff im Hinblick auf eine potenzielle Krankheit gerechtfertigt sei, oder ob man durch den nicht abgeklärten Befund eine höhere Wahrscheinlichkeit habe, gesund zu bleiben. Da diese Abschätzung nicht allgemein sondern jeweils therapie- bzw. diagnosespezifisch gefällt werden muss, sind für jeden einzelnen Eingriff bzw. Nichteingriff Wahrscheinlichkeitsabschätzungen zu treffen. Entsprechend findet sich insbesondere in den einschlägigen Zeitschriften1 eine mittlerweile kaum zu überschauende Zahl von Einzelanalysen, die den Ärzten dann als Grundlage für ihre Entscheidungen dienen 22 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) sollen. Einzelne Lücken in den Entscheidungsbäumen können – dies liegt in der Natur probabilistischer Rechnungen – natürlich selbst wieder abgeschätzt werden, so dass – zumindest theoretisch - letztlich die Entscheidungsanalyse immer zu einem (zweck-)rationalen Urteil führen könnte. Ausgangspunkt einer jeden Entscheidungsanalyse – und das ist für einen soziologischen Beobachter bemerkenswert – ist die Unsicherheit. Man rechnet nicht mehr damit, dass eine Maßnahme unbedingt Erfolg haben muss, sondern bezieht die Ungewissheit über das Ergebnis von diagnostischen Befunden und den Erfolg therapeutischer Maßnahmen explizit in die Überlegungen mit ein. Solch ein Vorgehen schien sich wesentlich näher an der Realität medizinischer Behandlungsprozesse anzuschmiegen als die Vorstellung, dass ein Arzt sich seiner Behandlungsergebnisse immer sicher sein könne. Scheint sich nicht der medizinische Alltag gerade dadurch auszuzeichnen, dass man oft keine sicheren Befunde vorliegen hat, und man letztlich auch nie so genau weiß, wie der einzelne Organismus letztlich auf die Therapie reagiert. In diesem Sinne wundert es kaum, dass der schon in den 50er Jahren von Renée Fox (1969) verfasste Aufsatz „Training for Uncertainty“ insbesondere im angloamerikanischen Raum begeistert aufgenommen wurde und vielerseits als paradigmatisch für die Ziele einer modernen Medizinerausbildung verstanden wurde. Bursztajn et al. (1990) zogen gar Vergleiche zum Paradigmenwechsel der modernen Physik: So wie sich in der Quantentheorie die Welt nicht mehr mechanistisch-kausal beschreiben lasse, sondern eher durch Wolken diffuser Wahrscheinlichkeitsverteilung charakterisiert werden müsse, wäre es nun an der Zeit, dass der Arzt sein Handeln und Entscheiden auf Wahrscheinlichkeiten umstelle, und auch den Patienten langsam an den Umgang mit Ungewissheiten gewöhne. Die Methode der Entscheidungsfindung besteht auch hier wieder in der Erstellung von Entscheidungsbäumen, deren Verzweigungspunkte dann gewissen Eintrittswahrscheinlichkeiten zugeordnet werden. Zusätzlich hat Bursztajn darüber hinaus jedoch noch den Anspruch, den Patienten mit seinen Präferenzen und Lebensbedingungen in diesen Prozess der Risikoabwägung mit einzubeziehen. Der allein stehende risikofreudige Patient würde für die Chance einer vollständigen Heilung vielleicht auch die erhöhte Gefahr tödlicher Therapiekomplikationen in Kauf nehmen, während die Mutter von drei Kindern wahrscheinlich lieber eine risikoärmere Behandlungsform wählen würde. Ebenso scheinen auch viele Patienten nur ungern wirklich in die medizinischen Entscheidungsdilemmata involviert werden zu wollen. Mittlerweile ist es eher ruhig geworden um das Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten in der ärztlichen Entscheidungsfindung. Im Kontrast zu der anfänglichen Euphorie finden sich im innermedizinischen Diskurs kaum noch Stimmen, die eine probabilistisch fundierte ärztliche Entscheidungsfindung unter Einbeziehung des Patienten fordern2. Empirische Studien zum ärztlichen Handeln weisen jedoch eher darauf hin, dass Ärzte weiterhin lieber entsprechend der Logik eines kausal mechanischen Weltbildes handeln als mit Ungewissheiten zu rechnen (vgl. Atkinson 1984, 1995). Auch in der Vielzahl der von medizinischen Fachgesellschaften herausgegebenen Behandlungsleitlinien („praxis guidelines“) finden sich äußerst selten Hinweise auf Risiko- bzw. Erfolgswahrscheinlichkeiten von Diagnosen und Therapieverfahren. Ärzte orientieren sich in ihren Behandlungsentscheidungen wohl weiterhin am positiven Ergebnis und nicht an Ungewissheiten, wenngleich die Mediziner in wissenschaftlichen Diskursen – etwa im Zusammenhang mit Therapiestudien – durchaus mit probabilistischem Wissen rechnen. Der ausgerufene Paradigmenwechsel hat jedenfalls in der Welt der ärztlichen Praxis eher nicht stattgefunden – was aus systemtheoretischer Sicht wenig verwundert (s. ausführlich Kap. IV.6). 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 23 (b) Medizinisches Wissen Die Wissensbasis der modernen Medizin ist schier undurchschaubar. Raspe et al. stellen fest: »Die Gesamtzahl aller bisher durchgeführten kontrollierten Therapiestudien, d.h. der einzig experimentell wirklich abgesicherten klinischen Wissensbasis, wird auf zwischen 250.000 und 1.000.000 geschätzt. Darüber hinaus müssen u. a. zahllose Artikel über neue diagnostische Tests, prognostische Faktoren sowie zur Epidemologie und Pathophysiologie des jeweiligen Fachgebietes kritisch gelesen, beurteilt und dann in ihren Konsequenzen auch tatsächlich am Patienten umgesetzt werden. Dies ist nicht nur in der durchschnittlichen Lesezeit von Medizinern, nämlich zwei Stunden pro Woche nicht zu machen, sondern würde auch enthusiastische Bibliotheksbiliothekare überfordern« (Raspe/Stange 1998: 13). Im Kontrast zu der immensen Wissensproduktion schätzen Experten, dass »nur etwa 4 Prozent aller medizinischen Dienstleistungen, die täglich erbracht werden, dem Anspruch auf wissenschaftliche Nachweisbarkeit (Evidence) genügen. 45 Prozent der Gesundheitsleistungen bewegen sich im Mittelfeld und für 51 Prozent gebe es überhaupt keinen wissenschaftlichen Nachweis im engeren Sinn« (Deppe 2000: 242)3. Zwischen harter Wissenschaft und ärztlicher Praxis klafft eine Lücke, die im »Golden Age of Medicine«, noch durch die Konzeption der ärztlichen Kunst gefüllt werden konnte (Hafferty/Light 1995: 133). Dem Arzt wurde in der Regel zugestanden, aus einer Mischung von Expertenwissen, Intuition und Heilkunst handeln zu dürfen. Ein persönlicher Stil wurde auch in der Behandlung als Ausdruck von Reife und Charakter zugestanden. Noch 1987 stellte Dawson (1987) im Editorial des Journals of American Medical Association (JAMA), dass das Problem der practice variation keinesfalls zu Lasten der praktizierenden Ärzte zu interpretieren sei. Diese täten letztlich doch nur ihre Pflicht, den physiologischen und psychologischen Bedürfnissen ihrer Patienten zu dienen4. Doch in den 90er Jahren mehrten sich auch in den innermedizinischen Diskursen Stimmen, die in unreflektiertem medizinischem Aktionismus mehr Schaden als Nutzen sehen. Ein mehr an medizinischer Versorgung könne zur Diagnose von Pseudokrankheiten, schädlichen Interventionen aufgrund von Zufallsschwankungen im Organismus, einer Multiplikation von diagnostischen Fehlern etc. führen, wie etwa Fisher et. al. (1999) in keinem geringeren Publikationsorgan als dem Journal of American Medical Association feststellen. Im gleichen Sinne brachte das British Medical Journal jüngst ein Sonderheft (April 2002) unter dem Motto „too much medicine“ heraus (Smith 2001a)5. Im letzten Jahrzehnt verdichtete sich die Kritik in einer mittlerweile internationalen Bewegung der Medizinmodernisierung, die unter dem programmatischen Titel evidence based medicine (EBM) den Anspruch vertritt, klinische Praxis auf die jeweils beste “externe Evidenz“ aus kontrollierten wissenschaftlichen Studien zu gründen (vgl. Sacket 1997/1999; Raspe 1996). EBM möchte dabei aktiv den Prozess der ärztlichen Professionalisierung in Richtung zunehmender wissenschaftlicher Rationalität verändern. Dies soll unter anderem über veränderte Formen der Arbeitsorganisation (etwa EDV-gestützte Formen des Informationsmanagements), die ärztliche Weiterbildung (insbesondere in Methoden der klinischen Epidemiologie), über die Entwicklung so genannter Evidenz-basierter Leitlinien und nicht zuletzt über diesbezügliche Eingriffe in die Finanzierung von Gesundheitsleistungen geschehen. Auf dem Boden der so genannten “Kostenexplosion im Gesundheitswesen“ in Verbindung mit dem statistischen Befund, dass die im internationalen Vergleich hohen Gesundheitsausgaben im Hinblick auf die Gesamtpopulation keinesfalls den erwarteten Gesundheitseffekten entsprechen zu scheinen, konnte die Bewegung der EBM in den Gesundheitswesen der Industrieländer eine bis heute ungebrochene Resonanz finden. EBM hat den großen Anspruch, sowohl die Klinik als auch die Gesundheitspolitik mit bester »evidence« aus klinischer und epidemiologischer Forschung 24 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) zu versorgen und hierfür überzeugende und einfach handzuhabende Hilfsmittel zur Verfügung stellen zu können. Das letztlich Ausschlag gebende inhaltliche Kriterium für die »evidence« einer therapeutischen Intervention ist nicht ihre theoretische Plausibilität, auch nicht ihr praktischer Erfolg, sondern die biostatistische Überprüfung gegenüber unspezifischen Wirkungen (in der Regel dem Placeboeffekt). Hiermit formuliert die EBM nicht nur einen kritischen Widerspruch gegen das Konzept der ärztlichen Intuition, sondern hinterfragt auch den klinischen Nutzen physikalischer, biologischer und chemischer Kausalitätsmodelle, denn letztlich sei ja nicht von Bedeutung, ob ein Medikament aufgrund seiner biochemischen Eigenschaften wirken könne, sondern allein ob sich seine gesundheitsfördernde Wirkung auch zeige. Nicht mehr allein die Wirkung einer Intervention zählt, etwa in der “Verbesserung“ einzelner Laborparameter messbar, sondern der klinische Erfolg, ausgedrückt in den Maßzahlen Lebensqualität und Lebenslänge. Diese Zielkriterien sind dann idealerweise durch den “Goldstandard“ einer randomisierten multizentrischen Therapiestudie zu bestimmen, denn nur hier wäre der Nachweis zu erbringen, dass die Therapieerfolge nicht durch zufällige Verzerrungen (“biases“) oder durch irgendwelche Mitursachen (“confounding“) hervorgebracht worden sind. Da natürlich nicht alle medizinischen Fragen mittels eines optimalen wissenschaftlichen Studiendesigns beantwortet sind und sich Studienergebnisse gar widersprechen können, sollte zumindest die »best evidence« ermittelt werden. Im Idealfall geschieht dies mittels einer systematischen Metaanalyse, aus der – entsprechend der bestehenden Datenlage, die natürlich auch Studien minderer Qualität einschließt – die therapeutischen Erfolgsaussichten als Kontrapunkt zur Logik der Erfahrungsheilkunde abgeschätzt werden (Sacket et al. 1997). In diesem Sinne möchte EBM auch hinsichtlich der Vielzahl von Therapieformen, für die noch keine Ergebnisse aus optimal durchgeführten Studien bekannt sind, handlungsleitend sein. Die Organisation medizinischen Wissens wird dabei zu einem tragenden Pfeiler der EBM, denn ihre Methode steht und fällt damit, eine klinische Frage so formulieren zu können, dass schnell und überzeugend »the best evidence« als Antwort gefunden werden kann, um diese dann am konkreten Einzelfall abgleichen zu können. Da nun der Mediziner mit einer immensen Datenflut konfrontiert wird und selbst die Lektüre der wichtigsten medizinischen Fachzeitschriften ein mehrstündiges tägliches Literaturstudium voraussetzt, stellt diese Aufgabe für den einzelnen Arzt eine zunächst unlösbare Herausforderung dar, zumal zusätzlich von ihm noch die Glaubhaftigkeit und Qualität der jeweils gelesenen Informationen zu beurteilen wären. Der Wissensstand der Medizin scheint heutzutage unüberschaubar. Den Weg aus diesem Dilemma sieht die EBM in der systematischen Erstellung von Reviewartikeln, in denen die vorhandene Wissensbasis qualifiziert aufgearbeitet wird. Die Ergebnisse sollen von den jeweiligen Ärzten vor Ort über moderne Kommunikationssysteme in Sekundenschnelle abgerufen werden können. Die elektronische Library der Cochrane Collaboration, die sich 1993 als internationaler Zusammenschluss von Medizinern gründete, stellt gleichsam die Speerspitze in dem Bemühen dar, die Daten klinischer Studien aufgearbeitet zusammenführen zu können. Eine weitere wichtige Säule der EBM besteht in der berufspolitischen Verankerung des gebündelten Wissens durch die Erstellung »evidence«-basierter Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaften. An sich haben Leitlinien in Form von Behandlungsstandards eine lange Tradition in der Medizin. Sie dienen der Wissens- und Erfahrungsakkumulation in medizinischen Institutionen, doch erst durch EBM entsteht eine Bewegung, die von Region zu Region recht unterschiedlichen Standards anhand „objektiver“ Kriterien zu vereinheitlichen. Allein auf der Homepage der AWMF können mittlerweile mehr als 900 Leitlinien abgerufen werden. Die von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung offiziell verabschiedeten »Beurteilungskriterien für Leitlinien in der medizinischen Versorgung« wurden weitgehend an die EBM-Methodologie angelehnt. 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 25 In ihrem Rekurs auf die Biostatistik folgt EBM zwar dem Popperschen Falsifikationspostulat, denn nach der strengen statistischen Logik können Hypothesen nicht bewiesen, sondern nur statistisch widerlegt werden. Für die Evidenz basierte Intervention oder Leitlinie ist jedoch nur positives Wissen anschlussfähig. Das Transferproblem von Theorie zur Praxis bleibt virulent und kann nur induktiv geschlossen werden. Denn im Sinne eines biostatistischen „Induktionismus“ bleibt als handlungspraktischer Schluss nur der Weg offen, die ins Positive gewendeten Ergebnisse der Studie - gleichsam als „unbewiesener“ Beweis - auf andere Kontexte und Fragen zu übertragen. Allein schon aus Kosten- und Zeitgründen kann das Ideal der multizentrischen kontrollierten Studie nicht beliebig ausdifferenziert und rekontextualisiert werden, um zu gehaltvolleren Hypothesen zu gelangen. Dies würde jedoch streng genommen im Popperschen Sinne bedeuten, dass alle weitergehenden Aussagen nichts weiter darstellen, als die induktive Bestätigung der eigenen Vorurteile. Unabhängig davon, dass eine solche Logik handlungspraktisch durchaus sinnvoll sein kann, sind hier die Probleme im Verhältnis von Wissenschaft und Praxis keinesfalls grundsätzlich überwunden, wie seitens der EBM-Vertreter in der Regel suggeriert wird. Das hier erscheinende Paradox der Statistik – Gültigkeit bei großen Zahlen, Ungewissheit im Einzelfall – ist jedoch nicht das einzige erkenntnistheoretische Problem der EBM. Ein weiteres Konfliktfeld zeigt sich in der Datenbasis der so genannten Metastudien selber, denn die Ausgangsstudien zeigen nicht selten eine erhebliche Heterogenität auf, die über Zufallsschwankungen weit hinausgeht. Unterschiedliche Studiendesigns mit verschiedenen Ausschlusskriterien und differierenden Randbedingungen zeigen unterschiedliche Ergebnisse, wie beispielsweise die Diskussion um das in letzter Zeit umstrittene Herzglycosid Digitalis aufzeigt6. Ob hier mit dem Instrument der Metaanalyse abgeholfen werden kann, ist fraglich: Der Internist Bock stellt dieses Vorgehen mit dem Verweis auf den “Erhaltungssatz“ »garbage in – garbage out« (Bock 2001: 303) grundsätzlich in Frage: »Man rekurriert hierzu u.a. heute auf Metaanalysen in dem Glauben, mit größeren Zahlen käme man der “Wahrheit“ näher. Bei den “Score-Based“ Metaanalysen werden die Einzelpublikationen in Bezug auf ihre methodische Qualität mit einem Punktesystem klassifiziert. [...] Jedenfalls kommt man dem “wahren“ Ergebnis wohl kaum nahe, indem man die mehr oder weniger richtigen oder falschen Ergebnisse verschiedener Untersucher als Messreihe betrachtet und sie statistisch bearbeitet. Denn die unterschiedlichen Ergebnisse der einzelnen Studien beruhen nicht wie bei einer Messreihe mit gleicher Methodik an gleichem Material auf der zufälligen Streuung um einen Mittelwert, sondern auf der durch methodische Differenzen bedingten Heterogenität der Studien. [...] Die durchschnittliche Odds Ratio ist eine Fiktion der Wahrheit. [...] Der Vergleich der Ergebnisse von Metaanalysen vieler kleinerer Studien mit den Ergebnissen von einzelnen randomisierten Großstudien mit Tausenden von Patienten ergab teils Übereinstimmung, teils Diskrepanzen. Was ist dann das “richtige“ Ergebnis? Auch das Resultat der Großstudie könnte falsch sein, z.B. wegen methodischer Mängel oder wegen der notwendigen Beteiligung zahlreicher verschiedener Prüfer. [...] Man wird auch in Zukunft nicht darum herumkommen, jede einzelne Studie für sich zu bewerten und nur die beste(n) für eine Urteilsbildung heranzuziehen [...]. Der dabei ins Spiel kommende subjektive Faktor wird auch durch die scheinbare Exaktheit und Objektivität der Rechenoperationen mit Metaanalysen nicht eliminiert werden. Diese Kritik darf keinesfalls als Plädoyer gegen die große Bedeutung randomisierter kontrollierter Studien für die Qualität eines wichtigen Teils unserer therapeutischen Entscheidungen missverstanden werden« (Bock 2001: 303). Die grundsätzliche Bedeutung dieser Studien für den medizinischen Fortschritt möchte Bock jedoch relativiert wissen, denn die meisten der oftmals lebensrettenden Therapien zeigten ihre Relevanz und Wirksamkeit eher innerhalb einer sauberen klinischen Kasuistik und die sinnvollen Interventionen erschlössen sich aus rationalen Überlegungen. Eine kontrollierte randomisierte Studie mit einer unbehandelten Kontrollgruppe wäre in diesen Fällen 26 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) auch »ethisch nicht zu rechtfertigen«. Die eigentliche Leistung und Aufgabe der Biometrie läge demgegenüber vielmehr bei den fragwürdigen Interventionswirkungen, welche »vom einzelnen Arzt« nicht mehr »von Placeboeffekten abgegrenzt werden« könnten, etwa bei den Befindlich keitsstörungen, etwa »bei der Festlegung von Schwere oder Dauer eines Heuschnupfens oder einer Bronchitis« und bei »Pharmaka mit schwacher Wirkung« (Bock 2001: 301). Der bisherigen Argumentation folgend würde EBM weitaus mehr als allgemein erwartet anfällig für subjektive Einflüsse. Zum einen sind die Vergleichskriterien einer Metaanalyse ebenso wie die Entscheidung für ein Studiendesign von den Präferenzen der Untersucher abhängig. Zum anderen bergen gerade die „weichen“ medizinischen Interventionen unter dem Zielkriterium “Patientennutzen“ vielfältigen Raum für Interpretationen7. Die auf den ersten Blick recht plausibel erscheinende Logik der EBM zeigt sich beim Blick hinter die Kulissen äußerst anfällig für die Probleme und Paradoxien einer hyperkomplexen Wissenschaft. Der vermeintliche Rationalitätsgewinn der Medizin kann leicht in Verunsicherung umschlagen: Dass die Ergebnisse einer Metaanalyse ins Gegenteil umschlagen können, falls die Randbedingungen in unkonventioneller Weise variiert werden, zeigt die in “Prevention and Treatment“ geführte Debatte um das Fluxin “Prozac“. Ein breit angewendetes Psychopharmakon der neuen Generation wird hier “metaanalytisch“ dekonstruiert. Kirsch und Sapirstein (1998) weisen nach, dass sich der positive Effekt des Antidepressivums gegenüber einem Placebo weitgehend herunterrechnen lässt, wenn neben dem passiven auch der aktive Placebo-Effekt, Nicht-Behandlungs- und Wartelisteneffekte, pre-post effect sizes, sowie andere nicht-spezifische Effekte einbezogen werden. Ein weiteres Beispiel für die Uneindeutigkeit der medizinischen Erkenntnisbasis liefert die Diskussion um die Wirksamkeit homöopathischer Hochpotenzen. Entsprechend dem biophysikalischen Modell ist hier im buchstäblichen Sinne des Wortes keine Substanz mehr vorhanden, die wirken könnte. Dem Postulat der EBM folgend, dass nicht der kausale, sondern der epidemiologische Wirksamkeitsnachweis entscheidend sei, lassen sich homöopathische Interventionen jedoch in kontrollierten Studien überprüfen. Die Ergebnisse diesbezüglicher Metastudien, veröffentlicht in einer Reihe angesehener Journale8, wie auch eine Analyse der Cochrane Review zur Influenza-Therapie9 lassen jedoch ungeachtet der theoretischen Plausibilität des homöopathischen Wirkmodells einen “wirklichen“ Effekt gegenüber dem Placebo vermuten10. Unweigerlich stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Interpretation der Ergebnisse. Da zu vermuten ist, dass anerkannte wissenschaftliche Journale bei unorthodoxen Therapien hinsichtlich “unerwarteter Ergebnisse“ noch strengere Kriterien an die Studienqualität stellen als bei schulmedizinisch plausiblen Verfahren, wird eine Kritik am Ergebnis dieser Studien in der Regel nur das Verfahren der Metaanalyse selbst treffen können, es sei denn, das homöopathische Medikament wäre gegenüber dem Placebo “wirklich“ überlegen. Nun würde sich jedoch unweigerlich die Frage nach dem Wirkmodell stellen. Würden aber die Gesetze der Homöopathie in der von Hahnemann formulierten Form gelten, dann hätte das, wie Skrabanek und McCormick schildern, »für die Wissenschaft verheerende Folgen«. Für die Physik wären die Konsequenzen tiefgreifender« als »z.B. die Entdeckung, daß die Erde in der Tat flach ist. Man hätte Wissenschaft, so wie wir sie kennen, über Bord werfen müssen« (Skrabanek/McCormick 1992: 130). Der Verzicht auf die begründende Kausalität erscheint insbesondere für den naturwissenschaftlichen Zweig der Medizin gravierend. Die Ergebnisse stehen nun gleichsam als sibyllinisches Buch erklärungslos im Raum. Da durch das Doppel-Blind-Design tendenziell die unspezifischen Effekte eines »ganzheitlichen Behandlungssettings« (etwa intensivierte Arzt-Patient-Beziehungen oder 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 27 spezifische Reaktionserwartungen) statistisch ausgemittelt werden, verschwindet auch der Platz für alternative Erklärungsmodelle11. Wenngleich die vorangegangenen Ausführungen nicht einmal Annäherungsweise der Komplexität des Themas „Wissenschaftliche Basis der Medizin“ gerecht werden können, so wird hier dennoch eins deutlich: Medizinisches Wissen ist hyperkomplex und deswegen ist es alles andere als trivial, zu sagen, was die richtige Form medizinischer Erkenntnisgewinnung ist. Auch mittels ausgefeilter Biostatistik lässt sich nicht vermeiden, ein Wespennest erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Probleme anzustechen. Die Verhältnisbestimmung von Induktion zur Deduktion (Falsifikationspostulat), von Allgemeinem zum Speziellen (Paradox der Statistik), von Untersuchungsvariablen zum Ergebnis, von Empirie und Rationalität (Frage der Ergebnisdeutung) bleibt unter den Postulaten des logischen Empirismus weitestgehend ausgespart. Gleichsam durch die Hintertür könnte EBM gerade durch ihren Anspruch, eine höhere Rationalität in die Medizin einzuführen, dazu beitragen, dass die Probleme des Konstruktivismus in die diesbezüglich bisher resistent geglaubten medizinischen Wissenschaften mehr und mehr eindringen würden12. Wissenschaft erzeugt (zunächst) eher Probleme, als sie Lösungen bietet. Die moderne Systemtheorie hält unter dem konstruktivistischen Paradigma gar das prometheussche Projekt der wissenschaftlichen Aufklärung per se unmöglich, denn gute Wissenschaft erzeugt zunächst erhöhte Komplexität und keineswegs mehr Handlungssicherheit13. Angesichts der Komplexität der wissenschaftlichen Medizin wundert es kaum, wenn auch von berufener Seite ein Plädoyer für methodische und wissenschaftliche Pluralität zu vernehmen ist. Wilfried Lorenz, theoretischer Chirurg und Vorsitzender der Leitlinienkommission der AWMF (Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften), fordert diesbezüglich beispielsweise den Rekurs auf drei unterschiedliche wissenschaftliche Zugangsweisen: die Biomedizin, mit ihrem primär fallrekonstruktiven Vorgehen, die klinische Epidemiologie sowie die Sozialpsychologie als der wissenschaftlichen Disziplin, mit deren Hilfe die sogenannten „weichen“ Einflüsse auf die Therapie bzw. die Behandlungsprozesse untersucht werden können (Lorenz 1998: 325). In der ärztlichen Praxis gelten dann ohnehin noch einmal andere Gesetze als in der Wissenschaft. Vermeintlich wissenschaftliche Standards lassen sich nicht ohne weiteres in den Behandlungsalltag übersetzen. Siering et al. (2001) zeigen dies am Beispiel einer qualitativ angelegten Studie zu den Auswirkungen der Richtlinien zur interventionellen Koronartherapie: Der Bekanntheitsgrad der Leitlinie unter den Kardiologen ist zwar hoch, die inhaltlichen Kenntnisse sind jedoch gering und ihre Auswirkung auf die klinische Praxis ist begrenzt. Demgegenüber besitzt die Einzelfallorientierung einen hohen Stellenwert: es wird auf die Bedeutung der persönlichen beruflichen Erfahrung verwiesen, und die Freiheitsgrade, die die Richtlinie offen lässt, werden geschätzt. Generell zeigen sich große Schwierigkeiten bei der Implementierung so genannter Evidenz basierter Leitlinien (siehe etwa Aust et al. 1999; Butzlaff et al. 2002; Davis et al. 1996; Geraedts et al. 2002; Gerlach et al. 1998; Grilli et al. 1994; Gooris et al. 1997). Bemerkenswerterweise scheint mancherorts die Intuition als sinnvoller Erkenntnismodus medizinischen Handelns rehabilitiert zu werden. Nicht nur in alternativmedizinischen Kreisen (vgl. Ausfeld-Hafter 1999) sondern auch in akademischen Zirkeln wird dieser spezielle – als Soziologe möchte man sagen: habitualisierte – Erkenntnismodus mittlerweile ernst genommen (s. etwa Gross/Lorenz 1990; Abernathy/Hamm 1995). 28 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) Medizin als angewandte Disziplin muss die Komplexität, die durch die Wissenschaft aufgeworfen wird, wieder reduzieren – allein schon damit ihre Akteure (und Systeme) handlungsfähig bleiben. Entsprechend Luhmanns Diktum, dass es »unter den gegebenen Bedingungen eben sehr viel leichter [ist], Konstruktionen zu entwerfen und nachzuvollziehen als richtige Realitätswahrnehmungen zu behaupten und durchzusetzen« (Luhmann 1998b: 634), muss in der Praxis der Pfad der wissenschaftlichen Tugend wieder verlassen werden. Wenn aber auch Medizin nur mit Konstruktionen der Wahrheit arbeiten kann, dann stellt sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht erneut die Frage: Was ist ihre Entscheidungsgrundlage? Wonach entscheiden Ärzte, wenn nicht nach abgesichertem Wissen? (c) Patientenbedürfnisse Ein guter Arzt, so die einhellige Vorstellung vieler Autoren (vgl. etwa Dörner 2001, Mannebach 2001 und Troschke 2001), nimmt den Patienten nicht nur als körperliches Objekt wahr, sondern sieht ihn auch als menschliches Subjekt, nimmt dessen Wünsche und Präferenzen ernst und sieht seine Aufgabe auch in der Gestaltung einer produktiven Arzt-Patient-Beziehung. Er entscheidet nicht nur nach biomedizinischer Sachlage, sondern auch entsprechend der spezifischen Bedürfnisse des Patienten. Wie jedoch die ideale Arzt-Patient-Beziehung auszusehen habe, darüber herrschen unterschiedliche Vorstellungen. Im paternalistischen Modell liegt die Autorität allein beim Arzt, wenngleich dieser sehr wohl „väterlich“ versuchen sollte, die Gesamtsituation seines ihm anvertrauten Klienten zu berücksichtigen. In den moderner klingenden Begriffen der Dienstleistungsgesellschaft spricht man lieber vom Arzt als „perfect agent“, was jedoch Ähnliches meint. Auch hier agiert der Arzt als Stellvertreter für den Patient, der diesem formal hierzu den Auftrag gegeben hat. Im Zuge der demokratischen Emanzipationsbewegungen wurde jedoch auch die Allmachtsrolle des Mediziners vielerorts in Frage gestellt (vgl. etwa Gafni et. al. 1998)14. Als Gegenmodell zum ärztlichen Paternalismus, wurden hier Konzepte entwickelt, in denen die Entscheidungsmacht dem Patienten übertragen wird: Der Arzt habe hier letztlich nur noch die Vorschläge zu machen und den Patienten über alle therapeutischen und diagnostischen Alternativen zu informieren. In diesem Modell – oft unter dem Begriff „informed decision making” subsumiert – wird die Entscheidungsverantwortung mehr oder weniger vollständig dem Patienten übertragen. Insbesondere in den prozessfreudigen Vereinigten Staaten wurde diese Variante als elegante Form der juristischen Absicherung aufgriffen: Man legt dem Patienten alle zu treffenden Entscheidungen bzw. Alternativen in schriftlicher Form zur Abstimmung vor, um nun im Zweifelsfalle gegen einen Rechtsstreit gewappnet zu sein (Braddock et al. 1999). Erkennend, dass auch dieses Beziehungsmodell wohl nicht im Interesse des hilfsbedürftigen Patienten sein könne, wird mittlerweile üblicherweise die geteilte Entscheidungsfindung gefordert („shared decision making“). Der Arzt soll den Patienten hinreichend informieren und an den Behandlungsprozessen beteiligen. Hierdurch soll diesem die Chance gegeben werden, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren, so dass schließlich in einem gemeinsamen Prozess eine Entscheidung getroffen werden könne. Dieses Modell entspricht der political correctness einer modernen demokratischen Gesellschaft (vgl. auch Jäger 1999). Entsprechend wundert es kaum, dass es vielerorts in der gesundheitswissenschaftlichen Literatur präferiert wird und auch das Bundesgesundheitsministerium Forschungsprogramme zur Förderung des Namens „shared-decision-making“ ausgerufen hat – nicht zuletzt auch, um die compliance der Patienten zu erhöhen. 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 29 Letztlich handelt es sich auch bei dieser Konzeption um ein normatives Modell. Weder ist bisher genau rekonstruiert, was denn mit einer geteilten Entscheidungsfindung unter konkreten Praxisbedingungen genau gemeint sein kann, noch ist die Kompatibilität mit der realen Praxis ausreichend untersucht. Selbst aus Patientenperspektive sind Zweifel an der Praktikabilität der Modelle anzumelden, da hier oft ein Idealtyp von einem Patienten konstruiert wird, der sich eher am autonomen Gesunden als am hilfsbedürftigen Kranken orientiert (s. z.B. Charles et al. 1997/1999; Deber et al. 1996; Guadagnoli et al. 1998). Die Mehrzahl der Patienten möchte zwar informiert werden, aber nicht unbedingt selbst über ihre Therapien und diagnostischen Eingriffe entscheiden (s. z.B. Margalith et al. 1997; Blanchard et al. 1988). Die Diskrepanz zwischen Modell und Realität wird noch größer, wenn die ärztliche Praxis genauer unter die Lupe genommen wird (s. a. Strull et al. 1984). Wie beispielsweise Verhaak et al. (2000) aufzeigen, werden Krebspatienten kaum in die Behandlungsentscheidungen zur palliativen Strahlentherapie für ihre terminale Lebensphase involviert. Die Untersuchungen zur Arzt-Patient-Beziehung aus den letzten Jahrzehnten weisen keinesfalls auf das Entstehen einer herrschaftsfreien demokratischen Diskurskultur in den Krankenhäusern und Arztpraxen hin (vgl. Ong et. al. 1995). Letztlich ist mit Feuerstein et al. (1999) wohl eher davon auszugehen, dass die Selbstbestimmung im ArztPatient-Verhältnis ein Mythos bleibt. Auch Dörner sieht die impliziten Herrschaftsverhältnisse in dieser Beziehung als unhintergehbar an und fordert entsprechend ein mehrschichtiges Modell ärztlicher Verantwortung, in dem der Arzt sich seiner Macht bewusst wird und sich gleichzeitig dabei jedoch von dem Antlitz des Patienten leiten lässt: Arzt und Patient müssen dabei gleichzeitig als Partner und Gegner angesehen werden. Subjekt-Objekt-, Subjekt-Subjekt- und ObjektSubjekt-Beziehungen überlagern sich zu einer Trias, die erst in ausgewogener Balance zu einer therapeutisch tragenden Partnerschaft führen kann (vgl. Dörner 2001: 67ff.). So habe der Arzt im Sinne einer „neopaternalistischen Verantwortung“ durchaus auch mal die Pflicht, kurzfristig gegen die momentanen Wünsche des Patienten zu handeln (etwa wenn dieser äußert, nicht mehr weiterleben zu wollen), wenn dies mittelfristig seinem „wirklichen“ Willen und Wesen diene. Nicht zuletzt die offene Verfügbarkeit medizinischer Informationen über das World Wide Web wird neue Fragen aufwerfen. Der Arzt wird hier sein Informationsmonopol nicht mehr in bekannter Manier halten können und unter Umständen zu neuen Formen der Patientenpartizipation gezwungen sein (vgl. hierzu Bader/Braude 1998 sowie Hoc 2002). Letztlich sind hier hochkomplexe medizinethische Problemstellungen angesprochen, deren Implikationen hier nicht einmal annäherungsweise behandelt werden können. Im Rahmen meiner Fragestellung ist nur soweit festzuhalten: Wie und in welcher Form ein Arzt dem Patienten zu dienen hat, ist keinesfalls eine triviale Frage. Bei genauerem Hinsehen emergieren auch hier eine Vielzahl unscharf definierter Räume, die ihrerseits Entscheidungsbedarf provozieren. Insbesondere unter den Gesundheitsökonomen finden sich gelegentlich Versuche, die patientenbezogenen Zielkriterien nicht mehr subjektiv bzw. intersubjektiv zu ermitteln, sondern aufgrund „objektiver“ Kriterien zu bestimmen. So werden als „unbestreitbare“ Kriterien für die Bewertung von Maßnahmen gerne die Lebenslänge und die Lebensqualität genommen. Die Lebensqualität ließe sich – so die Annahme – dann als Summe der verbleibenden sozialen, psychologischen und körperlichen Potenzen errechnen (etwa der Fähigkeit, noch sexuelle Kontakte wahrzunehmen, Freunde zu besuchen oder bei klarem und wachem Bewusstsein sein zu können). Der Quotient aus maximaler Lebensqualität und erreichtem Punktwert ließe sich dann mit der zu erwartenden Lebensverlängerung verrechnen und hierüber würde man ein Produkt erhalten, das den Nutzen für den Patienten mehr oder weniger objektiv bestimme. Die ökonomische Provenienz dieser Berechnungen lässt jedoch leicht den Verdacht aufscheinen, ob man mit den „healthy- 30 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) years equivalents“ oder den “quality-adjusted life years“ (s. a. Mehrez et al. 1993) eher der Gesundheitsökonomie diene denn dem Patientenwohle. Denn diese Maßstäbe liefern ein mehr oder weniger leicht handhabbares Kriterium für den Einsatz begrenzter Ressourcen (s. hierzu auch Feuerstein 1998). Letztlich bleibt die Frage offen, inwieweit diese und andere gesundheitspolitische Debatten für das Entscheidungsverhalten von Ärzten unter den Bedingungen der realen Praxis überhaupt eine Rolle spielen. Kristiansen et al. (2001) weisen mit ihrer Studie darauf hin, dass selbst Drohungen seitens der Patienten oder ihrer Angehörigen in der Regel nicht zu anderen medizinischen Entscheidungen führen. De facto scheint der Patient in den ärztlichen Entscheidungsfindungen eine untergeordnete Rolle zu spielen (s. hierzu auch ausführlich die Ergebnisse der empirischen Rekonstruktionen). (d) Ökonomische Zielkonflikte Auch wenn Ärzten – begründet oder unbegründet – im Hinblick auf ihre Behandlungsentscheidun gen regelmäßig ökonomische Motive unterstellt werden, muss zunächst einmal anerkannt werden, dass in der bundesdeutschen medizinischen Versorgungslandschaft ökonomische Kosten-NutzenKalküle erst in jüngster Zeit ernsthaft in Betracht gezogen werden. Bis vor wenigen Jahren wurde alles, was machbar und nützlich erschien, auch finanziert. Insbesondere im Krankenhaus brauchten sich die Ärzte bis vor kurzem wenig Gedanken um die Kosten ihrer therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen zu machen, wenngleich dies nicht bedeutete, dass sich der einzelne Mediziner – insbesondere der Privatpatienten behandelnde Chefarzt – nicht auch wirtschaftlich bereichern konnte, oder dass die Indikations- bzw. Bettenbelegungspolitik eines Hauses nicht auch zu systematischen Verzerrungen zugunsten der Organisationsökonomie führen konnte – es wäre ja auch verwunderlich, wenn nicht zugleich auch die jeweiligen Eigeninteressen mit bedient würden. Dennoch wurden erst in den 80er Jahren im Zusammenhang mit der so bezeichneten „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“ in Politik und Gesundheitswissenschaft Überlegungen angestellt, wie hier systemisch gegenzusteuern sei und vor allem, wie die Ausgaben begrenzt werden könnten (vgl. etwa Herder-Dorneich/Schuller 1983). Verschiedene gesundheitsökonomische Kalküle werden erregt in den gesundheitswissenschaftlichen Diskursen debattiert, wenngleich für die Mehrzahl der praktisch arbeitenden Ärzte wohl immer noch nicht klar ist, wie eine gute medizinische Versorgung praktikabel unter dem Einsatz begrenzter Mittel zu leisten ist. Klinische Ökonomik wurde und wird bisher an den medizinischen Fakultäten kaum gelernt. Entsprechend wird die ökonomische Begrenzung ärztlicherseits in der Regel eher als Einschränkung der Versorgungsqualität empfunden denn als Chance zu lernen, effizient zu arbeiten. Die Ökonomie bleibt der Medizin auch heutzutage äußerlich. Sie stellt ein politisches Programm dar, was allerdings mittels Health-Technology-Assessment (HTA) und über die Finanzierungsschraube tief in die ärztlichen Handlungsdomänen eingreifen kann15. In gewisser Weise droht gar eine Deprofessionalisierung der Ärzte bzw. zumindest eine Verschiebung im Kräftegleichgewicht der unterschiedlichen Funktionseliten, welche die Maximen der Gesundheitsversorgung bestimmen16. Die am Einzelfall orientierten Ärzte handeln daher in der Regel nach einer anderen Logik als der in ökonomischen Modellen denkende Gesundheitswissenschaftler. Der grundlegende Unterschied lässt sich beispielsweise an der von Meyer (1993) angestellten Kosten-Nutzen-Analyse für den bekannten Fall „Marion“ aufzeigen. Nach einem schweren Unfall wurde die schwangere Marion 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 31 trotz erklärtem Hirntod auf der Intensivstation für einige Wochen am Leben erhalten, um ihr Kind zu retten. Die Abwägung der Erfolgschancen dieses Vorhabens, in Verhältnis gesetzt zu den Ressourcen, die gebunden werden – immerhin ein Platz auf der Intensivstation, der einem anderen fiktiven Patienten das Leben retten könnte – spricht ökonomisch wie epidemiologisch gegen die Lebensverlängerung. Aus der dem Einzelfall verpflichteten ärztlichen Logik ist jedoch auch hier die konkrete Chance zu ergreifen, da zur Zeit des Unfalls die Ressourcen nicht gebunden waren. Normalerweise tun Ärzte auch in Fällen wie diesem das, was sie üblicherweise immer tun: Maximaltherapie17 – es sei denn ihnen werden von außen Grenzen gesetzt (s. hierzu auch Luhmann 1983a). Im Sinne ihrer funktionellen Spezifität und Einzelfallorientierung treiben Mediziner - solange man sie lässt - Diagnose und Therapie. Wie schon Rohde (1974: 111) feststellt, lässt sich das Verhalten vieler Chirurgen eher durch »Operationssucht« denn durch Geldgier erklären, denn die eigentliche Motivation des Handelns liegt wohl eher in der »Faszination des medizinisch-biologischen Durchblicks« (Wettreck 1999: 34), der Auseinandersetzung mit der Materie des Körpers und dem Gefühl, durch das eigene Handeln hier etwas bewirken, manchmal gar die Grenzen des Möglichen noch etwas weiter nach vorne schieben zu können. Erst wenn man versteht, dass Mediziner primär nicht als Ökonomen agieren, werden manche der gesundheitspolitischen Zielkonflikte erst in ihrer vollen Dimension verstehbar: etwa die Weigerung der Ärzte, den ökonomischen Primaten der Gesundheitspolitik Folge zu leisten. In den Publikationen der Standesvertreter wird regelmäßig immer wieder betont (s. etwa Vilmar 2000), dass der Standardpatient nicht existiert, die medizinische Versorgung nur begrenzt rationalisierbar sei. In diesen Argumentationen nur leere Worthülsen einer eigennützigen Ärzteschaft zu sehen, verkennt den zugrunde liegenden Konflikt. Gesundheitspolitische Überlegungen auf Populationsbasis führen zu anderen Entscheidungen als die ärztliche Einzelfallorientierung. Von einem Public-Health-Standpunkt aus gesehen mag es zwar evident sein, dass ein Mehr an medizinischer Versorgung kaum mehr Ergebnisqualität mit sich bringe. Für den einzelnen Arzt, der einen speziellen Patienten betreut, bedeutet die Begrenzung seiner Leistungen jedoch, einen konkreten Patienten nicht mehr weiter behandeln zu können. Für ihn erscheint die Rationalisierung als Rationierung, als ein ethischer Konflikt, der zudem die Arzt-Patient-Beziehung in ihren Grundfesten bedroht (vgl. auch Kirsner/Federman 1998). Auch wenn hier keineswegs die ökonomischen Einflüsse auf das ärztliche Handeln verleugnet bzw. grundsätzlich ausgeschlossen werden sollen, so möchte ich deutlich dafür plädieren, die Dinge nicht unter dem Blickwinkel eines allzu platten Ökonomismus zu betrachteten, wie dies teilweise auch in wissenschaftlichen Kreisen allzu oft geschieht (vgl. etwa Klemperer 1990). Gerade die von vielen Ärzten als kaum aushaltbar empfundenen »Zweckspannungen« (Rohde 1974: 333) weisen darauf hin, dass sich die Sachlage nicht so einfach darstellt. Selbst in Krankenhäusern unter privater Trägerschaft und einer Geschäftsführung, die streng nach ökonomischen Kriterien handelt und entscheidet, ist davon auszugehen, dass die meisten Ärzte ihrem ursprünglichen Funktionsbezug treu bleiben, das heißt, zu allererst Kranke behandeln, während sich um die Bilanzen die Verwaltungsangestellten kümmern (vgl. auch Rohde 1974: 345ff.)18. In diesem Sinne zeigen auch einige empirische Studien auf, dass erhöhte Untersuchungsraten sich weniger durch ökonomische Anreize bzw. Konkurrenzsituation der Ärzte erklären lassen denn durch vermehrte diagnostische Unsicherheit, also durch eine inhärente medizinische Thematik (vgl. Davis et al. 2000). All dies heißt nicht, dass Ärzte – wie jeder andere auch – in ihren lebensweltlichen Zusammenhängen auch als homo oeconomicus denken und handeln, mal diese oder jene Strategie 32 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) fahren, um einen Vorteil zu erschleichen, eben dabei auch das vermehrt zu tun, was besonders finanziert wird, vielleicht auch manchmal zum Nachteil einzelner Patienten19. All die großen und kleinen Eskapaden, die oftmals typischen Raffinessen und Täuschungsmanöver der Ärzte, dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der praktizierende Arzt den überwiegenden Teil seiner Arbeit mit der Behandlung von Kranken verbringt und nicht mit ökonomischen Spekulationen oder Buchhaltertätigkeiten. Auch die vielfach kritisierten Kooperationen mit der pharmazeutischen Industrie lassen sich keinesfalls eindimensional als besondere Variante der Bestechung verstehen, sondern folgen einer vielschichtigen sozialen Dynamik, deren Implikationen und Konsequenzen weder eindeutig noch angemessen untersucht worden sind. Es lässt sich zwar feststellen, dass Kooperationen zwischen Industrie und ärztlicher Entscheidungsmacht bestehen (vgl. Choudhry et al. 2002), was dies jedoch konkret für das ärztliche Entscheidungsverhalten bedeutet, ist bisher weder begriffen, noch eingehend erforscht. Um nochmals zusammenzufassen: Natürlich bestimmt die Ökonomie wesentliche Rahmenbedingungen medizinischen Handelns. Ärztliches Handeln und Entscheiden lässt sich jedoch im Hinblick auf Handlungsmotivation und Handlungszweck nicht auf Ökonomisches reduzieren. (e) Rechtliche Rahmenbedingungen Ärztliches Handeln berührt eine Reihe ethischer und rechtlicher Fragen. Die wichtigsten Themenkomplexe sind dabei wohl: ärztliche Aufklärung, Eingriffe in die Autonomie des Patienten, aktive oder passive Sterbehilfe, verdeckte Forschungsinteressen sowie der Umgang mit Kunstfehlern20. Wenngleich in Deutschland Rechtsverfahren gegen Ärzte eher selten sind und noch seltener zu deren Lasten ausgehen (vgl. Peters 200221), sind diesbezügliche Befürchtungen seitens der Ärzte im Klinikalltag regelmäßig zu vernehmen22. Geschichten über einen Kollegen, dem man etwas anhängen wolle, sprechen sich schnell herum und bilden einen bedrohlichen Ereignishorizont - denn prinzipiell könnte es ja jeden treffen. Die Angst der Ärzte, bei Unterlassung oder Fehlverhalten rechtlich belangt werden zu können, kann zu gezieltem absichernden Verhalten führen. Viele Ärzte neigen dazu, teils invasive und nicht unbedenkliche diagnostische Verfahren zu verordnen, um das Risiko der Nichterkennung einer Erkrankung auszuschalten („defensive testing“). Unter dem Strich sind die Risiken der Untersuchungen oftmals höher zu veranschlagen als die Wahrscheinlichkeit, durch die auszuschließende Krankheit zu Schaden zu kommen (vgl. etwa Pauker/Pauker 1998; DeKay/Asch 1998). Insbesondere auch die Ausformulierung „Evidenz“ basierter Leitlinien seitens der medizinischen Fachgesellschaften hat möglicherweise weit reichende juristische Implikationen, denn die Probleme in der Anwendung von Berufs-, Haftungs- und Sozialrecht bestehen weniger in einer unzureichenden Rechtslage als in der Möglichkeit, medizinische Sachverhalte anhand inhaltlicher Kriterien angemessen beurteilen zu können. Entsprechend wundert es kaum, dass der Medizinrechtler Hart Leitlinien als die »praktisch wichtigsten Instrumente der Qualitätssicherung ärztlicher Behandlungen« ansieht, denn diese würden »aus der Sicht aller betroffenen Rechtsgebiete wichtige rechtliche Rezeptionsvoraussetzungen« schaffen, und damit auch die Chance, »die erforderlichen rechtlichen Bewertungen zu harmonisieren« (Hart 2000: 4). Der Schritt vom allgemeinen Standard zum individuellen Fall, also die »Standardanwendung im Einzelfall« bedürfe zwar »einer individuell-sachverständigen Bewertung, weil die Leitlinie begründete Abweichungen« erlaube bzw. gebiete. In ihrer Qualitätssicherungsfunktion« bewirke 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 33 jedoch die »Befolgung der Leitlinie eine “Haftungsimmunisierung“. Wer die Leitlinie befolgt, dem [könne] prinzipiell kein Behandlungsfehler vorgeworfen werden, ausgenommen die Leitlinie sei “veraltet“, entspräche also nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissenschaft« (Hart 1998: 12f.). Ökonomische Belange sind dabei haftungsrechtlich nachrangig zu behandeln. Im Konfliktfall sei der Leistungserbringer deshalb verpflichtet, den Patienten über Konsequenzen einer Rationierungsmaßnahme aufzuklären, so dass diesem wegen seines »verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf Gesundheit die Möglichkeit eröffnet« würde, die notwendigen »Leistungen selbst zu finanzieren« (Hart 1999: 49). Im gleichen Sinne sei auch die Krankenhausorganisation verpflichtet, den Patienten darüber aufzuklären, falls ein Standard, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu halten sei. Mittels Leitlinien lassen sich medizinische Fälle in juristische Probleme übersetzen und rechtlich behandeln. Bestehen beispielsweise zwei konkurrierende Leitlinien, über die kein Konsensus erzielt werden kann, so sei dieser Konflikt juristisch im Sinne der höchst möglichen Patientenautonomie zu lösen: Wenn »medizinisch ein Nebeneinander beider Leitlinien nicht ausgeräumt werden kann«, habe der Mediziner »die arzthaftungsrechtliche Verpflichtung zur ärztlichen Aufklärung über Behandlungsalternativen. Immer dann, wenn die Medizin sich nicht auf eine Empfehlung verständigen kann, wird sich der Jurist dieser Situation beugen und auf die Steigerung der Aufklärungsanforderungen ausweichen. Medizinisch bleibt eine “Standardlücke“, rechtlich wird sie für den Patienten autonomiesichernd geschlossen« (Hart 1998: 13f.). Die Kombination von Recht und Politik lässt vereinzelt Kritik laut werden, dass hier die Ärzteschaft letztlich selbst das Feigenblatt »für Rationierungsmaßnahmen liefert, für die weder Kostenträger noch Politik die Verantwortung übernehmen wollen« (Hoffmann 1999: 8). Der Medizinrechtler Ulsenheimer vermutet im gleichen Sinne, dass es »vor dem Hintergrund der Ressourcenknappheit« überwiegend »um “Strategien“ im Umgang mit der Knappheit« gehe23. Im Vordergrund ständen eigentlich ökonomische Zielsetzungen, wofür jedoch »das überlieferte Ethos der Ärzte keine Kriterien« bereithalten würde. Die »Leitlinien-Inflation« habe ihren Ausgangspunkt »ganz eindeutig« bei den Gesundheitspolitikern und sei nicht eine Forderung der Mediziner gewesen. Wenngleich auch Ulsenheimer Leitlinien als nützliche Orientierungshilfe für den Juristen ansieht, überwiegen seines Erachtens die negativen Aspekte (Ulsenheimer 1998: 1). »Eigenverantwortung«, »die ärztliche Intuition«, »der Wagemut, neue Wege zu gehen« würden »gebremst« und demgegenüber »ein Handeln nach “Vorschrift“ oder “Schema“ gefördert. Das Tor zur Defensivmedizin« sei »aufgestoßen!« (Ulsenheimer 1998: 5). Dies führe dazu, dass der »Freiraum ärztlichen Ermessens« zunehmend eingeengt würde und das »ohnehin beträchtliche forensische Risiko des Arztes weiter« gesteigert würde. »Denn je höher die medizinische Wissenschaft die Meßlatte lege, »um so größer ist die Gefahr, dass der einzelne Arzt “nicht hoch genug springt“« (Ulsenheimer 1998: 5). Im gleichen Sinne befürchtet Hoffmann, dass »Leitlinien mit dem bisher bekannt gewordenen Verbindlichkeitsgrad« die Medizin »zementieren« und »die Freiheit ärztlichen Handelns« sowie »die ärztliche Kunst« beseitigen und hierdurch letztlich zu einer »Entakademisierung der Medizin« führen würden (Hoffmann 1999: 14)24. Inwieweit diese juristischen Implikationen wirklich den Alltag der Mediziner beeinflussen werden, bleibt eine offene Frage. Schon heute findet vieles von dem, was in Krankenhäusern läuft, in rechtlichen Grauzonen statt. In der Realität wird der Arzt wohl kaum einen schwerstkranken Patienten über suboptimale Arbeitsbedingungen in seinem Krankenhaus aufklären. Auch in den Grenzgebieten von Sterben und Tod kann nicht immer alles ausgesprochen werden, was im Sinne der rechtlichen Vorgaben eigentlich offen verhandelt werden sollte (vgl. Francke 1994). Die formaljuristischen Bedingungen ärztlichen Handelns bilden wie der ökonomische Rahmen eine 34 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) Kontextur, die seitens der Ärzte immer auch mit gedacht wird. Medizinisch Sinnvolles und das, was dem Patienten im konkreten Fall gegenüber angemessen erscheint, kann im Einzelfall dem Prinzip der optimalen rechtlichen Absicherung widersprechen. Prinzipiell ergeben sich auch hier für den Mediziner Zielkonflikte, die theoretisch eine Interessenabwägung notwendig erscheinen lassen. Inwieweit diese Diskurse zum Verständnis der ärztlichen Praxis wirklich relevant sind, ist eine andere Frage. Möglicherweise sind die meisten Ärzte in ihren Organisationen schon längst mit diesen Grauzonen heimisch geworden, haben es also längst habituell verinnerlicht, an welcher Stelle eine kleinere und manchmal auch eine größere Zwecklüge angemessen erscheint, um weiterhin das zu tun, wofür sie eigentlich ausgebildet sind: nämlich entsprechend ihrer Kunst und ihrem Wissen Patienten zu versorgen. Wie die Ökonomie stellt auch das Recht eine Kontextur dar, die parallel zum primären medizinischen Funktionsbezug existiert und in diesem Sinne auch seitens der Ärzte mitbehandelt wird. In welcher Form dies aber geschieht und ob und wie hierdurch ärztliches Entscheidungsverhalten beeinflusst wird, ist eine Frage, die nicht aufgrund theoretischer Überlegungen oder normativer Konzepte zu entscheiden ist, sondern der Rekonstruktion empirischer Realitäten bedarf. (f) Soziale Variablen und sonstige Bedingungen ärztlichen Entscheidens Die folgenden Ausführungen behandeln die Ergebnisse von Untersuchungen zu sozio-strukturellen Einflüssen auf das ärztliche Entscheidungsverhalten. Hierzu referiere ich auf die Übersichtsartikel von Eisenberg (1979) und Clark et al. (1991), um dann ergänzend einige weitere relevante Studien hinzuzuziehen: Üblicherweise geben Ärzte jungen Patienten mehr medizinische Aufmerksamkeit als den älteren25. Ebenso werden Alkoholiker und psychiatrische Patienten weniger ernst genommen. Einige Studien weisen darauf hin, dass man einer Frau eher emotionale Gründe für die vorgebrachten Beschwerden attribuiert als dem Mann. Entsprechend entdeckt man bestimmte Krankheitsbilder – etwa eine koronare Herzkrankheit – eher bei Männern und übersieht diese mehr bei den Frauen. Auch scheinen Rücken- und Kopfschmerzen bei Männern ernsthafter untersucht zu werden, wobei einzelne Studien jedoch auch das Gegenteil aufzeigen. Des weiteren zeigen die angloamerikanischen Studien Unterschiede in der Behandlung verschiedener Rassen: Schwarze bekommen ihre Galle oder ihren Leistenbruch 2- bis 4-mal häufiger von Ausbildungsassistenten operiert, während die statushöheren Weißen eher von den erfahrenen Chirurgen behandelt werden. Nicht-Weiße werden signifikant häufiger in psychiatrischen Einrichtungen zwangsbehandelt. Privatpatienten bekommen häufiger eine Bypass-Operation als die staatlich versorgten Kranken. Generell werden die privat Versicherten häufiger untersucht und vermehrt zu Spezialisten geschickt. Das Geschlecht des Arztes zeigt in keiner Studie einen signifikanten Einfluss auf die Art und den Inhalt seiner Behandlungsentscheidungen. Allerdings zeigen sich Unterschiede im Gesprächsverhalten: Männliche Ärzte monologisieren mehr, während ihre weiblichen Kollegen mehr Zeit für Gespräche mit ihren Patienten aufwenden. Im Hinblick auf Alter und Ausbildungsstand der Ärzte zeigen sich weitere Unterschiede in Bezug auf die klinische Praxis: Frisch graduierte Mediziner therapieren mehr in Richtung der Standardindikation, betreiben mehr Diagnostik und halten sich eher an berufständische Normen als ihre erfahrenen Kollegen. Auch das Behandlungssetting scheint eine Rolle im Hinblick auf das ärztliche Entscheidungsverhalten zu spielen. In den größeren Kliniken scheint sich eine leitlinienorientiertere Versorgung zu finden als in den kleineren Häusern. Family doctors betreiben weniger Diagnostik als ihre internistischen Kollegen. Noch mehr Untersuchungen ordnen die Internisten an, welche zusätzlich noch über eine fachliche Subspezialisierung verfügen. Ärzte, 1. Der Arzt als zweckrationaler Akteur 35 welche regelmäßig Fachjournale lesen und die „Weiterbildungsveranstaltungen“ der pharmazeutischen Industrie vermeiden, würden – so eine andere Studie – in angemessenerer Weise ihre Therapieanordnungen treffen. Ärzte, die täglich mehr Patienten sehen, würden eher eine richtige Entscheidung treffen als ihre weniger fleißigeren Kollegen und zudem auch geringere Hospitalisierungsraten aufweisen. Generell scheinen Ärzte mit breiter klinischer Erfahrung weniger Diagnostik zu betreiben (vgl. auch Fasoli et al. 1998). Darüber hinaus können Kultur sowie Einstellungsmuster und Glaubenssätze des einzelnen Arztes beeinflussen, ob dieser aggressiver oder eher konservativ an ein Problem herangeht (vgl. auch Liberati et al. 1990 und McKinlay et al. 2002). Wenig untersucht, aber auch ein Faktor, der ärztliches Entscheidungsverhalten beeinflussen kann, ist der sich insbesondere für die Universitätsmedizin ergebende Konflikt zwischen der ärztlichen Handlungsmaxime, dem Wohle des Patienten dienen zu wollen, und den institutionellen und persönlichen Forschungsinteressen (vgl. etwa Miller et al. 1998). Wenngleich Clark et al. (1991: 858f.) in den von ihnen referierten Studien teilweise erhebliche methodische Mängel entdecken, so ziehen sie dennoch abschließend die Bilanz, dass die klinische Entscheidungsfindung sehr wahrscheinlich durch Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Status, die Rasse des Patienten, sowie die Erfahrung und die spezifische Ausbildung der Ärzte und das organisatorische Setting der jeweiligen Behandlung beeinflusst werden (dies.: 853). Über die bisherigen Ausführungen hinausgehend, sind die kulturübergreifenden Untersuchungen zum ärztlichen Entscheidungsverhalten erwähnenswert. Viele der länderspezifischen Vorlieben für bestimmte Krankheitsbilder scheinen auch nicht unbedingt auf objektiven biomedizinischen Kriterien zu beruhen (vgl. hierzu Payer 1996). Mello und Jenkinson (1998) zeigen auf, dass Entscheidungsprozesse zur Wiederbelebung von Patienten in amerikanischen und britischen Krankenhäusern unterschiedlich verhandelt werden und auch zu anderen Ergebnissen führen. Entscheidungen zur ärztlichen Sterbehilfe sind in den Niederlanden und Belgien nicht nur denkbar, sondern auch praktizierbar. In der Bundesrepublik verbietet sich die professionelle Präferenz zur Euthanasie allein schon aus der Nähe zum nationalsozialistischen Gedankengut (vgl. hierzu etwa den Beitrag von Pfäfflin 1999). Für den deutschsprachigen Leser hat Klemperer (1999, 1996) eine Zusammenschau der Literatur über die Einflüsse nichtmedizinischer Faktoren auf das ärztliche Entscheidungsverhalten geleistet. Seine Untersuchungen zeigen etwa einen Zusammenhang zwischen der Zahl von Ärzten und Krankenhausbetten und der Häufigkeit, mit der einzelne Operationen durchgeführt wurden: ein höheres Angebot an Ärzten und Betten führe zu einer höheren Operationsrate, wobei in der Regel die Regionen mit den niedrigsten Durchführungsraten am ehesten angemessene Operationsindikationen stellen würden. Des Weiteren führe die Praxis der Einzelleistungsvergütung zu einer erheblichen Ausweitung der technischen medizinischen Leistungen. Eine Untersuchung zeige etwa eine Zunahme von 40-50% an EKGʼs und Röntgenaufnahmen nach Umstellung des Finanzierungsmodus. Abschließend zieht Klemperer folgendes Fazit: »Ärztliches Handeln erfolgt nicht allein medizinisch rational im wohlverstandenen Interesse der Patienten. Die Untersuchung nicht-medizinischer Einflußfaktoren gibt eine Reihe von Antworten und wirft viele Fragen auf« (Klemperer 1990: 113). Auch wenn der bisherige Forschungsstand viele Fragen offen lässt, kann an dieser Stelle wohl gesagt werden, dass in der Praxis soziostrukturelle, kulturelle und andere sozial bedingte Einflüsse auf das ärztliche Entscheidungsverhalten existieren. Die überwiegend deskriptiven bzw. hypothesentestenden Untersuchungen erlauben jedoch keinen Einblick in die jeweils konkrete, 36 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) fallbezogene Entscheidungsdynamik. Der Entscheidungsprozess selbst bleibt dem Forscher hier sozusagen als black box verborgen. (g) Resümee Selbst unter der vereinfachenden Annahme, dass ärztliches Entscheiden nur darauf hin ausgerichtet ist, die richtige Therapie und Diagnose für die Therapie eines Patienten zu finden, erweist sich der Prozess der ärztlichen Entscheidungsfindung als hochgradig kompliziert. Die Praxis selbst ist durch Unsicherheiten durchzogen. Die medizinische Wissensbasis stellt sich keineswegs so dar, dass die richtige Entscheidung auf der Straße läge. Ärzte müssen ihre Entscheidung unter der Voraussetzung von Unsicherheit und Nichtwissen treffen. Ärztliches Handeln bedeutet immer auch, nicht nur dem Körper, sondern auch dem Subjekt des Patienten zu dienen. Darüber hinaus ist Medizin in rechtliche, ökonomische, soziostrukturelle, organisatorische und kulturelle Kontexturen eingebunden. Angesichts dieser hyperkomplexen und unsicheren Bedingungen stellt sich erneut die Frage nach dem Prozess, das heißt, wie Ärzte in ihrem Alltag zu ihren Entscheidungen kommen. 2. Der Arzt als „psychisches System“ Selbst wenn hier nicht einmal annäherungsweise ein Überblick über die „Psychologie“ menschlichen Entscheidens gegeben werden kann, kommt auch der Soziologe nicht umhin, sich zumindest rudimentär mit den diesbezüglichen Diskursen zu beschäftigen. Ärztliche Gehirne stellen „psychische Systeme“ dar - mit all den Eigenarten, Schwächen und Stärken, die eben menschliches Denken und Erkennen auszeichnet. Menschen sind keine Computer, die entsprechend formalisierbarer Operationen ihre Schlüsse ziehen. Die Modelle der Logik sind in den Büchern der Philosophen zu Hause, spiegeln jedoch nicht die Operationsweise realer Gehirne wider. Besonders die Ergebnisse des neurobiogischen Konstruktivismus zeigen dies auf (a). Wenngleich aus der Perspektive der traditionellen Kognitionswissenschaft menschliche Experten „fehlerhaft“ denken und eine Reihe von Trugschlüssen systematisch zu sein scheinen (b), weisen einige Ergebnisse der Expertisenforschung darauf hin, dass die vermeintliche Schwäche psychischer Systeme unter den Realbedingungen einer unsicheren und unscharf definierten Wirklichkeit eher eine Tugend darstellt. Insbesondere für die schlecht definierten medizinischen Problemlagen scheint Erfahrungswissen und ein „intuitives“ Denken in Metaphern und Patientenbezogenen Skripten eine angemessenere Antwort auf die alltäglichen Fragen zu liefern als ein systematischformalisiertes Expertenwissen (c). (a) Erkennen und Entscheiden unter dem Blickwinkel des neurobiologischen Konstruktivismus Wenn man den Ergebnissen der modernen Neurowissenschaften folgt, ist das Gehirn nicht mehr als eine informationsverarbeitende Maschine zu betrachten, die eine äußere Wirklichkeit erkennt und – gleichsam der Vorstellung des Nürnberger Trichters – mit Wissen gefüttert auf die Umweltreize in Form eines mehr oder weniger rationalen Schlussschemas reagiert. Stattdessen 2. Der Arzt als „psychisches System“ 37 – so legt es der neurobiologische Konstruktivismus nahe – „erfindet“ jedes Nervensystem seine eigene Welt. Gehirne handeln entsprechend intern erzeugter Zustände und Regeln. Ihr (Überlebens-)Erfolg besteht darin, ein brauchbares Verhalten zu erzeugen, mit dem sie sich durch eine prinzipiell undurchschaubare und hyperkomplexe Umwelt mehr oder weniger glücklich durchhangeln. Ähnlich dem Platonschen Gleichnis vom Höhlenmenschen, der die Welt nur als Schattenspiel wahrnehmen kann, ist davon auszugehen, dass Menschen über keinen direkten Zugang zur Erkenntnis der Wirklichkeit verfügen, sondern sich ihre Wirklichkeitsmodelle nur als Reflex auf eine Geschichte wiederholter Interaktionen bilden können (vgl. Maturana/Varela 1987; Roth 1997). Wissen, Erkenntnis und Wirklichkeit können nun nicht mehr als ein Ding oder eine Sache gedacht werden, sondern sind nur als Praxis der Welterzeugung zu verstehen. Unter dem Blickwinkel der Kybernetik geschlossener Systeme kann Information nicht mehr als etwas verstanden werden, das von einem Organismus zum anderen übertragen werden kann, sondern ist mit Bateson (1987) nur noch als „ein Unterschied, der einen Unterschied auslöst“ zu verstehen. Wenn Gehirne agieren, nehmen sie keine Wirklichkeit wahr, sondern handeln entsprechend ihrer eigenen Struktur. Irritationen von außen wird dabei zunächst mit Bekanntem begegnet, es sei denn die Störungen sind so stark, dass sie das Gehirn selbst zu Strukturveränderungen zwingen - hier begegnen sich Neurokonstruktivismus und Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung, denn man kann diese Umweltanpassung durch Lernen auch als stufenweisen Prozess von Assimilation und Akkumodation bezeichnen (vgl. Rusch/Schmidt 1994). Die Richtigkeit der Konstruktionen lässt sich dabei letztlich niemals rational bzw. positiv überprüfen: »Das Paradox besteht einfach darin, daß wenn ich glaube, daß ich mir im Inneren ein Bild von der Welt mache und daß das Bild bewertet wird, je nachdem, wie genau es mit der Welt, die draußen liegt, übereinstimmt, dann kann ich die Bewertung nie ausführen. Denn was immer ich als Bewertung versuche, muß denselben Weg gehen, den das Bild gegangen ist, dieselbe Wahrnehmung, dieselbe Begriffswelt, dieselben Beziehungen, andere habe ich ja nicht. Und so kommt es zu einer Situation, die meiner Ansicht nach der irische Philosoph Berkeley am deutlichsten ausgedrückt hat, wenn er sagt, wir können immer nur Ideen mit Ideen vergleichen« (v. Glasersfeld 1990: 121). Wenn Denken als das phänomenologische Korrelat selbstbezüglicher neurologischer Prozesse begriffen werden muss, dann kann „Erkennen“ nur noch heißen, semantische Welten zu konstruieren, die in ihrem methaphorischen Gehalt eine strukturelle Analogie zur ʻwirklichenʼ Wirklichkeit aufzeigen26. Der Erfolg dieser Modelle zeigt sich im gelungenen Handlungsvollzug, in einer konkret beschreibbaren lebensweltlichen Nische, einem definierten Operationsbereich. Das, was Menschen als ihre Wirklichkeit erleben, ist nicht objektiv gegeben, sondern entsteht erst durch die praktische Auseinandersetzung mit der Welt27. Eine geteilte, mit anderen gemeinsam empfundene Wirklichkeit ist nicht objektiv gegeben, sondern entsteht erst durch gemeinsam gelebte Praxis. Auch die Wissenschaft – so die Position des neurobiologischen Konstruktivismus – erkennt keine Realität, sondern kann nur durch systematische und von anderen Wissenschaftlern nachvollziehbare Praxis ihre jeweiligen Wirklichkeitsmodelle erzeugen. Vom Erkenntnismodus her unterscheidet sich der Forscher nicht vom Laien. Der einzige, jedoch entscheidende Unterschied zum Alltagserkennen besteht in der besonderen Strategie der Erkenntnisproduktion. Wissenschaft – im modernen Verständnis – generiert Fragen, die im Dialog mit der Praxis falsifiziert werden können (vgl. auch Maturana/Varela 1987: 34). Die radialkonstruktivistische Position ist also keineswegs so zu verstehen, dass man nun generell auf wissenschaftliche Erkenntnis verzichten müsse, sondern nimmt den sozialen Charakter einer jeden Erkenntnisproduktion ernst. Und dies ist das überraschendste Ergebnis einer auf neurobiologischen Überlegungen beruhenden Erkenntnistheorie: Geist und Sprache – wenngleich auch ein neuronales Korrelat zeigend – fu- 38 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) ßen auf der sozialen Koppelung von Organismen. Die Erzeugung von Zeichen, die Verhalten koordinieren, erscheinen nun als eine ureigene Praxis menschlichen Seins, die jedoch ihrerseits nicht im luftleeren Raum steht – nicht als subjektphilosophischer Apriori eines reinen Geistes zu verstehen ist –, sondern nur als eine Trias aus sozialer Praxis, psychisch emotionalem Verstehen und physischer Verkörperung als spezifische neuronale Bahnung zu verstehen ist. Geist ist nur als eine Einheit von Körperlichem und Sozialem zu verstehen. Moderne bildgebende Verfahren erlauben mittlerweile, dem Gehirn bei der Arbeit zuzuschauen. Die Einblicke in die Realdynamik neurologischer Prozesse zwingen die Kognitionswissensch aften, ihre Modelle von der Funktionsweise des Gehirns grundlegend zu korrigieren. Gehirne sind weder Schlussmaschinen, die entsprechend der Operationen formaler Logik operieren, noch lassen sie sich als System gekoppelter Module begreifen, wie es die konnektivistische Vorstellung nahe gelegt hatte. Heute beschreibt man die Dynamik des Gehirns gerne durch Konzepte aus der Chaosforschung. Denken, Fühlen und Wahrnehmen stellen hier – was auch unserer persönlichen Erfahrung entspricht – ein hoch dynamisches, fluides, und kontextsensitives Phänomen dar28: In der modernen Vorstellung von der Hirnaktivität „poppen“ gleichsam aus dem Chaos myriadenfacher Nervenaktivität spontan Lösungen und Gestalten in den Vordergrund, verfallen in der Regel in Bruchteilen einer Sekunde wieder, verdichten sich jedoch manchmal zu stabilen Mustern, die dann zugleich Erfahrung bilden wie auch auf Erfahrung rekurrieren. Der Mensch baut in den neuronalen Korrelaten seiner Kognition permanent „hypothetische“ Wirklichkeitskonstruktionen auf und simuliert anhand dieser „Phantasien“ zukünftige Handlungsabläufe. Denken stellt aus dieser Perspektive in der Regel nicht mehr ein logisches Erschließen von Welt dar, sondern eine Simulation von Wirklichkeit anhand selbsterzeugter Modelle29. Diese Welten werden im eigenen Körper erlebt, sind als eine sensomotorische und affektuelle Einheit zu verstehen, denn die Handlungskonzepte, Intentionen und Entscheidungsalternativen werden in den Körper projiziert und die Antworten aus diesen Simulationen werden im Körper gefühlt – der Körper selbst stellt die Matrix der Erinnerungen vergangener Erfahrungen (vgl. hierzu ausführlich Damasio 1994). Auch die Simulation von Entscheidungen stellt sich nun als ein körperlich empfundenes Phänomen dar. Entscheidend für das Entscheiden ist nun die Herausbildung eines Gefühls. Die Trennung von Denken und Fühlen wird somit hinfällig: Es gibt keine Rationalität außerhalb des empfindenden Körpers30. Vernunft und Denken sind nicht mehr als abstrakte Formen zu verstehen – sondern untrennbar mit der biologischen Evolution unseres Organismus verwoben. Man kann – und hierin liegt eine erhebliche Provokation gegenüber der abendländischen Tradition – nicht nicht-emotional handeln, denn aus biologischer Sicht liefern erst die Emotionen die »dynamischen, körperlichen Bereitstellungen zu Handlungen« (Maturana, et al. 1994: 22). Emotionen bilden den Rahmen, prägen das Handlungsmuster, liefern quasi das jeweilige dramaturgische Gesetz, nach denen das anschließende Handlungsschauspiel zu agieren hat: »Jede Emotion (Furcht, Zorn, Traurigkeit usw.) ist eine biologische Dynamik mit tiefen Wurzeln, die gewisse strukturelle Muster definiert. Jede Emotion ist damit ein Schritt zu Interaktionen, die in verschiedene Bereiche der operationalen Kohärenz (Flucht, Kampf, Rückzug usw.) führen können« (Maturana, Varela, 1987: 267). Handeln, Erkennen und Emotion sind aus biologischer Sicht praktisch untrennbar miteinander verwoben. Es gibt keine Kognition ohne ein zugrunde liegendes Gefühl. Umgekehrt beinhaltet jeder emotionale Zustand immer auch eine spezifische Weise des Erkennens, Erlebens und Handelns. In intensiven Gefühlszuständen handelt der Mensch nicht, wie allgemein angenommen, irrational, sondern gerade in hohem Maße logisch, d.h. der logischen Matrix der jeweiligen Emotion folgend, wie auch Ciompi mit seinem Modell der Affektlogik aufzeigt (Ciompi 1998). Die »ganze unendliche Gefühlspalette« 2. Der Arzt als „psychisches System“ 39 setzt sich jedoch nur aus »ganz wenigen, phylo- wie ontogenetisch tief verankerten, sogenannten Grundgefühlen wie Interesse, Angst, Wut, Trauer, Freude« zusammen (Ciompi 1997: 127). Gefühle wie etwa die Liebe haben jeweils ihren eigenen kognitiven Korridor, ihre eigene Handlungslogik und ihre eigenen Gesetze. Die Verbindung von Affekt, Kognition, Handlung und Gedächtnis findet eine Entsprechung in neuronalen Kreisläufen sowie neurochemischen Prozessen. Entsprechend gilt auch, »dass Aufmerksamkeit, Gedächtnis und damit auch Denkinhalte und [Denk-]Hierarchien in hohem Maße durch Affekt geleitet sind« (ders.: 128). Affektstimmungen wirken wie eine Schleuse, die »bestimmte kognitive Inhalte mitsamt den entsprechenden logischen Verknüpfungen« aktivierend öffnet oder verdrängend verschließt. Hieraus folgen dann aus den verschiedenen Funktionen der Affekte »verschiedene Typen von Logik, etwa eine Wutlogik, Angstlogik, Trauerlogik, Freudelogik, erotische Logik oder auch Suchtlogik usw.« (ders.: 128). Die jeweiligen affektiv-kognitiven Bezugssysteme sind im Sinne von Ilya Prigogines Theorie der „dissipativen Strukturen“ als »Attraktorzustände von vermutlich fraktaler Gestalt« zu betrachten (ders.: 129). Der Begriff „dissipative Strukturen“ bezeichnet Selbstorganisationsphänomene innerhalb chaotischer dynamischer Systeme. Die „Attraktoren“ stellen in dieser Theorie gleichsam stabile Zustände dar, für die sich ein nichtlineares chaotisches System entscheiden kann. Quasi wie ein Strudel ziehen diese als Bezugssysteme das menschliche Erleben in verschiedene hierarchische Ordnungen hinein, »neben dem Alltagsverhalten«, etwa in den »Jähzorn«, in die »Verliebtheit«, aber auch in »manische, depressive oder schizophrenpsychotische Funktionsweisen« (ebd.: 129). Jedes menschliche Entscheiden findet immer auch in einem emotionalen Raum statt - wenn man so will: unter einem emotionalen Rahmen. Diese Räume wiederum sind sozial konstituiert – sie bekommen erst in der Interaktionsordnung ihren Sinn und ihre spezifische Gewichtung. Menschen sind keine Neumannschen Rechenmaschinen, die nach formal-logischen Kalkülen operieren und entscheiden. (b) Kognitive Täuschungen Kognitionspsychologen können mittlerweile die Bereiche recht genau charakterisieren, wo und warum der Leistungsfähigkeit von Gehirnen zu misstrauen ist: Da das Gedächtnis eine erhebliche Plastizität aufweist, können Erinnerungsspuren durch falsche Daten verfremdet und rekonfiguriert werden (Hell 1993). Informationen werden ungeprüft für wahr und glaubwürdig gehalten, wenn sie nur ausreichend wiederholt werden (Hertwig 1993). Unsichere Wissenslagen führen nicht selten zur Konstruktion eines Modells, das vermeintlich Orientierung und Sicherheit gibt (Hoffrage 1993). Auch bei Experten unterscheiden sich die Urteile über Häufigkeiten systematisch gegenüber denen von Wahrscheinlichkeiten, was insbesondere bei der ärztlichen Beurteilung von diagnostischen Ergebnissen regelmäßig zu Fehleinschätzungen führt (Gigerenzer 1993). Selbst statistisch vorgebildete Menschen verletzen unter bestimmten Bedingungen die elementare Regel der Wahrscheinlichkeitstheorie, dass die Konjunktion zweier Ereignisse zu einer Eintrittswahrscheinlichkeit führt, die kleiner oder höchstens gleich der Wahrscheinlichkeit des weniger wahrscheinlichen Ereignisses ist (Tversky und Kahneman 1973/1983). Gehirne scheinen eher induktiv zu denken. Personen setzen oft inhaltliches Wissen ein, um die richtige Antwort zu erschließen. Es besteht »eine deutliche Tendenz, bei der Hypothesenprüfung vor allem nach solchen Informationen zu fragen, die aufgrund der Hypothese zu erwarten sind, und in Bezug auf bereits vorliegende Informationen die diagnostische Aussagekraft hypothe- 40 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) senkonformer Informationen zu überschätzen. Dieses Vorgehen führt zwar nicht dazu, das Auftreten hypothesenwidersprechender Daten zu verhindern, kann aber zur Folge haben, daß die Allgemeingültigkeit der Hypothese unzureichend getestet und ihr Bestätigungsgrad überschätzt wird [...] Sobald die Personen über plausible Alternativhypothesen verfügen, treten die sonst typischen Fehler in deutlich geringerem Maß auf. Dennoch kann man problematisieren, warum Personen so erstaunlich wenig fragen, wie das vorliegende Ereignis zu interpretieren wäre, wenn ihre Hypothese nicht zuträfe, und warum Personen so selten aktiv nach Alternativerklärungen suchen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß unsere kognitive Struktur grundsätzlich darauf zugeschnitten ist, die Aufmerksamkeit möglichst lange auf das Erwartbare zu beschränken. Denkbar ist auch, daß wir die Suche und Berücksichtigung konkurrierender Hypothesen absichtlich vermeiden. Diese Erklärung scheint jedoch zumindest dann unplausibel zu sein, wenn das Hypothesentesten vorrangig von einem Erkenntnisinteresse geleitet wird« (Oswald 1993: 207). »Vor allem viele hierarchische Verhältnisse werden durch eine (gewollte oder ungewollte) scheinbare Sicherheit und eine Tendenz zu dem, was Watzlawick [...] Patentlösungen nennt, charakterisiert. So sagt der Arzt dem Patienten, daß man zur weiteren Diagnostik seiner Beschwerden einen chirurgischen Eingriff machen muß – er sagt ihm aber möglicherweise nichts darüber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen bei dieser Operation ist, welche Handlungskonsequenzen bestimmte Ergebnisse dieser Operation haben oder welche Möglichkeiten es sonst noch gäbe« (Sedlmeier 1993: 156). Eine Vielzahl von Untersuchungen zeigt auf, dass das subjektive Kontingenzerleben von den statistischen Koeffizienten der in Beziehung gesetzten Einzelereignisse abweicht. Man sieht einen Zusammenhang, wo keiner ist (vgl. Fiedler 1993; Watzlawick 1978/1985). Im Sinne dieser üblichen Fehlattribution kann bei einem Mediziner leicht der fälschliche Eindruck entstehen, dass seine Therapie für die Heilung verantwortlich ist, wo doch in Wirklichkeit kein kausaler Zusammenhang zwischen seinem Handeln und der Gesundung des Patienten besteht. Pfrang (1993) benennt in diesem Zusammenhang folgendes Beispiel: »Ein Arzt möchte die Heilungschancen zweier Therapiemöglichkeiten bei einer Krankheit feststellen. Er wendet beide an und registriert folgende Häufigkeiten: 75 Patienten sind bei der ersten geheilt (“a“) und 25 weiter krank (“b“). Bei der zweiten sind auch 75 geheilt (“c“) und 25 weiter krank (“d“). die Anwendung eines normativen Modells ergibt die Gleichheit der Heilungschancen und damit ist die Krankheit definitionsgemäß unkontrollierbar«. Als statistisch denkender Mediziner würde er die »Nicht-Kontingenz« wahrnehmen und in Zukunft keine der beiden Therapieformen mehr anwenden, falls ein Patient nochmals mit dieser Krankheit in seine Praxis käme (Pfrang 1993: 254). In der Praxis wird der Arzt jedoch üblicherweise eine andere Schlussfolgerung ziehen: nämlich dass beide Therapieformen gleich gut funktionieren und er nun zwei Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung habe, die zum Erfolg führen würden. Darüber hinaus habe er nun sogar die Freiheit, nach eigenen Präferenzen eine der beiden Methoden auszuwählen. Wahrscheinlich wird er seinen Entschluss entsprechend der induktiv-positivistischen Logik - „wer heilt, hat Recht“ fällen - und immerhin kann der Arzt ja die Mehrzahl seiner Patienten gut behandelt wissen: Für den Arzt besteht die therapeutische Behandlung und Kontrollierbarkeit einer Krankheit nicht in der statistischen Signifikanz des Interventionserfolges, sondern in dem Ziel, den Kranken erfolgreich behandeln zu können – schließlich kann er ja sein Ziel, den Patienten zu heilen, in der Mehrzahl der Fälle realisieren. »Kontrolle ist eine Funktion der Erfolgswahrscheinlic hkeit und nicht der Differenz der bedingten Wahrscheinlichkeiten des Erfolgs (...). Wer zwei Handlungsmöglichkeiten mit gleichen Erfolgswahrscheinlichkeiten zur Verfügung hat, hat umso mehr Kontrolle, je höher die Erfolgswahrscheinlichkeiten sind. Das Kontrollurteil korreliert dann 2. Der Arzt als „psychisches System“ 41 notwendigerweise mit den als invalide bezeichneten Heuristiken der nicht bedingten Erfolgswah rscheinlichkeit und der bedingten Erfolgswahrscheinlichkeit der ersten Handlungsmöglichkeit« (Pfrang 1993: 255). Für den Arzt – und seinen Erfolg – macht es also durchaus Sinn, weiterhin nach seinem bewährten Vorgehen zu handeln. Man liegt sicher nicht ganz falsch anzunehmen, dass in der langen Geschichte der Medizin die überwiegende Anzahl aller jemals getroffenen Therapieentscheidungen aufgrund solcher plausibler Evidenzen zustande gekommen sind und immer noch getroffen werden. Nicht einmal das gezielte Trainingsprogramm für statistisches Denken scheint dem Mediziner zu helfen, die typischen Irrtümer des induktiven Denkens beseitigen zu können (Borak/Veilleux 1982). Man mag den Ärzten hier Unvermögen im Denken oder gar Torheit vorwerfen (vgl. Skrabanek/McCormick 1992) und weiterhin versuchen, mit biostatistischem Rüstzeug bewaffnet, Vernunft und wissenschaftliche Evidenz in die Medizin zu bringen, kommt aber dennoch nicht umhin, festzustellen, dass die Logik der Praxis einfach anders funktioniert und vielleicht auch funktionieren muss. Denn aus der Handlungslogik des Arztes heraus macht es hier wenig Sinn, von Fehlern zu sprechen. Seine Aufgabe besteht schließlich darin, dem Patienten eine „funktionierende“ Behandlung anbieten zu können, nicht jedoch - der Kunst der Wahrscheinlichkeitstheorie entsprechend - eine probabilistische Abschätzung der Ereigniskontingenzen zu liefern. Um in systemtheoretischen Kategorien zu sprechen: Sein Funktionsbezug verlangt vom Arzt nicht, zu prüfen, ob die Dinge, die er tut, wahr oder falsch sind, seine Anschlussfähigkeit ergibt sich im Hinblick auf die Diagnose einer Krankheit und der programmatischen Antwort durch eine plausible Therapie. Er verhält sich genauso wenig unärztlich wie der Heiler der Vormoderne, welcher mit aus heutiger Sicht abstrusen Therapiemaßnahmen versucht hatte, der Krankheit seiner Klienten zu Leibe zu rücken. Aus einer bestimmten wissenschaftlichen Perspektive – insbesondere der Biostatistik – mag man solche induktiven Schlüsse zwar als Täuschung bezeichnen. Aus der Perspektive der Akteure, welche in der Praxis bestehen müssen, scheint ein solches Vorgehen funktional durchaus äquivalent. Unter dem konstruktivistischen Paradigma bekommt der induktive Erkenntnismodus einen anderen Sinn. Denn: Wenn Gehirne keine Wirklichkeit erkennen können, sondern nur einen mehr oder weniger erfolgreichen Weg erfinden können, um mit einer hyperkomplexen Umwelt zu interagieren, dann stellt die Induktion – die Orientierung an Erwartungen und Modellen, die diese Erwartungen formulieren – den wohl effizientesten Weg dar, eine praktikable Wirklichkeit zu erfinden. Wie Fiedler jedoch feststellt, hat sich die psychologische Theoriebildung bisher nur unzureichend mit der »induktiven Seite der Informationsverarbeitung beschäftigt« (Fiedler 1993: 238). Von kognitionswissenschaftlicher Seite stellt sich neuerdings vermehrt die Frage, ob ein Handeln nach den strengen Kriterien der formalen Logik nur unter den wohl definierten Bedingungen der Laborversuchsanordnungen die bestmögliche Handlungsrationalität darstellt. Nur wenn die Entscheidungsalternativen sowie die Kosten und Nutzen klar auf dem Tisch liegen, scheint das deduktive Schließen aufgrund von Ereigniswahrscheinlichkeiten die optimale Herangehensweise für solche Probleme darzustellen. Für die unscharfe Alltagsrealität scheinen demgegenüber andere „Logiken“ funktionaler zu sein31. Insbesondere beim Mediziner werden die zuvor benannten kognitiven Prozesse bisher eher unter dem Aspekt des Defizits denn der Leistung gesehen. Da Ärzte als Menschen eben nicht so optimal handeln wie ein Computer, stellt sich die Frage, wie man sie entsprechend trainieren kann und welche technischen Hilfsmittel man ihnen zur Verfügung stellen müsse (Expertensysteme32), damit sie ihre Aufgaben besser erfüllen können bzw., ob nicht sogar die Technik grundsätzlich das ärztliche Gehirn ersetzen solle33. Auch der innermedizinische Diskurs scheint in jüngster Zeit im rationalistischen Selbstmissverständnis eher die Schwächen ärztlichen Denkens zu pointieren 42 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) und damit der weiteren Dekonstruktion der ärztlichen Profession Vorschub zu leisten, indem man ihren Vertretern mangelnde Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken attribuiert34. Im Sinne der Fragestellung dieser Arbeit lohnt es sich, die zuvor benannten Prozesse eher unter dem Leistungsaspekt zu betrachten. Dabei ist es hilfreich, auch die sozialen Kontexturen - etwa die Arzt-Patient-Beziehung - mit in die Analyse einzubeziehen. Denn erst hier bekommen Zusammenhänge Sinn und Bedeutung, die aus statistischer bzw. naturwissenschaftlicher Perspektive bedeutungslos erscheinen. In diesem Sinne weist etwa Ortmanns empirisch rekonstruktive Studie darauf hin, dass ein Arzt, der einen Patient als bio-psycho-soziale Einheit behandeln möchte, gut beraten ist, eher phantasievoll-kreativ denn im Sinne der schulmedizinischen Dogmatik an ein konkretes Behandlungsproblem heranzugehen (Ortmann 2001). Ebenso deuten einige Studien darauf hin, dass es aus soziologischer Perspektive sinnvoll sein kann, wenn man alternative Heilmethoden bzw. »heterodoxe Bestandteile des Medizinsystems« (Stollberg 2001: 67) weniger unter der Arbeitshypothese „Quacksalberei“ betrachtet denn als intelligente Kommunikationsformen, mit deren Hilfe die Arzt-Patient-Beziehung gestaltet, der Umgang von Bewusstsein und Körper thematisiert sowie eingefahrene psychische Muster – etwa die Attribution von Schuld und Verantwortung – gelockert werden können. Aus ärztlicher Sicht ist die Homöopathie ernst zu nehmen, auch wenn hier keine physikalische Substanz mehr zu finden ist, die heilen könnte (vgl. Frank 2002; Stollberg 1999). Auch ein „geistig“ erweitertes Heilverfahren wie die anthroposophische Misteltherapie kann „Sinn“ machen, wie die semiotische Rekonstruktion durch Sánchez García (1999) aufzeigt. Medizin kann und darf nicht nur als biomedizinische Rationalität begriffen werden, mittels der gezielt und wirksam in physiologische Abläufe eingegriffen werden kann. Sie stellt immer auch ein Medium dar, um Krankheit in Kultur zu verwandeln35, um die Zufälligkeiten und Kontingenzen eines beziehungslosen naturwissenschaftlichen Universums in ein menschliches Behandlungssystem einzubetten, um dieses hierdurch in ein moralisches Universum zu verwandeln, in dem dann ein konkreter Mensch für etwas die Verantwortung übernimmt, wofür nach „objektiven“ Kriterien oftmals keine Verantwortung übernommen werden kann. Habituell haben Ärzte diesen Aspekt ihrer Rolle tief verinnerlicht. Deshalb verwundert der Befund von Schachtner kaum, dass Ärzte gerade deshalb auch durch den Einsatz computergestützter Expertensysteme hochgradig verunsichert werden, »weil sie nicht wissen, wer bei Benutzung eines medizinischen Expertensystems die Verantwortung trägt«. Für sie stellt sich nun die Frage: »Wer ist verantwortlich, wenn ein System eine falsche Diagnose stellt und der Arzt sie übernimmt? Und was ist, wenn ein Arzt die Diagnose des Systems verwirft, die sich hinterher als richtig erweist« (Schachtner 1993: 180). Der Begriff „Verantwortung“ ist eine Kategorie eines ethischen Universums, die in der biologischen und physikalischen Welt nicht vorkommt36. Hier zeigt sich eine implizite professionsethische Dimension. Nur in psychischen und sozialen Systemen besteht Sinn und deshalb zeigt sich hier auch eine implizite professionsethische Dimension: In diesem Sinne besteht zum Arzt keine Alternative. Man kann mit einem Computer rechnen, aber man kann keiner Maschine vertrauen oder ihr ethische Entscheidungen zurechnen37. Menschen gehen grundsätzlich anders mit Fehlern um, als Rechnersysteme38, zudem lässt der erhöhte Apparate- und Technikeinsatz die automatisierten Abläufe zugleich hochgradig anfällig für Irritationen und Störungen werden. Gerade hier - durch den Druck der Praxis gezwungen - wird wieder der menschlicher Interpret gefordert, im Zweifelsfall die Entscheidung zu treffen39. Ärztliches Handeln spielt sich immer auch in einem semantischen Raum ab. Medizin – gerade auch wenn es sich um High-Tech-Medizin handelt - ist immer auch Erzählung. Die »narrative based medicine« (Grennhalgh/Hurwitz 1999) schafft ihre eigene soziale Realität40. Krankheit, Gesundheit und Therapieverfahren stellen im- 2. Der Arzt als „psychisches System“ 43 mer auch Metaphern dar, die eine gestalterische Wirkung entfalten (s. hierzu auch Buchholz 1994). Ärztliches Denken und Orientieren scheint selbst hochgradig durch Metaphern geleitet (vgl. Schachtner 199941). Auch bestimmte Aspekte der ärztlichen Sozialisation und Ausbildung lassen sich wohl nur durch die impliziten Unterweisungen der Älteren an die Jüngeren, der Erfahreneren an die Novizen, mittels ständig weiter getragener Geschichten oder „Stories“ verstehen (vgl. hierzu Atkinson 1995). Auch wenn es den Rationalisten nicht behagt: in der Sphäre der Narrative und Metaphern gelten die Gesetze der Homologie. Insbesondere die „Affirmation der Konsequenz“ findet weite Verbreitung in der metaphorischen Welt42. Für Bateson stellt die Homologie selbst ein wesentliches Organisationsprinzip biologischer Organismen, psychischer Formen und sozialer Systeme dar. Diese hätten es in ihrer Evolution fertig gebracht, sich so zu organisieren, »daß es gemeinsame Prädikate von Pferd und Mensch gibt, die Zoologen heute als Homologe bezeichnen. Es wird deutlich, daß Metaphorik nicht bloße Poesie ist. Sie ist nicht entweder gute oder schlechte Logik, sondern sie ist in der Tat die Logik, auf der die biologische Welt gebaut ist, das Hauptcharakteristikum und der organisierende Leim dieser Welt geistiger Prozesse« (Bateson/Bateson 1993: 50). Die logisch erlaubten Schlüsse finden demgegenüber nur in den Bereichen der Sprache statt, wo man eindeutig Klassen identifizieren, also eindeutig Kausal- und Hierarchiebeziehungen benennen kann. »Aber außerhalb der Sprache gibt es keine benannten Klassen und keine Subjekt-Prädikat-Relationen« (Bateson/Bateson 1993: 45f). Um nochmals zusammenzufassen: Menschliches Denken folgt anderen Regeln als den Gesetzen der formalen Logik. Was jedoch auf den ersten Blick als Defizit erscheint – nämlich als kognitive Täuschung, kann unter einem anderen Blickwinkel als Fähigkeit betrachtet werden, auch in hyperkomplexen Umwelten, Muster zu erkennen und Sinn bilden zu können. (c) Expertenwissen Zweifelsohne sind Ärzte Experten auf ihrem Gebiet. Durch eine lange Ausbildung antrainiert verfügen sie über einen Sonderwissensbestand und unterscheiden sich gegenüber dem Laien dadurch, wie sie ihr Wissen organisieren und verknüpfen43. Es lohnt sich darüber hinaus zwischen Experten und Spezialisten zu unterscheiden: Während der Spezialist nur einen begrenzten Wissensbereich überschaut, diesen jedoch in seiner Tiefe beherrschen und anwenden kann, hat der Experte im Idealfall einen Überblick über seine ganze Disziplin, wenngleich auch für ihn seine Kernkompetenz in einem wohl definierten Spezialgebiet bestehen kann (Hitzler 1994: 25). Ein Chirurg beispielsweise mag zwar ein Spezialist für Gefäßchirurgie sein, überschaut aber in der Regel dennoch die Grundlagen der gesamten Medizin, weiß genau, wann er Fachkollegen zu Hilfe bitten muss, kennt sich mit den grundlegenden Stoffwechselfunktionen aus, kann entsprechend auch „fachfremde“ Verdachtsdiagnosen stellen. Schließlich sollte er den Überblick über das Geschehen behalten können und dabei nicht zuletzt auch die psychischen, sozialen und organisatorischen Aspekte seiner Arbeit verinnerlicht haben. Zu der Frage, was Expertendenken ausmacht und wie Expertenwissen konfiguriert ist, gibt es eine Reihe von Untersuchungen. In der folgenden Darstellung halte ich mich zunächst an die Zusammenfassungen durch Gruber (1994, 1999): Experten scheinen eine überragende Fähigkeit zu besitzen, »sich an Gegenstände bzw. Konstellationen aus ihrem Gegenstandsbereich zu erinnern [... und] können aus Konstellationen, die ihrer Expertendomäne entstammen, offenbar sehr rasch “Sinn machen“, sie können die vielen einzelnen Informationsteile zeitlich wie räumlich integrieren und zu semantisch bedeutsamen Mustern bündeln« (Gruber 1999: 27). Die 44 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) Informationen werden dabei zu so genannten chunks verknüpft, das sind Informationseinheiten, in denen verschiedene Details semantisch zu einer einzigen Gestalt verbunden werden. Der Arzt verdichtet etwa eine bestimmte Konstellation von Symptomen zu den differenzialdiagnostischen Einheiten von wenigen, ihm nun möglich erscheinenden Krankheitsbildern. Der Experte selbst zeigt dabei - wie andere Menschen auch - nur eine begrenzte Gedächtniskapazität, kann also aus einer erlebten Situation nur 7±2 Informationseinheiten erinnern. Seine besondere Leistung besteht jedoch gegenüber dem Laien darin, selbst komplexe Situationen zu einer angemessenen Einheit zusammenfassen zu können, die dann jeweils einem chunk entspricht. Schätzungen vermuten, dass Spitzenexperten bist zu 50000 solcher Muster bilden und reproduzieren können. Der erfahrene Arzt verfügt sozusagen über eine Vielfalt von Subdifferenzierungen von Krankheitsbildern. Er zeichnet sich gegenüber dem Novizen hauptsächlich durch seine überlegene Mustererkennung (pattern recognition) aus. Er kann seine einzelnen chunks in ein hierarchisches System integrieren und sein Gedächtnis durch Bedeutungsinhalte und –verknüpfungen organisieren. Darüber hinaus ist es sinnvoll, zwischen deklarativem Wissens und dem prozeduralen Wissen zu unterscheiden. Ersteres bezeichnet das Faktenwissen, welches der angehende Mediziner in seinem Studium lernt, etwa das Wissen um biochemische Prozesse und Krankheitsklassifikationssysteme. Dieses Wissen scheint zumeist propositional in Form semantischer Netzwerke repräsentiert zu werden. Das prozedurale Wissen lässt sich am ehesten als Erfahrungswissen charakterisieren und meint etwa das Know-how, wie ein Patient mit einer bestimmten Krankheit zu behandeln ist. Oft ist dieses Wissen mit den motorischen Handlungsabläufen der jeweiligen Akteure verknüpft. Die meisten Personen können entsprechend nur selten über ihr prozedurales Wissen Auskunft geben. Die Fähigkeit, Wissen in Alltagssituationen anzuwenden, entsteht in der Regel nicht »durch explizite Unterweisung, sondern durch die konstruktive Auseinandersetzung Lernender mit selbst erfahrenen, authentischen Problemsituationen, sofern eine aktive Verarbeitung der dabei relevanten Informationen stattfindet« (Gruber 1999: 37). In der Soziologie wird der Bereich des impliziten Wissens anlehnend an Polanyi (1985) gerne mit tacit knowledge bezeichnet. Aus dieser Perspektive kann Wissen nicht mehr als individuelle kognitive Leistung verstanden werden, sondern muss auch als soziales Phänomen gesehen werden, das tief in die Handlungspraxis eingelassen ist44. Die Expertisenforschung hat sich bisher überwiegend mit den so genannten wohl definierten Domänen beschäftigt, insbesondere dem Schachspiel, dem Programmieren und dem Lösen technischer Probleme im Ingenieurswesen. In diesen Wissensfeldern sind die Sachlagen – das, worum es geht – eindeutig definiert. Es bestehen klar vorgegebene Problemstellungen und entsprechende Lösungswege. Entsprechend führten die Forschungsarbeiten zu den diesbezüglichen Expertisen zu dem Schluss, dass Expertenwissen objektiv diagnostizierbar und beschreibbar und zudem über objektive Wissensbestände operationalisierbar sei. Entsprechend beruhe der Expertenstatus einfach auf Wissensakkumulation. Im Gegensatz zu den technisch-mathematischen Feldern zeichnen sich medizinische Fragestellungen durch Problemkonstellationen aus, in denen die Problemdefinition selbst unklar ist und entsprechend auch nicht zuverlässig entschieden werden kann, ob man einen Zielzustand – etwa ein bestimmtes Therapieprogramm – anstreben solle oder nicht, wenngleich dies nicht bedeutet, dass im Einzelfall Problem und Lösungsweg klar vor Augen liegen. In den wenigen Untersuchungen zum Umgang der Experten mit solchen Problemen scheint sich abzuzeichnen, dass »domänenspezifische Konzepte eine ebenso hohe Komplexität aufweisen wie die in der Domäne üblichen Fälle« (Gruber 1999: 36). In diesen können in der Regel eine Vielzahl von Irregularitäten, das heißt Abweichungen in den Merkmalsausprägungen beobachtet werden. Entsprechend besteht eine der wesentlichen intel- 2. Der Arzt als „psychisches System“ 45 lektuellen Herausforderungen für den Experten darin, Kriterien für den Transfer von einem Fall auf den anderen herauszufinden, denn: »Es existieren keine Regeln, die alle Fälle umspannen können. Gleiche Merkmale können in unterschiedlichen Kontexten Unterschiedliches bedeuten. Hierarchische Verbindungen innerhalb der Wissensbasis können von Fall zu Fall umgekehrt werden« und es bestehen »multiple hierarchische Organisationsprinzipien von Merkmalskomplexen« (Gruber 1999: 36). Angesichts dieser Problemlagen scheint gerade eine hohe Flexibilität im Denken und Handeln ein besonders wichtiges Merkmal eines kompetenten medizinischen Experten darzustellen. Eine besondere Rolle scheint hier das prozedurale Wissen zu spielen. Junge Universitätsabsolventen weisen zwar in der Regel ein »besseres und aktuelleres deklaratives Wissen« auf als die älteren Experten und erinnern sich auch nicht schlechter an Fakten bzw. Fallinformationen, haben aber ein wesentlich schwächeres prozedurales Wissen (Gruber 1999: 36)45. Die Transformation des Wissens findet primär durch Erfahrung statt. Erst nach einer Vielzahl durchgeführter Diagnosen und Therapien kommt es zu einer qualitativen Veränderung der Problemrepräsentation: »Aus dem deklarativen biomedizinischen Wissen wird eine Form prozeduralen Wissens – als „illness scripts“ bezeichnet – entwickelt, die das rasche Fällen valider Diagnosen erleichtert, ohne die Aktivierung umfangreichen biomedizinischen bzw. pathophysiologischen Wissens explizit zu benötigen. Der Prozeß der Herausbildung von „illness scripts“ ist das Kernstück erfahrungsbasierten Lernens [...]. Je mehr Erfahrung Ärzte haben, um so geringeren Anteil nimmt das deklarative Wissen beim Erstellen einer Diagnose ein. Das erlernte biomedizinische Fachwissen wird nicht vergessen oder ignoriert, sondern unter generalisierten, fallbezogenen Schemata repräsentiert, die in das klinische Erfahrungswissen integriert sind. Das biomedizinische Wissen liegt daher in „enkapsulierter“ Form vor. [...] Expliziter Bezug zu deklarativem Wissen ist für Ärzte in der Regel nicht erforderlich, aber durchaus möglich, wenn dies notwendig ist« (Gruber 1999: 38/39). Während junge Ärzte dazu neigen, den Patienten unter allgemeine Diagnoseschemata zu subsumieren, binden die Spitzenexperten die Krankheitsbilder wieder vermehrt an den expliziten Fall an, wobei oftmals auch die nicht medizinischen Kontextinformationen mit erinnert werden46. »Die „illness scripts“ werden zunehmend in Patienten-Scripts umgewandelt« (Gruber 1999: 39). Der Patient wird nun in gewisser Weise „ganzheitlicher“ wahrgenommen. Für viele ältere Ärzte gewinnen in diesem Zusammenhang nun auch die sozialen Faktoren vermehrt an Bedeutung. So wird etwa betont, welch wichtige Bedeutung die Erfahrung bei Beratungs- und Aufklärungsgesprächen mit Patienten habe und wie wichtig das Kollegengespräch sei. (d) Resümee Ärzte sind – wie alle Menschen – keinesfalls als eine Informationen verarbeitende Maschine anzusehen, die entsprechend der Arbeitsweise eines Neumannschen Rechners und nach deduktiver Logik operiert. Der neurobiologische Konstruktivismus legt nahe, dass psychische Systeme ihre eigene Welt konstruieren und die soziale Koppelung der Organismen über Sprache, Metaphern und Erzählungen eine wesentliche Rolle für das Erkennen einer Wirklichkeit spielt. Kognitionsforscher können eine Reihe kognitiver Täuschungen benennen, denen selbstverständlich auch die Ärzte unterliegen. Die bisherige Expertenforschung hat sich jedoch überwiegend auf Disziplinen konzentriert, in denen die Probleme wohl definiert und durch systematisches Wissen und logisches Schließen angegangen werden können. Demgegenüber müssen medizinische Spezialisten in der Regel in Situationen mit schlecht definierten Problemlagen agieren. Solche 46 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) Probleme sind nur bedingt durch „deklaratives“, formalisierbares Wissen handhabbar, sie verlangen ein Erfahrungswissen, das sich durch ständige Erfahrungspraxis ausdifferenziert. Dieses Wissen scheint eher prozeduralen Charakter zu haben, und an „illness scripts“ orientiert zu sein. Erfahrene Spezialisten binden ihre Mustererkennung zunehmend an Fallgeschichten, sogenannte Patienten-Scripts an. Ärzten scheint hierdurch eine hoch kontextsensitive Situationseinschätzung zu gelingen, in denen auch psychosoziale Patientencharakteristika in die Behandlungsentsch eidungen mit einfließen. Diese Intuition wird erlernt und scheint seinerseits an den sozialen Handlungskontext der jeweiligen Arbeitswelt angebunden zu sein. Das, was aus kognitionswissenschaftlicher Sicht zunächst als Schwäche erscheint, nämlich dass auf psychischen Systemen beruhende Expertisen nicht unbedingt den Gesetzen deduktiver Logik folgen, zeigt sich in den hyperkomplexen Handlungssystemen eher als Tugend – nämlich als Fähigkeit, auch angesichts unscharfer Problemdefinitionen handeln und agieren zu können. 3. Ärztliches Handeln in sozialen Systemen Wie die vorangegangenen Kapitel aufzeigen, muss die medizinische Handlungssphäre als eine „schlecht definierte Domäne“ angesehen werden. Darüber hinaus ist ärztliches Handeln in eine Vielzahl sozialer und gesellschaftlicher Kontexturen eingebettet - angefangen bei der Arzt-PatientBeziehung bis hin zu den Bedingungen der Organisation eines modernen Gesundheitssystems. Angesichts dieser Voraussetzungen ist zu erwarten, dass gerade die Analyse der sozialen Prozesse einen wichtigen Beitrag leisten kann zu klären, wie ärztliche Entscheidungen unter Realbedingungen ablaufen. Auch wenn die Frage der ärztlichen Entscheidungsprozesse seitens der Medizinsoziologie bisher nicht explizit behandelt wurde, lohnt es sich dennoch, diesbezüglich die mittlerweile wohl als klassisch zu bezeichnenden medizinsoziologischen Studien noch einmal genauer anzuschauen (a). Darüber hinaus scheint es sinnvoll, auf einige der neueren Studien zur Arbeit im Krankenhaus zurückzugreifen. Zu nennen sind hier einerseits die systemtheoretischen Analysen (b) sowie andererseits einige neu0ere, überwiegend auf wissenssoziologischer Basis durchgeführte rekonstruktive Studien. (a) Klassiker krankenhaussoziologischer Forschung Innerhalb der Soziologie besteht gerade auch im Hinblick auf qualitative rekonstruktive Studien eine lange Tradition in der Krankenhausforschung. Zu nennen sind hier zunächst die Arbeiten von Hughes (1957; 1958) und dann Goffmans (1961) bekannte Studie zur sozialen Situation von Patienten in der Psychiatrie, aus der dann schließlich die Konzeption vom Krankenhaus als einer totalen Institution entwickelt wurde. An Goffmans Analysen, wenngleich eher deskriptiv denn normativ gemeint, schlossen sich eine Vielzahl medizinkritischer Arbeiten an (vgl. hierzu besonders Freidson 1975). Als eigentlicher Beginn der modernen Tradition rekonstruktiver Krankenhausforschung muss wohl die Studie „Awareness oft Dying“ von Glaser und Strauss (1974, amerikanische Erstausgabe 1965) genannt werden. Paradigmatisch wurde hier am Beispiel des Umgangs mit dem sterbenden Patienten im Krankenhaus die Konzeption einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung entwickelt („grounded theory“)47. Die Ergebnisse dieser Feldstudie machten deutlich, dass gerade die Frage der so genannten Bewusstheitskontexte, des Wissens darüber, was in Bezug auf den Schweregrad der Krankheit wirklich der Fall 3. Ärztliches Handeln in sozialen Systemen 47 ist, als eine Schlüsselkategorie zum Verständnis der beobachteten Interaktionen angesehen werden muss. Denn es zeigte sich einerseits, dass die Arzt-Patient-Beziehung vielfach durch Täuschungsmanöver und die Versuche, diese zu durchdringen, überlagert wurde, andererseits aber die Patienten an dem Spiel wechselseitiger Täuschung durchaus aktiv beteiligt sein konnten. So entdeckten die Autoren teilweise komplexe Arrangements, in denen sowohl der Patient als auch die Ärzte um die Dramatik der unheilbaren Krankheit wussten, im Alltag aber gemeinsam weiterhin das Spiel der Hoffnung inszenierten. Während die Goffmansche Arbeit eher die Allmacht der Institution Krankenhaus herausstellte und die Selbstinszenierung der Betroffenen als Reflex auf die unvermeidbare Unterwerfung pointierte, verlagerte sich bei Glaser und Strauss die Aufmerksamkeit eher auf die Freiheitsgrade der interaktiven Dynamik. Macht erschien hier nicht mehr als etwas Statisches, sondern wurde selbst zu einem Prozess, der interaktiv hergestellt wird. Auch wenn den Ärzten strukturell ein Machtvorsprung zugestanden wird – dieser besteht allein schon in ihrem Wissensvorsprung –, lassen sich selbst die Verhältnisse in der Psychiatrie auch als eine »negotiated order« beschreiben (Strauss et al. 1963). Die Autoren zeigten auf, dass Entscheidungen über die Intensität der Behandlungen oder der Freiheiten, welche man den Patienten zugesteht, in komplexen, multivariaten Spielen ausgehandelt werden, in denen sowohl Patientenverhalten als auch eine Reihe von Kontextvariablen, wie etwa die kürzlich gemachten Erfahrungen mit ähnlichen Fällen, eine Rolle für die Entscheidungsfindung spielen. Die Ursache einer Entscheidung – und hier auch die Relevanz für meine Studie –, liegt nicht mehr in einer einzelnen Person, sondern im komplexen Interaktionssystem48. In diesem Zusammenhang ist auch die Studie und Monografie mit dem Titel „Medical Work“ zu nennen (Strauss et al. 1997). Die Autoren entfalten hier die Konzeption der durch den Patienten bestimmten Falltrajektorie und der sich hieran lang fädelnden arbeitsteiligen Prozesse. Das moderne Krankenhaus erscheint hier als komplexes, aber klar beschreibbares Interaktionssystem, das nicht mehr nur als Veranstaltung eines einzelnen Arztes, der für den Patienten denkt, handelt und entscheidet, gesehen werden kann, denn eine Vielzahl parallel arbeitende Disziplinen und Personen - darunter auch der Patient selber - tragen durch ihre Arbeit zum Behandlungsgeschehens bei. Als weiterer Klassiker ist hier Strongs Arbeit „The Ceremonial Order of the Clinic“ zu nennen (Strong 2001). Anlehnend an Goffmans Rahmenbegriff werden hier eine Reihe ritueller Formen beschrieben, mit deren Hilfe es gelingt, die Aushandlung von Kompetenzen und institutionellen Arrangements durch organisatorische Routinen abzukürzen. Hierdurch brauchen die grundlegenden „Ordnungen“ des Krankenhauses nicht ständig erneut verhandelt zu werden bzw. sind vor Infragestellung geschützt: Ärzte haben gegenüber den Patienten das Recht, jederzeit einen Rahmenwechsel einzuleiten, ebenso die Vorgesetzten gegenüber ihren Untergebenen. Hierdurch können Themen bestimmt, Kritik kanalisiert und Machtverhältnisse reproduziert werden, wobei je nach Bedarf auf zwei Klassen von Rahmen zurückgegriffen werden kann. Kommunikationen können durch eine bürokratische oder eine private Rahmung kontextualisiert werden49. Für den deutschsprachigen Raum bleibt die 1962 zum ersten Mal veröffentlichte umfassende Monografie „Soziologie des Krankenhauses“ von Rohde (1974) immer noch der zentrale Bezugspunkt der Krankenhaussoziologie, wenngleich das Krankenhaus auch in den 70er Jahren durchaus regelmäßig wieder als Forschungsgegenstand gewählt wurde, dabei jedoch nur einzelne Spezialthemen wie etwa die Visite oder die Patientenzufriedenheit aufgegriffen wurden (vgl. etwa Engelhardt et al. 1983; Kaupen-Haas 1968; Siegrist 1978). Es gelingt jedoch keiner der anschließenden Studien auch nur annähernd, die Dynamik des Krankenhauses theoretisch wie auch empirisch in der von Rohde geleisteten Tiefe zu durchdringen. 48 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) (b) Systemtheoretische Analysen Systemtheoretische Betrachtungen haben schon immer einen wichtigen Beitrag zur Medizinsoziologie geleistet, man denke allein an die Arbeiten von Parsons (1951). Auch im deutschsprachigen Raum finden sich, verbunden mit den Namen Badura und Feuerstein (Badura et al. 1993/1994), eine Reihe für diese Studie relevanter systemtheoretischer Analysen zu den Bedingungen der Arbeit im modernen Krankenhaus und deren Konsequenzen für die Patientenversorgung. Feuerstein beispielsweise beschreibt die arbeitsteiligen Prozesse innerhalb der medizinischen Versorgung im Hinblick auf die Problematik der Schnittstellen im Behandlungsgeschehen (Feuerstein 1994b). Der Leistungsstand der modernen Medizin, so seine Analyse, beruht auf drei Entwicklungen: der Entwicklung medizinischer Techniken, der professionellen Spezialisierung und der institutionellen Ausdifferenzierung des Versorgungssystems. Diese Entwicklungen seien jedoch nicht frei von Ambivalenz, denn sie führen dazu, dass das Behandlungsgeschehen in heterogene Handlungssegmente zerfalle und hierdurch die Ganzheitlichkeit des Versorgungszusammenhangs zunehmend verloren gehe. Wenn »immer mehr Schnittstellen zwischen den beteiligten Akteuren, Techniken und (Teil)Institutionen« entstehen, dann würden die Kommunikations- und Übersetzungsprobleme zwischen den Teilsystemen aus Sicht des »Patienten, zu Brüchen im Behandlungsablauf und, aus der Perspektive des medizinischen Systems, zu dysfunktionalen Leistungsstrukturen und Kooperationsbeziehungen« führen (Feuerstein 1993: 43). Eine besondere Stellung in diesen Prozessen habe die Technik inne, denn diese erzeuge ein besonderes Schnittstellenproblem: der »Patient als psychosoziales Wesen rückt aus dem Blickfeld« (ders. 45). Um dieses Phänomen begreifen und ggf. steuernd intervenieren zu können, müssten in einer Schnittstellenanalyse die Verbindungen von »Mensch/Technik, Technik/Technik, Mensch/Mensch, Technik/Institution, Mensch/Institution, Institution/Institution« bzw. ihre Kompatibilitätsprobleme verstanden werden« (ders. 50)50. Jeder Teilbereich folge dabei einer eigenen Gesetzlichkeit, die »in sich selber strukturbildend geworden« sei »und im Behandlungsgeschehen konfliktär aufeinander« treffe (ders.: 54). Feuersteins Verdienste liegen darin, einerseits die ambivalente Rolle der Technik zu pointieren (vgl. auch Feuerstein 1994a; 1994c), andererseits die Systemrationalitäten eines hochgradig ausdifferenzierten Medizinsystems herauszuarbeiten. Zu dem letzteren Problemkomplex sei hier besonders auf seine Studien zum Transplantationssystem verwiesen (Feuerstein 1995): Erst die arbeitsteilige Aufteilung von Verantwortlichkeiten in für sich unbedenkliche Teilschritte erlaubt die Entfaltung eines medizinischen Subsystems, das die prekäre Aufgabe hat, lebende Tote zu definieren und zu verarbeiten. Das ganze Spektrum der damit verbundenen ethischen und moralischen Paradoxien wird dabei in geschickter Weise innersystemisch entfaltet, indem es in einzelne Arbeitsschritte taylorisiert wird, die jedem einzelnen Akteur nur einen Bruchteil des Gesamtprozesses zumuten: die Hirntoddiagnostik mehreren neurologischen Experten, die Angehörigengespräche den Psychologen, die Lebenserhaltung des zu verwertenden Körpers den Internisten und Anästhesisten, die Kette der Organentnahmen verteilt auf verschiedene Chirurgenteams, die Spenderorgane vermittelt über ein internationales Informationssystem, ganz zu schweigen von den hochkomplexen Implantationsprozeduren und der psychischen und medizinischen Nachbetreuung der Patienten, welche oftmals mit dramatischen immunologischen und seelischen Reaktionen auf die Fremdorgane reagieren (vgl. auch Baureithel/Bergmann 1999). Aus entscheidungstheoretischer Sicht erscheinen diese Prozesse besonders deshalb interessant, weil die moralische Dimension der Transplantationsentscheidungen dadurch getilgt wird, dass die jeweiligen Einzelereignisse in sich als rationale und deshalb unhinterfragbare 3. Ärztliches Handeln in sozialen Systemen 49 Routinearbeiten erscheinen. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen, der Gesamtrationalität und den sich hiermit ergebenden ethisch moralischen Bedenken stellt sich hier gar nicht mehr, denn das „Transplantationssystem“ funktioniert und entwickelt - mittlerweile auf internationaler Ebene organisiert - als quasi industrieller Komplex eine Eigendynamik, deren Logik sich die beteiligten Akteure nur noch schwer entziehen können. In diesem Sinne kann man dieses „System“ durchaus als paradigmatisches Beispiel für einen hochtechnisierten und arbeitsteilig ausdifferenzierten Medizinbetrieb verstehen, der in vielen Bereichen eine ähnliche Eigenlogik zeigt, etwa in der Intensivmedizin und der klinischen Kardiologie (vgl. hierzu Badura et al. 1993). Prinzipiell wirft die Systemtheorie eine Reihe weiterer interessanter Fragen für die medizinsoziologische Forschung auf (vgl. auch Kapitel IV.6.), die bisher weder theoretisch noch empirisch in angemessener Weise angegangen worden sind. Erwähnenswert sind hier etwa Stichwehs (198751) professionstheoretische Überlegungen, die Untersuchung der Bedeutung des medizinischen Code52 für die Selektivität medizinischer Handlungen und Entscheidungen, der Umgang mit dem Problem der Hyperkomplexität medizinischen Wissens und den hieraus resultierenden Zwängen zur Systemreduktion. Man könnte etwa im Sinne von Lachenmann (1994) fragen, ob nicht in medizinischen Kontexten systematisch auch »Systeme des Nichtwissens« erzeugt werden müssen, allein schon, um handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben. Oder inwieweit die »Spannung zwischen Sicherheit und Unsicherheit, Wissen und Nicht-Wissen, Anwesenheit und Abwesenheit« mittels einer Wissensinzenierung zugunsten verarbeitbaren, gezähmten, bekannten Wissens geschwächt« werden muss (Kiener und Schanne 1999: 454). (c) Aktuelle rekonstruktive Arbeiten Das Krankenhaus ist ein ergiebiger Forschungsgegenstand, in dem eine Vielzahl sozialer Phänomene beobachtet und untersucht werden können - etwa die in dieser Institution anzutreffenden Geschlechter- und Machtverhältnisse, die Arzt-Patient-Beziehung, die Beziehung zwischen den Professionen, die Selbstinszenierung der Medizin, die Bedeutung von Ritualen sowie eine Reihe anderer soziologischer und anthropologischer Fragestellungen. Dennoch muss man wohl Atkinson recht geben, wenn er beklagt, dass man sich mit allem möglichen beschäftigen würde, nur eben nicht mit der Konfiguration des professionellen Wissens (Atkinson 1995: 25). Die eigentliche Denk- und Erlebniswelt der Ärzte bleibt von den sozialwissenschaftlichen Disziplinen mit Ausnahme der Kulturanthropologie53 eigentümlich unterbelichtet. Die Gründe für das mangelnde Interesse mögen vielleicht auch darin liegen, dass die Medizinsoziologie und medizinische Psychologie sich durch ihre große Nähe zu den medizinischen Fakultäten allzu leicht den »taken-for-granted contrast between the cultural and the natural« (Atkinson, 1995: 35) zu eigen gemacht hat und sich eher für das erstere zuständig fühlte, während den biologischen Aspekten der Medizin (»by default«) eine weit gehend unhinterfragbare technisch-wissenschaftliche Einheit zugesprochen wurde (Atkinson, 1995: 27). Die Medizin erschien in ihrer Praxis zwar oftmals als technokratisch, fragmentierend, vom Menschlichen wegführend - ihre inhaltliche Dimension als Wahrheit schien aber trotz alledem nicht mehr weiter thematisiert werden zu müssen54. Nur wenige soziologische Studien fokussieren die wissenssoziologische Dimension medizinischen Handelns und wagen einen Blick hinter das naturwissenschaftliche Weltbild55: Cicourel etwa arbeitet die Bedeutung der Handlungskontexte für das Verständnis sprachlicher Äußerungen von Ärzten heraus und macht dabei deutlich, dass diese Rahmen örtlich begrenzt kommunikativ immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Sprache, Denken und andere 50 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) soziale Praktiken würden Hand in Hand mit den jeweiligen Handlungskontexten gehen (Cicourel 1987a/b). Insbesondere die Frage, wem man vertrauen könne, gewinnt dabei eine wichtige Rolle für die ärztliche Entscheidungsfindung (Cicourel 1990). Da viele medizinische Sachverhalte der Interpretation durch einen Experten bedürfen, die Sachlage also keinesfalls evident auf der Hand liegt, seien die Ärzte darauf angewiesen, die sich hieraus ergebenden Unsicherheiten durch Vertrauen zu absorbieren. Innerhalb ärztlicher Teams würden Muster wechselseitiger Glaubwür digkeitseinschätzungen entstehen. Abhängig von Status und zugeschriebener Kompetenz werde einzelnen Personen eine hohe Glaubwürdigkeit – beispielsweise in diagnostischen Fragen – zugeschrieben. Ärzte könnten sich also in der Beurteilung nicht nur auf die reinen medizinischen Fakten berufen, sondern müssten zugleich auch einschätzen, wer diese Fakten produziert habe. Atkinson (1995) untersucht die Arbeit von Hämatologen und stellt fest, dass sich deren Handeln und Entscheiden nicht unter dem Blickwinkel einer Mikrosoziologie individueller Akteure verstehen lasse, sondern nur als lokale Manifestation sozialer Organisationen verstanden werden könne. In einem hochgradig arbeitsteiligen Prozess erzeuge jeder Spezialist einen bestimmten Blick auf das Phänomen der Krankheit. Der Körper werde dabei in der Regel in Abwesenheit des Patienten „gelesen“ und interpretiert. Dieser sei dabei schon längst über Bilder, Befunde und Laborberichte in Zeichen und Repräsentationen transformiert. Die modernen diagnostischen Verfahren lieferten jedoch keineswegs selbstevidente Ergebnisse, sondern verlangten ihrerseits Experten, die durch Erfahrung darin sozialisiert sind, wie man zu sehen und wonach man zu schauen habe. Erst aus dieser Vielzahl von Daten und deren Interpretationen werde schließlich der Fall rekonstruiert. Dies geschehe – wie Atkinson beschreibt – in Form medizinischer Narrative. Diese haben eine besondere Erzählform, seien in nüchterner depersonalisierter und rationaler Form gehalten und zeigten eine in sich logisch konsistente Form, wenngleich sie aus unscharfen, sich teils widersprechenden Einzelbefunden komponiert worden seien. Die Krankengeschichte werde dabei letztlich in Form einer einheitlichen Gestalt präsentiert und zu einer schlüssigen „Story“ verknüpft. Fallvorstellungen würden in der Regel mit einer kurzen Einführung zu Patient und Krankengeschichte beginnen, dann folge eine ausführlichere Erörterung des aktuellen Problems, anschließend die Benennung einiger Differenzialdiagnosen und darauf schließlich würde verwiesen, was nun an weiterführender Diagnostik bzw. Therapie zu tun sei. Das Präsentationsformat würde zwar vorstrukturierenden ritualisierten Formen folgen, erlaube jedoch in der jeweiligen Darstellung erhebliche Feinmodulationen. Erfahrene Ärzte würden die von ihnen benannten Informationen – etwa zu einer Diagnose oder einem Therapievorschlag – durch subtile Relevanzhinweise einklammern. Dies geschehe beispielsweise, indem vermerkt würde, wer die Befundung durchgeführt habe, und von wem der Therapievorschlag komme. Hierdurch würden die einzelnen Informationen eine Gewichtung bekommen im Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit - was ein Chefarzt oder anerkannter Experte gesagt habe, werde besonders ernst genommen, während die Patientenaussagen an der untersten Stelle der Bedeutungshierarchie stehen würden, was dann auch zusätzlich sprachlich durch die Verwendung von Konjunktivformen ausgedrückt werde. In einer Fallschilderung werde also unter den Ärzten auch das Wissen über die jeweiligen Relevanzstrukturen geteilt. Hierdurch entstehe dann im Team ein komplexes Informationsnetzwerk, aus dem sich dann eine deutliche Handlungsorientierung herausbilden könne. Ärzte würden dabei hochgradig sensitiv im Hinblick auf den jeweiligen Kontext, in dem sie sich aktuell befinden, agieren. Je nachdem, ob man gerade mit einem Patienten oder seinen Angehörigen spreche, in einem formellen Gremium einen Fall präsentiere, sich informell mit einem Kollegen über einen Patienten austausche oder gar in einem wissenschaftlichen Zusammenhang vortrage, würden die Dinge anders gewichtet und in 3. Ärztliches Handeln in sozialen Systemen 51 unterschiedlicher Form und in verschiedenen Graden von Sicherheit und Evidenz präsentiert. Ärzte würden in vielen unterschiedlichen, in ihrer Semantik teils inkompatiblen Welten agieren. Der Wechsel zwischen den jeweiligen „Formaten“ gelinge erfahrenen Ärzten jedoch nahezu laut- und bruchlos. Darüber hinaus kommt Atkinson in seinen Analysen zu dem Schluss, dass entgegen dem Wunsch von Bursztajn et al. (1990) in Medizinerkreisen auch heute keinesfalls auf Grundlage von Wahrscheinlichkeiten gerechnet oder gar entschieden werde, sondern der einzelne Arzt stattdessen weiterhin einem „mechanistischen Paradigma“ folge und entsprechend einer praktisch-positivistischen Logik handeln würde. Berg (1992, 1996) weist in seinen Untersuchungen zur ärztlichen Arbeit auf die Bedeutung der Patientenakte hin. Insbesondere die ärztlichen Schreibtätigkeiten würden das Fallprozedere und damit auch die Entscheidungsfindung erheblich vorstrukturieren. Es zeige sich, dass die Aktenarbeit in der Regel dem Arzt-Patient-Gespräch vorgelagert sei. Entsprechend dürfe nun das ärztliche Entscheiden nicht mehr nur als mentaler Vorgang eines individuellen Arztes begriffen werden, sondern müsse als ein durch die Patientenakte und die Stationsroutinen gebahnter Behandlungsprozess verstanden werden. Das Denken und Handeln der Ärzte könne nur aus dieser sozialen Eingebundenheit heraus verstanden werden. Die Herstellung der Akte zeigt sich jedoch bei Berg ihrerseits selbst als ein aktiver, konstruktiver Prozess, denn unpassende Informationen müssten aussortiert werden und es müsse eine Hierarchie zwischen Wichtigem und Unwichtigem gebildet werden. Auch widersprüchliche Befunde würden schließlich im Arztbrief zu einer konsistenten Geschichte zusammengefasst werden, in der dann das bisher Geschehene post hoc Sinn ergebe. Die Patientenakte strukturiere einerseits ärztliches Handeln, andererseits sei sie selbst Artefakt des ärztlichen Handelns56. Zu den Studien aus dem deutschsprachigen Raum ist hier die Arbeit des Klinikseelsorgers und Psychologen Wettreck (1999) zu nennen. Anhand von Beobachtungsprotokollen und Interviews mit Ärzten versucht der Autor, eine umfassende Beschreibung der Bedingungen ärztlichen professionellen Handelns an der Grenze von Tod und Sterben zu leisten. Die leitenden Kategorien seiner Analyse stellen dabei der „medizinische Blick“ und der „ärztliche Blick“ dar. Der „medizinische Blick“ bezeichnet in Anlehnung an Foucault (1988) das in »unserer Gesellschaft vorherrschende – technologisch-wissenschaftliche, institutionelle, anthropologisch-ideologische – Gesamt medizinischer Perspektivierung«. Der zu behandelnde Mensch werde in der »normativen Grundhaltung« der »Medizinität« als Körper objektiviert. Subjektives oder Intersubjektives würde hier zugunsten naturwissenschaftlicher Rationalitäten getilgt (ders.: 9). Demgegenüber meint der „ärztliche Blick“ in Rekurs auf die traditionellen ärztlichen Tugenden eine Grundorientierung, in dem der »biotechnologisch erhobene Krankheitsstatus und die daraus abzuleitenden, medizinisch normierten Handlungsstandards idealtypisch mit dem wahrgenommenen Wertsystem und Sinn-Erleben, dem Lebens-Umfeld und Lebensverlauf des Patienten« und des behandelnden Arztes in Beziehung gesetzt werden (ders.: 9). Wettreck zeigt auf, dass die biomedizinischen Handlungs- und Bewertungsschemata selbst eine Vielzahl von Glaubenssätzen beinhalten und dabei gar eine eigene »Spiritualität«, nämlich den »biomedizinischen Vitalismus« konstituieren (ders.: 56). Die gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen des Medizinsystems lägen dabei insbesondere in einem »Überlebens- und Leidens-Ideal« (ders.: 47) und der hieraus resultierenden »Kampf-Kultur« (S. 53). Auf der Grundlage dieser gesellschaftlichen und sozialisatorischen Bedingungen versucht Wettreck nun die spezifische Behandlungs- und Entscheidungslogik des medizinischen Blicks heraus zu arbeiten. Standardisierung und Routinisierung, Prozesse der »Verantwortungs-Diffusion«, rituelle Formen der »Fehler-Regulation« (ders.: 90) und nicht zuletzt die systemische Vermeidung von kritischer, d.h. potenziell belastender Reflexivität wür- 52 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) den einen medizinischen Handlungsraum gestalten, in dem der einzelne Arzt dann vermeintlich rational und neutral agieren könne. Wettreck entfaltet seine Thesen insbesondere anhand der Analyse der Übergänge von »kurativer Phase« zur »Palliation« und dem Management sterbender Patienten. Wenngleich in manchen Interpretationen sein theologischer Bias unübersehbar ist – für den Soziologen scheinen etwa die rituellen Formen während der Visite weniger als Schuldbearbeitung im Anbetracht der latenten Todessemantik denn als funktionale Lösung, die impliziten Machtverhältnisse nicht immer wieder erneut aushandeln zu müssen –, bleibt sein Werk im Hinblick auf Umfang und theoretischer Durchdringung des empirischen Materials im deutschsprachigen Raum bisher konkurrenzlos und liefert in diesem Sinne auch für die vorliegende Arbeit wichtige Hinweise sowie einige komplementäre Kontraste. Als weitere jüngere Arbeit zu den Verhältnissen in einem bundesdeutschen Krankenhaus ist hier abschließend noch die Arbeit von Wallenczus (1998) zu nennen. Unter Zuhilfenahme der Bourdieuschen Kategorien von Feld und Habitus zeigt die Autorin anhand von Feldbeobachtungen im Praxisalltag einer Kinderklinik auf, dass “Zeit haben“ und über Zeit bestimmen zu können, ein wesentliches Merkmal der impliziten Machtverhältnisse des medizinischen Feldes darstellt. (d) Resümee Die Soziologie kann mittlerweile auf eine lange Tradition sowie auf eine Vielzahl von rekonstruktiven Studien zum Krankenhaus zurückblicken. Im Hinblick auf die organisatorischen und sozialen Bedingungen der ärztlichen Entscheidungsprozesse bleibt jedoch eine Forschungslücke. Einige der neueren Arbeiten weisen darauf hin, dass die Bedingungen ärztlichen Entscheidens nicht (nur) im einzelnen Individuum lokalisiert werden können, sondern wesentlich durch soziale, organisatorische und gesellschaftliche Bedingungen gebahnt und ausgestaltet werden. 4. Zusammenfassung, zugleich Reformulierung der Ausgangsfrage − Selbst wenn man Ärzte nur als zweckrationale Akteure ansehen würde, die ihr Handeln nur am gesundheitlichen Wohle des ihnen anvertrauten Patienten ausrichten, ist die Frage der richtigen therapeutischen und diagnostischen Entscheidung keinesfalls ein triviales Problem. Viele Entscheidungen müssen auf der Basis von Ungewissheiten getroffen werden: Der Handlungsdruck der Praxis verlangt von den Ärzten auch unter suboptimalem Informationsstand, eine Entscheidung zu treffen. Zudem stellt sich die medizinische Wissensbasis selbst hyperkomplex und uneinheitlich dar. Die Logik der Einzelfallrekonst ruktion, die dem Gesetz der großen Zahlen folgende Epidemiologie und das physikalischbiochemische Kausaldenken führen oft zu unterschiedlichen Schlüssen auf das, was aus medizinischer Sicht angemessen zu tun sei. Der Wissensstand der einzelnen Fachdisziplinen ist selbst für den Experten kaum noch zu durchschauen. In diesem Sinne ist ein brauchbares Anwendungswissen für den Praktiker oftmals nur schwer zu extrahieren. − Verkompliziert wird die Situation noch dadurch, dass der Arzt nicht nur den Körper des Patienten, sondern auch dessen „Bewusstsein“ gegenüber hat. Patientenbedürfnisse, selbst wenn diese den Vorstellungen des Mediziners widersprechen mögen, müssen von diesem in gewissem Rahmen ernst genommen und in die Behandlungsentscheidung mit einbezogen 3. Ärztliches Handeln in sozialen Systemen 53 werden. Darüber hinaus bestehen für den Arzt auch Zielkonflikte in Hinblick auf ökonomische bzw. organisatorische Interessen, sowie der Notwendigkeit, sich rechtlich abzusichern. Das, was ökonomisch Sinn macht und juristisch gefordert ist, ist aus ärztlicher Sicht jedoch nicht immer das Beste für den Patienten. Auch hier ergeben sich potenziell Entscheidungskonflikte. − Die richtigen bzw. angemessenen Zweck-Mittel-Relationen sind also für viele medizinische Entscheidungen alles andere als eindeutig festgelegt. Selbst wenn man annehmen würde, dass ein Arzt rational in voller Bewusstheit aller Konsequenzen handelt, stellt sich die Entscheidungslage für ihn oftmals als ein hyperkomplexes Problem dar. − Menschen denken und handeln nicht entsprechend formaler deduktiver Logik. Sie agieren vielmehr hochgradig kontextsensitiv. Entsprechend dem Paradigma des neurobiologischen Konstruktivismus ist von einer Einheit von Erkennen und Handeln auszugehen. Insbesondere in den schlecht definierten medizinischen Wissensdomänen tritt das formale deklarative Wissen gegenüber dem tief in die Handlungspraxis eingelassenen prozeduralen Wissen in den Hintergrund. − Auch wenn aus der Perspektive der Logik Gehirne eine Reihe von typischen „Denkfehlern“ machen, so zeigt sich die eigentliche Kompetenz von Experten weniger in der Einhaltung der formal logischen Gesetze, denn in einer dem Novizen überlegenen Fähigkeit zur Mustererkennung. Spitzenexperten bilden flexible und dynamisch in Beziehung setzbare semantische Einheiten, die dann über fallbezogene Skripte an einen konkreten Patienten angebunden werden. Erfahrene Ärzte scheinen hierdurch eine hoch kontextsensitive Patienteneinschätzung zu gewinnen, in der auch psychosoziale Faktoren in die Behandlungsentscheidung mit einfließen. Diese „Intuition“ wird erlernt und scheint seinerseits an den sozialen Handlungskontext der jeweiligen Arbeitswelt gekoppelt zu sein. − Das, was aus kognitionswissenschaftlicher Sicht zunächst als Schwäche erschien - die „Fehler“ im logischen Denken eines Menschen -, scheint sich in den hyperkomplexen Handlungssystemen eher als eine Tugend zu zeigen, nämlich als Fähigkeit, angesichts unscharfer Problemdefinitionen schnell und sicher zu einer Handlungsorientierung zu gelangen. − Ärztliches Handeln – dies zeigt die mittlerweile lange Tradition krankenhaussoziologischer Forschung – kann nur als kollektives, hochgradig arbeitsteiliges Phänomen verstanden werden. Innerhalb der Organisation Krankenhaus bestehen eine Reihe mehr oder weniger formalisierter Handlungsroutinen, die Entscheidungsprozesse bahnen und vorstrukturieren. Schwierige und prekäre Entscheidungsprozesse können in Einzelschritte „taylorisiert“ und hierdurch in Routinen verwandelt werden. Der medizinische Blick, die Kunst, Patientendaten und Bilder „richtig“ zu interpretieren, muss seinerseits erst durch „Sozialisation“ gelernt werden. Erst durch Erfahrung und Zurechtweisung durch erfahrene Kollegen kann erlernt werden, wie man zu schauen hat. − Die Hyperkomplexität medizinisch-ärztlicher Fragestellungen, das Eingebettsein in verschiedene soziale und ökonomische Kontexturen verlangen nach praktikablen Lösungen für die Praxis, die nur in sozialer Praxis hergestellt und erfunden werden können. Denn hier müssen unter Voraussetzungen des Nichtwissens und der Unsicherheit eine Vielzahl von Ziel- bzw. Zweck-Mittel-Konflikten balanciert werden. Was zu tun ist, liegt nicht mehr aus logisch zwingenden Gründen auf der Hand – entsprechend kann die Handlungssicherheit nur im sozialen Prozess hergestellt werden. 54 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) − Die Frage „wie entscheiden Ärzte“ gewinnt nun einen immanent soziologischen Charakter: Anstelle auf den immanenten Sinn einer Entscheidung oder den kognitiven Prozess des Entscheidens zu schauen, tritt nun die soziale Konstruktion von Entscheidungen in den Vordergrund. Frei nach Heinz von Foersters muss nun gefragt werden, wie prinzipiell unentscheidbare Entscheidungen aus dem Chaos der Kontingenz in Kultur überführt werden können. In diesem Sinne fokussiert diese Studie auf die Fragen, wie ärztliche Entscheidungen in einem sozialen System hergestellt, vermieden und prozessiert werden. Anmerkungen Lorenz weist darauf hin, dass die gleichen Wissenschaftler, die damals die Society of Medical Decision Analysis gründeten, heute Herausgeber des einflussreichen New England Journal of Medicine und des Journal of American Medical Association (JAMA) sind (Lorenz 1997: 62). 2 Siminhoff und Fetting (1989) stellen in ihrer Studie etwa fest, dass Ärzte im Falle der Nachbehandlung bei Brustkrebs die zu erwartende Lebensperspektive der Patienten eher nicht in die Behandlungsentscheidung mit einbeziehen, das heißt, alle Patienten gleich behandeln, während die Patienten demgegenüber für sich eher eine Risikoabwägung leisten und entsprechend aggressivere bzw. weniger aggressive Therapien präferieren. 3 Volkert (1998) geht im Deutschen Ärzteblatt davon aus, dass nur 10-20 Prozent aller ärztlich verordneten Therapien auf harten wissenschaftlichen Daten fußen. 4 »Variations in use cannot be explained by negligence, ignorance, or malfeasance on the part of the physician. Rather, there are myriad factors behind every medical decision, not the least of which is the physicianʼs striving to fulfill the physiological and psychological needs of the individual patient who has come for help. [...] As the investigators point out, social and cultural differences, regional differences in disease incidence, and referral threshold and referral patterns must be examined more closely. Additionally, the possibility of inappropriate under utilization, a somewhat anomalous but increasingly salient concept in this area of cost containment, must be considered more scientifically« (Dawson 1987: 2570). 5 Die Kritik, dass ein Zuviel an Medizin schadet, war bislang eher von außermedizinischer Seite zu hören. Insbesondere mit Ivan Illichs „Nemesis der Medizin“ bekam die These der Iatrogenese Namen und Gestalt (Illich 1995). 6 Bock fasst die Diskussion resümierend zusammen: »Und wenn jetzt an 6.800 Patienten gezeigt worden sein soll, dass Digitalis keinen Überlebensvorteil bringe, so ist diese Aussage in dieser allgemeinen Form unzutreffend: Bei den genannten schweren, vermutlich auch bei nicht ganz so schweren Fällen hat Digitalis zweifellos gegenüber der Nichtbehandlung das Leben verlängert. Dass dies bei leichteren Fällen, die heute vielfach überhaupt nur mit apparativen Methoden erfasst werden, anders sein könnte, steht auf einem anderen Blatt, auch dass Digitalis u.a. wegen seiner geringen therapeutischen Breite durch andere wirksame Substanzen teilweise ersetzt werden könnte« (Bock 2001: 302-303). 7 Hinzu kommen die grundsätzlichen Probleme nutzentheoretischer Überlegungen. Versuche, über healthy-years equivalents und quality-adjusted life years (Mehrez et al. 1993) ökonomisch handhabbare Kosten-Nutzen-Kalküle zu etablieren, lösen nicht das generelle Problem der Willkür der Zielkriterien, die diesen Berechungen zugrunde liegen. Entsprechend entfalten diese Überlegungen nur weitere Paradoxien. S. hierzu auch Feuerstein (1998). 8 Linde et al. (1997: 834) kommen in Lancet nach einer Review von 107 kontrollierten Studien zu folgendem Schluss: »The results of our meta-analysis are not compatible with the hypothesis that the clinical effects of homoeopathy are completely due to placebo«. Taylor et al. (2000) kommen im British Medical Journal zum selben Ergebnis. 9 Auch hier schließen die Reviewer mit einem tendenziell positiven Ergebnis zu Gunsten der homöopathischen Intervention: »Oscillococcinum probably reduces the duration of illness in patients presenting with influenza symptoms [...]« (Vickers/Smith 2001). 10 Schuck et al. (2001) müssen diesbezüglich im Deutschen Ärzteblatt anerkennen: »Eigentlich befinden sich die Homöopathen in einer für viele beneidenswerten Position: [...] Ihr Ansinnen könnte sich zumindest formal auf eine empirische Wirksamkeitsevidenz berufen, von der viele andere in der Schulmedizin angewandte „einfache“ oder ihr oft viel näher stehende komplexe Therapieformen, wie zum Beispiel die Kur oder die Rehabilitation, nur träumen können, die aber (noch) im Erstattungssystem sind«. 11 Zur Zeit werden in einer Anzahl von Modellversuchen evaluatorische Daten zu heterodoxen medizinischen Verfahren erhoben (vgl. Gibis et al. 2001). Zu Einwänden gegen den Sinn der biostatistischen Überprüfung s. auch den Beitrag von Ivanovas (2001). 1 Anmerkungen 55 Innermedizinisch wird bisher kaum zur Kenntnis genommen, dass medizinisches Wissen auch ein konstruiertes Wissen darstellt. Als bekannte Ausnahme ist hier natürlich Ludwig Fleck (1980) zu nennen. 13 Um mit Luhmann zu sprechen: »All das führt zu der Schlußfolgerung, daß die Wissenschaft zwar heute mehr denn je ein Monopol auf ihre Funktion geltend machen kann. Sie ist durch kein anderes Funktionssystem ersetzbar. Es gibt keine anderen Adressen für gesichteres Wissen. Aber eben das muß die Wissenschaft mit erhöhter (aber reflektierter und weder skeptizistischer noch subjektizistischer) Unsicherheit, mit Polykontexturalität, mit komplexen und dezentrierten Beobachtungsverhältnissen bezahlen. Sie kann auf Anfragen nicht mehr antworten: so ist es, so macht es! Sie kann sich daher auch nicht mehr schlicht als Vertreterin des Fortschritts präsentieren. Sie kann nicht im Namen des Richtigen und Vernünftigen verlangen, daß ihr Wissen übernommen und angewandt wird. Und sie hält trotzdem ihr Funktionsmonopol« (Luhmann 1998b: 634). 14 Medizingeschichtlich ist die Beteiligung des Patienten an ärztlichen Entscheidungen ein relativ neues Phänomen. Erst aufgrund der Vergehen der deutschen Ärzte im Nationalsozialismus und der Aufarbeitung dieser in den Nürnberger Prozessen wurde der „informed consent“ auf die Agenda des ärztlichen Kodex geschrieben. Zuvor war es selbst bei medizinischen Versuchen kaum üblich, die Betroffenen hierüber zu informieren (vgl. Vollmann et al. 1996). 15 Das HTA kombiniert evidence based medicine (EBM) mit einer ökonomischen Kosten/Nutzen-Abwägung und ermöglicht über das Sozialrecht die umfassende ökonomische Steuerung des Gesundheitssystems, indem etwa therapeutische und diagnostische Maßnahmen, denen EBM nur fragliche Wirksamkeit zuweist, aus der solidargemeinschaftlichen Finanzierung ausgeschlossen werden. 16 Mit der Entwicklung der Gesundheitswissenschaften („Public Health“) in den 80er Jahren konkurrieren nun zwei akademische Professionen um die Position der Experten, welche über Belange der Gesundheitsversorgung entscheiden dürfen. Dies führt zwangsläufig zu Konflikten, da die einen auf individuelle Diagnose und Behandlungsprozeduren, die anderen auf die gesellschaftlichen, insbesondere auch ökonomischen Dimensionen der Gesundheitsversorgung fokussieren (Hafferty/Light 1995: 138). Auch wenn sich die neuen Funktionseliten oftmals selbst aus der Ärzteschaft rekrutieren, heben sich diese in der Regel relativ schnell von dem gemeinen Klinikarzt ab, deprofessionalisieren gewissermaßen und verfolgen ihre neuen Gruppeninteressen, wie die Untersuchungen von Montgomery (1990, 1992) aufzeigen. Ganz im Sinne von Bourdieus Feldtheorie agieren sie als Positionsinhaber und nicht entsprechend ihrer früheren ärztlichen Identität. Da aus dieser Position die Politik näher liegt als die Medizin, wird vieles, was unter dem Namen Qualitätssicherung läuft, äußerst anfällig für ökonomische und politische Interessen (s. a. Hafferty/Light 1995: 143ff.). 17 Auch wenn in Einzelfällen durchaus mal auf Lebensverlängerung verzichtet wird, stellt die Therapiemaximierung doch für die medizinische Standardkultur das Leitparadigma dar. Die systematische Ausnahme von der Regel stellen bewusste Gegenkulturen wie etwa die anthroposophische oder die Palliativmedizin dar (s. hierzu auch Wettreck 1999). 18 Stichwehs professionstheoretischen Überlegungen folgend wäre die Ärzteschaft weniger stark ökonomisch korrumpierbar als die neuen gesundheitswissenschaftlichen Eliten. Denn während die Medizin mit dem Arztberuf über einen ureigenen Tätigkeitsbereich verfügt, können diese als Disziplin nur wachsen, wenn es ihr gelingt, im Sinne einer sekundären Professionalisierung neue Berufsfelder zu erschließen, die in der Regel jedoch ihre Basis nur in den politischen und ökonomischen Feldern finden können, etwa bei den Versicherungsträgern (Stichweh 1987: 254 ff.). 19 Insbesondere die jeweiligen Modalitäten, wie Versorgungsleistungen abgerechnet werden können spielen hier eine bedeutende Rolle. So ist zu erwarten, dass Umstellung der Krankenhausfinanzierung auf ein so genanntes „Diagnose Related Groups (DRG)” basiertes Fallpauschalensystem erheblichen Einfluss auf die Strukturierung des Angebots der medizinischen Dienstleistungen haben wird (vgl. auch Simon 2000). 20 Zu Falldiskussionen aus rechtlicher, ethischer und medizinischer Sicht vgl. Troschke/Schmidt (1983). Zur ausführlichen Einführung in die rechtlichen Grundlagen des ärztlichen Berufsrecht s. Francke (1994). 21 Der Medizinrechtler Peters stellt in einer Untersuchung zu Verfahren gegen Ärzte im Raum Düsseldorf im Zeitraum von 1992-1996 fest: »Von einem Boom der Arztstrafverfahren kann folglich in Düsseldorf keinesfalls gesprochen werden. Es ist jedoch festzustellen, dass innerhalb des Untersuchungszeitraums von viereinhalb Jahren im Durchschnitt gegen jeden 15. tätigen Arzt ein Ermittlungsverfahren anhängig war. Damit mußte nicht eine psychische Belastung des Beschuldigten verbunden sein, denn nur 40% erhielten im Verlauf des Verfahrens eine polizeiliche Vorladung. 60% der betroffenen Ärzte hatten dagegen keinerlei Kenntnis von dem Ermittlungsverfahren, das nach einer erneuten Vernehmung der Zeugen eingestellt wurde« (Peters 2002: 230). 22 In diesem Sinne stellt auch Wettreck aufgrund seiner Beobachtungen des Klinikalltages fest: »Im Zuge medizinischer Vigilanz existiert ein Vorwarnsystem zur Vermeidung problematischer Arzt-Patient-Konstellationen, das auch kollegial untereinander unterstützt wird. (Dies betrifft „schwierige“ Patienten vielfältiger Couleur). Wesentliches Moment der ArztPatient-Beziehung ist dabei ärztlicherseits auch das mögliche juristische Bedrohungspotential eines Patienten. Juristische Absicherungs-Techniken sind standardmäßig: Absicherung durch juristisch wirksame Formulare und Aktenführungen (Aufklärungsbögen, Aktennotizen zur Absicherung gegen spätere, verfälschende Darstellungen, Protokollierung standardmäßiger Verfahrens-Schritte, Besonderheiten und Absprachen, etc.). Die fortschreitende Juridifizierung der Medizin ist dabei ein vielbeklagtes und gefürchtetes, als „Amerikanisierung“ denunziertes Phänomen: De facto stehen juristische 12 56 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) Drohungen zumeist als Schimäre im Hintergrund und sind keinesfalls so häufig wie im medizinischen Alltag erwähnt. Im medizinischen „Meister-Status“ wird Angst vor juristischen Schwierigkeiten selten erwähnt« (Wettreck 1999: 69). 23 Dieser Verdacht wird besonders durch die nichtöffentlichen Verfahren der Konsensusfindung genährt, in denen dann prekäre gesundheitspolitische Entscheidungen an vermeintlich unpolitische, jedoch außerordentlich machtvolle Gremien delegiert werden. So kann etwa der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (BÄK) im „stillen Kämmerlein“ und fernab der öffentlichen (partei-)politischen Diskurse weit reichende Entscheidungen zur Rationierung von Gesundheitsleistungen treffen. Der durch »ökonomische Interessen überdeterminierte Aushandlungsprozess des BÄK« wird hier gerade dadurch verschleiert, indem er »„auf das Trivialpostulat“ [...] einer wissenschaftlich fundierten Medizin“ reduziert wird« (Urban 2001: 66). 24 Mit der Entwicklung der Gesundheitswissenschaften („Public Health“) in den 80er Jahren konkurrieren nun zwei akademische Professionen um die Position der Experten, welche über Belange der Gesundheitsversorgung entscheiden dürfen. Dies führt zwangsläufig zu Konflikten, da die einen auf individuelle Diagnose und Behandlungsprozeduren, die anderen auf die gesellschaftlichen, insbesondere auch ökonomischen Dimensionen der Gesundheitsversorgung fokussieren (Hafferty/Light 1995: 138). Auch wenn sich die neuen Funktionseliten oftmals selbst aus der Ärzteschaft rekrutieren, heben sich diese in der Regel relativ schnell von dem gemeinen Klinikarzt ab, deprofessionalisieren gewissermaßen und verfolgen ihre neuen Gruppeninteressen, wie die Untersuchungen von Montgomery (1990, 1992) aufzeigen. Ganz im Sinne von Bourdieus Feldtheorie agieren sie als Positionsinhaber und nicht entsprechend ihrer früheren ärztlichen Identität. Da aus dieser Position die Politik näher liegt als die Medizin, wird vieles, was unter dem Namen Qualitätssicherung läuft, äußerst anfällig für ökonomische und politische Interessen (s. a. Hafferty/Light 1995: 143ff.). 25 Demgegenüber zieht Hart eher eine positive Bilanz der EBM. Sie zwinge die Ärzte »zur Kommunikation über Normziele und ihre Legitimation in Medizin und Recht« (Hart 2000: 4), so dass einem »falschen Verständnis« der ärztlichen Therapiefreiheit entgegengewirkt würde. Auch die Arzt-Patient-Beziehung könne gewinnen, denn anstelle der vermuteten »Regulierungshyperthrophie« ermögliche »EBM eine qualitativ hochwertige Patienteninformation (therapeutische und Selbstbestimmungsaufklärung) über die Erkrankung, ihre Behandlung und mögliche Alternativen« und erlaube so »dem Patienten, entsprechend seiner eigenen Bewertungskriterien seine Entscheidung zu treffen« (Hart 2000: 5). Zwei nicht so leicht ausräumbare juristische Problemfelder würden sich hinsichtlich Normsetzung und Normanwendung ergeben. Bezüglich der Normsetzung verenge die »Vorzugsregel für wissenschaftliche Evidenz [...] tendenziell den medizinischen Standardbegriff« hinsichtlich der Normanwendung. Da wissenschaftliche Evidenz auf Aussagen unter Studienbedingungen beruhe, bedürfe die Behandlung individueller Patienten neben »einer abstrakten (“probabilistischen“)« einer »konkret-situativen Nutzen/Risiko-Abwägung«. Ärztliche Leitlinien seien eher dem ersteren, das Haftungsrecht »eindeutig dem letzteren« verpflichtet (Hart 2000: 4). Dieses Problem berge eine erhebliche Sprengkraft, denn wenn »EBM probabilistische Evidenz als Grundlage ärztlicher Behandlungsziele begünstigt, stellt sich medizinisch und rechtlich die Frage nach der Berücksichtigung individueller Behandlungs- und Sicherheitserwartungen von Patienten. Kann eine statistisch gut belegte Erwartung, wonach nur in 2% der Fälle Kopfschmerzen Anzeichen für eine gravierende Gehirnerkrankung sind, das Hinausschieben oder die Abstinenz von individueller Diagnostik legitimieren oder – allgemeiner gesprochen – ist “in dubio abstine“ als Evidenz-basiertes Prinzip gleichzeitig ein individuelles Behandlungsprinzip? Rechtlich – haftungs- und sozial-rechtlich – wird eine individuelle Behandlung des Patienten geschuldet, und deshalb sind individuelle Abwägungsentscheidungen erforderlich. [...] Es steht insofern ein Prinzipienkonflikt der Normanwendungskriterien zur Debatte, der von erheblichen Implikationen ist und eine gründlichere Erörterung erfordert« (Hart 2000: 5). Die hier entfaltete Rechtsproblematik pointiert das in der EBM angelegte Spannungsverhältnis von Allgemeinem und Speziellem in der Form Individuum und Gesellschaft. Das Rechtssystem entfaltet hier seine ureigene Bezugsproblematik, die ihrerseits jedoch weder im Einklang mit den medizinischen Funktionsbezügen noch mit politischen oder wirtschaftlichen Interessen zu stehen braucht. 26 Auch Stein (2001) fragt in „Berliner Ärzte“, ob in der Bundesrepublik nicht langsam auf englische Verhältnisse zugesteuert werde und stellt fest, dass in den Behandlungsentscheidungen eine heimliche Altersdiskriminierung festzustellen sei. 27 Im Sinne von Diedrich (1991) schieben sich Modelle quasi in die Lücke zwischen den spätestens seit Kant erkenntnistheoretisch fragwürdig gewordenen Positionen des Rationalismus und Empirismus. Modelle sind gleichsam in sich konsistent und rational und damit wahr, stehen jedoch in keiner korrespondenztheoretischen Entsprechung zur empirischen Realität, wie etwa Karl Popper annimmt. Sie sind Metaphern, die in strukureller Analogie zur Empirie stehen, bilden jedoch keine Wirklichkeit ab: »Theorien handeln tatsächlich von all den Dingen, von denen sie reden, nur daß das, worauf sich eine Theorie unmittelbar bezieht, Modelle sind, eben die Modelle der Theorie (im Sinne der logischen Semantik). Theorien handeln also beispielsweise von Elektronen nicht nur in einer façon de parler, als ein Mittel zur Vorhersage von Meßdaten, sondern sie entwerfen ein Bild des Elektrons (in einem jeweiligen Zusammenhang) und lassen die Frage zu: stimmt dieses Bild mit der Wirklichkeit überein? Im Sinne der logischen Semantik ausgedrückt, lautet die Frage: Ist die Welt (wie ich sie ausschnitthaft betrachte) eines der Modelle der Theorie? Bei den modelltheoretischen Ansätzen werden also keine Theorieteile weginterpretiert (wie im logischen Empirismus), aber die unmittelbaren Gegenstände der Theorie: die Modelle schieben sich gleichsam zwischen Theorie und Wirklichkeit« (Diedrich 1991: 156). 28 »Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun« ist der Aphorismus mit dem Maturana und Varela (1987: 37) diesen Sachverhalt ausdrücken. Aus neurobiologischer Sicht stellt der Wahrnehmungsvorgang selbst schon eine Entscheidung zur Simulation einer Wirklichkeit dar. Schon im Wahrnehmen werden Hypothesen in die sensorischen Anmerkungen 57 Daten hineingetragen. Einzelne Informationen werden als Schlüsselreize fokussiert und bekommen eine sinnhafte Gewichtung: »Perception is a decision: […] If perception is closely linked to action, it can no longer be a simple process of passive transformation from sensory transducer activity into central representations; the control of action requires predictive mechanisms which in turn require a preselection of relevant sensory information and what I would like to call „pre-perceptions“. [...] Perception does not concern only the reconstruction of the external world by successive transformation and binding of sensory cues in the „space“ of the sensors. It also probably is made of decision processes matching external configurations of features with an internally predetermined or acquired repertoire of sensory or motor patterns« (Berthoz 1996: 85f.). 29 Der Philosoph Metzinger beschreibt den Paradigmenwechsel in den Kognitionswissenschften mit folgenden Worten: »Wenn für den klassischen von-Neumann-Kognitivmus die begrifflichen Grundbausteine Regeln und Symbole waren, für den Konnektivismus Lernregeln, Aktivierunsvektoren oder Trajektorien durch Gewichtungsräume, dann finden wir jetzt ein Vokabular vor, das eine maximale und bisher ungeahnte Entfernung zu den semantischen Kontexten der klassischen philosophischen Theorien des Geistes markiert. Auf einmal geht es um „nicht-lineare dissipative Systeme“, „chaotische Attraktoren“ oder um die verhaltensrelevanten „Transienten von Attraktorbecken“. Die von der dynamischen Kognitionswissenschaft eingesetzten konzeptuellen Instrumente sind zum ersten Mal genuin physikalische und legen allein dadurch eine implizite Lösung des Leib-Seele-Problems nahe. Die theoretische Provokation, die in dieser Entwicklung liegt, ist von den Geisteswissenschaften noch nicht erkannt worden. Auf der anderen Seite scheinen diese Instrumente zum ersten Mal eine mathematische Modellierung von denjenigen Eigenschaften menschlicher Kognition zu ermöglichen, die insbesondere die philosophische Kritik seit langem eingefordert hat: ihre Leiblichkeit, ihre Situiertheit, ihre Sensitivität auch für die zeitliche Struktur impliziter Kontexte, ihre Bezogenheit auf andere kognitive Systeme und die semantische Koevolution mit ihnen, ihren flüssigen, transienten und nie vollständig prognostizierbaren Charakter, der häufig durch abrupte „Phasenübergänge“ gekennzeichnet ist und fast immer ein aktives, schöpferisches Moment beinhaltet. All dies finden wir bei der Anwendung der nicht-linearen Dynamik auf kognitive Systeme wie von selbst als die natürlichen Eigenschaften derselben wieder. [...] Repräsentationen und semantischer Gehalt sind nun endgültig nichts Statisches mehr, sie „reiten“ sozusagen auf einer kurzzeitigen Kohärenz zwischen Systemdynamik und Weltdynamik. Bedeutung ist ein physikalisches Phänomen, das von einem in eine aktive sensomotorische Schleife eingebundenen System vorübergehend erzeugt wird. Die Entstehung des intentionalen Gehalts mentaler Repräsentationen ist nämlich im Rahmen der Systemtheorie ein sehr kurzer, vorübergehender Vorgang, bei dem Systemdynamik und Weltdynamik interagieren« (Metzinger 1998: 347f.). 30 Hierzu der Neurobiologe Berthoz: The »brain is (1) a predictive biological machine, (2) a simulator of action in order to predict the consequences of action by referring to past experience, and (3) probably using for these purposes inner loops in which action is simulated (and not represented) in extremely specialised circuits. In this perspective, „free will“ is nothing other than the capacity to internally simulate action and make a decision, i.e., selectively remove inhibitions at many levels of the central nervous system and generate an executed or imagined action. We have to expect that this will be a hierarchy of neural decision processes allowing any intermediate process from quasi automatic very rapid sensorymotor decisions (like catch-avoid) to slow, memory based, social decisions« (Berthoz 1996: 97f.). 31 Hierzu Berthoz: »The existence of “somatic events” associated with decisions could indicate that, when a subject is making a decision, he is truly “simulating” the consequences of his decisions and therefore that his simulation includes the predicted vegetative consequences of the simulated sequence of behaviours« (Berthoz 1996: 86f.). »In our view the association of good feelings to decisions is the consequence of internal simulations that create discongruence in internal models of the body. The brain is a matching machine and a simulator of action, not a “representational” machine, not a computer which calculates solutions and gives them some “value”. The brain is essentially a comparer. Activity in inner reentrants loops simulates, or emulates, a repertoire of behaviours that has to be permanently inhibited. A decision to make something is, therefore, essentially the decision not to make all the others. A very good example of this idea is modern theories of depression, which have revealed that depressed people keep rehearsing undecidable situations« (ders. 89). 32 Hierzu nochmals Fiedler: »Näher betrachtet muß man jedoch erkennen, daß die Berücksichtigung von Redundanz als Quelle der wechselseitigen Validierung beobachteter Merkmale eine sehr nützliche Strategie darstellt, die an anderer Stelle auch in der Wissenschaft verwendet wird. Irrational oder fehlerhaft erscheint eine solche Tendenz nur aus der eingeengten Perspektive der Statistik, die die Qualität der Daten einfach voraussetzt und sich um die Validierung der Daten nicht kümmert. Auch hierin zeigt sich, daß die statistischen Modelle keineswegs unkritisch als normative Modelle des induktiven Handelns übernommen werden können. Ganz besondere Bedeutung erhalten die Beobachtungspragmatik und die Encodierentscheidungen, wenn man bedenkt, daß die wichtigen Merkmale, an deren Kontingenz wir im Alltag interessiert sind, nicht direkt beobachtbar sind, sondern erschlossen werden müssen (e.g., die Ehrlichkeit von Personen, die Qualität von Produkten oder die Diagnose von Patienten). Wenn beispielsweise Konsumenten die Kontingenz zwischen Preis und Qualität verschiedener Produkte oder Marken beurteilen, dann können sie die Qualität nicht einfach 58 II. Ärztliches Entscheiden (Stand der Forschung) mit den Sinnesorganen erfassen (so wie die Größe oder Farbe), sondern müssen das distale Merkmal Qualität aus einer Reihe proximaler “Cues“ erschließen oder “konstruieren“« (Fiedler 1993: 235). 33 Die Praxis zeigt, dass der Einsatz von Expertensystemen de facto nicht wirklich die Rationalitätslücken medizinischen Handelns schließen kann, also nur als Suggestion - als soziale Konstruktion - seine Funktion erfüllt (s. hierzu ausführlich Rammert et al. 1998). 34 Als Beispiel für die Zuspitzung dieser Position stellte etwa der New Yorker (1998, No. 30) die Frage: »Does medicine still need doctors?« und stellt fest, dass künstliche neuronale Netzwerke viele Ärzte in ihren diagnostischen Qualitäten übertreffen würden. Beispielsweise könnten die komplexen Muster eines Elektrokardiogramms von einem Computer oftmals zuverlässiger analysiert werden als von den meisten Kardiologen. 35 Lesenswert in diesem Zusammenhang ist die Diskursanalyse der Editorials angesehener medizinischer Fachzeitschriften der letzten 50 Jahre durch Berg (1995). 36 Insbesondere die Ethnomedizin betont die kulturellen Aspekte von Therapie und Heilung: »Heilen (stellt) die Ausgrenzung von Chaos dar, wird der ungeregelte, krankheitsbedingte ʻNaturʼzustand in einen ʻKulturʼzustand überführt und damit handhabbar gemacht. Wenn eine Krankheit nicht (im biomedizinischen Sinne) therapiert werden kann, mag manchmal das, was heilsam wirkt, nur das Wissen darüber sein, wie ein Krankheitsgefühl klassifiziert und benannt, wie das Leiden auch emotional ausgedrückt, und wie ein bleibendes Leiden sinnvoll aufgrund kultureller Erfahrung gedeutet und integriert werden kann. Mag dies auch der einzige heilende Moment bleiben, entfaltet es dennoch eine große Kraft, indem das Leiden in eine sinnvolle Ordnung eingegliedert wird und somit den Betroffenen verfügbar macht« (Sich et al. 1993: 108). 37 Zur Plausibilisierung dieser Differenzierung sei hier auf Wittgenstein verwiesen: »„Angenommen, einer von Ihnen wäre allwissend; er kennt alle Bewegungen aller lebenden und toten Körper in der Welt und er kennt auch alle Bewußtseinszustände aller Menschen, die je gelebt haben, und falls er alles, was er weiß, in ein großes Buch eintrüge, so enthielte dieses Buch die gesamte Beschreibung der Welt. Ich möchte nun darauf hinaus, daß dieses Buch nichts enthielte, was wir ein ethisches Urteil nennen würden, bzw. nichts, was ein solches Urteil logisch implizierte. Freilich enthielte es alle relativen Werturteile sowie alle wahren wissenschaftlichen Sätze und sogar alle wahren Aussagen, die sich überhaupt artikulieren lassen. Doch alle beschriebenen Fakten stünden gleichsam auf derselben Ebene, und ebenso stehen sämtliche Sätze auf derselben Ebene. Es gibt keine Sätze, die in einem absoluten Sinne erhaben, wichtig oder belanglos sind. [....] die bloße Beschreibung der Fakten [wird] nichts enthalten, was wir als einen ethischen Satz bezeichnen könnten. [....] Die Ethik ist, insofern sie überhaupt etwas ist, übernatürlich, und unsere Worte werden nur Fakten ausdrücken; so wie in eine Teetasse eben nur eine Teetasse voll Wasser reingeht, auch wenn ichʼs literweise darübergösse« (Wittgenstein 1989: 12f.). 38 Sehr wohl können Ärzte formale Routinen, sowie Expertensysteme nutzen, um ethischen Entscheidungen auszuweichen. Ausführlich zu dieser Debatte s. etwa Praetorius und Sahm (2001). 39 Hierzu Floyd: »Menschen können in Situationen müde, gleichgültig oder abgelenkt sein, während ein Programm stets in gleicher Weise funktioniert. Andererseits handeln Menschen stets in Situationen, während die Wirkungsweise von Programmen durch das implizierte Modell vor der Situation determiniert ist. Letztlich sind menschliche Fehler in individuelle Lernprozesse und zwischenmenschliche Kommunikation eingebunden: Wir begehen Fehler situationsbezogen, wir lernen aus unseren Fehlern, wir können unsere Fehler wechselseitig nachvollziehen und ausgleichen. Dieser Aspekt entfällt bei Programmen ganz. Ein fehlerhaftes Programm funktioniert in der Situation willkürlich. Es entzieht sich dann menschlicher Sinngebung, es sei denn, es gelingt, die von Menschen bei seiner Entwicklung begangenen Fehler nachzuvollziehen und auszugleichen« (Floyd: 1991: 29). 40 Zur Dynamik des Computer- und Technikeinsatzes in der Intensivmedizin siehe auch Wagner (1998). 41 Die Droge Arzt kann ihre suggestive Kraft in guten Sinne entfalten, jedoch auch paradoxe Effekte bewirken. Gerade auch die modernen bildgebenden Verfahren müssen in diesem Sinne, wie Rhodes et al. (1999) aufzeigen, auch im Hinblick auf ihre semantischen Implikationen verstanden werden, da chronische bzw. nicht bewältigbare Krankeit möglicherweise erst durch das „illness narrative” erzeugt wird. 42 Schachtner entdeckt in ihrer empirisch rekonstruktiven Untersuchung bei den Ärzten acht »Metapherntypen, die auf unterschiedliche Weise ihre Handlungspraxis strukturieren. Diese würden das ganze »Spektrum bekannter medizinischer Deutungs- und Handlungsmodelle« wider spiegeln, wobei die Genese dieser Typen auf »die Kindheit und Jugend der befragten ÄrztInnen« zurück gehe. »In der Auseinandersetzung mit familialen und kulturellen Daseinsbedingungen entstehen, so darf angenommen werden, Affinitäten für bestimmte medizinische Paradigmen« (Schachtner 1999: 13). 43 Bateson bezeichnet diese Form des unzulässigen Schließens scherzhaft als Syllogismus im »Modus Gras«. Die Syllogistik, ein Ableger der philosophischen Logik formulierte die logisch erlaubten Schüsse. Das bekannteste Beispiel ist die folgende Form im sogenannten „Modus Barbara“: »Menschen sterben; Sokrates ist ein Mensch; Sokrates wird sterben« Die Grundstruktur dieses Syllogismus beruht auf einer Klassifizierung: Das Prädikat „sterben“ wird auf Sokrates bezogen, indem man ihn als ein Element einer Klasse „Mensch“ identifiziert, deren Elemente dieses Prädikat zu eigen Anmerkungen 59 haben. Die Logik der Metaphorik funktioniert anders: »Gras stirbt; Menschen sterben; Menschen sind Gras« (Bateson/Bateson 1993: 45). 44 Um dies am Beispiel des Risikobegriffs deutlich zu machen: Für den Laien ist ein Risiko nur vage bestimmt, erscheint als ein mehr oder weniger undurchschaubarer Komplex, dessen negative Konsequenzen jedoch von ihm sehr wohl subjektiv gefühlt werden. Entsprechend fühlt er sich emotional betroffen. Demgegenüber definiert der Experte ein Risiko in seiner Domäne präzise und eng, beschreibt es deskriptiv und wertfrei, kann die Folgen und manchmal auch die Eintrittswahrscheinlichkeit exakt beschreiben (vgl. auch Hitzler 1994: 23f.). 45 »Die Grundannahme, Wissen sei eine objektive Entität, die sich im Kopf von Individuen oder in Speichern von Computern befindet und deren stabile Existenz durch formale Repräsentationsannahmen geeignet abbildbar ist, wurde lange Zeit kaum hinterfragt. [...] Daß es gerade in Verbindung mit Erfahrung Wissensformen gibt, die erst in tatsächlichen Handlungen relevant werden, führt zu der Auffassung, daß Wissen keineswegs Individualbesitz, sondern vielmehr sozial geteilt ist« (Gruber 1999: 33). 46 Im ähnlichen Sinne entdeckt auch Fischer-Rosenthal (199247) anhand von Gesprächsanalysen bei Ärzten zwei verschiedene Denkstile. Die erste Gruppe von Ärzten denkt mehr deduktiv in Form linearer Ursache-Wirkungs-Beziehungen, während die erfahreneren Ärzte einen eher „abduktiv“ Beziehungen zu anderen Fällen knüpfen: »The second doctor presents to us a model of discovery. Logically the decision process is open. Since it is neither explicitly inductive nor deductive one call this structure of getting to know abductive (Charles S. Peirce ….) or hermeneutical. Circuits of tentative reading and interpreting, taking into account explicit and implicit knowledge of the reader, that is the listening and looking doctor, make up the diagnostic process. Relating observations and knowledge is non-linear, can be modelled as iterative feed-back process. Positive medical knowledge and tacit everyday knowledge of what is normal are just the backdrop of drawing into account the patientʼs explicit and implicit self-presentation thus triggering a first diagnostics conjecture which is to be reviewed in the process of further medical actions. Here the patient in his socio-biographical situation comes first and has to be explored; the tacitly stacked up professional experience as gained in therapeutic encounters over years and not just the schemas from nosology is crucial in this model« (Fischer-Rosenthal 1992: 135f.). 48 Im Hinblick auf die immense Bedeutung des prozeduralen Wissens, der Wichtigkeit, komplexe Sachverhalte verhandeln zu können, wundert es kaum, dass ärztliche Experten künstliche Expertensysteme und formale Entscheidungshilfen für insuffizient halten, da hierdurch der wirkliche Sachverhalt nur unzureichend abgebildet werden könne. Spitzenexperten können blitzschnell kontextualisieren und entscheiden gleichsam intuitiv, entwickeln ohne viel zu überlegen eine Ahnung (vgl. auch Schachtner 1993: 186ff.). Der Begriff „Intuition“ meint hier weniger instinktives Verhalten oder gar eine mystifizierte Form der Erkenntnis, sondern bezeichnet hochkomplexe und durch Erfahrung erlernte Problemlösungsst rategien, die unterhalb des diskursiven Wissens agieren (vgl. auch Marbach 1999). Die Erkennung der in die Situation „eingebettenen“ Figuren und Muster läuft dabei vielfach unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab - der Erkennende weiß noch nicht einmal, dass er erkennt (s. hierzu auch Perrig et al. 1993). 49 Die „grounded theory“, angereichert durch einige wissenssoziologische Positionen des Sozialkonstruktivismus, scheint sich per se zum Paradigma einer qualitativ orientierten medizinsoziologischen Forschung zu entwickeln (als ein Beitrag für viele s. etwa Charmaz 1990). 50 Gerade auch in Fragen der Patientenaufklärung macht es wenig Sinn, Informationen als etwas zu betrachten, das gleichsam als Ding von einer Person zu einer anderen übertragen werden kann. Vielmehr muss Wissen, wie Raphaely (1991) aufzeigt, insbesondere auch im Hinblick auf infauste Diagnosen und den hieraus resultierenden Fragen nach der Therapiebeendigung als etwas angesehen werden, das von Moment zu Moment in der Beziehung aktualisiert und entwickelt wird. Normative Konzepte wie etwa der „informed consent” oder das “shared decision making” beschreiben gerade auch im Hinblick auf die Entscheidungen in Todesnähe wenig die reale Komplexität der Arzt-Patient-Interaktionen. 51 Die rituelle Ordnung des Krankenhauses erscheint bei Strong im Blickwinkel ihrer funktionalen Leistung, also in einer systemischen Betrachtung. Im Gegensatz zur funktionalen Analyse dieser Phänomene attribuieren viele Autoren solche Phänomene in psychologisierender Weise eher der ärztlichen Persönlichkeit: Insbesondere die höher gestellten Ärzte würden aus Traditionsgründen an den sinnentleerten Ritualen festhalten bzw. gar aufgrund einer narzistischen Störung auf deren Einhaltung bestehen. S. in diesem Sinne auch die „ethnopychoanalytische“ Studie von Weidmann (1990). 52 Dass die Einführung einfacher, auf den ersten Blick sinnvoller Techniken nicht unbedingt zu einer Erleichterung der Arbeit sowie einer Verbesserung der Beziehung zum Patienten führt, zeigt etwa die qualitativ empirische Studie von Engelhardt/Hermann (1999) auf. Dass selbst Qualitätssicherungsprogramme anderen Systembezügen dienen können als der Verbesserung der Patientenversorgung, weist Iding (2000) nach. 53 Stichweh (1987) beschreibt die Besonderheiten einer medizinischen Profession, die sich zwar auf Wissenschaft beruft, jedoch nicht dem Wissenschaftssystem zugerechnet werden kann sondern erst in der Klientelorientierung ihre Legitimation und ihren eigentlichen Auftrag findet. Da das naturwissenschaftliche Wissen per se hyperkomplex ist, konstituiert sich angewandte Medizin zwangsläufig in einer Grauzone: Es muss die Dinge vereinfachen, um handelnd dienen zu können, muss dabei jedoch auf ihren Wahrheitsanspruch verzichten. Diese Interpretationsleistung einer angewandten 60 Wissenschaft könne nur durch das Subjekt – eben den professionellen Mediziner - geleistet werden. Dieser müsse in die Medizin gleichsam aus innermedizinischen Gründen als autonom agierender Entscheidungsträger eingeführt werden. 54 S. hierzu auch Luhmann (1990) und Bauch (1996). 55 S. etwa Hahn (1995) und Kleinmann (1981). 56 Einige wenige diesbezügliche Studien zeigen auf, dass der naturwissenschaftliche Entdeckungsprozess selbst als ein konstruktiver Fabrikationsprozess verstanden werden muss (Knorr-Cetina 1991; Latour 1986), der der Dichotomisierung von personalem Subjekt und Medizinobjekt, der spezifischen »Eigenaktivität, die in der Expressivität des Lebens oder des Bewußtseins liegt«, nicht gerecht wird (Lindemann 2001) und die medizinische Fallrekonstruktion selbst als ein aktiv konstruktiver Prozess begriffen werden muss (Berg 1996 und 1992; Atkinson 1995). 57 Im Kontrast zum Mangel an rekonstruktiver Forschung über die konkreten Bedingungen ärztlicher Handlungspraxis steht der breite Diskurs über normative Modelle hinsichtlich dessen, wie sich ein Arzt zu verhalten habe. Innerhalb der gesundheitswissenschaftlichen Szene haben Publikationen mit dem Titel „der gute Arzt“ weiterhin Hochkonjunktur (s. etwa Dörner 2001, Troschke 2001 und Mannebach 2001). 58 Barret (1988) geht in seiner ethnografischen Analyse aus dem psychiatrischen Alltag noch einen Schritt weiter und stellt gar fest, dass die Krankheit „Schizophrenie“ erst über den Prozess des Dokumentierens und Schreibens konstruiert werde. 61 III. Dokumentarische Methode: vom immanenten Sinn zum „Modus Operandi” sozialer Praxis Der Unterschied zwischen den hypothesentestenden standardisierten Verfahren in der quantitativen Sozialforschung und den rekonstruktiven Verfahren der qualitativen Sozialforschung lässt sich durch folgenden Vergleich illustrieren: Um die Funktionsweise eines Herzens zu verstehen, muss man die Bestandteile des Herzens kennen lernen und eine Ahnung von der funktionalen Beziehung dieser Elemente haben. Ein Forscher, der zum ersten Mal ein Herz erblickt, müsste zunächst herausfinden, welche Muskeln sich in welchem Rhythmus zueinander bewegen, wie sich die Herzklappen verhalten, wie die Signalübertragungswege der beteiligten Nervenfasern vonstatten gehen etc. Er müsste die grundlegenden Strukturen und Beziehungen dieses Organsystems rekonstruieren. Dies wäre ein qualitativer Forschungszugang. Demgegenüber könnte ein quantitativ orientierter Wissenschaftler versuchen, Daten über die Leistungsfähigkeit verschiedener Herzen zu erheben. Er könnte Größen, Durchblutungsflüsse, die Herzfrequenz und andere Parameter bestimmen und in Beziehung zu statistischen Normalwerten setzen. Hieraus ergeben sich dann Hinweise für die Diagnose einer Erkrankung. Er kann den Schluss ziehen, dass es vielleicht angebracht wäre, die Herzfrequenz durch bestimmte Medikamente etwas zu reduzieren usw. Jeder der beiden methodologischen Zugänge zielt auf etwas anderes: Während im qualitativen Forschungsprozess die Struktur und die Funktion eines Phänomens erst einmal zu rekonstruieren ist, wird im zweiten Fall immer schon ein Modell vorausgesetzt, aus dem dann Hypothesen abgeleitet werden, die (statistisch-)empirisch überprüft werden können. In der Überprüfung kann dann ein mehr oder weniger standardisierter Weg eingeschlagen werden. Demgegenüber ist die Rekonstruktion einer zunächst unbekannten Wirklichkeit als ein schöpferischer Forschungsprozess zu verstehen, denn der Weg, also die theoretischen Konstrukte, die für die strukturidentische Beschreibung der erforschten Wirklichkeit angemessen sind, ist zu Beginn des Forschungsprozesses noch nicht bekannt. Theorie entwickelt sich in und aus der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Rekonstruktive Sozialforschung hat soziale Strukturen zum Gegenstand. Sie erforscht, wie sich diese reproduzieren, in welcher funktionalen Beziehung diese zueinander stehen: »Die Frage nach der Gültigkeit einer solchen Struktur beantwortet sich aus dieser Perspektive, also nicht über ihre Häufigkeit, sondern darüber, dass ihre Reproduktionsgesetzlichkeit nachgewiesen wird« (Wohlrab-Sahr, zitiert nach Bohnsack 2001b: 273). Genau in diesem Sinne möchte ich in dieser Studie versuchen, mithilfe der „dokumentarischen Methode” die sozialen Bedingungen ärztlicher Entscheidungspraxis zu rekonstruieren. Im Folgenden werden zunächst die Grundlagen dieser Methode vorgestellt (a). Im Anschluss daran werden die Erhebungsverfahren (b) sowie die Kriterien meiner Fallauswahl (c) dargestellt. Abschließend folgen einige Bemerkungen zur Transkription (d), zur Ergebnisdarstellung (e) sowie zur Maskierung der Daten (f). (a) Grundlagen der dokumentarischen Methode Die Rekonstruktion der sozialen Bedingungen innerhalb der ärztlichen Entscheidungsfindung stellt gewisse methodologische Anforderungen an den Forschungsprozess: Einerseits muss me- 62 III. Dokumentarische Methode dizinische Praxis in ihrer überindividuellen Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Funktionsbezüge gesehen werden, die das intentionale Bewusstsein des Einzelnen überschreiten und deren Prioritäten in kommunikativen Prozessen immer wieder ausgehandelt werden müssen. Andererseits kann auch aus einer Akteursperspektive heraus gesehen ärztliches Handeln nicht nur auf seine intentionalen Aspekte beschränkt werden, sondern beinhaltet immer auch habitualisierte Wissensbestände, die ihrerseits komplexe Sinnbezüge gestalten, die als Habitus jedoch keinen Zweck verfolgen, sondern vergangenen sozialen Praxen geschuldet sind und deshalb nur in ihrer Soziogenese verstehbar werden. Um den habituellen Aspekten ärztlicher Praxis gerecht werden zu können, lehnt sich diese Studie an die dokumentarische Methode an (Bohnsack 1999). Die dokumentarische Methode nimmt die Differenz von Theorien über Handlungspraxis und die Handlungspraxis selbst zum Ausgangspunkt ihrer Sinnrekonstruktion (Bohnsack 2001b: 227)1. Sie unterscheidet diesbezüglich verschiedene Sinnebenen. Der immanente Sinngehalt entspricht den (zweckrationalen) Um-zu-Motiven im Sinne des common sense. Hier agieren Akteure entsprechend rational nachvollziehbaren Handlungsentwürfen2. Ihre Motive sind kommunikativ in typologisch abstrahierter Form vermittel- und nachvollziehbar. Dass beispielsweise ein Arzt ein starkes Schmerzmedikament verschreibt, um einem Patienten unnötiges Leiden zu ersparen, ist unmittelbar und ohne näheres Verständnis des Kontextes versteh- und kommunizierbar. Als kommunikative Wissensbestände erlauben sie als »Common-Sense-Typenbildung« die reziproke Antizipation von Rollenerwartung und bilden so ein »Orientierungsschema« (Bohnsack 2001b: 209), um auch ohne konkrete Kenntnisse über die realen Lebensbedingungen des kommunikativen Gegenübers mit diesem rechnen zu können3. Ohne Detail- und Kontextwissen kann dieser in die eigenen Handlungsentwürfe einbezogen und kommunikativ adressiert werden. Demgegenüber zielt der dokumentarische Sinngehalt auf einen anderen Modus der Sozialität, nämlich auf »die auf unmittelbarem Verstehen basierende „konjunktive” Erfahrung« (Bohnsack 1999: 67). Die dokumentarische Methode muss in ihrer Arbeit der Sinnrekonstruktion gerade hier ansetzen. Im Verständnis der Ethnomethodologie stellt sie deshalb auch eine »Methode der Kontextualisierung von Äußerungen« dar (Bohnsack 1998: 110), denn »sprachliche Äußerungen« sind »wesensmäßig vage«. Sie sind »lediglich ein Indikator für oder ein Hinweis auf das mit diesen Äußerungen verbundene, durch diese Äußerungen selbst aber nicht explizierte Orientierungsmuster. Letzteres kann immer nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext und in Kenntnis dieses Kontextes erschlossen, also interpretiert werden« (Bohnsack 1998: 109). Mit der dokumentarischen Methode unterscheiden wir also – um nochmals zu rekapitulieren zwei Sinnebenen: Zwischen einer - insbesondere im Kontext von Institutionen – formalisierten Ebene stereotyper Handlungsmotive, die den jeweiligen Akteuren zugerechnet werden und einer Strukturiertheit von Erleben, die aus einer spezifischen gemeinschaftlichen Erfahrung, dem so genannten konjunktiven Erfahrungsraum, wie Bohnsack diesen Modus anlehnend an Mannheim (1980: 211) bezeichnet, resultiert. »So kann beispielsweise die Äußerung „Wie geht es denn heute?” im Kontext der Institution oder Rollenbeziehung Arzt/Patient von diesen beiden als formelle Einleitung der Anamnese, also der Erhebung der Krankengeschichte des Patienten, reziprok, also wechselseitig typisiert werden. Dies ändert sich allerdings, wenn Arzt und Patient einander näher kennen, möglicherweise befreundet, d. h. durch biografische Gemeinsamkeiten miteinander verbunden sind. Wie der Patient unter diesen Bedingungen die Frage beantwortet, hängt auch von der Gemeinsamkeit des biographischen Erlebens ab. Derartige Gemeinsamkeiten konstituieren einen verbindenden Erfahrungszusammenhang, einen „konjunktiven Erfahrungsraum”, wie der Wissenssoziologe Karl Mannheim (Mannheim 1980: 211) es genannt hat. Konjunktive Erfahrung Vom immanenten Sinn zum „Modus Operandi” sozialer Praxis 63 ist unterhalb der institutionalisierten und rollenförmigen Wissensbestände angesiedelt, unterhalb der „kommunikativen” Wissensbestände, wie ich sie im Anschluß an Mannheim bezeichnen möchte« (Bohnsack 1998: 109). Da der Sozialforscher - im Gegensatz zum Alltagsverständnis der Common-Sense-Typenbildung - in den allermeisten Fällen nicht über die lebensweltliche Erfahrung innerhalb des zu untersuchenden Milieus verfügt, muss er versuchen, diese in seinen Begriffen strukturidentisch zu rekonstruieren. Dies geschieht, indem er in der »genetischen« oder »dokumentarischen Interpretation« versucht, den »(für eine Persönlichkeit oder ein Kollektiv typischen) „modus operandi”« dieser Praxis zu »rekonstruieren« (Bohnsack 1999: 68). Ein Forscher müsste beispielsweise aus der Beobachtung der medizinischen Praxis heraus aufzeigen können, wie es dazu kommt, dass ein Patient ohne eine medizinische Indikation ein bestimmtes Medikament verschrieben bekommt. Anlehnend an Karl Mannheim wechselt Bohnsack hier vom Zweck zum Prozess. »Gemeint ist der Wechsel von der Frage danach, was Motive sind, zur Frage, wie diese hergestellt, zugeschrieben, konstruiert werden«. Im Sinne von Luhmanns Beobachtungen zweiter Ordnung, werden hier »die Prozesse und die Prozessstrukturen der Herstellung von Motivzuschreibungen selbst thematisiert« (Bohnsack 2001b: 228). Erst durch die Unterscheidung zwischen immanentem und dokumentarischem Sinngehalt ließen sich etwa im Sinne meiner Untersuchungsfragestellung die zu erwartenden Spannungen zwischen den normativen und zweckrationalen Aspekten gegenüber den systemrationalen und habituellen Dimensionen ärztlichen Entscheidens herauspräparieren. Letzteres ist »nicht an Um-Zu-Motiven orientiert, nicht zweckrational motiviert. [...] Das habituelle Handeln vollzieht sich gleichsam unterhalb der institutionalisierten Ablaufmuster und der dazugehörigen kommunikativen Wissensbestände und in Auseinandersetzung mit diesen« (Bohnsack 1998: 111). Während die ethnografische Methode eher den Detailreichtum und die Vielfältigkeiten menschlicher Praxis demonstriert, steht in der dokumentarischen Methode die Entwicklung formaler Theorien im Vordergrund. Diese sind jedoch im Sinne einer rekonstruktiven Methode aus dem empirischen Material zu entwickeln und zu begründen. Ziel ist letztlich eine Typenbildung, die jedoch nicht im Sinne von common sense Stereotypen des Alltags, sondern als »prozessanalytische« und auf den »modus operandi« der Praxis gerichtete »generative Formel« zu verstehen ist. Die »Logik dieser Typenbildung ist eine abduktive, die in Analogien oder besser: Homologien bzw. auch funktionalen Äquivalenten und nach Art der komparativen Methode denkt« (Bohnsack 2001b: 229f.). Das »generative (Sinn-)Muster« dieser spezifischen sozialen Wirklichkeit kann durch Interpretation aus den Beobachtungen einer Handlungspraxis erschlossen werden. Die Rekonstruktion dieses »handlungspraktischen Herstellungsprozesses«, dieser spezifischen Habitusformation bezeichnet Bohnsack anlehnend an Mannheim auch als »sinngenetische« Interpretation (Bohnsack 2001b: 231). Die Interpretation sollte dabei auf einem mittleren Abstraktionsniveau erfolgen, so konkret, dass sie die Bedingungen der Herstellung der beobachten Praxis beschreiben kann, so abstrakt, dass ein Vergleich über verschiedene empirische und gedankentheoretische Fallbeispiele hinweg erst möglich wird. Die komparative Analyse liefert dabei den eigentlichen Schlüssel, um das Untersuchungsmaterial interpretativ aufschließen zu können, denn im Sinne der „Seinsverbundenheit des Wissens” (Mannheim 1980) können sich die habituellen und professionslogischen Besonderheiten medizinischen Handelns einem Fach- und Milieufremden nicht unmittelbar offenbaren. Sie offenbaren sich erst über die Methode des Vergleichs. Erst der Wechsel zwischen unterschiedlichen Vergleichshorizonten erlaubt es, die Standortgebundenheit des Forschers methodologisch zu 64 III. Dokumentarische Methode kontrollieren, denn »würde man nicht empirisch vergleichen, wäre die einzige Alternative zur Selektivität des zu untersuchenden Feldes mein eigener Relevanzrahmen, d. h. die Normalitäts vorstellungen, die ich selbst als Forscher bei der Behandlung des Themas walten lasse« (Nohl 2001a: 45)4. Indem etwa verschiedene Abteilungen, Praxisformen und Fallbeispiele miteinander in Beziehung gesetzt werden, erscheinen - über die Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede - Kontingenzen und Abhängigkeiten als ein Bedeutungsgewebe, das mit jedem neuen Vergleichshorizont an Struktur gewinnt. Schließlich gewinnt die Rekonstruktion eine solche Dichte, dass »erklärendes Verstehen« im Sinne des Weberʼschen Idealtypus möglich wird (Weber 1980). Die Brücke zwischen fallspezifischer Diversität und abstrahierender Typenbildung wird in der dokumentarischen Methode mittels einer multidimensionalen Typologie geschlagen: Die Soziogenese eines konkreten Phänomens wird erst dann verständlich, wenn die soziale Realität als Schnittmenge mehrerer gleichzeitig wirkender genetischer Prinzipien begriffen wird. „Unabhängige”, „kooperierende”, oder gar „konfligierende” Habitusformationen erklären dann das vielfältige und in seinem Detailreichtum unerschöpfliche Spektrum sozialer Handlungsweisen durch eine an sich begrenzte und beschreibbare Anzahl von Prinzipien. Um zu dieser soziogenetischen Interpretation zu gelangen, muss der Analyseprozess verschiedene Stufen durchlaufen: (1) In der formulierenden Interpretation wird versucht, die Inhalte des Ausgangsmaterials zu erschließen und »innerhalb des Relevanzsystems, des Rahmens der untersuchten Gruppe« zu rekapitulieren (Bohnsack 1999: 36). In der formulierenden Interpretation widmen sich die Forschenden ausschließlich dem thematischen Gehalt der Texte. »Man bleibt hier konsequent innerhalb des Relevanzsystems derjenigen, die man erforscht, ohne auf ein – diesen Texten äußerliches – sozialwissenschaftliches Vokabular zurückzugreifen«. Da hier einzig und allein die Wirklichkeit der untersuchten Akteure im Zentrum der Analyse steht und nicht die Wahrheit der konstatierten Inhalte, ist »die Frage nach der Gültigkeit bzw. dem Wahrheitsgehalt« dieser Aussagen »zurückzustellen« (Nohl 2001a: 44)5. Der immanente Sinngehalt der Aussagen, die Zweckrationalität der von den Akteuren diskursiv und handlungspraktisch vertretenen Praxen muss außerhalb der Aufmerksamkeit bleiben. Ob es entsprechend dem medizinischen state of the art richtig ist, eine spezifische Therapie bei einem problematischen Patienten anzuwenden ist, oder nicht, ist nicht Thema der Interpretation. Ein Sozialforscher darf sich hier nicht anmaßen, es besser zu wissen als die Akteure. Sehr wohl sollte es ihn jedoch interessieren, wenn ein Teil der beobachteten Akteure selbst Zweifel, an dem was geschieht, anmeldet. Denn dies gibt Aufschlüsse darüber, wie die Dinge verhandelt werden. (2) In diesem Sinne wird in der »reflektierenden Interpretation« das Augenmerk auf den dokumentarischen Gehalt, dem Modus Operandi der Herstellung dieser spezifischen Handlungsund Orientierungsrahmen gelenkt. Dies geschieht, indem »die Selektivität, d. h. die spezifische Weichen- und Problemstellung bei der Behandlung des Themas und damit dem für die Behandlung des Themas ausschlaggebenden Rahmen, dadurch sichtbar gemacht wird, daß ich Alternativen dagegenhalte, daß ich dagegenhalte, wie in anderen Gruppen die Weichen bei der Behandlung desselben bzw. eines vergleichbaren Themas anders gestellt werden: es werden Kontingenzen sichtbar« (Bohnsack 1999: 36). Zunächst werden auf einer groben, gedankenexperimentellen Ebene »erste Komponenten im Orientierungsrahmen des ersten Falles herausgearbeitet, d. h. eine spezifische Art und Weise, ein Thema zu bearbeiten. Falls die Interpretation noch nicht durch einen empirischen Vergleichshorizont, also durch den Vom immanenten Sinn zum „Modus Operandi” sozialer Praxis 65 Fallvergleich mit strukturiert ist, gilt es spätestens hier einen zweiten Fall zu finden, indem sich derselbe Orientierungsrahmen dokumentiert. Mit diesem wird einerseits die reflektierende Interpretation empirisch untermauert, andererseits werden Vergleichsmöglichkeiten eröffnet« (Nohl 2001b: 256). So zeigt sich beispielsweise, dass manche Dinge - etwa das setting der Chefvisite - auf der chirurgischen Abteilung ähnlich abzulaufen scheinen wie in der psychosomatischen Abteilung, andere Dinge jedoch recht verschieden. Die strukturellen Homologien weisen dann möglicherweise auf eine gemeinsame Erfahrungsebene hin - etwa das Bestehen steiler Hierarchien -, aber auch auf Unterschiede – etwa einem vollkommen anderen Krankheitsverständnis. In einem weiteren Schritt wird nun »vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Orientierungsrahmens, der bislang allerdings nur vage formuliert und keiner Erfahrungsdimension eindeutig zugeordnet werden kann« versucht, in beiden Fällen Orientierungsrahmen zu rekonstruieren, »die miteinander kontrastieren und in einer anderen Erfahrungsdimension liegen. Die Gemeinsamkeiten des Orientierungsrahmens, die sich in zwei Fällen etablieren lassen, beziehen sich also nie auf den ganzen Fall, sondern immer nur auf eine spezifische Erfahrungsdimension bzw. auf einen spezifischen Erfahrungsraum« (Nohl 2001b: 256). Die reflektierende Interpretation leistet also zugleich eine Abstraktion, indem etwa übergreifende hierarchische Strukturen im medizinischen Feld entdeckt werden, und eine Spezifizierung, indem Unterschiede benannt und lokalisiert werden können. Das den jeweiligen Vergleich strukturierende Dritte (Tertium comparationis) wird je nach Vergleichshorizont variieren. Es stellt ein gemeinsames Thema dar, das in den unterschiedlichen medizinischen Abteilungen vorkommt und verhandelt wird. Ein Thema zeichnet sich durch strukturelle Gemeinsamkeiten aus, die eher auf formalen Inhalten, denn auf inhaltlichen Details beruhen, denn erst durch diese mittlere Abstraktionsebene werden die Loslösung vom Einzelfall und hieraus die später erfolgenden Verallgemeinerungen möglich. Die Identifikation der Themen erfolgte empirienah aus den Beobachtungen der ärztlichen Entscheidungspraxis. So kristallisierten sich stations- und abteilungsübergreifende Thematiken heraus, wie etwa Patientenaufklärung, Fehlverhalten von Patienten, Umgang mit suizidalen Patienten, geeigneter Entlassungstermin, risikoreiche diagnostische Eingriffe, Verlegung schwieriger Patienten, Patientenwunsch nach nichtindizierten medizinischen Eingriffen, prekäre medizinische Interventionen etc. Der Abstraktionsgrad dieser Themenkataloge erlaubt es, sich vom unmittelbaren Krankheitsgeschehen zu lösen, um die Prozessierung der im Einzelfall recht unterschiedlichen Krankheitsbilder vergleichend betrachten zu können, natürlich unter der Voraussetzung vorhandener struktureller Homologien in der grundlegenden sozialen Problematik. Als organisatorische Einheit ärztlichen Handelns wird hier in der Regel die einzelne Station betrachtet, denn letztlich müssen die Konsequenzen medizinischer Handlungspraxis vom ganzen Team getragen (und verantwortet) werden6. Für die komparative Analyse ergeben sich hieraus dann Vergleichsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Themen und verschiedenen Stationen. Am Ende dieses Analyseschrittes steht die sinngenetische Typenbildung, das heißt die distinguierte Reflexion der Kontingenzen der jeweils untersuchten Praxen. (3) Schließlich mündet dieser Analyseprozess in der so genannten soziogenetischen Interpretation, innerhalb der dann eine Typik entwickelt wird, die auf die jeweils unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen verweist. So stellt die Hierarchie im Krankenhaus in ihrer mehr oder weniger steilen Form ebenso eine Dimension ärztlicher Wirklichkeit dar III. Dokumentarische Methode 66 wie die Aufspaltung in unterschiedliche fachliche Subdisziplinen mit ihren jeweiligen spezifischen medizinischen „Kulturen”. Die Bildung einer Typik beginnt damit, dass in zwei Fällen ein homologer Orientierungsrahmen gefunden wird, der auf die Gemeinsamkeiten der beiden Fälle innerhalb einer Erfahrungsdimension hinweist. »Auf dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit zeichnen sich andere Orientierungsrahmen ab, in denen die beiden Fälle sich voneinander unterscheiden«. Entsprechend ist zu vermuten ist, »dass diese kontrastierenden Orientierungsrahmen unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen zuzuordnen sind« (Nohl 2001: 268). In dem Prozess der Ausbildung einer Typik muss das tertium comparationis ständig verändert werden, da sich nur hierdurch die verschiedenen Erfahrungsdimensionen offenbaren können. Erst die soziogenetische Typenbildung erlaubt ein erklärendes Verstehen, denn die Orientierungsrahmen der jeweiligen Akteure - in der sinngenetischen Interpretation abstrahiert und spezifiziert – erscheinen nun als eine »Orientierung« innerhalb einer spezifischen »funktionalen Beziehung«, die im Hinblick zur spezifischen »Erfahrungsdimension«, zur »Sozialisationsgeschichte« und zum »existentiellen „Hintergrund“ der jeweiligen Praxis herausgearbeitet« wird (Bohnsack 2001b: 245). Beispielsweise wird der Orientierungsrahmen „Hierarchie” erst dann verständlich, wenn man Machtstrukturen als ein hilfreiches Mittel zur Unsicherheitsbewältigung begreift und dann die jeweils spezifische Logik in der Reproduktion der Machtverhältnisse unter dem Blickwinkel der Sozialisation im Krankenhaus betrachtet. Erst als rekursive Beziehung von Habitus und Feld werden solche kollektiven Orientierungen - oftmals erst in schmerzhaften Erfahrungen erlernt - verständlich. Die wiederkehrenden Muster eines konjunktiven Erfahrungsraumes, der über Stations-, Fach- und Abteilungsgrenzen hinweg in strukturell homologer Form auftritt, erklären dann die übergreifenden Dimensionen des ärztlichen Habitus, der von den Akteuren selbst in der Regel mehr gefühlt, als reflexiv begriffen wird7. Erst auf der Analyseebene der soziogenetischen Interpretation sind Generalisierungen des Typus im Sinne einer mehrdimensional konstruierten Typologie möglich8. Wobei der Begriff „Typus” hier nicht mehr im Sinne einer Einheit der Person begriffen werden darf, sondern als eine Schnittmenge genetischer Prinzipien verstanden werden muss, von denen innerhalb einer konkreten Handlungskonstellation jeweils nur ein Teil aktiv zu Geltung kommt. Als Einheit keiner „Person” könnte etwa Frau Dr. X nur unter Berücksichtigung aller sie auszeichnenden Dimensionen begriffen werden. So würden den Erfahrungsdimensionen Geschlecht, ethnischer Herkunft, Ausbildungsstand, Krankenhauskultur, Fachdisziplin, Stellung in der Hierarchie etc. jeweils eine typologische Achse entsprechen. In den ärztlichen Entscheidungsprozessen treten – wie die komparativen Analysen zeigen – bestimmte Orientierungsrahmen in den Vordergrund, bilden den primären Rahmen. Andere Aspekte, wie etwa das Geschlecht, bleiben im Hintergrund, was jedoch nicht bedeutet, dass sich die Geschlechterverhältnisse in anderen Interaktionszusam menhängen - etwa der Organisationskultur - nicht auch im Arbeitsalltag manifestieren können. Die Methode der dokumentarischen Interpretation - wie von Bohnsack entwickelt und vorgestellt - wird in dieser Studie durch einige metatheoretische Konzeptionen unterschiedlicher Provenienz ergänzt (siehe hierzu Kap. IV). (b) Erhebungsverfahren Die Datengrundlage liefern zum einen vier 10- bis 12-wöchige Feldforschungsaufenthalte auf Stationen in verschiedenen Kliniken und medizinischen Disziplinen. Beobachtet wurden Erhebungsverfahren 67 eine chirurgische und eine internistische Station in zwei städtischen Krankenhäusern der Maximalversorgung sowie eine psychosomatische und eine onkologisch-hämatologische Station eines Universitätsklinikums. Zum anderen wurden die beteiligten professionellen Akteure in Experteninterviews zu den beobachteten Fällen sowie zu anderen prekären Entscheidungssituationen befragt. In den 40 Einzelinterviews unterschiedlicher Länge (3876 Minuten pro Interview) wurden überwiegend Ärzte aus unterschiedlichen hierarchischen Positionen befragt. Zur perspektivischen Kontrastierung wurden zusätzlich tonbandprotokollierte Gespräche mit Sozialarbeitern, Psychologen, einigen Krankenschwestern, Einzeltherapeuten sowie einem Krankenhausseelsorger geführt. Die beiden Erhebungsformen liefern jeweils unterschiedliche Textsorten. Während in der Feldbeobachtung die unmittelbare Logik der Praxis in ihrer ursprünglichen Sequenzialität erscheint, produziert das Experteninterview Reflexionen über die Praxis. Begründungen in Form von Motiven und anderen Akteurtheorien werden eher hier entwickelt. Dies schließt zwar nicht aus, dass auch in der Praxis Reflexionen und Erzählungen über die Praxis einfließen können, bzw. dass die Logik der Praxis auch in Erzählungen über die Praxis aufscheinen kann. Dennoch entwickelt sich aus diesen beiden unterschiedlichen Erhebungsformen ein Spannungsfeld, das im Sinne meiner Untersuchungsfragestellung produktiv genutzt werden kann, denn gerade in der Differenz zwischen der Theorie über die Praxis und der Handlungspraxis zeigen sich einige interessante Hinweise für die Rekonstruktion des Entscheidungsverhaltens. Feldforschung Während den Feldbeobachtungsphasen wählte ich für eine gewisse Zeit jeweils einen konkreten Arzt (bzw. ein Ärzteteam) aus (in der Regel einen Stationsarzt, teilweise aber auch Oberärzte oder Konsiliarii), begleitete diesen („shadowing”) und versuchte, alle im Hinblick auf die Forschungsfragen relevanten Kommunikationen simultan in einem Notizbuch mitzuschreiben. Nach einer kurzen Zeit hatten sich die beteiligten Akteure an die Anwesenheit des Beobachters gewöhnt. Das Anfertigen von Notizen - selbst während der Patientengespräche - scheint im Kontext Krankenhaus keine besondere Aufmerksamkeit zu erwecken. Weder den Patienten, noch den externen Ärzten gegenüber wurde der Beobachter als Beobachter vorgestellt. Allein durch das Tragen des weißen Kittels schien ich zum medizinischen Feld dazuzugehören und wurde gelegentlich von dem einen oder anderen auf organisatorische oder gar auf fachliche Fragen hin angesprochen. Meine Beobachtungsnotizen repräsentieren dabei den chronologischen Tagesablauf in seiner oftmals fragmentarisch erscheinenden Form (Ärzte springen in der Praxis von einem Fall zum anderen, werden während ihrer Arbeit häufig unterbrochen und haben oft zwei, drei Sachen gleichzeitig im Kopf). Die im weiteren Verlauf dieser Studie dokumentierten Fallbeispiele wurden nach Durchsicht der Aufzeichnungen aus diesen Einzelfragmenten zusammengesetzt, indem all die Geschehnisse, welche unmittelbar zu einem konkreten Behandlungsprozess gehören, in chronologischer Form zusammengestellt und so die jeweils korrespondierenden Beobachtungen zu einer Fallgeschichte zusammengefasst wurden. Die protokollierten Daten stellen als Wahrnehmungen eines Beobachters selbst schon eine Interpretationsleistung dar9. Aus diesem Grund kommt der »methodologischen Leitdifferenz von „formulierender” und „reflektierender” Interpretation« schon »bei der Erstellung von Beobachtungsberichten eine zentrale Bedeutung im Sinne einer kontrollierten Technik des Protokollierens zu« (Bohnsack, et al. 1995: 443). Aussagen über die Befindlichkeit des 68 III. Dokumentarische Methode Beobachters, Hypothesen über mögliche ‚Gegenübertragungenʻ etc. gelten als eine reflektierende Interpretation, die den Orientierungsrahmen der Akteure verlässt, und sollten deshalb nicht mit der elementareren Ebene des Beobachtungsprotokolls vermischt werden. Aus diesem Grunde wurde versucht, während der Dokumentation im Bereich der formulierenden Interpretation zu bleiben, d. h. innerhalb des Relevanzsystems der beobachteten Akteure, und darüber hinausgehende Interpretationen fein säuberlich abzutrennen. Im Sinne der Vermeidung einer vorschnellen Deutung wurde deshalb versucht, die im Feld verwendeten Terminologien zu erhalten, das heißt sich in gewissen Rahmen in die jeweils verwendete Fachsprache bzw. in die durch sie verkörperten immanenten Sinnzusammenhänge einzuarbeiten. Der Forscher musste also zumindest im Hinblick auf die inhaltliche Dimension der untersuchten Erfahrungswelt tiefer in das Feld eintauchen. Ein anderes Problem stellt der Detaillierungsgrad der Beobachtungsprotokolle dar: Je »höher der Detaillierungsgrad, desto weniger muß der Beobachter bzw. die Beobachterin auf die in Abstraktionen bzw. Generalisierungen implizierte Interpretamente zurückgreifen. Andererseits ist es aus forschungsökonomischen Gründen selbstverständlich nicht möglich, durchgängig einen hohen Detaillierungsgrad zu halten, (dies gilt auch für die Darstellung der Beobachtungen in einer Veröffentlichung). Die Feldforscher(innen) sind somit gehalten, die (methodologisch schwerwiegende) Entscheidung über den Detaillierungsgrad ad-hoc bzw. auf der Grundlage unreflektiert aufs neue zu treffen, d. h. unreflektiert Focussierungen zu setzen. Auf der Grundlage erster Auswertungen und Typenbildungen kann dann reflektierter und kontrollierter über Detaillierungen und Focussierungen entschieden werden« (Bohnsack, et al., 1995: 443). Innerhalb dieser Studie wurde die protokollarische Aufmerksamkeit insbesondere auf drei Fragen gelenkt: auf Konflikte, die im untersuchten Feld als Entscheidungsproblem erscheinen, auf verbale Ausdrucksformen und auf die sich in der komparativen Analyse herauskristallisierenden Themen: (1) Einem äußeren Beobachter, der ärztliches Handeln im Krankenhaus beobachtet, dürfte es kaum schwer fallen, eine unendliche Vielfalt an Entscheidungen zu sehen, die im Laufe eines Tages getroffen werden. Jede diagnostische Handlung, jeder therapeutische Eingriff, aber auch sprachliche Interventionen könnten als Entscheidung gewertet werden, wenn ein äußerer Beobachter fragen würde, warum denn nun gerade so und nicht anderes entschieden worden sei. Abgesehen davon, dass sich kein Arzt das permanente In-Frage-Stellen seines Alltagshandelns gefallen lassen würde, führt dieser geweitete Entscheidungsbegriff in die Irre, denn er verwischt den Unterschied zwischen Entscheidung und Routine: So stellt etwa die Indikation für chirurgische Eingriffe bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen für die Ärzte in der Regel kein Entscheidungsproblem mehr dar, da dieses durch mehr oder weniger verbindliche Behandlungsrichtlinien routinisiert ist. Von Entscheidung zu sprechen, macht deshalb hier nur Sinn, wenn Alternativen vorhanden sind, die zu verfolgen für die jeweiligen Akteure bzw. einen Teil der Akteure zumindest erwägenswert erscheint. In diesem Sinne stellte für mich die Thematisierung eines Entscheidungsproblems durch die jeweiligen Akteure das Kriterium dar, die mit diesem Problem verbundenen Beobachtungen besonders ausführlich und aufmerksam zu dokumentieren. Sichtbar werden Entscheidungsprobleme einerseits in Form expliziter Differenzen im Team, anderseits als verbale Reflexionen der Praxis, als Artikulation von Zweifeln, oder auch in Form von Kritik einzelner Mitarbeiter. Alle im Weiteren behandelten Entscheidungsthemen entsprechen in diesem Sinne manifesten, mehr oder weniger deutlich sichtbaren Problemlagen. Erhebungsverfahren 69 (2) Mein Aufmerksamkeitsfokus liegt eher auf den verbalen Ausdrucksgestalten. Es wurde versucht, die jeweiligen Kommunikationen möglichst im Wortlaut oder zumindest unter Erhalt des semantischen Gehaltes zu protokollieren. Demgegenüber wurden der szenische Charakter ebenso wie die nonverbalen Ausdrucksformen der beteiligten Akteure in den jeweiligen Beobachtungseinheiten nur rudimentär dokumentiert. Im Hinblick auf die später zu erfolgende Rekonstruktion der Interaktionsstrukturen ärztlicher Entscheidungsprozesse schien es mir hilfreicher, mehr auf die Semantik, denn auf die Form zu achten. (3) Aus der Reflexion konkreter Entscheidungspraxen kristallisieren sich wiederkehrende Themen heraus. Diese sind etwa: Patientenaufklärung, Fehlverhalten von Patienten, Umgang mit suizidalen Patienten, geeigneter Entlassungstermin, risikoreiche diagnostische Eingriffe, Verlegung schwieriger Patienten, Patientenwunsch nach nichtindizierten medizinischen Eingriffen, prekäre medizinische Interventionen usw. Die Identifikation eines Themas führte zur Suche nach vergleichbaren Problemstellungen auf anderen Stationen bzw. Abteilungen. Im Falle des Auftretens einer homologen Konstellation wurden die entsprechenden Fälle besonders ausführlich protokolliert. Experteninterview Die mit den Akteuren durchgeführten tonbandprotokollierten Experteninterviews haben im Rahmen dieser Studie zwei Funktionen: Zum einen geht es um die Klärung inhaltlicher Fragen. Wichtige Details aus den Beobachtungsprotokollen müssen möglicherweise fachlich nochmals daraufhin abgeglichen werden, ob der Sachverhalt vom Beobachter wirklich richtig verstanden worden ist. Medizinische „Fakten” und organisatorische Strukturen müssen unter Umständen nochmals rekapituliert werden, da sich der immanente Sinn dessen, was die Experten untereinander verhandeln, dem Beobachter nicht immer direkt erschließt. In dieser Hinsicht stellt das Experteninterview auch eine methodologische Kontrolle der im Beobachtungsprotokoll verschrifteten „formulierenden Interpretation” dar. Gerade die Fallbeispiele, welche beim Forscher ein besonderes Interesse erweckt haben, wurden deshalb in den Interviews nochmals ausführlich thematisiert. Die zweite Funktion des Interviews geht über die inhaltliche Dimension der reinen Fakten hinaus. Hier sollte die Struktur der Relevanzsysteme der jeweiligen Informanten, die spezielle Typik und Form des Expertenwissens selbst zum Ausdruck kommen. In diesem wissenssoziologischen Verständnis des Experteninterviews stellt das offene Leitfadeninterview die Methode der Wahl dar. Erst hierdurch gelingt der Zugang zu dieser speziellen Wissensdimension professioneller Eliten. Um mit Meuser und Nagel zu sprechen: »In der Eliteforschung dominieren standardisierte Formen der Befragung, das mag seine Berechtigung haben, wenn die demographische Struktur einer Elite oder deren parteipolitische Einstellungen Gegenstand der Forschung sind. Geht es jedoch um die Rekonstruktion des handlungsorientierenden Wissens von Eliten und Experten, ließe sich mit standardisierten Erhebungen allenfalls Expertenwissen auf der Ebene des diskursiven Bewußtseins erfassen, d. h. rationalisierte und vor allem legitimationsfähige Argumentationsfiguren. Diese fehlen selbstverständlich auch in offenen Interviews mit Experten nicht. Außer in den äußerst seltenen Fällen, in denen ein Interviewpartner sich ‚maskiertʻ, d. h. nur in Form ‚offiziöserʻ Statements antwortet, geben die Experten jedoch Einblick in ihre impliziten funktionsspezifischen Relevanzen und Maximen; und zwar dann, wenn sie Abläufe rekapitulieren, erläutern, extemporieren usw. Solches kann nur in offenen Interviewsituationen III. Dokumentarische Methode 70 entstehen. Für die Interviewführung setzt dies eine flexible Handhabung des Leitfadens voraus. Ein Leitfaden allerdings muß sein. Auf jegliche thematische Vorstrukturierung zu verzichten, wie dies für narrative Interviews kennzeichnend ist, brächte nicht nur die Gefahr mit sich, den Experten als inkompetenter und nicht ernst zunehmender Gesprächspartner darzustellen. Ein solcher Verzicht führte zudem methodologisch in die falsche Richtung, ist uns doch nicht an der Biographie des jeweiligen Elitemitglieds gelegen, sondern an seinen auf den Funktionskontext abgestimmten Strategien des Handelns und Entscheidens« (Meuser und Nagel 1994: 183f.). Expertenwissen ist in diesem Sinne nicht einfach als ein »Rezeptwissen« zu verstehen, sondern repräsentiert eine »Wissensform, die alltagssprachlich als ‚ungeschriebene Gesetzeʻ bezeichnet« werden können10. Im Hinblick auf mein Erkenntnisinteresse und im Sinne der zuvor geschilderten Funktionen wurde während der Interviews folgender Frageleitfaden angewendet: (1) Zu Beginn des Interviews wurden die jeweiligen Akteure zunächst befragt, was aus ihrer Perspektive wirkliche Entscheidungssituationen darstellen würden, das heißt also, was für Situationen auftreten, die nicht routinemäßig nach Schema X. bewältigt werden können. Nachdem einige Situationen benannt wurden, wurden sie aufgefordert, diese anhand von Beispielen aus den letzten Wochen zu konkretisieren und den Prozess der Entscheidungsfindung zu erläutern. (2) Anschließend wurden die Informanten zu konkreten Fällen aus dem Beobachtungszeitraum angesprochen, die aufgrund des Themas und der Form der Bearbeitung bei mir ein besonderes Interesse geweckt haben. Die Akteure wurden hierzu gebeten, die von ihnen wahrgenommenen Probleme und Konfliktlagen aus ihrer Perspektive zu schildern. (3) Im dritten Teil des Gesprächs wurden systemische und strukturelle Problemkonstellationen angesprochen: ökonomische Einflüsse; die Rolle von Patientenwünschen in der Entscheidungsfindung; die Bedeutung der Hierarchie (wer wird wann eingeschaltet?); Kooperationen mit nichtärztlichem Personal (werden Nichtmediziner und wenn ja, wer und wann bei Entscheidungsproblemen zurate gezogen?); die Rolle der so genannten Evidence Based Medicine (in welchem Rahmen werden Leitlinien oder systematische Literaturreviews in den Entscheidungsprozess mit einbezogen?). (4) Im vierten Teil des Interviews wurde die biografische Situation des Informanten kurz beleuchtet, insbesondere wurden sein beruflicher Werdegang und seine Wünsche für die Zukunft sowie seine grundlegenden biografischen Daten erhoben. (c) Fallauswahl Die komparative Analyse stellt gleichsam den Schlüssel der dokumentarischen Methode dar, denn nur im systematischen Vergleich verschiedener Fälle kann es gelingen, die eigenen, standortgebundenen Vorurteile zu relativieren und hierüber zu einer validen und generalisierbaren Typik der beobachteten Phänomene zu gelangen. Der Fall meiner Untersuchung ist jeweils eine konkrete Station bzw. Abteilung. Da aus forschungsökonomischen Gründen immer nur eine begrenzte Zahl von Einrichtungen untersucht werden kann, kommt der Fallauswahl eine wichtige Bedeutung zu, denn hierdurch werden die Vergleichshorizonte bestimmt. Im Idealfall sollten deshalb nur »solche Fälle aufgenommen« werden, »anhand derer theoretischer Kategorien oder Fallauswahl 71 – wie in der dokumentarischen Methode – Typen entwickelt, spezifiziert oder erweitert werden können. Insofern ist ein Fall nicht für sich relevant, sondern ausschließlich hinsichtlich der mit ihm generierten theoretischen Kategorien oder Typen. Eine Rekonstruktion des Fallspezifischen „um seiner selbst willen” ist nicht Ziel des Vergleichs« (Nohl 2001b: 255). Dieses Vorgehen entspricht dem »theoretical sampling« der »grounded theory«, wie es Glaser und Strauss (1967) vorgeschlagen haben: Die weiteren Fälle sollten im Hinblick auf ihren Nutzen für die weitere Theoriegenerierung ausgewählt werden. Zunächst sollte also ein Fall analysiert werden und dann entsprechend den aus diesem Fall entwickelten Hypothesen weitere Vergleichshorizonte hinzugezogen werden. Allein schon deshalb, weil dem Forscher nicht immer der entsprechende Feldzugang gestattet wird11, kann das theoretisch wünschenswerteste Kontrastbeispiel nicht immer ausgewählt werden. Insbesondere in der Erforschung von Institutionen – wie hier auch in der Krankenhausforschung – muss die Fallauswahl aus forschungspraktischen Gründen Opportunitäten folgen, die im Hinblick aus das theoretical sampling nicht hundert Prozent optimal erscheinen, sehr wohl aber begründet sind. Diese Studie beschränkt sich Akutkrankenhäuser. In diese Einrichtungen werden Patienten mit einer akuten, teils lebensbedrohlichen Erkrankung eingewiesen. Die Einweisung erfolgt mit dem Ziel der Heilung. Von den Akutkrankenhäusern zu unterscheiden sind: Rehabilitationskliniken, in denen nicht die Behandlung einer akuten Problematik, sondern die Wiederherstellung des durch lange oder schwere Krankheit angeschlagenen Allgemeinzustandes im Vordergrund steht, geriatrische Kliniken, in denen die chronische Erkrankung im Vordergrund steht; Palliativstationen, in denen die Reduktion von Beschwerden und Schmerzen einer zum Tode führenden Krankheit im Vordergrund steht; Einrichtungen zur Behandlung von Suchtkranken etc. Eine Kontrastierungsachse besteht in der Untersuchung jeweils verschiedener medizinischer Fachdisziplinen. Die beiden internistischen Stationen werden dabei flankierend einerseits von einer „härteren” Seite - der Chirurgie-, andererseits von der weichen Psychosomatik beleuchtet. Des Weiteren wurde der Kontrast zwischen dem städtischen Krankenhaus der Maximalversorgung und dem Universitätsklinikum gewählt. Hier ergeben sich einerseits Unterschiede in der Steilheit der Hierarchien, andererseits im Hinblick auf die Form, wie Wissenschaft und Lehre in den medizinischen Alltag integriert werden. In dieser Studie konzentriere ich mich auf Entscheidungsprozesse, die auf einer mittleren Zeitskala ablaufen, das heißt auf Prozesse, die innerhalb von Stunden, Tagen, manchmal auch innerhalb von ein bis zwei Wochen bearbeitet und im Team kommunikativ verhandelt werden. Schnell ablaufende Entscheidungsprozesse, wie sie etwa in der Notaufnahme und als spontane Entscheidungen im Operationssaal geschehen, wurden nicht dokumentiert. Wenngleich auch einige Experteninterviews mit Intensivmedizinern geführt wurden, wird die Intensivstationen hier nicht als Kontrast hinzugezogen, da hier spezielle Entscheidungsprobleme im Vordergrund stehen, die nicht unbedingt mit den Themen der peripheren Stationen vergleichbar sind. Aus dem Vergleich der Stationen ergeben sich einige weitere natürliche Kontraste - beispielsweise die Altersstruktur der Mitarbeiter eines Hauses bzw. die politisch-gewerkschaftliche Kultur der jeweiligen Ärzteschaft. Die Frage, inwieweit es sinnvoll erscheint weitere - über diese Studie hinausgehende - Kontraste hinzuzuziehen, wird erst in der abschließenden Diskussion geführt werden, denn zunächst ist im Ergebnisteil aufzuzeigen, was die vorhandenen Vergleichshorizonte leisten. III. Dokumentarische Methode 72 (d) Transkription und Beobachtungsprotokolle Die Beobachtungsprotokolle entsprechen dem, was während der Feldbeobachtungen mitgeschrieben wurde. Die Interviewpassagen wurden ursprünglich nach den Regeln der Ulmer Textbank transkribiert (Mergenthaler 1992). Der einfachen Lesbarkeit halber wurden die Texte in der Darstellung manchmal etwas geglättet. Insbesondere die Sonderzeichen, welche Intonationen markieren, wurden entfernt. (e) Ergebnisdarstellung Bei den im Folgenden vorgestellten Fallbeispielen handelt es sich um Fälle, bei denen sich aufgrund der hohen interaktiven Dichte Spannungslagen und potenzielle Konfliktfelder besonders deutlich zeigen. Als Extrembeispiele, die aus dem reibungslosen Routineabläufen herausragen, demonstrieren sie Rahmungskonflikte, die latent auch in anderen Behandlungsprozessen angelegt sind, dort jedoch nicht unbedingt manifest zum Ausdruck kommen. Die Falldarstellungen folgen dabei in ihrem sequenziellen Ablauf dem Zeitverlauf des realen Entscheidungsprozesses. Der erste Absatz einer jeweiligen Sequenz beinhaltet eine inhaltliche Zusammenfassung dessen, worum es im Folgenden geht (formulierende Interpretation). Der zweite Absatz stellt einen Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll bzw. Interviewtranskript dar. Die Analyse der Sequenz (reflektierende Interpretation) wird im dritten Absatz geleistet. Auf das Beobachtungsprotokoll bzw. die Schilderung der Interpretation wird teilweise verzichtet, wenn die zusätzliche bzw. ausführliche Darstellung keine weitere Einsicht oder Erkenntnis zu versprechen scheint. Wenngleich versucht wurde, in den Beobachtungsprotokollen die dokumentierten Gespräche im Wortlaut, zumindest aber sinngemäß, mitzuschreiben, so ergeben sich naturgemäß dennoch Lücken, die im Text durch drei Punkte »...« angezeigt sind. Gekürzte, aber im ursprünglichen Beobachtungsprotokoll vorhandene Passagen werden durch eingeklammerte Punkte »[...]« angedeutet. (f) Maskierung der Daten Namen von Personen und Institutionen sowie Datumsangaben und andere zur Identifizierung geeignete Details sind zum Schutz der beteiligten Akteure verfremdet worden. Aus denselben Gründen werden organisatorische Details der untersuchten Krankenhäuser ebenso wie die medizinischen Spezialgebiete, die von diesen bevorzugt behandelt werden, nicht erwähnt. Zusammenfassung − Rekonstruktive Sozialforschung beschäftigt sich mit sozialen Strukturen und damit, wie sich diese reproduzieren, also in welcher sinnhaften bzw. funktionalen Beziehung diese zueinander stehen. Die dokumentarische Methode nimmt dabei die Differenz von Theorien über die Handlungspraxis und die Handlungspraxis selbst zum Ausgangspunkt ihrer Sinnrekonstruktion. Zusammenfassung 73 − Die dokumentarische Methode unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Sinnebenen. Der immanente Sinngehalt entspricht den (zweckrationalen) Um-zu-Motiven im Sinne des common sense. Der dokumentarische Sinngehalt demgegenüber zielt auf einen anderen Modus der Sozialität, nämlich auf die sich aus gemeinschaftlicher Erfahrung formenden habituellen Formationen. − Die komparative Analyse zwischen verschiedenen Fällen ist dabei der methodologische Schlüssel, um das empirische Material interpretativ aufzuschließen. Erst der Wechsel zwischen den Vergleichshorizonten erlaubt es, die Standortgebundenheit des Forschers methodologisch zu kontrollieren, denn »würde man nicht empirisch vergleichen, wäre die einzige Alternative zur Selektivität des zu untersuchenden Feldes mein eigener Relevanzrahmen, d. h. die Normalitätsvorstellungen, die ich selbst als Forscher bei der Behandlung des Themas walten lasse«. − Die Brücke zwischen fallspezifischer Diversität und abstrahierender Typenbildung wird mittels einer multidimensionalen Typologie geschlagen. Die Soziogenese eines konkreten Phänomens wird erst dann verständlich, wenn die soziale Realität als Schnittmenge mehrerer gleichzeitig wirkender genetischer Prinzipien begriffen wird. „Unabhängige”, „kooperierende”, oder gar „konfligierende” Habitusformationen können dann das vielfältige und in seinem Detailreichtum unerschöpfliche Spektrum sozialer Handlungsweisen durch eine begrenzte und beschreibbare Anzahl von Prinzipien erklären. − Die Interpretation des Datenmaterials erfolgt in drei Stufen: In der formulierenden Interpretation wird versucht, die Inhalte des Ausgangsmaterials zu erschließen und innerhalb des Relevanzsystems den Rahmen der untersuchten Gruppe zu reformulieren. Demgegenüber wird in der reflektierenden Interpretation das Augenmerk auf den dokumentarischen Gehalt, den Modus Operandi der sozialen Herstellung dieses spezifischen Handlungs- und Orientierungsrahmens gelenkt. Schließlich mündet der Analyseprozess in der so genannten soziogenetischen Interpretation, in einer Typik, die auf die jeweils unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen verweist, welche sich aus der komparativen Analyse ergeben. − Die empirische Datengrundlage liefern vier Feldforschungsaufenthalte auf vier Stationen in Akutkrankenhäusern, in denen Ärzte unterschiedlicher Funktionsbereiche begleitet wurden, wobei deren Kommunikationen soweit wie möglich schriftlich fixiert wurden. Die protokollarische Aufmerksamkeit wurde dabei insbesondere auf drei Fragen gelenkt: auf Konflikte, die im untersuchten Feld als Entscheidungsproblem erscheinen; auf verbale Ausdrucksformen; und auf die sich in der komparativen Analyse herauskristallisierenden Themen. − Diese Studie beschränkt sich einerseits auf Krankenhäuser der Maximalversorgung. Kontrastierungsachsen bilden dabei zunächst verschiedene medizinische Fachdisziplinen (zwei internistische Stationen werden dabei flankierend von der „weichen” Psychosomatik und der „harten” Chirurgie beleuchtet). Die zweite Differenzierung Universitätsklinikum vs. Allgemeinkrankenhaus differenziert einerseits im Hinblick auf die Steilheit der Hierarchien, andererseits im Hinblick auf deren unterschiedliche Formen, wie Wissenschaft und Lehre in den medizinischen Alltag integriert werden. − Mit den ärztlichen und einigen nichtärztlichen Mitarbeitern der Stationen wurden Experteninterviews durchgeführt (insgesamt 40). Dabei ging es einerseits darum, Details aus den Beobachtungsprotokollen inhaltlich abzugleichen. Anderseits lassen sich die Interviews dokumentarisch daraufhin untersuchen, wie das jeweilige Expertenwissen konfiguriert ist. 74 Anmerkungen 1 Durch die Differenzierung zwischen Handlungspraxis und Reflexion dieser Handlungspraxis umgeht die dokumentarische Methode die Fallen, die mit einem auf dem „subjektiven Sinn” beruhenden Handlungsbegriff verbunden sind: »Diese Gleichsetzung von subjektiv gemeintem Sinn und zweckrationalem Entwurf hat allerdings einige problematische Implikationen. Dies betrifft vor allem die in der Trennung von Entwurf und Handlung implizierte Aporie von Erkenntnis und Handlungspraxis, von Geist und Körper sozusagen. Der Entwurf, also das Motiv, ist nicht beobachtbar. Es ist lediglich auf dem Wege der Introspektion, d. h. in spekulativer Weise, zu erschließen oder aber, indem ich mich die Theorien der Erforschten hinsichtlich ihrer eigenen Motive stütze. Im letzteren Fall erfahre ich aber nicht etwas über die Handlungspraxis, sondern über die Theorien über eine Handlungspraxis.« (Bohnsack 2001: 227). 2 Die Unschärfe des Weberʼschen Handlungsbegriffs wurde durch Afred Schütz durch die Differenzierung zwischen „weil” und „Um-zu-Motiven” konkretisiert. Letztere basieren auf einem Handlungsentwurf, einem Orientierungsplan, der dem Verhalten vorgeschaltet ist. Siehe hierzu auch Grathoff (1995: 251ff.). 3 Die »Common-Sense-Typenbildung« hat eine zweckrationale Architektur und folgt dabei einer deduktiven Logik. In der Zweck-Mittel-Relation wird hier der Handlungsentwurf bzw. das Handlungsmotiv von der Handlungspraxis abgetrennt. Die Akteure »objektivieren oder verdinglichen« innerhalb dieser Zuschreibung sozusagen ihr eigenes Handeln. Diese Art der »Typisierung von Orientierungsschemata« findet sich einerseits »im Bereich der Common-Sense-Theoriebildungen«, andererseits »dort, wo Ablaufprogramme des Handelns in objektivierter und normierter Form vorgeschrieben sind, also im Bereich des institutionalisierten und rollenförmigen Handelns« (Bohnsack 2001: 229). 4 Vgl. hierzu auch Bohnsack (2001: 235f.). 5 Mannheim (1980: 88) bezeichnet diesen methodologischen Vorbehalt als »Einklammerung des Geltungscharakters«. 6 Hierzu gehören die Ärzte auf verschiedenen Hierarchiestufen, unter Umständen aber auch andere Mitglieder des therapeutischen und pflegerischen Teams. 7 »Diese tiefergreifenden oder impliziten semantischen Gehalte sind an die Wissensbestände gebunden, welche in die Handlungspraxis eingelassen sind. Das die Handlungspraxis orientierende Wissen ist ein vorreflexives. Auf diesen vorreflexiven Charakter nimmt Mannheim mit dem Begriff des atheoretischen Wissens und Bourdieu mit demjenigen des inkorporierten Wissens Bezug. Die Prozessstrukturen oder generativen Muster dieser Handlungspraxis sind Gegenstand praxeologischer Typenbildung« (Bohnsack 2001: 229). 8 Bohnsacks Konzeption beantwortet gewissermaßen die Frage von Lüders, »wie man auf einer mittleren Abstraktionsebene vor dem Hintergrund heterogener Kontexte gewonnene Daten erstens validiert und zweitens begründet generalisiert (Lüders 2000, 640f.). Die Varianz des Untersuchungsmaterials kann nur über eine vielschichtige Analyse aufgeschlossen werden, in der die Überlagerung unterschiedlicher Orientierungsrahmen zum Ausgangspunkt weiterer komparativer Analysen wird und so erst die Schnittpunkte der verschiedenen Dimensionen „verstehendes Erklären” im Sinne einer generativen Erklärung erlauben. »Das Geheimnis des Typus liegt also in der Mehrdimensionalität der Typologie. Die Komplexität, die notwendig ist, um einen Fall zugleich mehreren Typiken zuzuordnen und somit der Mehrdimensionalität des Falls Rechnung tragen zu können, wird aber in der neueren Literatur zur Typenbildung der qualitativen Sozialforschung weder in der Forschungspraxis noch in der methodischen Programmatik erreicht« (Bohnsack 2001: 249). 9 Die »ʻeigentlichenʻ Beobachtungen« bewegen sich »konversationsanalytisch« auf der »Ebene von Erzählungen („stories”), also von chronologisch sequenzierten Darstellungen« (Bohnsack, et al. 1995: 443). 10 »Nimmt man die Giddensche Unterscheidung von praktischem und diskursiven Bewußtsein auf, so läßt sich diese Form des Expertenwissens ‚irgendwoʻ irgendwo zwischen den beiden Polen verorten. Es ist kein völlig vorreflexives Wissen auf der Ebene von Basisregeln, aber auch kein Wissen, das die Experten einfach ‚abspulenʻ können. Sie können über Entscheidungsfälle berichten, auch Prinzipien nennen, nach denen sie verfahren«. Dennoch müssen die »überindividuellen, handlungs- und funktionsspezifischen Muster des Expertenwissens« erst entdeckt, d. h. interpretativ rekonstruiert werden« (Meuser/Nagel 2001: 182f.). 11 In Einzelfällen gibt der Versuch, einen Zugang zum Feld zu gewinnen, durchaus auch schon einige Hinweise bezüglich der in dieser Einrichtung vorhandenen Kommunikationskultur. Ein Chefarzt einer internistischen Abteilung eines Universitätsklinikums wurde mehrmals von mir angeschrieben. Als ich nach zwei Wochen Wartezeit im Chefsekretariat anrief und fragte, ob denn diesbezüglich eine Entscheidung getroffen sei, begann die Sekretärin erneut in ihren Akten nach dem Brief zu suchen. Sie erzählte mir, dass ihr Chef normalerweise den Brief in eine Mappe legen würde und die Sache dann mit den Oberärzten besprechen würde. Da der Brief aber nicht mehr anzutreffen sei, müsse der Chefarzt diesen wohl zerrissen und weggeschmissen haben und dies sei dann auch als eine Entscheidung zu verstehen. Daraufhin fragte ich die Sekretärin, ob dies jetzt wirklich so der Fall sei. Daraufhin antwortete sie, dass dies eben jetzt so sei, es wäre jetzt wirklich eine klare Entscheidung. Außerdem würde sich ja jetzt auch das Verschwinden des vorigen Briefes erklären. Der Chef habe ihn auch aus der Mappe herausgenommen und zerrissen. 75 IV. Soziologie des Entscheidens: theoretische und metatheoretische Konzeptionen 1. Beziehung zwischen Theorie und Forschungspraxis Das nun folgende Theoriekapitel hat innerhalb dieser Studie eine Doppelfunktion: Zum einen werden die wichtigsten Kandidaten eine soziologischen Entscheidungstheorie gegenübergestellt. Hierzu werden paradigmatisch handlungstheoretische, interaktionstheoretische, habitustheoretische und systemtheoretische Positionen vorgestellt und dann jeweils auf ihre Erklärungspotenziale im Hinblick auf eine originär soziologische Theorie des Entscheidens hin untersucht. Zum anderen wird der metatheoretische Rahmen der dokumentarischen Methode um einige weitere für diese Untersuchung nützliche Konzepte erweitert. Goffmans »Rahmenanalyse (3)« lenkt den Blick auf die Hierarchie von Sinnsystemen und Orientierungsrahmen und den sich hierdurch gestaltenden Freiheitsgraden durch bestimmte Sinntransformationen (etwa der Täuschung). Oevermanns Theorie der »sozialen Deutungsmuster (4)« weist auf die konstitutionslogischen Voraussetzungen professioneller Autonomie und damit auch auf die sozialisatorischen Bedingungen ärztlicher Entscheidungspraxis hin. Bourdieus Konzeption von »Habitus und Feld (5)« fokussiert die Aufmerksamkeit auf die Machtverhältnisse innerhalb von Institutionen und formuliert darüber hinaus eine Logik der Praxis, ohne den scholastischen Rationalitätsbegriff rekurrieren zu müssen. Luhmanns systemtheoretischer Vorschlag, »Entscheidungskommunikationen als einen operativen Mechanismus der Reproduktion von Organisation (6)« zu betrachten, lenkt schließlich die Aufmerksamkeit auf die Systemrationalitäten und stellt in diesem Sinne gewissermaßen den Maximalkontrast zur handlungstheoretischen Konzeption der »Rational-Choice-Theorie (2)« dar. Bevor die jeweiligen theoretischen Konzeptionen im Einzelnen vorgestellt werden, werden ihre »metatheoretischen Annahmen, Kompatibilitäten und Unvereinbarkeiten (1.a)« im Allgemeinen bzw. im Hinblick auf die »Integration in die Forschungspraxis der dokumentarischen Methode (1.b)« im Speziellen diskutiert. (a) Metatheoretische Annahmen, Kompatibilitäten und Unvereinbarkeiten Wenn im Folgenden verschiedene theoretische Ansätze recht unterschiedlicher Provenienz herangezogen werden, so soll hier keinesfalls das Wort für einen theoretischen Pluralismus geredet werden, der vor dem Hintergrund einer in den Sozialwissenschaften explodierenden Paradigmenvielfalt die Not als Tugend verkauft und unreflektiert alle möglichen Versatzstücke zu einem Potpourri vermischt. Gegen diese Position der Beliebigkeit wurde in dieser Studie versucht, eine gewisse metatheoretische Kohärenz bewahren. Zumindest in ihren Grundannahmen sollten die für die Analyse des empirischen Materials hinzugezogenen Theorieelemente miteinander kompatibel sein, um die theoretische Stringenz der Argumentation aufrechterhalten zu können: Die erste verbindende Klammer besteht in der Position des sozialen Konstruktivismus. Im Sinne eines modernen Theoriedesigns müssen die hier linearen Erklärungsmodelle zu Gunsten 76 IV. Soziologie des Entscheidens dialektischer bzw. selbstreferenzieller Ansätze aufgeben werden, müssen also die untersuchten Gegenstände als komplexe Phänomene begriffen werden. Die zweite metatheoretische Übereinstimmung besteht in dem Verzicht auf einen intentionalen Handlungsbegriff, denn die Weberʼsche Idee, eine Handlung mit dem subjektiv gemeinten Sinn zu verbinden, verstellt den Blick auf eine wichtige soziale Dimension, nämlich das Handeln und Entscheiden auch als ein Zurechnungsproblem betrachten zu können. Die intentionalen zweckrationalen Aspekte des Handelns stellen in diesem Sinne nur eine Seite der Medaille dar, die andere Seite besteht in den spezifischen Konstellationen innerhalb des Sozialen, die ein Problem erst als Entscheidungsproblem konstituieren, die einer Person Entscheidungsverantwortung zuschreiben und die im post hoc diesbezügliche Begründungen für Entscheidungen verlangen. Die dritte Klammer besteht im Verzicht auf eine Rekonstruktion bzw. Deutung des subjektiven Erlebens. Nicht das, was subjektiv gemeint sein könnte, steht im Vordergrund der Datenanalyse, sondern die interaktive bzw. kommunikative und damit sich objektiv als „Text” manifestierende Herstellung von Sinn, Handlungsorientierung und sozialer Wirklichkeit. Das vierte gemeinsame Moment besteht in der Annahme, dass soziale Wirklichkeit als eine geschichtlich gewordene Realität zu verstehen ist, die jedoch – wenngleich in ihrer Entstehungsgeschichte kontingent – wenn einmal konstituiert, eine quasi objektive Gesetzlichkeit bildet, die als „Feld”, „System” oder „objektive Sinnstruktur erkenn- und rekonstruierbar ist. Auch wenn diese Wirklichkeiten dem konstruktivistischen Paradigma folgend als sozial konstruiert angenommen werden, gilt für die wissenschaftliche Interpretation dieser Sachverhalte die Haltung eines methodologischen Objektivismus: Wirklichkeitsinterpretation (und -konstruktion) ist zwar eine Frage des Standorts, nicht aber nicht eine Frage der Beliebigkeit oder des subjektiven Geschmacks. Die Perspektivenabhängigkeit der Erkenntnis heißt nicht, dass die methodologische Erkenntnis der Wirklichkeit aufgegeben werden muss, sondern bedeutet, dass die jeweilige Perspektive explizit in die Analyse miteinbezogen werden muss1. Mit Ausnahme der Rational-Choice-Theorie sind alle hier vorgestellten Ansätze zumindest in den hier rezipierten Theorieelementen mit den zuvor formulierten metatheoretischen Positionen kompatibel. Sie lassen sich – wie im Folgenden noch ausgeführt wird - durchaus in die metatheoretische Konzeption der dokumentarischen Methode integrieren. Die Rational-Choice-Theorie als die wohl derzeit mächtigste entscheidungstheoretische Konzeption bildet demgegenüber gleichsam den advocatus diaboli zu dem hier vertretenen Ansatz. In ihrem Theoriedesign folgt sie dem klassischen eindimensionalen Kausalitätsverständnis und kommt auf einen intentionalistischen Handlungsbegriff zurück. Dennoch kommt eine ernsthafte soziologische Auseinandersetzung nicht umhin, sich an ihr abzuarbeiten, sich auf sie zu beziehen: sei es in der kritischen Rezeption des Weberʼschen Handlungsbegriffs, sei es in der Kritik des Zweckbegriffs oder der Kritik an der Vorstellung, dass man Organisationen als verlängerte Rationalitäten ihrer Mitglieder begreifen könne. Auf die phänomenologischen Positionen in der Tradition von Alfred Schütze wird in dieser Studie nicht zurückgegriffen. In diesen wird zwar eine handlungstheoretische Position entwickelt, die die soziale Konstitution von Sinn innerhalb lebensweltlicher Sinndomänen anerkennt. Die analytische Eingrenzung auf das einzelne Handlungssubjekt und die forschungspraktisch übliche (nicht jedoch theoretische) Beschränkung auf die Untersuchung intentionaler Handlungsmotive lassen hier jedoch den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung verschwinden: Die subjekt- 1. Beziehung zwischen Theorie und Forschungspraxis 77 philosophischen Annahmen und der Begriff des intentionalen Handelns verstellen den Blick auf die sozialen Bedingungen des Entscheidens. Auch wenn im Rahmen dieser Untersuchung davon ausgegangen wird, dass die für die Rekonstruktion des empirischen Materials zurate gezogenen Theoriemodelle in gewisser Form kompatibel sind bzw. sich komplementär ergänzen können, sollten die Begrifflichkeiten der jeweiligen Konzeptionen nicht vermischt werden. Ihre Kompatibilität bezieht sich auf die epistemologischen Grundannahmen, nicht jedoch auf die wissenschaftlichen Traditionen, aus denen sie sich entwickelten, und auch nicht unbedingt auf den Gegenstand, den sie primär untersuchen. Das Bourdieuʼsche Feld meint etwas anderes als der Luhmannʼsche Systembegriff. Das Erste bezeichnet Machtstrukturen, der Zweite selbstreferenzielle Kommunikationszusammenhänge, beide bezeichnen also unterschiedliche Dinge und erklären nicht dasselbe Phänomen - auch wenn dies auf den ersten Blick so scheinen mag. Kompatibel werden beide Positionen erst innerhalb eines gemeinsamen metatheoretischen Rahmens, der die epistemologischen Gemeinsamkeiten herausstellt, dabei jedoch nicht die Unterschiede verwischt und über die Betonung der Differenzen die Chance bietet, dass sich die jeweiligen analytischen Positionen komplementär ergänzen und hierdurch in fruchtbarer Weise die empirischen Sachverhalte erhellen. In diesem Sinne werden die Grundgedanken der jeweiligen Konzeptionen innerhalb der eigenen Theoriesprache vorgestellt. (b) Integration in die Forschungspraxis der dokumentarischen Methode In den folgenden Abschnitten muss trotzdem ein kurzer theoretischer cross over gewagt werden - allein schon um auf einige relevante diesbezügliche Diskurse Bezug zu nehmen. Zunächst wird die Erweiterung der dokumentarischen Methode um die hier zurate gezogenen theoretischen Perspektiven im Vordergrund stehen, um dann die Beziehung dieser Ansätze untereinander kurz zu thematisieren. Die dokumentarische Methode – um nochmals zusammenzufassen - nimmt die Differenz von Theorien über die Handlungspraxis und die Handlungspraxis selbst zum Ausgangspunkt ihrer Sinnrekonstruktion (Bohnsack 2001: 227). Insbesondere die Bourdieuʼsche Konzeption von Habitus und Feld lässt sich in vieler Hinsicht auf epistemologischer und forschungspraktischer Hinsicht mit der dokumentarischen Methode in Deckung bringen: »Es ist unschwer zu erkennen, dass der Habitusbegriff einem zentralen Gedanken der Mannheimʼschen Wissenssoziologie korrespondiert: dem der Seins- und Standortverbundenheit des Denkens. Der als „gesellschaftliche Orientierungssinn” (Bourdieu 1982: 728) fungierende Habitus verweist auf eine spezifische Soziallage, deren Strukturen sich in den inkorporierten Schemata des Habitus niederschlagen. Das in Gestalt des Habitus einverleibte Orientierungswissen, das von Körperroutinen über Geschmackspräferenzen jedweder Art [...] bis zu Weltbildern reicht, trägt den Index der sozialen Verhältnisse, in denen es erworben wurde und auf die es eine Antwort darstellt« (Meuser 2001: 208). Die dokumentarische Interpretation kann als der methodologische Zugang zur Rekonstruktion von Habitusformationen verstanden werden. »Der Habitus dokumentiert sich in Beschreibungen und Erzählungen welche die Erforschten „in thematischer Selbststeuerung” [...] hervorbringen. Aus solchen selbstgesteuerten Äußerungen werden auch die für die Genese und Reproduktion des Habitus bedeutsamen Zentren des kollektiven Erlebens rekonstruierbar« (Meuser 2001: 217). Bourdieu überschreitet jedoch in seinem Habitusverständnis die Textorientierung der dokumentarischen Methode. Die »Inkorporierung sozialer Strukturen« 78 IV. Soziologie des Entscheidens wird hier nicht nur als »Metapher« begriffen, »sondern als Beschreibung des Modus, in dem ein atheoretisches bzw. vorreflexives Verständnis der sozialen Welt gegeben ist«. Man kann die Habitustheorie »(auch) als eine Wissenssoziologie der Körpers begreifen« (Meuser 2001: 220). In dieser Studie wird die Bourdieuʼsche Konzeption vor allem auch hinzugezogen, um die Kontexturen der Macht differenzierter fassen zu können. Besonders der komplementär zum Habitus stehende Begriff des Feldes schärft in Verbindung mit der Konzeption verschiedener feldspezifischer (symbolischer) Kapitalien den Blick für die Machtstrukturen, Abhängigkeiten und Sozialisationsbedingungen der Organisation des modernen Krankenhauses. Das Konzept der »Orientierungsrahmen«, wie Bohnsack diese tief in die Praxis eingewobenen Sinnorientierungen im Kontrast zu den zweckrationalen Motiven, den Orientierungsschemata, benennt (Bohnsack 2001: 229 f.), lässt sich unter gewissen Voraussetzungen durch Goffmans „Rahmenanalyse” erweitern. Goffmans Rahmenanalyse lässt sich zwar in vielen Teilen durchaus auch im Lichte einer subjektphilosophischen Interpretation lesen, innerhalb dessen die von ihm behandelnden Rahmungsprozesse im Wesentlichen als Leistungen des subjektiven Bewusstseins angesehen werden könnten. Goffmans Konzeption wird jedoch im hier verwendeten Sinne entsprechend der These von Willems als eine »Interaktionsordnung« verstanden, die in Bourdieus Begriffen »ein Feld« darstellt, »dessen als Rahmen zu beschreibende Sinnstrukturen in der Form von Habitus fungieren« (Willems 1997: 192). Dieses Verständnis erlaubt eine sinnvolle Anknüpfung an die dokumentarische Methode, denn der Bourdieuʼsche Habitusbegriff ist immer nur im Rekurs auf kollektive und ihrer Natur nach nicht-intentionale Prozesse zu verstehen (siehe ausführlich in Kap. IV.3). Das »reflexive und metakommunikative Sinntatsachen« fokussierende Konzept der Rahmenanalyse (ders.: 309) erlaubt ebenso wie der Blick auf den Modus Operandi der kollektiven Herstellung von Sozialität in der dokumentarischen Methode die Abstraktion von Details fallspezifischer Besonderheiten. Darüber hinausgehend besteht jedoch die Leistung des Goffmanʼschen Rahmenbegriffs in der Formulierung einer »Hierarchie von Sinntransformationen«, einem in »seinem typologischen und grammatologischen Differenzierungsniveau konkurrenzlose Sinnschichtungsmodell« und in diesem Sinne leistet es im Rahmen dieser Untersuchung eine wertvolle Ergänzung der dokumentarischen Methode, denn sein »Instrumentarium erfasst nicht nur alle Grundtypen (Modulationen einerseits, Täuschungen andererseits) und alle Tiefen (Komplexitäten) der Sinntransformation, sondern auch und wesentlich die Praxis des Sinngebrauchs (z. B. Rahmungskontingenzen und Rahmungsschwierigkeiten)« (ders.: 272). Der Prozesscharakter von Entscheidungsprozessen, die Dynamik der Perspektivenwechsel der beteiligten Akteure, Kontingenzen und Unsicherheiten in der Situationsdefinition werden durch Goffmans Begrifflichkeiten erst beschreibbar. Der Prozess ärztlichen Entscheidens braucht nicht mehr als die Abarbeitung eines formalen Kalküls verstanden werden, sondern kann in seiner ganzen Lebendigkeit betrachtet werden, in seinen vielfältigen Positionswechseln, als Komplex unterschiedlicher, sich teilweise widersprechenden Realitätsschichten, in seinen verwickelten kommunikativen Manövern. In Abgrenzung zu wissenssoziologischen Positionen in der Tradition von Schütz stimmen Oevermanns objektive Hermeneutik und Bohnsacks dokumentarische Interpretation in ihren Grundannahmen in folgenden wichtigen Punkten überein2: Beide gehen davon aus, dass die Genese und Strukturiertheit sozialer Wirklichkeit methodologisch kontrolliert rekonstruiert werden kann, und vertreten einen Sinnbegriff, der die soziale Sinnstruktur dem subjektiv erlebten Sinn vorgeschaltet sieht: »Was jene metatheoretischen Kategorien anbetrifft und die ihnen zugrundeliegenden Überlegungen zur Erfahrungs-, Begriffs- und Sinnkonstitution, so stimmen wir auf der Grundlage des von Mannheims ausgearbeiteten Konzepts der konjunktiven Erfahrung 1. Beziehung zwischen Theorie und Forschungspraxis 79 [...] mit der objektiven Hermeneutik dahingehend überein, daß [...] Sinn sich primär konstituiert und erst sekundär zu einem das individuelle Handeln orientierenden Erwartungs- und Sinnmuster wird. Mit der Betonung des Vorgangs der objektiven Sinnkonstitution vor subjektiver Sinnbildung zieht Oevermann eine klare Grenze zur Phänomenologischen Soziologie wie auch zu verkürzenden Interpretationen der Arbeiten von George Herbert Mead« (Bohnsack 1999: 102). Demgegenüber zeigt sich ein markanter Unterschied im Hinblick auf die Position des Forschers. Für Oevermann lassen sich die abgeleiteten Sinnstrukturen auf objektive Regeln zurückführen – sind also prinzipiell dem Forscher durch Überlegen zugänglich3. Die Ausgangspunkte dieses Regelsystems sind - wie auch immer - auf anthropologische bzw. philosophische Bedingungen zurückzuführen, lassen sich also konstitutionslogisch begründen. Die gleichsam vom Himmel gefallene Rationalität des Forschers bietet hier die »„Kontrastfolie” der „objektiven Möglichkeiten”, die jedoch auf »jenen in die interpretativen Kompetenzen des Forschers eingelassenen Normalitätsvorstellungen« basieren. Dieses Vorgehen erscheint jedoch aus der Perspektive der dokumentarischen Methode problematisch, da diese Normalitätsannahmen sich »letzten Endes auf die eigene Sozialkompetenz des Forschers, sein Regelwissen und die ihm gebrauchten Sprachkonventionen stützen muß”« (Bohnsack 1999: 99). Aus diesem Grunde bleibt für Bohnsack der Geltungsbereich der objektiven Hermeneutik begrenzt, er ist auf »ganz bestimmte Dimensionen dieses Gegenstandsbereiches zugeschnitten« (ders.: 99f.), in denen diese Realitätsannahmen funktionieren. Im Unterschied hierzu sieht die dokumentarische Methode ihr interpretatives »Schwergewicht bzw. ihren Focus dort, wo das Fremde in seiner andersgearteten milieugebundenen Normalität begriffen werden soll, in einer Normalität, die aus einer andersgearteten existenziellen oder erlebnismäßigen Verankerung resultiert« (ders.: 100). Oevermanns Methode findet seine Grenze an dem Fremden. Ihre scharfe analytische Formulierung der konstitutionslogischen Bedingungen sozialen Handelns erlaubt es jedoch, einen besonderen Fokus auf die soziale Konstitution von Subjektivität, Autonomie und daraus abgeleitet: die Entscheidungszwänge im professionellen Handeln zu lenken. Oevermanns professionslogischer Ansatz erlaubt, in fast überzeichnender Form die Bedingungen und sozialisatorischen Dilemmata ärztlichen Handelns aufzuzeigen. Aus diesem Grund stellt diese Konzeption ein weiteres wichtiges Analyseinstrument dar, um die Bedingungen ärztlichen Handelns aus einer eher handlungstheoretischen Perspektive nachzuzeichnen, wohl wissend, dass die habituellen Aspekte hier vernachlässigt werden. Aus sozialisationstheoretischer Perspektive können die Ansätze von Oevermann und Bourdieu zumindest wie Liebau es sieht – als zwei sich komplettierende Konzeptionen verstanden werden: »Es ist offensichtlich, daß Oevermanns Begriff der Deutungsmuster genau die gleiche Struktur hat wie der Habitus Begriff Bourdieus; es handelt sich in Oevermanns Begrifflichkeiten, um die regionalen, historischen generativen Grammatiken, die unbewußt wirken, solange sie nicht als solche erkannt und in ihrer Geltung kritisiert worden sind. [...] Bourdieus Habitus-Begriff ist wesentlich weiter als der Deutungsmuster-Begriff; er bezieht sich nicht nur auf die symbolische Ebene, sondern von vorneherein auch und vor allem auf die praktische, die Ebene der Handlungsmuster, die nicht durch Sprache sondern durch körperliche Handlungen und Aktionen gekennzeichnet ist. Oevermanns Deutungsmuster-Begriff verbleibt dagegen auf der Ebene symbolischer Sinn-Strukturen. [...] Deutungsmuster lassen sich als eine Ebene des Habitus auffassen als die Ebene der Denk-, Wahrnehmungs- und Urteilsmuster: die Handlungsmuster, jene also, die die von Bourdieu ausgemachte Qualität des Menschen in Drei-Vierteln seiner Handlungen als Automat im Leibnizʼschen Sinne ausmachen, lassen sich mit dem Deutungsmuster-Begriff nicht fassen« (Liebau 1987: 135f.). »Bourdieus Habitus-Begriff ist jedoch hier seinerseits inso- 80 IV. Soziologie des Entscheidens fern unzureichend, als er nur der Seite der Vergesellschaftung, nicht jedoch nach der Seite der Individuierung hin bestimmt ist. Erst aus der Vermittlung dieser beiden Seiten wäre ein angemessener Subjekt-Begriff zu entwickeln. Ein solcher Begriff dürfte nicht so abstrakt und übergeneralisiert werden wie der Oevermannʼsche Subjekt-Begriff; er müßte vielmehr von vornherein die Unterschiedlichkeit von Lebenslagen und -welten akzeptieren« (ders.: 139). Willems sieht in einem ähnlichen Sinne Konvergenzen zwischen dem Goffmanʼschen Rahmenbegriff, dem Oevermannʼschen Deutungsmusteransatz sowie dem Bourdieuʼschen Feldbegriff. Die Ansätze Bourdieus und Goffmans stellen dabei die weiteren integrationsfähigeren Konzeptionen dar: »Die wesentlichen konzeptionellen Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen Goffmans und Bourdieus liegen im Verständnis von sozialen Sinnstrukturen (Codes), Sinnstrukturierungen und Kompetenzen. „Bedeutung und Interesse” resultieren auch nach Goffman aus interiorisierten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die von der Ebene der Praxis (Rahmung), die sie in der Form von Stilen konstituieren, zu unterscheiden sind. [...] Darüber hinaus besteht eine Übereinstimmung in der Annahme objektiver Seinsordnungen, die als Kognitionen symbolische Diskriminierungseffekte zeitigen. Goffman beschreibt z. B. eine Klasse von Stigmata als Rahmentyp, der in der unmittelbaren Interaktion alles umstrukturiert« (Willems 1997: 216). Im Unterschied zu Oevermann würden jedoch Goffman und Bourdieu »über die Ebene der Codes und über das Verständnis von Kompetenz als „Ausbuchstabieren” hinaus« gehen (ders.: 274). So sehr beide »in der gemeinsamen Tradition Durkheims die Objektivität und Zwanghaftigkeit symbolischer Ordnungen betonen, so sehr stellen sie andererseits (Kontingenz-)Spielräume heraus, in denen kompetente, bedürftige und (eigen-)interessierte Subjekte agieren. Deren habituelles Hauptmotiv, das ihrer Handlungs- und Lebensführung Maß gibt, sind bei Goffman wie bei Bourdieu Formen von (Selbst-)Achtung. Es geht den sozialen Akteuren [...] hauptsächlich darum, Achtungs- bzw. Selbstachtungskapital zu (re-)generieren« (ders.: 217). Goffman und Bourdieu „erlauben” den Akteuren mehr Varianz und Freiheitsgrade in ihrem Handeln, als es die Oevermannʼschen Sinnstrukturen als konstitutionslogisch begründete Normalitätserwartung bieten. Jedoch auch die Konzeptionen von Goffman und Bourdieu stehen in einem Spannungsverhältnis zu- einander: Die Freiheitsgrade der Akteure erscheinen bei Goffman eher im subjektphilosophischen Licht einer egologischen Perspektive: als Raffinesse und Inszenierungsleistung des einzelnen Akteurs. Demgegenüber blickt Bourdieu auf dieselben Prozesse aus einer alterlogischen Perspektive: »Dieser Kampf [um Zugang zu einem sozial anerkannten sozialen Sein, mit einem Wort, um Menschlichkeit] läßt sich nicht auf ein Goffmansches Ringen um die bestmögliche Inszenierung seiner selbst reduzieren: Vielmehr wird hier um eine Macht konkurriert, die nur andere Konkurrenten um dieselbe Macht verleihen können, eine Macht über die anderen, die ihre ganze Existenz den anderen verdankt, ihrem Blick, ihrer Wahrnehmung und Bewertung. [...] Obwohl Produkt subjektiver Sinnverleihungen (die nicht unbedingt Bewußtsein und Vorstellung einschließen), scheint diese symbolische Macht – Charme, Attraktivität, Charisma – mit objektiver Wirklichkeit ausgestattet, scheint sie die Blicke derer zu lenken, die sie produzieren [...]« (Bourdieu 2001: 205f.). Im Sinne der bisherigen Ausführungen lässt sich die Rahmenanalyse, die Konzeption von Habitus und Feld und die Analyse der sozialen Deutungsmuster ohne größere Probleme in den metatheoretischen Rahmen der dokumentarischen Methode einbinden; vorausgesetzt, dass man die jeweiligen Positionen nicht vorschnell vermischt, sondern in ihren speziellen Leistungen und spezifischen Grenzen anerkennt. Erst hierdurch werden die metatheoretischen Supplemente als sich 1. Beziehung zwischen Theorie und Forschungspraxis 81 komplementär ergänzende Blickwinkel nutzbar. Ein solches Vorgehen würde dann durchaus auch den beobachtbaren sozialen Realitäten entsprechen, in denen manchmal eher Regelhaftigkeit, ein anderes mal mehr Kontingenz erscheint, gelegentlich die Raffinesse eines einzelnen Akteurs im Vordergrund steht, während sonst eher die habituellen Formationen im Vordergrund das Geschehen erklären. Wohl wissend, dass manchmal nur die eine Seite der Medaille behandelt werden kann, wird erlaubt, allein schon die Präsenz der jeweils komplementären Position eine Korrektur, die Dinge nicht vorschnell zu vereinfachen - den Zirkel der sozialen Konstitution von Subjektivität nicht vorschnell aufzubrechen. Von ihrer konstruktivistischen Epistemologie her scheint die dokumentarische Methode durchaus kompatibel mit den Annahmen der Luhmannʼschen Systemtheorie. Nicht zuletzt zielt Luhmanns Versuch, eine soziologische Entscheidungstheorie zu entwickeln, die nicht mehr auf den Begriff der Zweckrationalität als zentralem Erklärungskonzept rekurrieren muss, durchaus in die gleiche Stoßrichtung wie die Bourdieuʼsche Kritik des scholastischen Rationalitätsbegriffes. Schwieriger erscheint jedoch die Integration systemtheoretischer Positionen in die Forschungspraxis eines rekonstruktiven Forschungsansatzes. Abgesehen von wenigen Unternehmungen, etwa dem Versuch von Schneider (1995)4, die objektive Hermeneutik als Forschungsmethode der Systemtheorie zu etablieren, ist die Verbindung dieser beiden Ansätze - wenn überhaupt gewünscht und gefordert - eher ein Lippenbekenntnis. Dies hat verschiedene Gründe: Das empirische Material aus den Feldbeobachtungen und Interviews legt es zunächst nahe, von einer Akteursperspektive auszugehen. Hier tauchen aber „Systeme” nicht auf, denn wenngleich auch Systeme im Medium Sinn operieren, so ist ihr Sinn weder sinnlich noch intuitiv nochvollziehbar: »Der Systembegriff legt nicht nur eine neue Denkweise, sondern auch neue Wahrnehmensweisen und neue Empfindungsweisen nahe. [...] Was wir gegenwärtig empfinden ist, daß wir keine Wahrnehmungen und Empfindungen haben, die der konzeptionellen Dimension des Begriffs entsprechen« (Baecker 2002: 92). Es verwundert deshalb kaum, dass mancher Handlungstheoretiker gar die Existenz von Systemen selbst infrage stellt. Dieses Argument greift jedoch aus systemtheoretischer Sicht kaum, da hier die ontologische Frage nach der Existenz von Systemen für zweitrangig gilt5. Primär geht es hier um eine Beobachtungsperspektive, in der die Frage von dem Was auf das Wie verlegt wird, vom Bewusstsein auf die Kommunikation, vom Erleben auf die Zurechnung, also auf die so genannte Beobachtung zweiter Ordnung6. Über diesen Perspektivenwechsel können empirische Phänomene unter einem neuen Licht erscheinen. Allerdings lassen sich die Begriffe der Systemtheorie nicht ohne weiteres in die Sprache der rekonstruktiven Sozialforschung übersetzen. Auch wenn dies auf den ersten Blick so scheint, meint der Systembegriff nicht dasselbe wie der in qualitativen Forschungszusammenhängen verwendete Strukturbegriff. Das eine bezeichnet selbstreferenzielle kommunikative Verweisungszusamm enhänge, während das andere eher als ein Beziehungsmuster innerhalb sozialer Realitäten zu verstehen ist. Eine Machtstruktur stellt kein System dar, wohl aber kann die Wechselbeziehung von Habitus und Feld als ein System gesehen werden, denn hier wechselt die Erklärung auf die Frage der Genese, also auf die Ebene der zweiten Ordnung. Ebenso findet der Habitusbegriff keine unmittelbare begriffliche Entsprechung in der Systemtheorie. In dieser müsste er als die kommunikative Durchdringung unterschiedlicher Systemebenen - nämlich dem sozialen System und dem psychischen System - verstanden werden. Luhmann bezeichnet dies anlehnend an Parsons als Interpenetration. Die spezifische Rolle des Körperlichen im Habitus wäre in der Systemtheorie teilweise als »Symbiosis« verstehbar - als eine spezifische Form des Sozialen sich den Körper über die Kontrolle des sinnlichen Erlebens 82 IV. Soziologie des Entscheidens anzueignen (Luhmann 1998a: 378ff.). Dies geschieht bei Luhmann in Form der „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien”7. Macht koppelt den Körper über die Androhung physischer Gewalt, Geld über die Befriedigung von Bedürfnissen, Liebe über die sexuelle Sinnlichkeit und Wissen über die Ausrichtung der Wahrnehmung und den Erkenntnisvorgang. Auch wenn diese Medien nicht deckungsgleich mit den Formen des Bourdieuʼschen (symbolischen) Kapitals in Deckung zu bringen sind, so zeigen sich hier dennoch konzeptionelle Parallelen. Den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, in denen jeweils eine bestimmte Kapitalsorte vorrangig zum Einsatz kommt, könnten dann die gesellschaftlich ausdifferenzierten Funktionssysteme entsprechen, wobei auch hier wieder zu beachten ist, dass Bourdieu und Luhmann auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen argumentieren: Der Begriff des Funktionssystems ist gesellschaftstheoretisch, der Feldbegriff institutionstheoretisch angelegt, und bezieht sich auf die Positionierung realer Menschen, in konkreten Zusammenhängen. Luhmann beschreibt soziale Wirklichkeit in Anlehnung an Gotthard Günther (1978) als polykontexturale Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Systemreferenzen, die gleichzeitig bestehen, sich durchdringen und wechselseitig irritieren. Der Begriff der Kontextur erinnert zwar an Goffmans Rahmenbegriff, meint jedoch etwas anderes: Goffmans Rahmen bezeichnen akteursspezifische Situationsdefinitionen, die dann im Sinne von Bohnsacks Begriff des Orientierungsrahmens auch als eine kollektive Orientierung innerhalb spezifischer konjunktiver Erfahrungsräume zu verstehen sind. Demgegenüber charakterisiert eine Kontextur einen Systemzusammenhang, der „objektiv” von einem Beobachter als Beobachtung zweiter Ordnung rekonstruierbar besteht, dabei aber jedoch nicht unbedingt von einem konkreten Akteur eingenommen werden muss. Beispielsweise besteht die Kontextur wirtschaftlicher oder juristischer Zusammenhänge innerhalb eines Krankenhauses auch dann, wenn – theoretisch einmal angenommen – die Akteure weder um diese wissen noch diese habituell verkörpern. Die systemischen Einbindungen stellen zunächst einmal abstrakte Beziehungen dar, können jedoch durchaus konkret in einen Habitus übergehen, falls durch sozialisierende Zwischenschritte die strukturelle Koppelung gelingt, die Akteure an die jeweiligen Systeme konditioniert werden. Die Luhmannʼsche Konzeption polykontexturaler Wirklichkeiten erlaubt die Durchdringung systemischer Zusammenhänge, schreibt aber nicht vor, ob und wie dies im Einzelnen geschieht und ist in diesem Sinne weiter gefasst als der Rahmenbegriff. Inwieweit medizinische Akteure als psychische Systeme sich wirtschaftlichen, juristischen oder anderen Systemzusammenhängen ankoppeln, ist nicht von außen determiniert, sondern ist als eine spezifische Interaktionsgeschichte zu verstehen, die eine besondere, unter Umständen einzigartige strukturelle Koppelung konditioniert. Die gesellschaftlichen Kontexturen gestalten gewissermaßen den Möglichkeitsraum, in dem dann weitere Ausdifferenzierungen – eben Geschichte – möglich wird. Der Kontexturbegriff könnte hier im Sinne eines Metarahmens begriffen werden, mit Hilfe dessen übergreifenden Logiken der jeweiligen Funktionssysteme, Organisationssysteme und psychischen Systeme in Beziehung miteinander gesetzt werden können8. Im Gegensatz zu den breiten biografietheoretischen Diskursen wurden in der qualitativen Sozialforschung die Besonderheiten von Organisation, insbesondere auch im Hinblick auf die funktionelle Differenzierung der modernen Gesellschaft, bisher kaum theoretisch und methodologisch reflektiert. Gerade deshalb empfiehlt es sich, diesbezüglich bei der Systemtheorie Anleihen zu nehmen. Denn zum einen gilt es, das Argument der traditionellen Rollentheorie ernst zu nehmen, dass Individuen als spezifische Rollenträger innerhalb von Organisation anders handeln als außerhalb – eine Organisation muss als ein spezifischer konjunktiver Erfahrungsraum verstanden wird. 2. Rational-Choice-Theorie 83 In diesem Sinne wäre das, was Organisationen eigentlich darstellen, ernster zu nehmen, und man dürfte sich nicht - wie viele qualitative Forschungsprojekte es tun –auf die „weichen” Themen der Organisationskultur beschränken. Wenn sich moderne Gesellschaften einerseits durch funktionelle Differenzierung auszeichnen und anderseits im Wesentlichen durch Organisationen konstituiert werden, dann muss diese grundlegende Disposition der Moderne auch als essenzieller Rahmen jeglicher kollektiver Praxis wahrgenommen werden. Um Schimank zu folgen: »So manche organisationstheoretischen Kontroversen erklären sich u. a. daraus, daß die einen, wenn sie allgemein von Organisation sprechen, Unternehmen, die anderen Verwaltungen im Kopf haben. Die nach wie vor spärlichen Untersuchungen über Schulen, Krankenhäuser, Forschungsinstitute, Sportvereine, Fernsehsender etc., also Organisationen weiterer gesellschaftlicher Teilbereiche, zeigen immerhin eines: daß es neben unbestreitbaren teilsystemübergreifenden Gemeinsamkeiten formaler Organisationen wichtige Unterschiede gibt, die sich auf Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen zurückführen lassen. Luhmanns Theorie gesellschaftlicher Differenzierung bietet für eine Ausarbeitung teilsystemspezifischer Organisationstheorien, die dann auch komparativ angelegt sind, eine sehr geeignete Basis«. Hierdurch könnten dann auch die »ad hoc Charakterisierungen der Umwelt von Organisationen« überwunden werden, die entweder – wie z. B. „Komplexität” oder „Unsicherheit” – viel zu abstrakt oder aber umgekehrt viel zu konkret ausfallen«. Stattdessen sollte es darum gehen »Strukturmuster und Probleme einer formalen Organisation auch darauf zurückzuführen, wie der Code und die Programmelemente des betreffenden gesellschaftlichen Teilsystems beschaffen sind« (Schimank 2000: 313). Im Sinne des Gesagten scheint uns hier – bei allen Übersetzungsschwierigkeiten - die Begegnung zwischen Systemtheorie und rekonstruktiver Sozialforschung durchaus hilfreich. Zumindest die Vorliebe zu einer konstruktivistischen Epistemologie sollte die Berührungsängste von rekonstruktiver Forschung und Systemtheorie abmildern helfen. Schließlich besteht hier auch eine Gemeinsamkeit gegenüber der philosophischen Tradition sich nicht mehr normativen Modellen zuzuwenden, sondern den Blick »gegenüber dem Unvorhersagbaren, dem Individuellen, dem Ereignis und der Geschichte, also gegenüber dem Konkreten« (Baecker 2002: 103) zu schärfen. Gemeinsam ist eine Haltung der Bescheidenheit, denn man muss davon ausgehen »daß der Gegenstand seinem Beobachter, hinsichtlich der Lösung seiner Probleme voraus ist« (ders.: 91). 2. Rational-Choice-Theorie: Handeln nach berechenbaren Kosten-Nutzen-Kalkülen Die Rational-Choice-Theorie kann als eine handlungstheoretische Variante verstanden werden, die davon ausgeht, dass gesellschaftliche Phänomene nur durch das Verhalten bzw. Handeln von Individuen erklärt werden können, und die darüber hinaus dieses Verhalten entsprechend formalen Nutzenkalkülen - zumindest prinzipiell - für berechenbar hält. Das Handeln sozialer Akteure wird hier als zweckgerichtet und auf die Befriedigung individueller Bedürfnisse ausgerichtet gesehen. Da die Akteure in sich selbst den Grund ihres Verhaltens und damit auch des sozialen Handelns darstellen, kann – so das grundlegende Paradigma - eine soziologische Erklärung sozialer Phänomene eben nur auf Individuen beruhen. Diese sind hier gleichsam als »Atome« (Boudon 1980: 30) für die Erklärung aller weiteren Erscheinungen zu betrachten9. Soziale Systeme sind deshalb innerhalb der Rational-Choice-Theorie als emergente Resultate von sozi- 84 IV. Soziologie des Entscheidens alem Verhalten, nicht jedoch als eigenständige Phänomene anzusehen. Soziale und gesellschaftliche Organisationsprozesse stellen in diesem Sinne immer nur ein Mittel zum Zweck dar: Sie dienen der Bedürfnisbefriedigung ihrer jeweiligen Individuen, die sich gemäß ihrer Präferenzen zu entsprechenden Handlungen entscheiden. Der Sinn bzw. die Rationalität der jeweiligen Präferenzen wird dabei nicht weiter verhandelt, denn das rationale Handlungsmodell besagt in seiner allgemeinen Form, »daß ein Akteur aus einer Menge von Handlungsalternativen diejenige auswählt, die gemäß seiner als konsistent vorausgesetzten Präferenzordnung optimal ist. Jedes Handeln, ob egoistisch oder altruistisch ist in diesem Sinne rational; der Akteur der RationalChoice-Theorie handelt also nicht substantiell rational, sondern lediglich formal konsistent. Auch die mit dem Begriff der Wahl verbundenen Vorstellung von Handlungsfreiheit erweist sich bei genauerem Hinsehen als irreführend, da die Entscheidung des Akteurs durch die im Rahmen des Modells extern vorgegebene konsistente Präferenzordnung determiniert ist« (Kappelhoff 2000: 222). Der Akteur stellt innerhalb der Konzeption der Rational-Choice-Theorie dabei zunächst nur eine logische Leerstelle dar, die durch andere Erklärungsmodelle inhaltlich gefüllt werden kann, etwa durch voluntaristische, verhaltenstheoretische oder gar soziobiologische Konzeptionen. Ob eine Entscheidung als eine freie Wahl eines sich seiner selbst bewussten Subjektes verstanden wird oder als unbewusster Rechenvorgang einer lernfähigen und durch den evolutionären Selektionsdruck geformten biologischen Einheit, stellt innerhalb dieses Theoriedesigns kein Problem dar. Für Hartmut Esser (2000) besteht kein substanzieller Unterschied mehr zwischen den verhaltenstheoretischen und den voluntaristischen Handlungstheorien10. Da innerhalb der Rational-Choice-Theorie die Erklärungen für das Soziale axiomatisch in der Mikroebene verortet werden, müssen alle Phänomenen der Makroebene in den Bereich der Randbedingungen verwiesen werden: Sie stellen zwar Entscheidungsvariablen für den jeweiligen Akteur dar, haben jedoch keine eigenständige Erklärungskraft. Die den Sachverhalt der Entscheidung zu einer Handlung erklärende Nutzenfunktion erscheint dabei als ein invarianter, kulturübergreifender und ahistorisch zu verstehender Kalkül. Die gesellschaftliche Konstitution des Individuums muss ausgeblendet werden, denn sonst würden die Axiome der Theorie gebrochen werden: Wenn das Erklärende durch das Erklärte erklärt würde, würde sich der Erklärungszusammenhang zyklisch schließen. Das Individuum wäre nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Resultat und man würde zu einem selbstreferenziellen Theoriedesign, wie etwa der Luhmannʼschen Systemtheorie, gelangen. Dies soll jedoch gerade durch das atomistische Paradigma vermieden werden11, denn die Richtung der Erklärung darf nur in eine Richtung laufen: Im Sinne der analytischen Trennung des Makro-Mikro-Makro-Schemas (vgl. Coleman 1991, 1ff.) bleibt der individualistische Charakter des Erklärungsansatzes auch unter Berücksichtigung makroskopischer Aspekte in das Entscheidungskalkül gewahrt, denn der zur rationalen Entscheidung fähige Akteur bleibt in seiner Präferenzstruktur invariant. Die makroskopischen Randbedingungen betrachtend, treffen die Akteure ihre Handlungsentscheidung entsprechend dem Kosten-Nutzen-Kalkül unter dem Kriterium der Gewinnmaximierung. Unter Beibehaltung dieser radikalen Theorieperspektive lässt sich nicht ohne die Anleihe anderer theoretischer Konstrukte (so genannter „Brückenhypothesen”) zu einer allgemeinen Sozialtheorie gelangen, insbesondere wenn man auch die Entstehung und Logik komplexer sozialer Gebilde nachzeichnen will. In den letzten Jahren sind diesbezüglich eine Reihe umfangreicher theoretischer Konzeptionen vorgelegt worden, unter anderem verbunden mit den Namen Raymond Boudon, James S. Coleman, Siegwart Lindenberg, im deutschsprachigen Raum mit Hartmut Esser und Karl-Dieter Op. Diese handlungstheoretischen Entwürfe können nicht mehr einfach 2. Rational-Choice-Theorie 85 mit dem Vorwurf eines naiven Transfers ökonomischer Modelle zurückgewiesen werden, da hier durchaus versucht wird, den korporativen Charakter von Organisationen und Institutionen ernst zu nehmen (Coleman 1992), die spezifischen Bedingungen der Situationslogik sozialen Handelns einzubeziehen (Esser 1999) und dabei auch die subjektiven Aspekte der Interpretation sozialer Sachverhalte - den subjektiv gemeinten Sinn – ins Theoriedesign mit einzubinden (Esser 1991)12. Die folgenden Ausführungen beginnen zunächst mit Webers Konzeption des zweckrationalen Handelns (a). Dies geschieht, um unter dem Blickwinkel des interpretativen Paradigmas die Möglichkeiten und Probleme einer am individuellen Akteur orientierten Entscheidungstheorie aufzuzeigen. Anschließend wird mit der Nutzenfunktion (b) die formale Konzeption der RationalChoice-Theorie etwas ausführlicher beleuchtet. Des Weiteren werde ich auf Versuche eingehen, das Problem der Situationslogik und Situationsdefinition (c) über ebenfalls als rationale Kalküle zu analysierende Rahmungsprozesse in den Griff zu bekommen. Abschließend werden mit den sozialen Systemen (d) und Organisationen (e) einige Erklärungsmodelle für komplexere soziale Gebilde vorgestellt. (a) Webers Theorie zweckrationalen Handelns Ausgangspunkt der Weberʼschen Handlungs- und Sozialtheorie ist die Verbindung von Handeln und subjektivem Sinn. Ein Verhalten wird erst dann zu einem Handeln, wenn es als intentionaler Akt mit einem Sinn verbunden wird. Die Soziologie wird hierdurch zu einer Wissenschaft des Verstehens. Die Motive des jeweils handelnden Akteurs können interpretativ (deutend) erschlossen werden. Soziales Handeln und damit auch die sozialen Gebilde ergeben sich dabei als eine Sonderform des Handelns, welches intentional auf das Verhalten anderer Akteure bezogen ist13. „Erklären” bedeutet für Weber die Erfassung des jeweiligen Sinnzusammenhanges, auf den ein Akteur sein Handeln ausrichtet. Der »subjektiv gemeinte Sinn« betont hier - in Abgrenzung zu den normativen Modellen eines „richtigen”, „wahren” oder „metaphysisch ergründbaren” Sinns - einen Forschungszugang, der sich deskriptiv am konkreten Erleben der Handelnden ausrichtet und nicht an dem, was zu sein habe (Weber, 1980: 5). Da sich Sinnzusammenhänge in ihrer Logik wiederholen, lassen sie sich zu Typen zusammenfassen. Hierdurch gelangt Weber zu seiner spezifischen soziologischen Methode: der Konstruktion von Idealtypen als kondensierte Sinnzusammenhänge, die gesellschaftliches Handeln und hierüber die Konstitution gesellschaftlicher Phänomene erklären. Ein reiner Typus entspricht dabei einer »häufigen Erscheinung wissenschaftlich zu konstruierenden (‚idealtypischenʼ) Sinnes«, einer wiederkehrenden Handlungslogik, die stereotyp sowohl in ihrer Logik wie auch in ihren Motiven nachgezeichnet werden kann (Weber, 1980: 5)14. Als idealtypische Handlungsorientierung leitet Weber aus volkswirtschaftlichen Betrachtungen das »zweckrationale Handeln« ab. Diese idealtypische Konstruktion beschreibt das Verhalten, wenn es beispielsweise volkswirtschaftlichen Gesetzen folgen würde, es stellt dar, »wie ein bestimmt geartetes menschlichen Handelns ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es ferner nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre« (Weber, 1980: 5). Der Weberʼsche Idealtypus beschreibt nicht - wie oft missverstanden - das Verhalten realer Subjekte, sondern den Grenzfall eines spezifischen Sinnzusammenhangs, 86 IV. Soziologie des Entscheidens der in der Praxis jedoch durch andere Handlungslogiken – die jedoch wiederum idealtypisch beschrieben werden können – überlagert wird: »Das reale Handeln verläuft nur in seltenen Fällen (Börse) und auch dann nur annäherungsweise so, wie im Idealtypus konstruiert« (Weber, 1980: 5). Zweckrationalität erscheint hier als bestimmter Handlungsmodus zielorientierten Handelns, das von anderen Handlungsmotiven abzugrenzen ist. Es besteht im Abwägen von Zweck, Mittel und Folgen, wobei jedoch zu beachten ist, dass das Ziel des Handelns selbst nicht zweckrational erklärt werden muss: »Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt; also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt. Die Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen kann dabei ihrerseits wertrational orientiert sein: dann ist das Handeln nur in seinen Mitteln zweckrational. Oder es kann der Handelnde die konkurrierenden und kollidierenden Zwecke ohne wertrationale Orientierung an „Geboten” und „Forderungen” einfach als gegebene subjektive Bedürfnisregungen in eine Skala ihrer von ihm bewußt abgewogenen Dringlichkeit bringen und darnach sein Handeln so orientieren, daß sie in dieser Reihenfolge noch Möglichkeit befriedigt werden (Prinzip des „Grenznutzens”). Die wertrationale Orientierung des Handelns kann also zur zweckrationalen in verschiedenen Beziehungen stehen. Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen Eigenwert (reine Gesinnung, Schönheit, absolute Güte, absolute Pflichtmäßigkeit) für sie in Betracht kommt. Absolute Zweckrationalität des Handelns ist aber auch nur ein im wesentlicher konstruktiver Grenzfall« (Weber, 1980: 13). Zweckrationales Handeln entfaltet seine Erklärungskraft nur in Zusammenhang mit einer Präferenz- bzw. Wertstruktur des Handelns, denn der Zweck der Zwecke lässt sich rational nicht finden. In Abgrenzung zu den beiden sich komplementär ergänzenden Modalitäten der Zweck- und Wertrationalität komplettiert Weber seiner Handlungstypologie durch zwei weitere Handlungsmodi: dem »traditionalen« und dem »affektuellen« bzw. »emotionalen« Handeln. Traditionales Handeln gründet sich nicht auf Ziele, sondern auf eingelebte Gewohnheiten. Emotionales Handeln meint bei Weber die Befriedigung emotionaler Impulse, ohne die Nebenfolgen zu berücksichtigen: »Affektuell handelt, wer sein Bedürfnis nach aktueller Rache, aktuellem Genuß, aktueller Hingabe, aktueller kontemplativer Seeligkeit oder nach Abreaktion aktueller Effekte gleichviel wie massiver oder wie sublimer Art befriedigt« (Weber, 1980: 13). Weber unterscheidet Handeln – um nochmals zusammenzufassen – vom Verhalten dadurch, dass der beobachtbaren Eigenbewegung ein »subjektiv gemeinter Sinn« zugesprochen wird. Dem Akteur wird eine vorkommunikative Handlungsabsicht zugeschrieben15, er verfolgt mit seinem Verhalten ein Ziel. Eine Handlung als Entscheidung zu betrachten, impliziert im Sinne dieser Konzeption, dass nicht nur der Sinn des Handelns verstanden wird, sondern darüber hinaus Handlungsalternativen vorliegen, deren Implikationen bekannt sind und nach entsprechenden Kriterien beurteilt werden können. Der Entscheidungsbegriff doppelt gewissermaßen den Handlungsbegriff – nun gibt es zwei sinnhafte und beachtenswert erscheinende Handlungsperspektiven, und kopiert als Bewertungsschemata das Kosten-Nutzen-Kalkül des zweckrationalen Handelns in den abschließenden Sinngebungsprozess. Der Akteur muss nun 2. Rational-Choice-Theorie 87 beispielsweise abwägen, ob es besser sei, jetzt seinen Bedürfnissen nachzugehen, oder ob es angemessener wäre, auf eine günstigere Gelegenheit zu warten. Der Prozess des Entscheidens löst sich innerhalb dieser Theoriedisposition in eine nutzentheoretisch analysierbare Kalkulationen auf: Zwecke und Mittel müssen anhand individuelle Werte und Präferenzen abgewogen werden. In der Weberʼschen Gesellschaftsanalyse, sei es in der Religionssoziologie, der Wirtschaftsoziologie oder der Analyse der Bedeutung der Bürokratie für moderne Herrschaftssysteme, bekommt der Begriff der Zweckrationalität eine grundlegende Bedeutung. Angefangen beim asketischen und arbeitsamen Protestanten entwickelt Weber eine Typologie unterschiedlichster Handlungsrationalitäten, die soziale und gesellschaftliche Phänomene erklären. Auch wenn das Weberʼsche Handlungsmodell und das hieraus ableitbare Modell der rationalen Entscheidung auf den ersten Blick äußerst plausibel erscheinen und auch das interpretative Paradigma eine sichere Grundlage für viele Fragen innerhalb der Sozialforschung bietet, täuscht die Eleganz der Konzeption jedoch darüber hinweg, dass die fundamentale Frage der Einheit einer Handlung und damit der Einheit einer Entscheidung nicht beantwortet ist. Ob einem Verhalten wirklich ein intentionaler Akt vorgeschaltet ist oder in vielen Fällen das Verhalten erst post hoc begründet wird und hierdurch erst als eine Handlung im Weberʼschen Sinne erscheint, ist prinzipiell durch die Befragung eines Akteurs nicht zu klären – könnten seine Antworten doch immer auch auf einem „intentionalen Selbstmissverständnis”, der Überschätzung der Leistungen des eigenen Bewusstseins beruhen. Wenn aber die Kausalrelation zwischen Verhalten und Sinngebung umgekehrt werden kann, fällt die Konzeption des intentional handelndem Subjekt in sich zusammen bzw. verlangt nach einer Neuinterpretation, wie dies etwa Alfred Schütz in seinen zeittheoretischen Reflexionen versucht zu leisten, indem er zwischen Handeln und Handlung unterscheidet: »Handeln ist der aktuelle Ablauf, der nicht sinnhaft sein kann. Unter Handlung versteht man das bereits im modus futuri exacti entworfene Verhalten oder aber das bereits ausgeführte und vollendete Handeln, dem man im Rückblick Sinn zuschreibt. Sinn entsteht immer erst nach Ablauf des Handelns. Erst nach dem konkreten Interaktionsgeschehen schreibt ein Akteur einer Handlung Sinn zu. Der Sinn des Handelns vor dem Ausführen in der Wirkwelt und der Sinn des Handelns können völlig verschieden sein. Zwischen ihnen liegt die Erfahrung der Wirklichkeit. Sie ist prägend für die Sinnzuschreibung. Sinn und Bewußtsein hängen also viel stärker von dem ab, was im konkreten Handeln in der Sozialwelt geschieht«. Und dies heißt letztlich: »Das Bewußtsein ist sperrangelweit offen für eine intersubjektive Interpretation« (Schmidt 2000: 187). Auch das Entscheiden darf in diesem Sinne nicht mehr (nur) als intentionaler Akt verstanden werden. Zum einen muss der situative, singuläre und damit möglicherweise prärationale Charakter einer Entscheidungssituation ernst genommen werden, zum anderen stellt sich die Frage, ob eine Entscheidung möglicherweise ein Zurechnungskonstrukt darstellt, das als Sinngebung in einem Kommunikations- bzw. Interaktionszusammenhang erst im Nachhinein hergestellt wird. Möglicherweise wären dann die sozialen Strukturen gar nicht so selten dem vorgeschaltet, was dann später als Entscheidung erscheint. Ein weiterer Kritikpunkt an der Konzeption des zweckrationalen Handelns setzt am Begriff der Rationalität an: Eine letzte rationale Begründung für eine Entscheidung ist nicht zu finden - es gibt keinen Zweck der Zwecke und warum es rational ist, rational zu sein, lässt sich auch nicht so ohne weiteres beantworten. Nicht zuletzt schränkt der Weberʼsche Handlungsbegriff die Untersuchung realer Handlungspraxis einseitig auf bewusste, subjektiv gemeinte und intentionale Akte ein. Hieraus ergibt sich ein grundlegendes methodisches Problem in der qualitativen Sozialforschung, denn die Beschränkung auf den subjektiv gemeinten Sinn klammert all die unbewussten, impliziten und verborgenen Formen der Wissensorganisation und -repräsentation - das tacit knowledge (Polanyi 1985) - aus dem Forschungsprozess aus. IV. Soziologie des Entscheidens 88 Ohne den hier den immensen Wert der Weberʼschen Handlungstheorie schmälern zu wollen – im Hinblick auf eine Vielzahl sozialer Phänomene hat sie eine hohe Plausibilität und Erklärungskraft –: Sie liefert keinen überzeugenden Ansatz für eine soziologische Theorie des Entscheidens. Das Entscheidungsproblem erscheint gleichsam als ihr blinder Fleck, versteckt in der Einheit des Handlungsbegriffs. Der subjektive Sinn ist bei genauerem Hinsehen anfällig für Dekonstruktion. Im Hinblick auf die abstrakte nutzentheoretische Formulierung stellt diese Schwäche für die Rational-Choice-Theorie zunächst kein Problem dar, denn ob nun der Logik des zweckrationalen Kalküls unbewusst, habituell oder intentional gefolgt wird, spielt hier keine Rolle. (b) Nutzenfunktionen Die Nutzenfunktion stellt den eigentlichen Kern der Rational-Choice-Theorie dar. Gleichsam als „Blackbox” stellt sie die Recheneinheit dar, welche die unterschiedlichen Handlungsalternativen entsprechend den für den Akteur zu erwartenden Nutzen und Kosten bewertet. Die jeweiligen Bedürfnisse des Handelnden sind dabei nicht Gegenstand der Rational-Choice-Theorie, sie werden als invariant gesetzt, ebenso werden die Präferenzen der Akteure nicht erklärt, sondern als konstant angenommen. Die Präferenzstruktur unterschiedlicher Akteure kann – und darf - in diesem Sinne durchaus erheblich variieren - was den einen befriedigt, lässt den anderen kalt. In der Regel gehen die Vertreter des Rational-Choice-Ansatzes jedoch von einigen wenigen übergreifenden Grundbedürfnissen aus, aus denen sich dann die spezifischeren Bedürfnisse herleiten: Den Akteuren gehe es »vor allem um physisches Wohlbefinden und soziale Wertschätzung«. Unterschiede gebe es dann allerdings in den Lebensumständen und den jeweiligen »sozialen und technischen Möglichkeiten, die Bedürfnisse auch zu befriedigen« (Hill 2002: 45). Dass mit dem Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung streng genommen auch eine soziale Dimension mit in das Kalkül genommen wird, wird jedoch theorieintern nicht behandelt, denn sonst müsste das klassische Theoriedesign, die handlungstheoretische Fundierung zu Gunsten eines interaktionstheoretischen Theoriedesigns verändert werden16. Im Zentrum der so genannten Werterwartungstheorie, wie man die mathematische Form der Rational-Choice-Theorie auch oft bezeichnet17, steht eine kardinale Nutzenfunktion. Gegeben sind eine endliche Menge von Strategien, um den angestrebten Nutzen zu erreichen, wobei davon auszugehen ist, dass der Akteur schon zu Beginn seiner Überlegungen um diese weiß. Mit jeder Strategie ist eine Wahrscheinlichkeitsverteilung verbunden, die besagt, wie wahrscheinlich es ist, das angegangene Ziel zu erreichen. Mit den Strategien, gegebenenfalls auch mit den Zielen, sind Nebeneffekte verbunden, die auch hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit zu bewerten und in die Nutzenfunktion einzubeziehen sind18. Ob ein Patient sich beispielsweise für eine Operation oder für die konservative Behandlung seiner Krankheit entscheidet, würde sich als Funktion der Wahrscheinlichkeit der jeweiligen Gewinnchancen (der chirurgische Eingriff könnte eine höhere Chance auf Heilung mit sich bringen), der Wahrscheinlichkeit, dass mit den Therapien negative Nebenfolgen verbunden sind (eine Operation könnte misslingen oder gar zu einem raschen Tode führen), und der individuellen Präferenzstruktur des Patienten darstellen (manche Patienten sind risikofreudiger). Die Werterwartungstheorie impliziert ein bestimmtes Menschenbild, das in dem so genannten RREEMM-Modell von Lindenberg (1985) expliziert wurde. Der Mensch verfügt über materielle und mentale Ressourcen (resourceful), zugleich sind seine Handlungsmöglichkeiten jedoch begrenzt (restricted). Er ist in der Lage, die Konsequenzen seines Handelns zu beurteilen und 2. Rational-Choice-Theorie 89 die subjektiv wahrgenommenen Handlungsalternativen abzuschätzen (evaluating). Darüber hinaus ist er fähig, die Wahrscheinlichkeiten für den Eintritt seiner Erwartungen zu berechnen (expecting). Grundsätzlich strebt er an, seinen Gewinn und Nutzen zu maximieren (maximizing man). Das Modell unterstellt, dass »der Akteur sich Handlungsmöglichkeiten, Opportunitäten bzw. Restriktionen ausgesetzt sieht«, diese also wahrnehmen und verarbeiten kann, dass er »aus Alternativen seine Selektionen vornehmen kann«, also »immer eine ‚Wahlʻ hat«, und dass diese Selektionen über »Erwartungen« und »Bewertungen« gesteuert sind; wobei die Regel der »Maximierung« das ausschlaggebende Kriterium darstellt und die Selektion des Handelns aus den Alternativen der Regel der Maximierung folgt. Für Esser vereinen sich in diesem Modell sowohl der »homo sociologicus«, der sein Verhalten an sozialen Normen und Rollen orientiert, wie auch der »homo oeconomicus«, der im Hinblick auf begrenzte Ressourcen seinen Profit maximieren will, dabei jedoch »gleichzeitig flexibel für neue Ansichten und für eine stärkere Anpassung an komplexere Verhältnisse« ist (Esser 1993: 238f.). Nicht das Wie, sondern dass die Akteure überhaupt ihre Werterwartungen berechnen, ist Gegenstand der Nutzentheorie. Ob diese Werte bewusst kalkuliert oder automatisch im Sinne verhaltenstheoretischer Konzeptionen ermittelt werden, ist hier nicht von Bedeutung. Im Sinne der Bayesʼschen Entscheidungstheorie könnte dieser Prozess gar als eine Form intuitiver Statistik begriffen werden (s. hierzu auch Eells, et al. 1991). Der jeweiligen Intuition des Akteurs, seinem „Glauben”, würde hier als rationaler Kern eben jene unbewusst wirkenden Konditionierungen entsprechen, die in der Summe der gemachten Erfahrungen zu einem Mittelwert führen, der dann dem Kriterium der Nutzenmaximierung entspräche. Von außen betrachtet stellt das Rationalitätsprinzip, wie Kappelhoff bemerkt, »lediglich ein Tautologieschema oder freundlicher formuliert, die forschungsleitende integrative Heuristik eines verzweigten Theorieprogramms« dar, das sich jeder inhaltlichen Interpretation entzieht, aber gerade dadurch für inhaltliche Projektionen aller Art offen wird (Kappelhoff 2000: 223). (c) Situationslogik und Situationsdefinition Die Rational-Choice-Theorie scheint zunächst an Erklärungskraft zu verlieren, wenn man anerkennt, dass nicht nur die Bedürfnisstruktur subjektabhängig ist, sondern auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit eine interpretative Leistung darstellt – es sei denn, es gelingt einem, in den Prozessen der Situationsinterpretation selbst wieder eine diesbezügliche Rationalität zu erkennen. Genau dies versucht Esser in seiner Analyse der Beziehung von Situationslogik und Handeln aufzuzeigen (Esser 1999). Um das Problem der Bedürfnisstruktur innerhalb des Theoriedesigns des Rational Choice behandeln zu können, lehnt sich Esser dabei zunächst an das Weberʼsche interpretative Paradigma an und zieht einige Elemente aus der lebensweltlichen Konzeption Schützes hinzu. »Das Vorgehen ist eine spezielle Art der „objektiven” Hermeneutik: Der Soziologe und Historiker versucht, die objektiv vorliegenden subjektiven Ziele und Mittel des Akteurs objektiv richtig zu rekonstruieren und daraus das Verhalten nach einer bestimmten logischen Regel, die der Akteur anwendet, deduktiv abzuleiten. Das Verfahren beruht - wenn man so sagen will - auf der Beachtung der „Hermeneutik der natürlichen Lebenswelt”, in der sich die Akteure befinden, und ihrer persönlichen Biografie und Identität - und der Anwendung eines Gesetzes, was sie auf dieser Grundlage „logischerweise” tun werden. Und dies ist nichts anderes als das Verstehen der Akteure durch die Erklärung ihres Handelns« (Esser 1999: 203). Entsprechend dem Nutzenkalkül der Rational- 90 IV. Soziologie des Entscheidens Choice-Theorie werden auch hier die Werte, Überzeugungen und Ziele der Akteure aus der Betrachtung ausgeklammert. Ob und warum jemand im Einzelnen gar Ziele verfolgt, die für einen Außenstehenden höchst unsinnig erscheinen, ist hier nicht von Interesse. Die soziologische Erklärung beschränkt sich auf das Postulat der Konsistenz der „Inneren Logik“ und dem Herausarbeiten der Regeln, die dieser Logik zu Grunde liegen19. Komplexe, oftmals undurch- dringbare psychische Wirren einzelner Akteure werden auf eine klare Präferenzstruktur reduziert, die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Situation zu wenigen leicht handhabbaren Randvariablen reduziert. Der Begriff der Rationalität wird hier gleichsam auf ein Tautologieschema reduziert: Eine Regel gründet sich einzig und allein darin, dass eben regelhaft gehandelt wird20. Den Erkenntnissen der Gestaltpsychologie und des neurobiologischen Konstruktivismus folgend muss davon ausgegangen werden, dass Akteure nicht einfach eine Wirklichkeit erkennen, sondern in ihrem Erkennen selbst schon Wirklichkeit konstruieren. In diesem Sinne beinhaltet nicht nur die durch die Präferenzstruktur bedingte Situationslogik, sondern auch die Situationsdefinition eine subjektive Komponente: Zuerst muss festgestellt werden, was der Fall ist, um überhaupt entscheiden zu können. Innerhalb der Rational-Choice-Theorie finden sich verschiedene Wege, um das Problem der Situationsdefinition zu behandeln. Einerseits könnte - dem Thomas Theorem21 folgend - auch mit perversen bzw. paradoxen Effekten gerechnet werden. Falsche Situationseinschätzungen können sich leicht im Sinne einer self fulfilling prophecy verselbstständigen. In diesem Sinne wäre dann zwar mit emergenten Effekten auf der Makroebene zu rechnen, die jedoch nicht eigenständigen gesellschaftlichen Kräften oder Gesetzen zuzurechnen seien, sondern wiederum kausal durch das Verhalten individueller Akteure zu erklären seien (vgl. Boudon 1980: 81ff.). Situationsdefinitionen können im Sinne der Rollentheorie auch als ein Set von Erwartungen interpretiert werden, denen ein Akteur im Hinblick auf die Sanktionserwartungen bei Normverletzungen mehr oder weniger streng Folge leisten wird. Die Situationsdefinition wird in diesem Sinne als eine Klammer verstanden, innerhalb derer das Kosten-Nutzen-Kalkül zur Anwendung kommt. Jeder Akteur wählt entsprechend seiner subjektiven Interpretation das Verhalten, welches ihm hinsichtlich seiner Werte und Bedürfnisse angemessen und richtig erscheint. Um jedoch nicht den Erklärungsanspruch zu Gunsten einer Beliebigkeit in der Interpretation aufzugeben, wird der Prozess der Situationsdefinition - von Esser anlehnend an Goffman auch als framing bezeichnet - nun selbst als eine Entscheidung verstanden, die als Kosten-NutzenRechnung analysierbar ist: »Wenn vom ‚richtigenʻ Sinn und der ;richtigenʻ Verfassung viel abhängt, dann ist das ein starkes Motiv [...] zur ;richtigenʻ subjektiven Rahmung der Situation« (Esser 1996: 11). Entsprechend wird nun ein Entscheidungsvorgang im Sinne eines zweistufigen Prozesses verstanden. Zuerst wird entschieden, welcher Rahmen, welche Situationsdefinition gewählt wird, und dann wird innerhalb dieser Definition entschieden, was für eine Handlung auszuwählen sei. Als Kriterium für die Auswahl des Rahmens erscheinen nun die Kosten, die eine Falschrahmung, eine falsche Situationseinschätzung mit sich bringen würde. Die WertFunktion wird hier einfach gedoppelt. Unter der Voraussetzung einer begrenzten Zahl möglicher Rahmungen und der Voraussetzung, dass diese dem Akteur auch bekannt sind, sind die Kosten einer möglichen Falschrahmung mit der Wahrscheinlichkeit, dass man die Situation falsch eingeschätzt hat, zu verrechnen. Auch die Kosten für die Informationssuche können in dieses Modell miteinbezogen werden. Auch hier wieder spielt es innerhalb des Theoriedesigns der RationalChoice-Theorie keine Rolle, ob diese Prozesse bewusst oder unbewusst ablaufen. »Die beiden 2. Rational-Choice-Theorie 91 Positionen, framing als Entscheidungsakt oder als Konsequenz einer automatisierten Informatio nsverarbeitung, stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern markieren die Endpunkte eines Kontinuums über das die bewusste Wahrnehmung, Bewertung und Entscheidungsfindung variiert. Insgesamt ist diese Lösung sehr ökonomisch: Im ‚Normalbetriebʻ werden die eingehenden Daten mit den Schemata bzw. Skripten abgeglichen und umgekehrt. Bei entsprechender Passung wird dem Handeln ganz unbewusst eine entsprechende Situationsdefinition unterlegt. Erst wenn die eingehenden Wahrnehmungsdaten nicht in ein Schema passen, kommt es zum Nachdenken, Vergleichen, bewussten Erkennen und Entscheiden« (Hill 2002: 39). Die Aufmerksamkeit folgt hier gewissermaßen dem Gesetz der Informationsökonomie. Unter dem Blickwinkel von spezifischen Situationslogiken und Situationsdefinitionen kann praktisch jedes Verhalten erklärt werden. Auch Emotionen können nun als eine spezifische Rationalität begriffen werden, indem das Auftreten einer Emotion selbst als eine Entscheidung für einen Handlungsrahmen angesehen wird. »Wird eine Person als Freund oder Feind klassifiziert, kommen nur noch bestimmte Handlungsstrategien in die engere Auswahl. Man verhält sich also durchaus theoriekonform« (Hill 2002: 44). Selbst die Luhmannʼschen Kommunikationscodes, die den Funktionssystemen geschuldeten spezifischen Anschlussoperationen, scheinen mit dem Konzept der Situationslogik vereinbar. In der Ehe würde es dann eben um eine Nutzenmaximierung in Form von mehr Zuneigung und Vertrautheit gehen, in der Wirtschaft um mehr Geld (vgl. Hill 2002: 57). Die Rational-Choice-Theorie öffnet sich mittlerweile den verschiedensten theoretischen Supplementen. Es bleibt jedoch die Frage offen, ob einerseits bei ihren Vertretern wirklich die Muße besteht, sich den hieraus ergebenden Komplexitäten zu stellen, und ob andererseits in all diesen Fragen immer noch an dem Kern der Theorie - nämlich an einem starren und eindimensionalen Rationalitätsbegriff - festgehalten werden muss. Wie insbesondere Ciompi (1997/ 1998) aufzeigt, kann eine Affektlogik nur bidirektional verstanden werden, nämlich als ein dynamisches Wechselspiel zwischen produktiv-kreativen Anpassungsprozessen und überschießenden Entgleisungen, die sich sowohl an spezifische (pathologische) Kommunikationsformen des Sozialsystems ankoppeln, als auch neurologische Prozesse (oftmals irreversibel) bahnen können. (d) Soziale Systeme Die Frage, warum Individuen, die letztlich nur darauf aus sind, ihren individuellen Nutzen zu maximieren, soziale Systeme bilden und nicht wie die Grislibären weitestgehend alleine ihr Dasein fristen, lässt sich der Rational-Choice-Theorie entsprechend durch die einfache Überlegung begründen, dass die Kooperation für jeden Spieler mehr Gewinn abwirft, als wenn jeder nur für sich allein agiert. Die Essenz der Erklärung sozialer Systeme beschränkt sich deshalb auf die KostenNutzen-Analyse komplexer Interdependenzen. Über diese – teils komplizierten Modellrechungen - werden dann die makroskopischen sozialen Phänomene von einem individuumzentrierten Standpunkt aus erklärt werden. Besonders in der Frage des Altruismusproblems - warum also Individuen scheinbar uneigennützig etwas Gutes für den anderen tun - wird auch gerne auf soziobiologische Studien verwiesen, da unter den Verhaltensbiologen eine gewisse Erfahrung mit diesbezüglichen spieltheoretischen Modellierungen besteht22. Reale soziale Beziehungsnetzwerke erreichen jedoch schnell eine solche Komplexität, dass ihre mathematische Rekonstruktion innerhalb der Annahmen der Spieltheorie schnell an Grenzen stößt. 92 IV. Soziologie des Entscheidens Coleman gelingt es jedoch - durch den Rekurs auf einen abstrakt gefassten Machtbegriff - das Problem der sozialen Kooperation soweit zu vereinfachen, dass sich ein anschauliches und durchaus in gewisser Form plausibles Modell der Beziehungslogik innerhalb sozialer Interessengeflechte ergibt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind jeweils wieder die einzelnen Akteure. Diese zeichnen sich durch klar definierbare Interessen aus, besitzen jedoch nicht selbst die Kontrolle über all die Ressourcen, um ihre Anliegen alleine verfolgen zu können. Entsprechend muss es zu Tauschbeziehungen kommen - welcher Form auch immer -, in denen die Akteure einen Teil ihres Kapitals einsetzen, um andere dazu zu bewegen, ihren Interessen zu dienen: »Zu solchen Transaktionen gehören nicht nur Handlungen, die man normalerweise als Tauschgeschäfte bezeichnet, sondern auch eine Vielzahl anderer Aktivitäten, die unter einen weiter gefaßten Begriff von Austausch fallen. Zu diesen zählen Bestechungen, Drohungen, Versprechungen und Investitionen an Ressourcen. Mittels dieser Transaktionen können Personen die Ressourcen, die sie kontrollieren können, aber an denen sie nicht interessiert sind, einsetzen, um die Interessen zu verfolgen, die in Ressourcen liegen, welche von anderen kontrolliert werden« (Coleman 1991: 36). Entscheidend für das Transaktionsgleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Akteuren ist die Frage der Verteilung von Macht, wobei Coleman je nach Art des Tauschsystems zwei Formen der Macht unterscheidet: Macht als Kaufkraft und relationale Macht, die auf der jeweiligen Position innerhalb eines Netzwerks von Tauschbeziehungen beruht23. In beiden Fällen hängt - einfachen ökonomischen Überlegungen entsprechend - die Macht der jeweiligen Akteure einerseits von den Ressourcen ab, über die ein Akteur verfügt, andererseits von den Marktpreisen. Diese wiederum sind weitgehend synonym mit der Verteilung der Interessen im System. Die Macht, über die ein Akteur verfügt, bestimmt sich somit über seine Ressourcenausstattung in Relation zu dem Interesse, das die anderen Akteure im System an seinen Ressourcen besitzen. Hierdurch ergibt sich eine recht einfache Verteilungsfunktion, in der - nach der Logik des freien Marktes - die Macht, über die ein Akteur verfügt, sich darstellt als eine Funktion seiner Ressourcen und dem Interesse, das andere an seinen Ressourcen haben. Das übergeordnete Wertsystem der Markteilnehmer und die ursprünglichen Verfügungsrechte werden dabei zunächst vor die Klammer der Berechnung gesetzt, d. h. als gegebene Randbedingungen behandelt. In einem weitergehenden Erklärungsschritt werden die Verfügungsrechte, Werthaltungen und die damit verbundenen Rechtsauffassungen selbst als ein Resultat des jeweiligen Machtgleichgewichts begriffen (vgl. auch Coleman 1992: 63ff.). Der Konsens über die Verfügungsrechte ergebe sich dann letztlich aus der Verteilung der Macht zwischen den jeweiligen Akteuren. „Konjunktive” Normen, das heißt Gesetze, von denen alle Akteure profitieren, würden dann - einfachen spieltheoretischen Überlegungen entsprechend - daher resultieren, dass Kooperationskollektive besser gestellt seien, wenn sie das Fehlverhalten ihrer Mitglieder sanktionieren würden, als Kollektive, die keine Strategien zur Normkontrolle entwickelt hätten. Auch disjunktive Normen, das heißt Regelungen, bei denen die Normnutznießer nicht die Zielakteure sind, auf die sich die Normen beziehen, werden entsprechend dieser Gleichgewichtslogik erklärt: Die Etablierung einer Norm gegen die Interessen der anderen fordere zwar nun einen gewissen Ressourceneinsatz – ein Teil der Macht wird gebraucht, um die anderen dazu zu bringen, den Regeln zu folgen –, der Prozess sei aber trotzdem immer dann sozial effizient, wenn der Nettogewinn der Normnutznießer höher sei als der Verlust der Zielakteure, die Opportunitätskosten für den Widerstand seitens der Benachteiligten also zu hoch liegen: »Das bedeutet: Käme es zu einem offenen Konflikt über die Etablierung der Norm, würden die Nutznießer mehr Ressourcen für die Einrichtung der Norm mobilisieren können als die Zielakteure dagegen setzen können. Soziale Effizienz ist also 2. Rational-Choice-Theorie 93 immer nur relativ zur Machtverteilung im System zu interpretieren« (Kappelhoff 2000: 242). Dieser Argumentation folgend müsste es im Sinne Colemans (1992: 42ff.) innerhalb sozialer Systeme eigentlich gar nicht erst zu offenen Konflikten kommen, denn wenn die Akteure ihre Machtchancen richtig einschätzen würden, könnte sich entsprechend der Logik des zweckrationalen Handelns ein die Interessen ausbalancierender Konsensus von alleine herstellen. »Erst wenn es zu Fehleinschätzungen im Hinblick auf die beteiligten Interessen und die dahinterstehenden Machtressourcen kommt, sind Konflikte denkbar« (Kappelhoff 2000: 250). Macht, Recht und soziale Normen bilden im Sinne des eindimensionalen Kalküls der Rational-Choice-Theorie eine unter Vernachlässigung wesentliche Dimensionen der modernen Gesellschaft eine weit gehend untrennbare Einheit. Die Bedeutung eines funktionell ausdifferenzierten Rechtssystems und die Existenz vielfältiger, parallel bestehender Wertsphären stehen nicht im Einklang mit den recht einfachen Annahmen. Gesellschaftliche Funktionssysteme operieren innerhalb unterschiedlicher Tauschmedien. Die Autorität im politischen System, das Geld im Wirtschafts-, die gemeinschaftliche Bindung im Familien- und das richtige Argument im Wissenschaftssystem lassen sich nicht ineinander verrechnen. Man braucht soziales Kapital, um überhaupt daran denken zu können, seine Macht durchzusetzen. Die soziale Sphäre als Voraussetzung, dass überhaupt Tauschgeschäfte durchgeführt werden können, ist allem Handeln immer schon vorgeschaltet. Gegenüber dieser eindimensionalen und reduktionistischen Betrachtungsweise der Rational-Choice-Theorie leistet etwa Bourdieus Differenzierung zwischen sozialem, kulturellem, ökonomischem und symbolischem Kapital eine weitaus lebendigere Beschreibung der Handlungsperspektiven in realen Machtstrukturen - gerade diese sozialen Dimensionen können nicht in eine einheitliche ökonomische Dimension umgerechnet werden. (e) Organisationen Dem gemeinsamen Nenner der klassischen Organisationstheorien folgend betrachtet auch die Rational-Choice-Theorie Organisationen als zielgerichtete soziale Systeme: »Das Zielmodell der Organisation kann als eine naheliegende Erweiterung des rationalen Handlungsmodells auf Kollektive verstanden werden. Dabei wird sowohl der Handlungsbegriff wie auch der Rationalitätsbegriff einfach auf die nächst höhere Ebene der Komplexität übertragen. Man kann das Zielmodell als Versuch betrachten, die Einheit der Organisation als soziales Gebilde quasi definitorisch sicherzustellen. Die Organisation wird zum Instrument zur Durchsetzung von Zielen, die extern gesetzt und auf dem Befehlswege autoritativ in Organisationshandeln umgesetzt werden. Die Verbindung von Zielmodell und Befehlsmodell hat ihre Wurzeln in der Herrschaftssoziologie von Weber (1980), in der der Idealtypus der Bürokratie als effizientes Instrument zur Durchsetzung der jeweiligen Ziele eines Herrschers konzipiert wurde« (Kappelhoff 2000: 246f.). Für die Rational-Choice-Theorie stellt sich nun die Frage, wie sich der schwierige Mikro-Makro-Übergang von individuellen, die eigenen Interessen verfolgenden Einzelakteuren zu einer verfassten sozialen Einheit mit definierten Positionen (Vorgesetzten, Untergebenen, Mitgliedern etc.) gestaltet. Einer extrem individualistischen Position folgend wäre eine Organisation nur als ein Mittel anzusehen, das einzelne Subjekte in freier Entscheidung gewählt haben, um ihre jeweilige Ziele zu verfolgen. Selbst die Hierarchie, so die Argumentation des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften Herbert A. Simon, würde in diesem Sinne nur als ein Artefakt von Einzelinteressen erscheinen, die zufällig in die gleiche Richtung weisen: »In einem sehr realen Sinne ist der Leiter oder Vorgesetzte nur ein Busfahrer, dessen Passagiere 94 IV. Soziologie des Entscheidens ihn verlassen werden, wer er sie nicht in die gewünschte Richtung fährt. Sie lassen ihm nur wenig Entscheidungsfreiheit über den Weg, den er fahren muß« (Simon 1951, zitiert und übersetzt von Ortmann, et al. 2000: 15). Die sozialen Gründe und Abhängigkeiten der Mitgliedschaft in Organisationen werden in dieser simplen ökonomistischen Perspektive ausgeblendet, so als ob kein Unterschied bestehe, »zwischen einem Fahrgast, der den Bus verlässt, wenn der in die falsche Richtung fährt, und einem 55-jährigen Arbeiter, der im Betrieb nicht aufmuckt, weil für ihn ‚Aussteigenʻ doch wohl eine andere Bedeutung hat« (Ortmann, et. al. 2000: 15). Die institutionellen Imperative können vom »Standpunkt des Einzelnen nicht einfach abgelehnt werden«, ebenso wenig wie eine »Organisation« sich als Ganzes »einfach kampf- oder kostenlos diesen Vorgaben entziehen kann« (Ortmann, et al. 2000: 16)24. Auch wenn die modernen Vertreter des Rational Choice nicht mehr in dieser platten Form argumentieren, stellt sich vom Grundgedanken her der Ausgangspunkt der Organisationsbildung ähnlich der Simonʼschen Metapher dar. Analytisch werden Organisationen zunächst als komplexe Tauschsysteme betrachtet. Je nach Organisationstyp (und Organisationstheorietyp) wird dabei mehr von marktorientierten bzw. konstitutionsorientierten Erklärungsvarianten ausgegangen. Im ersten Fall erscheint eine Organisation bzw. eine Firma mehr oder weniger als ein fester Zusammenhang bilateraler Verträge zwischen den beteiligten Akteuren. Im zweiten Fall steht die konstitutionelle Verfasstheit von Zielen, Positionen und Weisungsbefugnissen im Vordergrund der Analyse. Die eine Variante betont den Markt, die andere die Hierarchie als das zentrale Steuerungsinstrument. Wirtschaftliche Organisationen werden dabei tendenziell zur ersten, staatliche Gebilde eher zu der zweiten Form gerechnet werden, wobei natürlich in der Realität üblicherweise Mischformen zwischen diesen beiden idealtypischen Organisationsformen bestehen. Insbesondere für die Vertreter des „konstitutionellen Ansatzes” (Coleman 1992, Vanberg 1992) lassen sich formal verfasste Organisationen - wenn einmal konstituiert - nicht mehr nur als ein soziales Tauschsystem betrachten, welches Form und Regeln aus dem reziproken Interessenausgleich seiner Mitglieder erhält. Vielmehr müssen diese auch als korporative Akteure verstanden werden, in denen das kollektive Handeln einerseits durch eine Verfassung und andererseits durch die vom korporativen Akteur eingesetzten Agenten, welche die jeweiligen Verfassungsziele umzusetzen haben, garantiert wird. Den Ausgangspunkt der Organisationsbildung bilden zwar auch hier wieder individuelle Akteure, die, »um Kooperationsvorteile zu ermöglichen, individuelle Verfügungsrechte auf ein Kollektiv übertragen« (Kappelhoff 2000: 249). Die individuellen Interessen der Organisationsgründer („principals”) werden dabei zunächst in Organisationsziele übersetzt, für deren Ausführung dann spezifische „Agenten” eingestellt werden. Die Regeln der Verfassung müssen in diesem Modell dabei nicht unbedingt den Interessen der Organisationsmitglieder entsprechen, denn als „erzwungene Optimalität” führt auch eine disjunktive Organisationsverfassung zu einer stabilen Organisation, da die allermeisten Mitglieder kaum über die Macht verfügen werden, um die Interessenkonflikte zu ihren Gunsten entscheiden zu können. Der kollektive Akteur bekommt seine Macht von den Prinzipals ja gerade deshalb verliehen, um als konzentrierte Macht agieren zu können, und hierdurch erst den Gründern bzw. deren Nachfolgern Gewinnchancen versprechen kann. Erst durch diesen Machttransfer gewinnt der korporative Akteur die notwendige Unabhängigkeit gegenüber den Agenten, die in seinem Dienst stehen: »Es sind nicht die Manager der Unternehmen, Gewerkschaften oder Verbände, denn diese Manager sind selbst nur Personen, 2. Rational-Choice-Theorie 95 deren Dienstleistung von korporativen Akteuren in Anspruch genommen werden. Die korporativen Akteure, die Organisationen sind es, die ihre Macht von Personen erhalten und diese Macht für korporative Zwecke einsetzen. Sie sind die Hauptakteure in der Sozialstruktur der modernen Gesellschaft« (Coleman 1979: 35f.). Auch wenn der konstitutionelle Ansatz an der individualistischen Fundierung der Organisationstheorie festhält, so muss er doch den speziellen Charakter der korporativen Akteure ernst nehmen. Sie erscheinen zwar zunächst als Schnittpunkt unterschiedlicher individuellen Interessen, lassen sich jedoch als selbstständig organisiertes Herrschaftsgebilde und nicht mehr nur als ein verlängerter Arm von Einzelinteressen betrachten. Das System der Interessenvertretung neigt dazu, Autonomie zu entwickeln: »So entsteht mit der Bildung des korporativen Akteurs eine neue Kategorie von Interessen, und zwar hauptsächlich von Interessen, die darauf gerichtet sind, den korporativen Akteur von den Beschränkungen zu befreien, die ihm die Souveräne auferlegt haben. In vielen Bereichen konnten sich diese Interessen erfolgreich durchsetzen und die Ressourcen der Korporation von ihrem Ursprung noch weiter entfremden« (Coleman 1979: 31). Indem sich die konzentrierte Macht gar von den Personen entfremdet, die dem korporativen Akteur die Macht geliehen haben, kommt es aus Sicht der Rational-Choice-Perspektive gar zu paradoxen Phänomenen, denn „natürliche Personen” können nun zu einer Randgröße degradiert werden: »Eine Person kann einen Machtverlust erleiden, ohne daß eine andere Person einen entsprechenden Gewinn verzeichnet. In der Gesellschaft ist die Gesamtsumme der Macht zwischen Personen nicht mehr konstant, und zwar wegen dieser neuen Kategorie von Akteuren, die in sich Macht besitzen - Macht, die im korporativen Akteur ihren Sitz hat und nicht irgendeiner, mit diesem korporativen Akteur verbundenen Personen zukommt. Dies ist eine ebenso schwierige, wie wichtige Unterscheidung. Auf ihrer Vernachlässigung beruht der Hauptfehler in der Kapitalismusanalyse von Marx. Weil er sie nämlich nicht berücksichtigte, verortete er nämlich korporative Macht in den Händen von Personen, den Kapitalisten „als Klasse”. Der entscheidende Punkt ist, daß die von den Korporationen (seien es nun Wirtschaftsunternehmen, Gewerkschaften, Staaten oder andere Gebilde) besessene Macht nicht in den Händen einer Person liegt, sondern beim korporativen Akteur selbst ihren Sitz hat« (ders.: 23). Interessanterweise stößt die Rational-Choice-Theorie insbesondere in der Frage der Organisationen an ihre eigenen Grenzen. Der Mikro-Makro-Übergang lässt sich nicht mehr in linearer Form modellieren. Wenn sie die Dinge allzu sehr simplifiziert und Organisationsmitglieder als freie Subjekte begreift, die entsprechend den Gesetzen eines idealen Marktes jederzeit das Boot verlassen können, dann müssen all die vielfältigen sozialen Zwänge, welche die freie Wahl einschränken könnten, unbeachtet bleiben. Hierdurch würde die Erklärungskraft im Hinblick auf das, was in realen Organisationen der Fall ist, erheblich eingeschränkt. Wenn sie jedoch, wie Coleman vorschlägt, die eigenständige Autonomie gewisser gesellschaftlicher Phänomene anerkennt, nähert sie sich systemtheoretischen Positionen. Denn den Organisationen als den wichtigsten Sozialformen der modernen Gesellschaft muss nun eine gewisse Autonomie zugesprochen werden. Die Annahme einer natürlichen Person, die von sich selbst entfremdet in Organisationen gegen die eigenen Interessen handelt, lässt die Vorstellung der zweckrationalen Konstitution dieser Institutionen in sich zusammenfallen. Entweder konstituieren sich diese gesellschaftlichen Einheiten nicht nach zweckrationalen Vorgaben, das heißt, man müsste sich eingestehen, dass die theoretische Prämisse, die individuellen Handlungsrationalitäten auf soziale Gebilde, wie Organisationen übertragen zu können, nicht mehr überzeugt. Oder man wäre gezwungen, die Vorstellung einer natürlichen Person, die zweckrational ihren Individualnutzen maximiert, aufzugeben zu Gunsten eines Menschenbildes, das auch seine Bedürfnisse und Interessen als sozial IV. Soziologie des Entscheidens 96 konstituiert begreift. Akteur und Organisation wären dann nicht nur in einem instrumentellen Verhältnis zueinander zu verstehen, sondern erzeugen die Bedingungen ihres Seins in einem dialektischen Wechselverhältnis, etwa im Sinne der Bourdieuʼschen Beziehung von Habitus und Feld. (f) Zusammenfassung − Die Rational-Choice-Theorie kann als eine handlungstheoretische Variante verstanden werden, die davon ausgeht, dass gesellschaftliche Phänomene nur durch das Verhalten bzw. Handeln von Individuen erklärt werden können, und die darüber hinaus dieses Verhalten formalen Nutzenkalkülen entsprechend für berechenbar hält. Das Handeln sozialer Akteure ist in diesem Sinne als zweckgerichtet - auf die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse ausgerichtet - anzusehen. Der Sinn bzw. die Rationalität der individuellen Präferenzen wird dabei nicht weitergehend thematisiert - die Akteure der Rational-Choice-Theorie handeln nicht substanziell rational, sondern lediglich formal konsistent. Ob eine Handlungsentscheidung als selbstbewusste, freie Wahl oder als unbewusster Rechenvorgang verstanden wird, spielt innerhalb des Theoriedesigns keine Rolle. − Ausgangspunkt der Weberʼschen Handlungstheorie ist die Verbindung von Handeln und subjektiver Sinngebung. Ein Verhalten wird erst dann zu einem Handeln, wenn es als ein intentionaler Akt begriffen wird. Der Weberʼsche Idealtyp des zweckrationalen Handelns beschreibt, wie menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört wäre. Der Mensch würde nun sein Handeln an einem Zweck orientieren und Zweck, Mittel und Nebenfolgen, wie auch verschiedene mögliche Zwecke rational gegeneinander abwägen. − Im Zentrum der Rational-Choice-Theorie steht eine kardinale Nutzenfunktion. Gegeben ist eine endliche Menge von Strategien, um den angestrebten Nutzen zu erreichen. Mit jeder Strategie ist eine Wahrscheinlichkeitsverteilung verbunden, die besagt, wie wahrscheinlich es ist, das angegangene Ziel zu erreichen. Mit den Strategien, ggf. mit den Zielen, sind Nebeneffekte verbunden, die entsprechend ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit zu bewerten und entsprechend in die Nutzenfunktion einzubeziehen sind. Die jeweiligen Bedürfnisse sowie die Präferenzstruktur des jeweiligen Akteurs werden dabei als invariant gesetzt. − Den Erkenntnissen des neurobiologischen Konstruktivismus und der Gestaltpsychologie folgend muss davon ausgegangen werden, dass Akteure nicht einfach eine Wirklichkeit erkennen, sondern in ihrem Erkennen selbst schon Wirklichkeit konstruieren. Dieser Prozess der Situationsdefinition ist nach Esser selbst als ein Entscheidungsvorgang zu verstehen, der einer Kosten-Nutzen-Analyse folgt. Der gesamte Entscheidungsprozess wird nun in einem zweistufigen Modell erklärt: Zuerst wird entschieden, welche Situationsdefinition gewählt wird, und dann wird innerhalb dieses Rahmens entschieden, welche Handlung auszuführen ist: Unter der Voraussetzung einer begrenzten Zahl möglicher Rahmungen und der Voraussetzung, dass diese dem Akteur auch bekannt sind, werden die Kosten einer möglichen Falschrahmung mit der Wahrscheinlichkeit verrechnet, dass man die Situation falsch eingeschätzt hat. − Im Rekurs auf einen abstrakt gefassten Machtbegriff erklärt Coleman das Problem der sozialen Kooperation als ein marktähnliches Verteilungsgleichgewicht unterschiedlicher Interessen. Die sozialen Akteure haben zwar klar definierbare Interessen, besitzen jedoch nicht die Kontrolle 3. Rahmen 97 über all die Ressourcen, um ihre Anliegen alleine verfolgen zu können. Entsprechend muss es zu Tauschbeziehungen kommen, in denen die Akteure einen Teil ihres Kapitals einsetzen, um andere dazu zu bewegen, ihren Interessen zu dienen. Entscheidend für das Transaktions gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Akteuren ist die Machtverteilung. Die Macht, über die ein Akteur verfügen kann, ergibt sich dabei als Funktion seiner Ressourcen und dem Interesse, das andere an seinen Ressourcen haben. − Die Etablierung von Normen erklärt sich in der Rational-Choice-Theorie aus der einfachen spieltheoretischen Überlegung heraus, dass Kooperationskollektive besser gestellt sind, wenn sie das Fehlverhalten ihrer Mitglieder sanktionieren, als Gemeinschaften, die keine Strategien zur Normkontrolle entwickelt haben. Disjunktive Normen, das heißt Regelungen, bei denen die Normnutznießer nicht die Zielakteure sind, auf die sich die Normen beziehen, können etabliert werden, wenn der Nettogewinn der Normnutznießer höher ist als der Verlust der Zielakteure. − Für die Vertreter des „konstitutionellen Ansatzes” lassen sich formal verfasste Organisationen nicht mehr nur als ein soziales Tauschsystem betrachten, das Form und Regeln aus dem reziproken Interessenausgleich seiner Mitglieder erhält. Vielmehr sind diese auch als korporative Akteure zu betrachten, in denen das kollektive Handeln einerseits durch eine Verfassung und andererseits durch die vom korporativen Akteur eingesetzten Agenten garantiert wird. Der kollektive Akteur bekommt seine Macht von den Gründern der Korporation geliehen, damit dieser als konzentrierte Macht agieren kann. Da sich jedoch die konzentrierte Macht des korporativen Akteurs von den Personen entfremden kann, die diesem ihre Macht geliehen haben, kann es zu paradoxen Effekten kommen. Eine korporative Organisation dient nicht mehr den Zwecken der sie konstituierenden Individuen, sondern eigenen Zielsetzungen. 3. Rahmen: Die Herstellung dessen, was der Fall ist Goffman entwickelte seinen Rahmenbegriff in Anlehnung an Batesons25 Untersuchungen zum Spielverhalten von Tieren, in dem dasselbe Verhalten je nach Kontext eine vollkommen andere Bedeutung zeigt: Innerhalb der eigenen Gruppe erscheint das Kampfverhalten als Spiel, in Beziehung zu Fremden als Kampf, wobei zu beachten ist, dass das »Spielverhalten etwas an sich bereits Sinnvollem genau nachgebildet« ist. Hier dem Kämpfen, »einer wohlbekannten Art orientierten Handelns« (Goffman 1996: 52). Aus dem sich hieraus ableitenden Problem der Kontextualisierung von Verhalten und Äußerungen entwickelte Goffman seine Rahmenanalyse. Ein Rahmen entspricht dabei einer Wirklichkeitssicht, einer Perspektive, in der ein gegebenes Problem gesehen und verstanden werden kann. Rahmen stellen gewissermaßen das Organisationsprinzip der menschlichen Erfahrung und Interaktion dar. Die Rahmenanalyse dient dabei im Wesentlichen der Klärung »dessen, was in Interaktionen und Aktivitäten eigentlich vor sich geht« (Knoblauch 2000: 172). Unterschiedliche Rahmen führen zu verschiedenen Problemsichten, wobei jedoch der konkret Handelnde, wenn er »ein bestimmtes Ereignis erkennt«, dazu neigt, »seine Reaktion faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primäre nennen könnte. [...] Ein primärer Rahmen wird eben so gesehen, dass er einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem macht« (Goffman 1996: 31). »Zusammengenommen bilden die primären Rahmen einer sozialen Gruppe einen Hauptbestandteil von deren Kultur, vor allem 98 IV. Soziologie des Entscheidens insofern, als sich ein Verstehen bezüglich wichtiger Klassen von Schemata entwickelt, bezüglich deren Verhältnissen zueinander und bezüglich der Gesamtheit der Kräfte und Wesen, die von Schemata entwickelt, bezüglich deren Verhältnissen zueinander nach diesen Deutungsmustern in der Welt vorhanden sind« (ders.: 37). Die primären Rahmen bilden jedoch ihrerseits das Ausgangsmaterial für weitere Sinntransformationen: Rahmen können moduliert werden - etwa in dem Sinne, dass eine ursprünglich ernsthafte oder gar bedrohliche Situation nun in den Kontext von Spiel, Simulation oder einer Übung transformiert wird. »Die Modulation ist eine grundlegende Art der Transformation eines Stückes Handlung, die dabei in allen Einzelheiten als Muster für etwas anderes dient. Anders ausgedrückt, Modulationen sind eine grundlegende Art der Anfälligkeit des Handelns« (ders.: 98). Goffman benennt fünf Formen der Modulation: »So-tun-als-ob«, »Wettkampf«, »Zeremonie«, »Sonderaufführungen« und »In-anderen-Zusammenhang-Stellen«. Als Grenzfall einer Modulation im Sinne von so-tun-als-ob entsteht die Täuschung, in der nur ein Teil der Kommunikationspartner über das Manöver Bescheid weiß. Im Sinne einer „Täuschung in guter Absicht” können etwa der Krankenkasse medizinische Gründe genannt werden, um einen Patienten aus sozialen Gründen etwas länger im Krankenhaus behalten zu können. Goffman sieht in der medizinischen Behandlung gar das »Musterbeispiel paternalistischer Täuschung«, denn hier herrsche »die klassische Gewohnheit, schlechte Nachrichten einem Patienten vorzuenthalten, der bald sterben wird oder dessen Situation hoffnungslos ist« (ders.: 117). Insbesondere die Sinntransformationen der Formen »so-tun-als-ob« und »in-anderen-Zusammenhang-stellen« lassen im ärztlichen Handeln zusätzliche Freiheitsgrade erscheinen. Indem Goffman solche Rahmungen als einen sozialen Prozess beschreibt, erlaubt er die Untersuchung dieser Konstruktionen unter dem Blickwinkel der Inszenierung. Wenngleich Goffmans Werk in vielen Aspekten durchaus auch im Lichte einer subjektphilosophischen Interpretation zu lesen ist – hier sind es jeweils die individuellen Akteure, die sich auf der Bühne des Sozialen möglichst vorteilhaft präsentieren möchten – können die Rahmungsvorgänge im Sinne der Stoßrichtung dieser Arbeit auch als ein kollektiver Prozess verstanden werden. Sich weniger von der Theatermetapher verführen lassend und sich stattdessen mehr auf die ursprünglichen Intention der Batesonʼschen Arbeiten besinnend, sind die Rahmungsprozesse - das, was in Interaktionen vor sich geht - eher als kollektiv hergestellte Vorgänge zu verstehen. Ob gespielt wird oder bitterer Ernst ist, stellt eben nicht nur die Entscheidung des Einzelnen dar. Die Methode der Rahmenanalyse kann im Sinne von Willems (1997: 59) als eine »zweidimensionale „Meta-Analyse”« verstanden werden, als ein Analysesystem von »Analysesystemen« (Rahmen) und „Analysepraxen« (Rahmungen): Zum einen wird beobachtet, wie jemand schaut, zum anderen untersucht, wie die Bedingungen dieses Schauens hergestellt werden. Goffman gestattet den abstrahierenden Blick, um die jeweiligen Bezugssysteme der Akteure zu erfassen, ohne sich allzu tief in die Details der Inhalte ihres Handelns vertiefen zu müssen. Die Rahmenanalyse fokussiert auf »reflexive und metakommunikative Sinntatsachen, die (Bedeutungs-, Handlungs)Felder, Sphären oder Welten konstituieren, ohne Sequenzen zu determinieren« (ders.: 309). Die Identifikation von Rahmen und Rahmungen erleichtert die Analyse ärztlichen Entscheidungsverhaltens erheblich, denn der Forscher braucht sich nicht nun nicht mehr mit den vielfältigen Komplexitäten medizinischer Fallproblematiken herumzuschlagen. Stattdessen kann er sich darauf beschränken, herauszufinden, in welchem Rahmen die Dinge verhandelt werden: Was ist hier vordergründig der Fall? Geht beispielsweise es darum, den Patienten sterben zu lassen, oder soll noch alles versucht werden? Drängen sich hier ökonomische oder 3. Rahmen 99 institutionelle Rahmen in den Vordergrund? Handelt es sich um eine Lehrdemonstration oder um wissenschaftliches Interesse? Inwieweit wird den Außenstehenden etwas vorgetäuscht, was in der internen Kommunikation eine andere Bedeutung hat? Die Rahmenanalyse schärft den Blick für Widersprüche und Doppeldeutigkeiten, die sich dann auch in speziellen „Markierungen” innerhalb der Kommunikationen der beteiligten Akteure zeigen. Beispielsweise können die Geltungsbereiche mancher Aussagen relativiert werden - etwa indem man Dinge sagt, um zugleich deutlich zu machen, dass dies nicht so gemeint sei. In vielen Kommunikationen werden zugleich die »Bezugssysteme«, die »Anhaltspunkte« mitkommuniziert, welche auf »eingeklammerten Kommunikationsteile hinweisen und eine sonst konventionelle Bedeutung in einem anderen Licht erscheinen lassen, z. B. bei ironischen Nebenbemerkungen, indirekter Rede, scherzhaften Anspielungen usw.; und Hörer-Signale, dass die damit verbundene Sinnesänderung erkannt worden ist« (Goffman 1978, zitiert nach Willems 1997: 312). Wenn etwa Ärzte – was im Feld oft zu beobachten ist – zynisch oder gar boshaft über ihre Patienten und die ihnen angetragenen therapeutischen Eingriffe sprechen, so wäre dies in Goffmans Sinne weniger im Lichte eines besonderen ärztlichen Sadismus zu deuten, denn eher als Versuch zu werten, die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Realitätsebenen zum Ausdruck zu bringen, welche innerhalb der institutionellen Logik der Krankenbehandlung systemisch ausgeblendet bleiben müssen. Aussagen können rekontextualisiert werden, indem sie in eine Hierarchie von Einklammerungen eingebettet werden. Die Akteure erhalten hierdurch zusätzliche Freiheitsgrade in ihrem Handeln, da sie die Bedingungen der Rahmung ihrer Aussagen mitbestimmen zu können: Indem Widersprüche, unangemessen erscheinende Ausdrucksformen etc. von ihnen in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt werden, können diese entschuldigt werden – man hat es nicht so gemeint, selbst wenn man dann doch so handelt. Dennoch – und dies ist für die soziologische Analyse entscheidend – öffnet die Rahmenanalyse nicht das Tor für eine beliebige Vielfalt verschiedener Wirklichkeitsinterpretationen, sondern ermöglicht erst die Extraktion übergeordneter Strukturen in der Konstruktion sozialer Wirklichkeiten. Sie erlaubt, methodisch kontrolliert von den inhaltlichen Details der Einzelerfahrungen zu abstrahieren; gestattet es, die jeweiligen Formen der Kontextualisierung zu typologisieren und führt schließlich zu einem übergreifenden Muster der Strukturierung von Erfahrung: »Nehmen wir nun an, es gibt in einer gegebenen Kultur einen begrenzten begrifflichen Rahmen zur Strukturierung von Situationen, einen begrenzten Komplex grundlegender Interpretationsschemata (mit jeweils unbegrenzten Realisierungsmöglichkeiten), so daß der gesamte Komplex potentiell auf ‚dasselbeʼ Ereignis anzuwenden ist. Nehmen wir weiterhin an, daß diese fundamentalen Systeme ihrerseits ein umfassendes System – ein System von Systemen bilden. Wenn wir dann von einem einzigen Ereignis aus unserem eigenen Kulturkreis, in diesem Fall von einer Äußerung ausgehen, so müßten wir nachweisen können, daß eine Vielzahl von Bedeutungen möglich ist, daß diese zahlenmäßig begrenzten, unterschiedlichen Kategorien zuzuordnen sind und daß sich diese Kategorien grundlegend voneinander unterscheiden; auf diese Weise würden wir nicht lediglich einen endlosen Katalog erhalten, sondern vielmehr einen Zugang zur Strukturierung der Erfahrung finden. [...] Nach einem solchen System von Systemen müssen wir Ausschau halten; mit einem solchen Meta-Schema werden wir in der Lage sein, systematische Erkenntnisse über Kontexte zu sammeln, statt uns auf Warnungen beschränken zu müssen, daß eine bestimmte Äußerung in einem anderen Kontext etwas anderes bedeuten könnte« (Goffman 1978, zitiert nach Willems 1997: 305). IV. Soziologie des Entscheidens 100 Goffmans Rahmenanalyse, insbesondere die Analysekategorien „Rahmen”, „Rahmung” und „Modulation” stellen in meiner Studie ein wichtiges Hilfsmittel dar, um rekonstruieren zu können, was im Krankenhausalltag der Fall ist. (a) Zusammenfassung − Goffman entwickelt seine Rahmenanalyse aus dem Problem der Kontextualisierung von Verhalten heraus. Ein Rahmen entspricht einer Wirklichkeitssicht, einer Perspektive, in der ein gegebenes Problem gesehen und verstanden werden kann. Rahmen stellen dabei gewissermaßen das Organisationsprinzip der menschlichen Erfahrung und Interaktion dar. − Rahmen können moduliert werden, etwa in dem Sinne, dass eine ursprünglich ernsthafte oder gar bedrohliche Situation nun in den Kontext von Spiel, Simulation oder einer Übung transformiert wird. Als Grenzfall einer Modulation im Sinne von so-tun-als-ob entsteht die Täuschung. − Im Lichte von Rahmungsprozessen und den hierdurch erzeugten Rahmen und Modulationen können Aussagen rekontextualisiert werden, indem sich eine Hierarchie von Einklammerungen aufzeigen lässt. Soziale Akteure erhalten hierdurch Freiheitsgrade, sich von ihrem Verhalten zu distanzieren, um hierdurch etwa Rollenkonflikte zu managen. − Wenngleich Goffmans Werk in vielen Aspekten durchaus auch im Lichte einer subjektphilosophischen Interpretation zu lesen ist – hier sind es jeweils die individuellen Akteure, die sich auf der Bühne des Sozialen möglichst vorteilhaft präsentieren möchten – können solche Rahmungsvorgänge im Sinne dieser Arbeit auch als kollektive Prozesse verstanden und untersucht werden. 4. Feld und Habitus: „Zweckhaftigkeit ohne bewusstes Anstreben von Zwecken” Aus verschiedenen Gründen erscheint Bourdieus metatheoretische Konzeption von Feld und Habitus als hilfreiches Instrument, um die in meiner Arbeit aufgeworfenen Fragen zu klären: Der Feldbegriff lenkt den Blick auf die Machtstrukturen in gesellschaftlichen Institutionen im dynamischen Wechselspiel von objektiven Gegebenheiten und Dispositionen. Mit dem Habitusbegriff gelingt es Bourdieu, die unbefriedigende Konstellation der gegeneinander stehenden Paradigmen des Strukturfunktionalismus und einer akteursbezogenen Handlungstheorie durch ein integratives Konzept zu überwinden, um so das Subjekt-Objekt-Verhältnis in angemessener Komplexität zu berücksichtigen. Bourdieus Vorgehen ist „rekonstruktiv” und nicht zuletzt ist auch für ihn die Einsicht forschungsleitend, dass die abstrahierenden Modelle und Regelwerke der Analyse nicht mit der »Logik der Praxis« (Bourdieu 1997: 26ff.) selbst verwechselt werden dürfen. Es folgt zunächst eine Einführung in die Konzeption von Feld (a) und Habitus (b), um sich anschließend ausführlicher der Bourdieuʼschen Kritik an der Rational-Choice-Theorie zuzuwenden (c). 4. Feld und Habitus 101 (a) Soziales Feld und Macht In Analogie zum physikalischen Feldbegriff kann auch das soziale Feld als ein Netzwerk verschiedener Kraftlinien begriffen werden, das die jeweiligen Akteure formt und das von diesen geformt wird. Im Feld und seinen Regeln gefangen haben die Akteure keine andere Wahl, als um die Wahrung und Verbesserung ihrer Stellung zu kämpfen. Dies geschieht in »symbolischen Auseinandersetzungen und Kämpfen«, die »innerhalb der verschiedenen Felder ausgetragen werden und in denen es neben der Repräsentation der sozialen Welt um die Rangfolge innerhalb jedes einzelnen Feldes wie deren Gesamtheit geht« (Bourdieu 1985: 9). Die im Feld stehenden Akteure sind dabei zugleich Subjekt wie Objekt dieser Dynamik: »Was das Feld in fortwährender Bewegung hält, ist keine erste unbewegte Antriebskraft [...]; es sind vielmehr die aus der konstitutiven Struktur des Feldes [...] hervorgehenden Spannungen, die immer wieder die Struktur reproduzieren. Es sind die Aktionen und Reaktionen der Beteiligten, die, wollen sie sich nicht vom Spiel ausschließen, keine andere Wahl haben als zu kämpfen um Wahrung oder Verbesserung ihrer Stellung im Feld« (ders.: 73). Für den Außenstehenden erscheint das, was im Feld geschieht, als Spiel, als Illusion, doch die am Spiel Beteiligten haben in der Regel keine andere Wahl, als sich von diesem Spiel gefangen nehmen zu lassen26. Einem Feld entspricht jeweils ein konkretes Konglomerat von Akteuren, die in einer spezifischen (Macht-)Beziehung zueinander stehen und den sozialen Raum konstituieren. Das was in diesem Feld jeweils zu tun ist, die jeweiligen Angelegenheiten und Geschäfte variieren mit dem, was in dem jeweiligen Feld gespielt wird. In einer staatlichen Behörde gelten andere Regeln als in einem Krankenhaus. In einem Universitätsklinikum stellen sich die Machtstrukturen anders dar als in einem städtischen Haus. Das ärztliche Feld folgt wiederum anderen Regeln als etwa das Feld der Pflegekräfte. In jedem Feld sind jeweils andere Dinge handlungsleitend. »Jeder weiß aus Erfahrung, daß das, was den Beamten des höheren Dienstes auf Trab bringt, den Wissenschaftler höchst kalt lassen kann, und daß die „Investitionen” des Künstlers für den Bankier ein Buch mit sieben Siegeln bleiben« (Bourdieu 1985: 75). Der Gewinn, den sich die jeweiligen Akteure für ihren Spieleinsatz erwarten können, beweist sich letztlich in der spezifischen Stellung innerhalb des jeweiligen Feldes. „Bilanzieren” lässt sich dieser Gewinn als Kapital in jeweils unterschiedlichen, dem jeweiligen Feld spezifischen „Währungen”. Das kulturelle Kapital erlaubt in Form der Akkumulation von Bildung und Titeln den Zugang zu bestimmten Positionen im Feld. Das ökonomische Kapital erlaubt es, eigenständig über Ressourcen verfügen zu können. Das soziale Kapital steht für den Einfluss in sozialen Netzwerken. Das symbolische Kapital schließlich steht für Prestige, Ehre und Anerkennung. Alle anderen Kapitalsorten können in ihrem jeweiligen Feld auch als symbolisches Kapital fungieren und das entscheidende Merkmal darstellen, das letztlich die Stellung im Feld bestimmt27. So wird im ärztlichen Feld erst der, wer einen Facharzttitel vorweisen kann, zum potentiellen Kandidaten, um in der ärztlichen Hierarchie aufzusteigen. In einem Universitätsklinikum demgegenüber stellen Publikation und wissenschaftliche Gradierungen die Conditio sine qua non dar, um innerhalb des Feldes weiterzukommen. Da die jeweiligen (symbolischen) Kapitalien nur von den anderen verliehen werden können, ist der jeweilige Akteur den Regeln seines Feldes auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das Spiel ist für ihn bitterer Ernst, denn es geht um seine Daseinsberechtigung »und zwar nicht um die Rechtfertigung der menschlichen Existenz ganz allgemein, sondern um die Rechtfertigung einer besonderen, einzelnen Existenz, die sich [...] in ihrem sozialen Sein in Frage gestellt sieht; um die Frage der Legitimität einer Existenz, um das Recht eines Individuums, sich so, wie es ist, 102 IV. Soziologie des Entscheidens gerechtfertigt zu fühlen?« (Bourdieu 2001: 305). Im Gegensatz zu den subjektphilosophischen Positionen, in denen die Autonomie des reifen Subjektes betont wird, bleiben für Bourdieu auch die bildungs- und großbürgerlichen Schichten zutiefst abhängig vom sozialen Prozess symbolischer Anerkennung: Was »gerade in Universen, in denen man sich gerne über alle Konformismen und jeden Glauben erhaben dünkt, am meisten verkannt oder verdrängt wird, [ist] nämlich die Beziehung oft unüberwindlicher Unterwürfigkeit, die alle sozialen Akteure mit der sozialen Welt verbindet, deren Produkte sie im Guten wie im Schlechten sind« (ders.: 222). Der fundamentale Unterschied zwischen dem Am-Spiel-beteiligt-Sein und dem Von-außenBeobachten prägt auch die Rolle des Sozialwissenschaftlers, denn der (Feld-)Forscher steht per se außerhalb des Feldes der Beforschten. Seinen besonderen Standort verkennend läuft dieser nun Gefahr, diese grundlegende Differenz zu missachten und die Logik seiner Praxis mit der Logik der erforschten Praxis zu verwechseln28. Methodologisch lässt sich dieser blinde Fleck nur handhaben, indem der Forscher sich selbst thematisiert: »Die Objektivierung des objektivierenden Subjektes lässt sich nicht umgehen: Nur indem es die historischen Bedingungen seines eigenen Schaffens analysiert (und nicht durch eine wie immer geartete Form transzendaler Reflexion), vermag das wissenschaftliche Subjekt seine Strukturen ebenso theoretisch zu meistern wie die Determinanten, deren Produkt diese sind, und zugleich das konkrete Mittel an die Hand zu geben, seine Fähigkeiten zur Objektivierung noch zu steigern« (Bourdieu 1998: 10). Das Geflecht sich unterschiedlich manifestierender Machtbeziehungen durchzieht die Bourdieuʼschen Arbeiten als zentrales Thema. Positionen sozialer Macht stellen ebenso wie symbolisches Kapital ein knappes Gut dar. Da Macht immer nur durch den anderen verliehen werden kann, stellen Machtpositionen »soziale Fiktionen« dar, die durch die kollektiven Riten der jeweiligen Institutionen als Realität geschaffen werden: Sie »schaffen denjenigen, den sie als König, Ritter, Priester oder Professor einsetzen, indem sie sein gesellschaftliches Bild formen, indem sie die Vorstellung prägen, die er als moralische Person, das heißt als Bevollmächtigter, Mandatsträger oder Wortführer einer Gruppe, vermitteln kann und vermitteln muß. Doch schaffen sie ihn auch noch in einem anderen Sinne: Indem sie ihm eine Bezeichnung, einen Titel auferlegen, der ihn definiert, einweist, konstituiert, rufen sie ihn auf, zu werden, was er ist, das heißt, was er zu sein hat, schärfen ihm ein, seine Funktion zu erfüllen, einzutreten ins Spiel, in die Fiktion, mitzuspielen und mitzufunktionieren« (Bourdieu 1985: 76)29. Gruppen mächtiger Personen reproduzieren sich in der Regel selbst, indem sie nur die Kandidaten in den Kreis ihrer Macht aufnehmen, welche versprechen zu scheinen ihre Macht reziprok zu bestätigen. In diesem Sinne geben Einsetzungsriten (Prüfungen, Aufnahmezeremonien etc.) einen Einblick in die Regeln und das Wirken einer Institution, denn sie dienen einerseits dazu »den Eingesetzten seiner Existenz als vollberechtigtes Mitglied der Gruppe, seiner Legitimität zu versichern«, andererseits aber »auch dazu, die Gruppe ihrer eigenen Existenz als anerkannte und Anerkennung verleihende Gruppe zu versichern und ihr die Realität der sozialen Fiktionen – Bezeichnungen, Titel, Würden – zu bestätigen, die sie produziert und reproduziert, und denen der Empfänger dadurch zur Existenz verhilft, daß er sie annimmt« (Bourdieu 2001: 313). In diesem Sinne stellen medizinische Institutionen die Macht dar, welche über die Karriere, über die Legitimation ihrer Mitglieder entscheiden kann. Ob der junge Arzt eine Stellenverlängerung bekommt und in die Abteilung versetzt wird, in der es ihm möglich wird, die Bedingungen der ärztlichen Weiterbildungsordnung zu erfüllen, liegt nicht in seiner Macht. Er kann nur hoffen, dass seine Erwartungen erfüllt werden, und versuchen seine Haltung und sein Verhalten auf die Regeln des Spiels auszurichten. Doch selbst wenn sein Habitus vollkommen im Einklang mit 4. Feld und Habitus 103 den Strukturen des Feldes stände, ist der Gewinn für seinen Einsatz keinesfalls garantiert. Gute Positionen bleiben eine knappe Ressource. Nicht jeder Aspirant kann damit rechnen, „auserwählt” zu werden. Umgekehrt zwingt die Teilhabe an den Privilegien die Auserwählten, die sich hiermit bietenden Chancen auch zu nutzen. Da Führungspersönlichkeiten nicht nur (symbolisches) Kapital akkumuliert haben, sondern auch die sind, welche andere anerkennen können, welche (symbolisches) Kapital verteilen können, sind sie die gefragtesten Personen - die, von denen man am meisten will. Hierdurch erklärt sich für Bourdieu das »Paradox der Gestresstheit und Überbeanspruchung der Privilegierten«, denn je »mehr wirtschaftliches und kulturelles Kapital, um so mehr Chancen, in den sozialen Systemen zum Erfolg zu kommen, und damit auch mehr Neigung, darin Zeit und Energie zu investieren; um so schwieriger aber auch, alle Möglichkeiten materiellen wie symbolischen Produzierens und Konsumierens auf eine nicht ausdehnbare biologische Zeit zu begrenzen« (ders.: 291). Einer Macht zu unterstehen, heißt immer auch der Willkür dieser Macht ausgeliefert zu sein, heißt, ihr Verhalten und ihre Entscheidungen nicht vollkommen vorhersehen zu können, jedoch dennoch auf sie hoffen zu müssen30: »Genau das ist das Schicksal aller Beherrschten. Sie sind gezwungen, alles von anderen zu erwarten, von den Inhabern der Macht über das Spiel und über die objektiven und subjektiven Gewinnchancen, die es bieten kann, also von denen, die die Macht haben, mit der Angst zu spielen, die aus der Spannung zwischen der Intensität des Hoffens und der Unwahrscheinlichkeit der Erfüllung unvermeidlich wächst« (ders.: 305). Eliteinstitutionen - wie auch die Universitätsklinika - leben von dieser Spannung: Einerseits begrenzte Aufstiegschancen, andererseits die Hoffnung doch noch zu den Auserwählten zu gehören führen in Verbindung mit der mit der Angst, doch noch nicht genug getan zu haben, nicht selten zu Formen extremer Selbstausbeutung. So genannte partizipative Führungsstile, ebenso wie etwa auch die Einführung moderner Methoden, wie ständige Evaluation, Qualitätszirkel, Innovationsförderung etc., bedeuten im Sinne der Bourdieuʼschen Argumentation keinesfalls die Aufhebung bzw. Demokratisierung von Machtverhältnissen, sondern verdecken die weiterhin gegebenen Spielregeln der Macht. »Obwohl diese sanfte Gewalt den Rückgriff auf die brutaleren und sichtbareren Herrschaftsmethoden ausschließt, so stützt sie sich doch weiterhin auf ein Kräfteverhältnis, das in der Entlassungsdrohung und in der mehr oder weniger gezielt genährten Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes wieder zum Vorschein kommt. Daher der von leitenden Angestellten seit langem in seinen Auswirkungen erkannte Widerspruch zwischen den Geboten der symbolischen Gewalt, die die objektive Wahrheit des Herrschaftsverhältnisses mühsam zu verschleiern und zu beschönigen zwingen, und den strukturellen Voraussetzungen, die seine Ausübung möglich machen. Ein Widerspruch, der sich um so weiter auftut, als der Rückgriff auf Stellenabbau und Technik kommerzieller und finanzieller Anpassung die strukturelle Gewalt tendenziell bloßlegt« (Bourdieu ders.: 263). Ein demokratischer und kollegialer Führungsstil innerhalb einer Krankenhausabteilung eines Krankenhauses ist deshalb keinesfalls so zu verstehen, dass in diesem Feld grundsätzlich andere Gesetze herrschen als in einem autokratisch geführten Haus. (b) Habitus und sozialisierter Körper Die strukturalistisch erscheinende Konzeption vom sozialen Feld und das hieraus abgeleitete Geflecht von Machtbeziehungen könnte leicht missverstanden werden als ein deterministisches 104 IV. Soziologie des Entscheidens Den-sozialen-Verhältnissen-ausgeliefert-Sein, wenn nicht Bourdieu mit dem Habitusbegriff einen Kontrapunkt zu dieser Vorstellung gesetzt hätte. Erst der Habitus schlägt die Brücke zwischen Subjekt und Objekt, ohne sich dabei einseitig in einer objektivistischen bzw. subjektivistischen, einer soziologistischen bzw. psychologistischen Deutung sozialen Geschehens zu verlieren31. Der Habitus erscheint als verkörperte Geschichte, prägt sich als vergangenes Erkennen und Handeln in den Körper der Akteure ein und strukturiert sein künftiges Erleben. Hierdurch konstituiert sich eine reziproke Beziehung zwischen Welt und Erlebenden: Die »eigenen Strukturen der Welt« vergegenwärtigen sich in den kognitiven Strukturen, über die die Akteure sie begreifen und verstehen32. Über den Habitus nistet sich das Soziale in den Körper, in das biologische Individuum ein. »Der Körper ist in der sozialen Welt, aber die soziale Welt steckt auch im Körper« (Bourdieu 2001: 194). Erst als sozialisierter Körper ist das Individuum in der Lage, in einem sozialen Feld angepasst und erfolgreich zu agieren. Der Habitus lässt das Gesellschaftliche im Einzelnen erscheinen, denn es gibt »in jedem sozialisiertem Individuum kollektive Anteile, also Eigenschaften, die für eine ganze Klasse von Akteuren gelten und durch die Statistik ans Licht zu bringen sind« (ders.: 201). Dem Habitus entspricht das inkorporierte, praktische Wissen, welches notwendig ist, um den »Spiel-Sinn« für die spezifischen Regeln eines Feldes zu gewinnen. Dieses Wissen besteht weniger aus bewusster Reflexion, denn aus impliziten Handlungsschemata, die nur durch die Konditionierung wiederholter und regelmäßiger Praxis zu erwerben sind: »Der gute Spieler, gewissermaßen das Mensch gewordene Spiel, tut in jedem Augenblick das, was zu tun ist, was das Spiel verlangt und erfordert. Das setzt voraus, daß man fortwährend erfindet, um sich den unendlich variablen, niemals ganz gleichen Situationen anzupassen. Das läßt sich durch mechanische Befolgung einer expliziten und – so sie existiert – kodifizierten Regel nicht erreichen« (Bourdieu 1992: 83). Der Habitus ist gleichsam das Komplement zum Feld, denn ein Feld kann nur funktionieren, wenn es Menschen gibt, die nicht nur mitspielen wollen, sondern aufgrund ihrer Disposition nicht mehr anders als mitspielen können; wenn sich also »Individuen finden, die sozial prädisponiert sind, als verantwortliche Akteure zu handeln, die ihr Geld, ihre Zeit, zuweilen ihre Ehre oder ihr Leben riskieren, um das Spiel in Gang zu halten« (Bourdieu 1985: 75). Von außen gesehen erscheinen diese Spiele oft befremdlich, gar illusorisch, denn jenseits »der ontologischen Komplizenschaft zwischen Habitus und Feld, auf der wiederum der Eintritt ins (wie die Verhaftung ans) Spiel« basiert, haben sie keine Essenz. Innerhalb dieser Beziehung zwingen sie sich als »Verbindung von Spiel und Spiel-Sinn« - sobald sie sich erst einmal konstituiert haben - »mit absoluter Notwendigkeit und Evidenz auf« (ders.: 75). Ein Mediziner, der seit Jahren in einem Krankenhaus praktiziert, ist deshalb nicht einfach nur als ein Subjekt anzusehen, das den Wissenstand seiner Disziplin mehr oder weniger perfekt beherrscht, sondern auch als verkörperte Struktur des medizinischen Feldes. In einer hierarchischen Ordnung stehend hat er in oftmals schmerzhaften Prozessen erlernt und gefühlsmäßig verinnerlicht, was zu tun und was besser zu unterlassen ist, wen man involvieren kann und wem man besser ausweichen sollte, welche Tabus nicht zu überschreiten sind etc. Auch wenn für einen äußeren Beobachter das Handeln der Akteure in ihrem Feld üblicherweise als eine auf ein Ziel gerichtete Handlungssequenz erscheint, so weist die Bourdieuʼsche Auffassung vom Habitus in eine andere Richtung: »Die wirksamsten Strategien – vor allem in den durch Werte der Uneigennützigkeit beherrschten Feldern – sind diejenigen, die als Produkte von Dispositionen, die von den immanenten Erfordernissen des Feldes geformt wurden, sich diesen spontan, ohne ausdrückliche Absicht oder Berechnung, anzupassen tendieren. 4. Feld und Habitus 105 Demzufolge ist der Akteur nie ganz Subjekt seiner Praxis: Durch die Dispositionen und den Glauben, die der Beteiligung am Spiel zugrunde liegen, schleichen sich all für die praktische Axiomatik des Feldes (die epistemische doxa zum Beispiel) konstitutiven Voraussetzungen noch in die scheinbar luzidesten Intentionen ein« (Bourdieu 2001: 178). Der Habitusbegriff gestattet es somit »kollektiven und gewissermaßen objektiv zweckhaften sozialen Prozessen – wie der Tendenz herrschender Gruppen zu ihrer eigenen Perpetuierung – Rechnung zu tragen, ohne auf personifizierte Kollektive mit selbstgesteckten Zielen, auf die mechanische Häufung rationaler Handlungen individueller Akteure oder auf zentrales Bewußtsein oder einen zentralen Willen zurückzugreifen zu müssen« (ders.: 201). In diesen Sinne sollte bei der Interpretation empirischer Daten Vorsicht walten und den unersuchten Akteuren sollten nicht allzu schnell ‚plausibleʼ Intentionen zugeschoben werden. Stattdessen lohnt es sich eher, auf Dissonanzen zwischen den Selbstbeschreibungen der Akteure und der im Feld gelebten Praxis zu achten. So kann es durchaus vorkommen, dass ein Chefarzt zwar seine Mitarbeiter nicht ausbeuten will und ihnen gegenüber Bereitschaft zu kollegialen Gesprächen zeigt, de facto aber in Bezug auf Stellenkürzungen ähnliche Entscheidungen trifft wie sein autokratischer Kollege aus der Nachbarabteilung. Auch wenn der Habitus als unbewusst agierende Struktur33 anzusehen ist, so gestaltet er paradoxerweise gerade dadurch Freiheitsgrade im Handeln, indem er die Trägheit der vergangenen Erfahrungen gegen die aktuellen Verhältnisse setzt. »Der Habitus ist jene Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, die die Präsenz des Kommenden in der Gegenwart möglich macht. Daraus folgt zunächst, daß der Habitus, da er über eine eigene Logik (lex) und eigene Dynamik (vis) verfügt, nicht mechanisch einer äußerlichen Kausalität unterworfen ist, daß er vielmehr gegenüber der direkten und unmittelbaren Determinierung durch die gegebenen Umstände einen Freiheitsraum gewährt – dies im Widerspruch zum mechanischen Momentanismus« (ders.: 270). Ein ausgeformter Habitus muss deshalb nicht notwendigerweise im Einklang mit den aktuellen Verhältnissen stehen: »Der Habitus kennt das Mißlingen, er kennt kritische Momente des Mißverhältnisses und Mißklangs« (ders.: 208). Auch kann ein Habitus in sich zerrissen und gespalten sein, unterschiedliche Geschichten vereinend. Die Sozialisation im Feld erscheint dabei selbst als ein Prozess unterschiedlicher »Integrationsstufen, die vor allem „Kristallisationsstufen” des eingenommenen Status entsprechen. So läßt sich beobachten, daß widersprüchliche Positionen, die auf ihre Inhaber strukturelle „Doppelzwänge” ausüben können, oft zerrissene, in sich widersprüchliche Habitus entsprechen, deren innere Gespaltenheit Leiden verursacht. [...] Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Feld eine tiefe Krise durchmacht und seine Regelmäßigkeiten (oder sogar seine Regeln) grundlegend erschüttert werden« (ders.: 206). In diesem Sinne berührt es nicht nur das ärztliche Selbstverständnis, sondern auch den ärztlichen Habitus, wenn neuerdings in die Krankenhausführung vermehrt ökonomische Kalküle eindringen und vom Arzt gefordert wird, nicht nur medizinisch, sondern auch betriebswirtschaftlich zu denken. (c) Rationales Entscheiden – ein scholastischer Irrtum Wenngleich Bourdieu nicht explizit an einer originär soziologischen Entscheidungstheorie gearbeitet hat, so leistet seine Habituskonzeption dennoch insofern einen wichtigen Beitrag, als sie – jenseits eines subjektphilosophischen Verständnisses von Intentionalität – aufzeigt, wie 106 IV. Soziologie des Entscheidens Überindividuelles im Individuum wirksam werden kann. „Entscheiden” darf nicht mehr nur als Leistung eines einzelnen, vernunftbegabten Individuums angesehen werden. Diese Auffassung stellt für Bourdieu einen typischen scholastischen Irrtum einer von den Ursprüngen des eigenen Seins und Denkens entfremdeten elitären Position dar: »Die Vorstellung von „freiwilligem Entschluß”, die schon Gegenstand so vieler Abhandlungen war, führt zu der Annahme, daß jeder Entscheidung, die als theoretische Wahl zwischen als solchen konstituierten theoretischen Möglichkeiten aufgefaßt wird, zwei Denkoperationen vorangehen: erstens das Aufstellen der vollständigen Liste der Wahlmöglichkeiten; zweitens das Feststellen und vergleichende Bewerten der unterschiedlichen Strategien im Hinblick auf ihre Folgen. Diese völlig unrealistische Vorstellung vom gewöhnlichen Handeln gehe eine gedanklich vorbereiteter, expliziter Plan voraus – ist wohl besonders typisch für die scholastische Sicht, diese Erkenntnis, die sich selbst nicht erkennt, weil sie das Privileg verkennt, das sie dazu bringt, den theoretischen Blickpunkt, die detachierte, praktischer Sorgen ledige und, mit Heidegger zu sprechen, „ihrer selbst als in der Welt Seiendes entrückte” Betrachtung zu privilegisieren« (Bourdieu 2001: 176f.).34 Im Sinne dieser konstruktivistisch wissenssoziologischen Analyse ist auch hinter der höchsten Rationalität immer auch ein subjektiver Kern verborgen: nämlich als ein Habitus, der genau diese und keine andere Form der Rationalität produziert und der sich mittels seines blinden Flecks im Hinblick auf seine eigene Genese gegen Dekonstruktion immunisiert. Eine soziologische Analyse ärztlichen Handelns kann sich deshalb nicht damit begnügen, der Selbstbeschreibung universitärer Medizin zu folgen und medizinische Rationalität als eine weit gehend unhinterfragbare technisch-wissenschaftliche Einheit zu betrachten, sondern sollte auch hier fragen, wie sich diese jeweils in konkreter Praxis manifestierenden Handlungsrationalitäten erst in sozialer Praxis konstituieren. Rationales Handeln braucht bei Bourdieu nicht mehr »als Ergebnis einer Entscheidung« gedacht zu werden, die auf »Überlegung beruht, also auf der Prüfung der möglichen Folgen der Wahl zwischen verschiedenen Alternativen und auf der Abwägung der Vorteile der verschiedenen Handlungen im Hinblick auf ihre Folgen« (ders.: 282) – dem würde unter dem Druck der Praxis schon der Mangel an Zeit entgegenstehen, um hierzu das erforderliche Wissen einzuholen. Im Gegensatz zur Rational-Choice-Theorie braucht dem Handeln auch keine Absicht mehr unterstellt werden. „Entscheiden” muss im Sinne einer realitätsnahen praxeologischen Konzeption eher als ein praktischer bzw. sozialer Sinn verstanden werden, der unter den spezifischen Selektionsbedingungen eines Feldes erst erlernt bzw. eingeübt wird und nicht im Sinne eines intentionalen Handelns verstanden werden kann. Die Habituskonzeption erlaubt es, »Spontaneität und Kreativität [...] ohne das Zutun einer kreativen Absicht«, »Zweckhaftigkeit [...] ohne bewußtes Anstreben von Zwecken, Regelhaftigkeit [...] ohne Befolgen von Regeln« zu erklären (ders.: 176). Bourdieu wendet sich scharf gegen Max Webers Definition des rationalen Handelns. Zum einen wären die Akteure praktisch nie in der Lage, »alle für eine rationale Entscheidung erforderlichen Informationen über eine bestimmte Situation zusammenzutragen« (ders.: 282). Darüber hinaus sehe die Theorie der rationalen Entscheidung von den »Ungleichheiten in bezug auf ökonomisches und kulturelles Kapital und den daraus entstehenden Ungleichheiten in den objektiven Wahrscheinlichkeiten ebenso wie in den Glaubensüberzeugungen oder den verfügbaren Informationen ab«. Strategien stellen für Bourdieu keine abstrakten Antworten auf abstrakte Situation dar, sondern definieren sich nur »im Hinblick auf die Impulse, die in der Welt selbst angelegt sind in der Form von positiven oder negativen Hinweisen, die sich nicht an jeden x-belie- 4. Feld und Habitus 107 bigen wenden, sondern nur „aussagekräftig”« seien »für Akteure, die im Besitz eines bestimmten Kapitals und bestimmten Habitus sind« (ders.: 283). Erst der Habitus konstituiere die spezifischen Selektionsbeziehungen zur Umwelt, die bestimmen, was als Information zu betrachten ist und was als nichts sagend zu ignorieren ist. Rationalität kann deshalb niemals unabhängig von dem sozialen Raum verstanden werden, der die Bedingungen für eben diese Rationalität erzeugt. Das, was im scholastischen Sinne als Rationalität angesehen wird, ist dabei selbst nur als eine spezifische, historisch bedingte Erkenntnisform anzusehen, die jedoch von ihren Bedingungen absieht, weil unter denjenigen, welche diese Erkenntnisform anwenden, ein historisch bedingter Konsensus über den Sinn dieser Form zu bestehen scheint35. Für Bourdieu lässt sich die Konzeption der Rational-Choice-Theorie auch dann nicht retten, wenn anstelle der intentionalen Bewusstseinsakte unbewusste Rechenprozesse den Ausschlag für die Handlungsentscheidung geben würden – die Akteure also als unbewusste Statistiker die Kosten-Nutzen-Bilanz für ihr Verhalten aufstellen würden. Bourdieus Kritik geht tiefer, denn er stellt die Grundannahme des Rational Choice selbst infrage, nämlich dass überhaupt rational entschieden wird36. Bourdieu lässt in seinen Analysen deutlich werden – und hierin liegt auch die Bedeutung seines Werkes für diese Arbeit –, dass nicht die theoretische Vernunft die Logik der Praxis bestimmt, sondern der praktische Sinn. Ärztliches Entscheiden kann in diesem Sinne nicht mehr nur als der individuelle Akt eines mehr oder weniger intelligenten Subjektes angesehen werden, sondern muss auch unter dem Blickwinkel der habitualisierten Regeln des jeweiligen Feldes gesehen werden. Eine ausführlichere Untersuchung des ärztlichen Feldes ist in diesem Sinne eine unabdingbare Voraussetzung, um ärztliches Entscheiden verstehen zu können. Bourdieus Feldbegriff sensibilisiert dafür, dass die Dinge von innen vollkommen anders aussehen können als von außen betrachtet37. (d) Zusammenfassung − Bourdieus Konzeption von Feld und Habitus beschreibt die Machtstrukturen in gesellschaftlichen Institutionen als dynamisches Wechselspiel von objektiven Gegebenheiten und Dispositionen. Im Feld und dessen Regeln gefangen haben die Akteure keine andere Wahl, als um die Wahrung und Verbesserung ihrer Position zu kämpfen, es sei denn, sie verlassen das Feld. − Der Gewinn, den die Akteure für den Einsatz in ihrem Feld erwarten können, erscheint als Kapital in jeweils unterschiedlichen, feldspezifischen „Währungen” (ökonomisches Kapital, soziales Kapital, symbolisches Kapital). − Positionen sozialer Macht stellen ebenso wie symbolisches Kapital ein knappes Gut dar. Macht kann nur von signifikanten anderen verliehen werden. In diesem Sinne stellen Machtpositionen „soziale Fiktionen” dar, die erst durch die kollektiven Riten der jeweiligen Institutionen Realität gewinnen. − Moderne, demokratische Führungsstile stellen im Sinne der Bourdieuʼschen Analysen keinesfalls eine Aufhebung oder Abschwächung der Machtverhältnisse dar, sondern verdecken die weiterhin fortbestehenden Machtstrukturen. Die symbolische Verschleierung der Bedingungen des Feldes gehört dabei selbst zum Spiel der Reproduktion dieses Feldes. 108 IV. Soziologie des Entscheidens − Der Habitus schlägt die Brücke zwischen Subjekt und Objekt. Als verkörperte Geschichte prägt er sich als vergangenes Erkennen und Handeln in die Körper der Akteure ein und strukturiert ihr zukünftiges Erleben. Dem Habitus entspricht das inkorporierte, praktische Wissen, welches notwendig ist, um den „Spiel-Sinn” für ein konkretes Handlungsfeld zu gewinnen. − Habituelle Dispositionen können als ein praktischer bzw. sozialer Sinn verstanden werden, der unter den spezifischen Selektionsbedingungen eines Feldes erst erlernt bzw. eingeübt wird und nicht im Sinne eines intentionalen Handelns verstanden werden kann. Die Habituskonzeption gestattet deshalb, „Spontaneität und Kreativität ohne das Zutun einer kreativen Absicht”, „Zweckhaftigkeit ohne bewusstes Anstreben von Zwecken, Regelhaftigkeit ohne Befolgen von Regeln“ zu begreifen. − Bourdieu lässt in seinen Analysen deutlich werden, dass nicht die theoretische Vernunft die Logik der Praxis bestimmt, sondern der im Habitus verkörperte praktische Sinn. Ärztliches Entscheiden kann in diesem Sinne nicht mehr nur als der individuelle Akt eines mehr oder weniger intelligenten Subjektes angesehen werden. Die Untersuchung der Bedingungen des ärztlichen Feldes stellen in diesem Sinne eine unabdingbare Grundlage dar, um ärztliches Entscheiden verstehen zu können. 5. Interaktionsstruktur: professionelles Handeln im Spannungsfeld von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung Mit seiner Theorie der »sozialen Deutungsmuster« lieferte Oevermann (1973) eine originär soziologische Beschreibung menschlicher Handlungs- und Entscheidungspraxis. Nicht mehr das Individuum mit seinen individuellen Leistungen und Präferenzen steht hier im Zentrum der Analyse und Erklärung, sondern die sozialen Interaktionszusammenhänge, welche über (implizite) Regeln eine Interaktionsordnung aufspannen, die dann als objektive Sinnstruktur außerhalb des psychischen Erlebens des Einzelnen erscheint. Das einzelne Subjekt ist im Angesicht der ihm in dieser Form gegenübertretenden sozialen Wirklichkeit, auch wenn es deren Regeln und Gesetze nicht versteht, zu einer Praxis entscheiden38. Gleichzeitig ist es jedoch dazu gezwungen, sein Verhalten vor sich und anderen zu rechtfertigen, denn die anderen unterstellen dem Subjekt in der Regel, dass es wisse, was es tue. Innerhalb der menschlichen Interaktionsordnung besteht für den Einzelnen „Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung”. Oevermann entwickelt aus dieser theoretischen Disposition heraus eine Theorie der Professionalisierung. Für ihn zeichnet sich der Professionelle gerade dadurch aus, sein Handeln nicht vollständig routinisieren zu können. Stattdessen ist er gefordert, autonom und fallspezifisch seine Entscheidungen zu treffen. Für ihn besteht eine unhintergehbare Differenz zwischen Modell und Wirklichkeit, Theorie und Praxis. Es folgt zunächst eine kurze Einführung in die sozialisationstheoretische Begründung der Oevermannʼschen Konzeption (a), um anschließend das prekäre Verhältnis von Theorie und Praxis (b) sowie die hieraus abgeleiteten professionstheoretischen Konsequenzen zu diskutieren (c). 5. Interaktionsstruktur 109 (a) Sozialisationstheoretische Begründung Es ist wohl kein Zufall, dass Oevermann seine Theorie aus Untersuchungen der Interaktionen in Familien entwickelt hat, denn hier entwickelte sich seine zentrale These, »daß die sozialisatorische Interaktion (worunter, im ersten Schritt, die Interaktion in der Familie, die Vater-Mutter-Kind-Triade, zu verstehen ist) mittels ihrer objektiven Struktureigenschaften die Handlungsqualifikationen des Subjekts hervorbringt, über die es als Erwachsener, wie alle anderen Subjekte verfügen kann« (Libau, 1987: 123). Die Idee von einem außerhalb des Subjektes stehenden Interaktionszusammenhangs lässt sich durch Oevermanns Rekonstruktion des christlich-jüdischen Schöpfungsmythos veranschaulichen (Oevermann 1995): Als sich Adam und Eva noch im Paradies befanden, wussten sie noch nicht Gut und Böse zu unterscheiden. Es galt zwar das Verbot Gottes vom Baum der Erkenntnis zu essen, doch es fehlte den Beiden sowohl das moralische Bewusstsein als auch das inhaltliche Bewusstsein, worum bei diesem Verbot überhaupt gehe. Unwissend standen sie dem Versprechen der Schlange gegenüber, durch den Apfelbiss Erkenntnis zu erlangen. Die Interaktionsordnung bestand hier sozusagen schon vor dem Sündenfall. Adam und Eva müssen das Verbot übertreten, um die Erkenntnisfähigkeit zu erlangen, einzusehen, etwas Falsches getan zu haben. Das „Schuldbewusstsein” mit all seinen sozialisatorischen Konsequenzen erscheint erst sekundär, als Konsequenz der Selbstreflexionen, die sich erst nach Vertreibung aus dem Paradies entwickeln kann. Die Interaktionsordnung selbst birgt einen Sinnüberschuss, der von den betroffenen Akteuren zunächst nicht realisiert werden kann. Ein Kind besitzt ebenso wenig wie Adam und Eva die erforderlichen Sinnerfassungskapazitäten, um die Bedeutung der sozialen Regeln zu verstehen, in die ihre Praxis eingebettet ist. Dennoch sind sie den Konsequenzen dieses Regelsystems ausgeliefert, auch der nicht verstandene Sinn bleibt wirksam, wenngleich latent verborgen – Unwissenheit schützt nicht vor Strafe. Die jeweilige Interaktionsordnung erscheint dabei als ein System historisch bedingtes, dem Subjekt jedoch als objektive Sinnstruktur entgegentretendes Muster von Regeln. In seiner Sozialisation wird das Subjekt mit dieser Interaktionsordnung konfrontiert und kann sich in einem sukzessiven Bildungsprozess die diesbezüglichen Kompetenzen aneignen. Eine spezifische Person, eine Individualität, zeichnet sich durch die spezifische Art und Weise ihres Zugriffs auf die latenten Sinnstrukturen aus, durch ihr jeweiliges Selektionsmuster, welches sich seinerseits mit zunehmender Erfahrung verfestigt und nun selbst als regelgeleitetes Verhalten erscheint. In diesem Sinne ist die Sozialisation als ein dialektischer Prozess zwischen Individuum und regelgebender Gemeinschaft zu verstehen, als ein »Modell von objektiv strukturierter Sozialität, die selbst objektiv Regel-geleitet ist und in der sich das Bewußtsein von der Regel als Regel konstituiert. Sie nimmt die Ausformung einer zweckfrei sich reproduzierenden Reziprozität an« (Oevermann 1986: 30f.). Grundsätzlich ist für die meisten Handlungszusammenhänge davon auszugehen, dass ihre Interaktionsordnungen generell mehr Sinn beinhalten als vom Einzelnen bewusst realisierbar. Von der Familienforschung auf die berufliche Sozialisation übertragen, bedeutet dies, dass auch der frisch in den Beruf einsteigende oder eine neue Position einnehmende Mitarbeiter nicht um all die Regeln der ihm zunächst fremden Interaktionsordnung wissen kann. Ein neuer Arzt weiß noch nicht einmal um die Tabus, die stillschweigenden Gesetze, die Feinheiten der hierarchischen Ordnung seines neuen Arbeitsfeldes. Auch hier steht der Sinnzusammenhang der sozialen Ordnung zunächst außerhalb seines Bewusstseins und muss durch die oft schmerzhafte Begegnung mit der Praxis angeeignet werden, denn die Regeln dieser Ordnung sind nicht als explizites Gesetz formuliert, sondern erscheinen als latente Sinnstrukturen, deren Regelhaftigkeit 110 IV. Soziologie des Entscheidens und Strukturiertheit erst durch eine tiefer gehende soziologische Analyse sichtbar wird und deren Strukturgesetzlichkeiten dem Bewusstsein der jeweiligen Akteure gar ganz verborgen bleiben können. (b) Das prekäre Verhältnis von Theorie und Praxis Zum sprachlichen Handeln und zur Selbstreflexion befähigt, produzieren Menschen ihr eigenes Reich einer symbolischen und sprachlichen Welt. Hieraus erscheint für sie eine grundlegende Spaltung in die Welt der Wirklichkeit und die Welt der Konstruktion. Die Repräsentation und das Repräsentierte erscheinen weder logisch noch formal identisch, sondern bilden einen Dualismus, aus dem »sich für den erkennenden Geist die kategoriale Differenz zwischen einer unmittelbar im Hier und Jetzt eines Handlungsfeldes gegebenen Welt und einer hypothetisch konstruierten Welt« eröffnet«. »Die erste ist die Welt der Wirklichkeit, die zweite die Welt der Möglichkeit« (Oevermann, 1996a: 3). Hieraus ergibt sich als wichtige Konsequenz für die menschliche Handlungspraxis die Spaltung zwischen Theorie und Praxis. Konzeptionelles Denken ist nicht mehr identisch mit Handeln: »Mit der kategorialen Aufspaltung in Erstheit und Zweitheit, d. h. die Unmittelbarkeit von gegenwärtiger Praxis einerseits und in Drittheit, d. h. begriffsvermittelnder Erkenntnis andererseits ist eine grundsätzliche Differenz von Praxis und Theorie eingeführt. Diese Differenz ist logisch unaufhebbar, sie wird nur in der Zeitlichkeit von Praxis dynamisch, nicht logisch, überstiegen« (ders.: 7). Mit der Fähigkeit, potenzielle Zukünfte zu antizipieren, entsteht für das Individuum die Möglichkeit, selbst über seine Lebenspraxis zu entscheiden. Das Bewusstsein entscheiden zu können – und zu müssen – emergiert erst in der Krise, dann wenn die eingefahrenen Routinen nicht mehr ausreichen. »Echte Entscheidungen sind aber erst solche, bei denen die rationale Wahl nicht schon im Moment der Entscheidung festgelegt ist wie in einem rationalen Kalkül. Vielmehr müssen sie in eine offene Zukunft getroffen werden und ihre rationale Begründbarkeit muß sich erst in dieser offenen Zukunft faktisch bewähren« (ders.: 7f.). In diesem Sinne stellt die Routine die Schließung einer Krise dar und die Krise eine Öffnung der Routine39. Grundsätzlich kann sich die Krise in jedem Moment der Lebenspraxis zeigen, d. h. tendenziell gibt es in jedem Erfahrungsaugenblick eine Vielzahl von Möglichkeiten Zukunft zu entfalten: »Nun sind für unser praktisches Bewußtsein solche Situationen die Ausnahme. In den allermeisten Fällen bemerken wir nicht einmal mehr die prinzipielle Offenheit von Optionen an jeder Sequenzstelle unseres Handelns. Die Entscheidung ist schon immer getroffen worden aufgrund vorausgehenden, bewährten Problemlösungen in Gestalt von Techniken, Programmierungen, Gewohnheiten, Normierungen, von Routinen, die ihrerseits allerdings ursprünglich einmal Krisenlösungen waren« (ders.: 8). Die Beziehung von Struktur und Freiheit gestaltet sich bei Oevermann in dialektischer Form. Erst die Regeln generieren ein Ensemble an Möglichkeiten, das als Entscheidungsfreiheit erlebt werden kann. Nur auf der Folie von Möglichkeiten, die durch Regeln bestimmt sind, können Chancen ergriffen oder verworfen werden. Diese Entscheidungsdynamik wird im zeitlichen Verlauf der menschlichen Praxis, in der Sequenzialität des Lebens kontinuierlich fortgeführt, denn in jedem Moment der Lebenspraxis eröffnet die augenblickliche Situation wiederum ein spezifisches Spektrum von Handlungsmöglichkeiten, welches durch die autonome Auswahl einer Handlungspraxis geschlossen wird und so zur nächsten Sequenzstelle der Lebenspraxis führt. 5. Interaktionsstruktur 111 Die Autonomie einer Lebenspraxis zeigt sich darin, dass das Individuum nach den Regeln seiner eigenen Strukturgesetzmäßigkeit handelt und nicht etwa äußeren Erwartungen entsprechend. Ein äußerst komplexes Regelsystem mit ausfeilten Sanktionsmechanismen - wie es etwa in einem Universitätskrankenhaus anzutreffen ist – impliziert deshalb im Sinne Oevermanns keinesfalls, dass die Mitglieder einer solchen Organisation nicht autonom handeln können. Es wäre im Gegenteil eher davon auszugehen, dass die in den Interaktionsstrukturen bestehenden Spannungen ihrerseits Krisensituationen evozieren, die nur im Sinne einer autonomen Praxis bewältigt werden können. (c) Professionstheoretische Konsequenzen Auch professionelles Handeln wird von Oevermann unter dem Blickwinkel der widersprüchlichen Einheiten »Krise und Routine« bzw. »Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung« betrachtet: Für den Professionellen ergibt sich hier eine verschärfte Dynamik, denn es wird von ihm erwartet, dass er sein Handeln an dem state oft the art seiner Disziplin ausrichtet und rationalen und wissenschaftlichen Kriterien entsprechend begründen kann. Die Wissensbasis und die Regeln der jeweiligen Fachdisziplin erscheinen für den Professionellen als eine „objektive Sinnstruktur”, denn unabhängig von seiner wirklichen Kompetenz und seinem aktuellen psychischen Zustand ist vom Arzt zu erwarten, dass er etwa den rechtlichen und wissenschaftlichen Aspekten seiner Tätigkeit gerecht wird. Des Weiteren verschärft sich die professionelle Bewährungsdynamik durch das Problem der Irreversibilität der Zeit: Gehandelt werden muss immer im konkreten „Hier und Jetzt” der Realzeit. Während der Wissenschaftler - vom akuten Handlungsdruck entlastet – genügend Zeit zum Nachdenken hat und sich weit gehend mit der Überprüfung und Reflexion von Modellen begnügen kann, muss sich die ärztliche Profession in ihrer Praxis dem Problem der Irreversibilität der Zeit stellen. Unter dem Handlungsdruck der Jetztzeit muss gehandelt und entschieden werden, während die unter dem „Zeitdruck” der Praxis getroffenen Entscheidungen in der Regel immer nur post hoc begründet werden können. Entsprechend muss davon ausgegangen werden, dass die psychische Bewusstheit über die Dimensionen und Konsequenzen der gewählten Praxis immer nur im Nachhinein in ihrer Gänze deutlich werden. Im Gegensatz zum bloßen Expertentum ist die professionelle Praxis gezwungen, eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen, die zwar nicht unbegründet sind, deren Rationalität sich jedoch aus der Situation der Praxis nicht vollständig ableiten lässt. Restrisiken bleiben und Entscheidungen können sich im Nachhinein als falsch erweisen. Kompetentes ärztliches Handeln zeigt sich im Sinne einer »Logik der Risikoabwägung« gerade darin, dass »auch unter den Bedingungen des Nicht-Wissens oder der Unklarheit darüber, welche Krankheit genau vorliegt bzw. welche therapeutische Maßnahme genau passen könnte, eine Entscheidung getroffen werden« kann und muss (Oevermann 1996a: 50). Darüber hinaus ist professionelles Handeln immer auch den speziellen Anforderungen des Einzelfalls verpflichtet: »Professionen haben es in ihrer in sich widersprüchlichen Einheit von universalistischer theoretischer Geltungsbegründung einerseits und fallspezifischem Verstehen andererseits, von stellvertretender Entscheidung und Hilfe einerseits und der mäeutischen Aktivierung von Selbsthilfe sowie dem Respekt vor der Autonomie der Lebenspraxis ihren gesunden Anteilen andererseits, wesentlich immer mit Operationen der stellvertretenden Deutung lebenspraktischer Problemkonstellationen zu tun, ohne daß sie dabei einer theoretischen Bevormundung dieser Praxis technokratisch zum Opfer fallen dürfen« (Oevermann 1990: 15). 112 IV. Soziologie des Entscheidens Hier zeigt sich dann für Oevermann eine weitere »widersprüchliche Einheit« professionellen Handelns: die Spannung »von spezifischen und diffusen Sozialbeziehungen zwischen Experten und Klient« (ders.: 17), d. h. der Arzt muss dem Patienten sowohl fachkompetent als auch als ganzer Mensch mit seinen Gefühlen, Ansichten und kulturellen Prägungen begegnen, denn nur aus der direkten Begegnung von Mensch zu Mensch kann sich ein Arbeitsbündnis bilden, in dem sich der Patient, obwohl in seiner lebenspraktischen Autonomie geschädigt, und der Arzt gemeinsam für die Heilung einsetzen und gemeinsam die Entscheidung für eine Behandlung und das damit verbundene Risiko treffen können. Das praktische, professionalisierte Handeln muss aus der Perspektive dieser unterschiedlichen „widersprüchlichen Einheiten” immer auch als ein gekonnter Balanceakt zwischen verschiedenen, sich teilweise widersprechenden Anforderungen gesehen werden; die »Sache einer Kunstlehre und die Professionalisierungstheorie ist bestenfalls eine gültige Rekonstruktion des in der Kunstlehre eingeübten praktischen Handelns und eine gültige theoretische Begründung dieser Kunst- oder Handlungslehre« (ders.: 15). Der professionelle Akteur zeichnet sich gerade dadurch aus, in Anbetracht dieser Unsicherheiten zu entscheiden und die Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen. In diesem Sinne wird von ihm gefordert, autonom zu handeln, das heißt, selbst die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Oevermanns interaktionstheoretische Rekonstruktion dieser professionstheoretischen Grundlagen erlaubt es, einige „Pathologien” zu beschreiben, die als „entwicklungstypische” Optionen im Prozess der Professionalisierung angelegt sind. Denn der konkrete Schritt hin zur professionellen Autonomie im Sinne berufsethischer Eigenverantwortlichkeit kann zu Gunsten einer »technokratischen Regression«40 vermieden werden. Dies kann laut Oevermann unter folgenden Voraussetzungen geschehen: (1) »Auflösung der kategorialen Differenz zwischen Wissenschaft und Praxis und als Folge davon De-Autonomisierung von Wissenschaft einerseits und Technokratisierung von Praxis andererseits«, (2) »Technokratische Schließung der wesentlich durch wissenschaftliche Forschung offen zu haltenden Zukunft und darin Verabsolutierung bestimmter Prognosen«, (3) »Selbstabdankung der Autonomie von Praxis«, indem den Wissenschaften eine »Omnipotenz« bezüglich der Zukunftsprognose zugewiesen wird, (4) und indem der »Wissenschaft die ethische Verantwortung für mögliche Folgen der Anwendung ihrer Forschungsergebnisse zugeschlagen wird«, wird »die Autonomie der Praxis eingeschränkt« und ein »undemokratisches Entscheidungselement« eingefordert (Oevermann 1996a: 16). Oevermanns Ansatz erlaubt einen Blick auf die sozialisations- und kompetenztheoretischen Aspekte der ärztlichen Arbeit. Der professionelle Interaktionszusammenhang – um nochmals zusammenzufassen – fordert einerseits den autonomen Arzt, andererseits kann die autonom handelnde Persönlichkeit keinesfalls per se vorausgesetzt werden, sondern ist erst in einem länger dauernden Bildungsprozess zu entwickeln - der zudem auch scheitern kann. Es ist zu erwarten, dass besonders bei den jungen Ärzten diesbezügliche Spannungen deutlich sichtbar sind und entsprechend mit unterschiedlichen Formen der Bewältigung dieser Anforderungen an den ärztlichen Beruf zu rechnen ist. An dem einen Ende dieses Spektrums stände dann die individuierte, autonome Arztpersönlichkeit, am anderen Ende die Mediziner, welche - vor dieser Entwicklungsaufgabe kapitulierend - ihre Autonomie zu Gunsten der „technokratischen Regression” unter formale Regeln aufgeben haben. 5. Interaktionsstruktur 113 Worin die vom modernen Krankenhaus gestellten Sozialisationsaufgaben konkret bestehen und wie die jeweiligen Bewältigungsformen aussehen können, wird erst durch die empirischen Rekonstruktionen ableitbar41. Oevermanns professionstheoretisches Modell schärft jedoch den Blick für die diesbezüglichen Analysen. Nicht zuletzt wäre als Gegenpol zum Druck der individuierten Verantwortung auch mit kollektiven „Bewährungsmythen” der professionellen Gemeinschaft zu rechnen. Die ethische Last angesichts des Todes und schwerer Leiden, die Last, medizinische Entscheidungen oftmals auch ins Ungewisse hinein treffen zu müssen - und darüber hinaus in erheblichem Ausmaß mit Misserfolgen konfrontiert zu sein -, verlangt nach einer übergeordneten Sinngebung des Handelns. Im Sinne von Oevermanns »Strukturmodell der Religiosität«42 (Oevermann 1995) wäre das empirische Material auf Formen eines spezifischen Ethos hin zu befragen, der sich in dem beobachteten ärztlichen Handeln zeigt. So wäre etwa zu untersuchen, ob nicht auch die üblichen naturwissenschaftlichen Begründungszusammenhänge in der alltäglichen Praxis einen Doppelcharakter zeigen, nämlich einerseits als rationale Grundlagen für das Handlungswissen und andererseits als naturwissenschaftlicher Bewährungsmythos43 . Letzterer würde dann eine Brücke schlagen zwischen Handlungsethik44, ärztlichem Charisma45 und medizinischer Wissenschaft46. (d) Zusammenfassung − Oevermann liefert mit seiner Theorie der sozialen Deutungsmuster eine originär soziologische Beschreibung von Handlungs- und Entscheidungspraxis. Nicht mehr das individuelle Subjekt steht im Zentrum der Analyse, sondern der ihm äußerlich stehende Interaktionszusammenhang. Dieser birgt einen Sinnüberschuss (latente Sinnstrukturen), der - wenngleich von den betroffenen Akteuren noch nicht realisiert - jedoch dennoch sozialisatorisch wirksam wird, denn der Einzelne muss sich gegenüber den Regeln der Interaktionsordnung verantworten, selbst wenn er diese nicht versteht. − Gegenüber dem Laien ist der Professionelle darüber hinaus verpflichtet, sein Verhalten entsprechend dem wissenschaftlichen state oft the art seiner Disziplin zu begründen. Hierdurch ergibt sich für den Professionellen eine verschärfte Dynamik von „Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung”. − Des Weiteren verschärft sich die Dynamik von sozialer Praxis durch den „Zeitdruck”. Der professionelle Akteur zeichnet sich gerade dadurch aus, in Anbetracht von Unsicherheiten zu entscheiden und die Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen. In diesem Sinne wird von ihm gefordert, autonom zu handeln und auch die Widersprüche zwischen spezifischen und diffusen Sozialbeziehungen, Einzelfallverstehen und theoretischer Geltungsbegründung ausbalancieren zu können. − Oevermanns Ansatz erlaubt einen Blick auf die sozialisations- und kompetenztheoretischen Aspekte der ärztlichen Arbeit im Krankenhaus. Wenn der professionelle Interaktionszusammenhang einerseits den autonomen Arzt fordert, andererseits die autonom handelnde Persönlichkeit keinesfalls per se vorausgesetzt werden kann, sondern erst in einem Bildungsprozess entwickelt werden muss, so ist zu erwarten, dass insbesondere bei den jungen Ärzten das Spannungsverhältnis zwischen „objektiven” Anforderungen und „subjektiv” Leistbaren mehr oder weniger deutlich hervortritt. IV. Soziologie des Entscheidens 114 − Als Gegenpol zur individuierten Verantwortungslast ist innerhalb der professionellen Gemeinschaft mit kollektiven „Bewährungsmythen” zu rechnen. In diesem Sinne wäre das empirische Material auf Formen eines spezifischen ärztlichen Ethos hin zu befragen. 6. Systemtheorie: Das Organisationssystem konstruiert die Zwecke, die es braucht Die allgemeine Systemtheorie (general system theory) entwickelte sich aus der Kybernetik als eine Formalwissenschaft zur Beschreibung und Analyse von Selbstorganisations- und Systembildungsprozessen. Sie abstrahiert dabei von der natürlichen Beschaffenheit wirklicher Systeme und ist damit als transdisziplinäre Theorie in der Lage, selbstreferenzielle Vorgänge in verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit zu beschreiben (Soziologie, Ökonomie, Biologie etc.). Leitunterscheidung der modernen Systemtheorie ist die Differenz von System und Umwelt. Ein System ist dabei eine Funktion seiner selbst, erzeugt sich entsprechend seinen internen Funktionen als Differenz zur Umwelt47. Je nachdem, was und wie ein Beobachter unterscheidet, können in einer Welt verschiedenste System-Umwelt-Differenzen beobachtet werden. So wie ein Organismus als eine systemische Einheit verstanden werden kann, die sich in ihren Körpergrenzen in einer Umwelt reproduziert (in der sie Nahrung und Luft zum Atmen findet und die auch andere Organismen beinhaltet), kann auch eine einzelne Zelle als ein System verstanden werden, das sich in ihrer Umwelt reproduziert, die hier jedoch aus anderen Zellen und Organen besteht (etwa aus dem sie umgebenden, Blutgefäße beinhaltenden Gewebe, aus denen sich die Zelle versorgen kann)48. Nicht der Gegenstand, noch die Größe, noch das Medium, dessen sich die Selbstreproduktion bedient, bestimmen, ob es sich um ein System handelt oder nicht, sondern nur die reproduktive Funktion selbst: In diesem Sinne lässt sich eine Organisation, welche sich über organisationsinterne Entscheidungen selbst reproduzieren kann, ebenso als ein System beschreiben, wie sich etwa die Wirtschaft als ein systemischer Zusammenhang selbstbezüglicher finanzieller Transaktionen beobachten lässt. Im Rahmen dieser Studie sind natürlich die sozialen Systeme von Interesse. Nach einer kurzen Einführung in die Grundlagen systemtheoretischen Denkens (a) wende ich mich deshalb den für meine Zwecke relevanten Teilgebieten der Systemtheorie zu, zunächst den gesellschaftlichen Funktionssystemen, insbesondere dabei natürlich dem medizinischen System (b), dann der Frage der Professionalisierung (c, der Entscheidungstheorie (d) und schließlich der Organisationstheorie (e). (a) Grundlagen Ein System ist Funktion seiner selbst. Die Systemtheorie kommt jedoch nicht umhin, die von ihr beschriebenen Systeme auch als eine Funktion ihrer Umwelt zu beschreiben. Wenngleich ein System nur nach den eigenen internen Gesetzen operieren kann, und in diesem Sinne als autonom zu bezeichnen ist, so lässt es sich dennoch durch Störungen von außen irritieren und muss seinen eigenen Fluss, seine eigene Funktion permanent den veränderten Umweltbedingungen anpassen. Systeme sind in diesem Sinne zugleich autonom wie heteronom, selbst-bestimmt wie unbestimmt. Obgleich sie ihren eigenen Funktionsbezug setzen und in diesem Sinne auch die Störungen von 6. Systemtheorie 115 außen selbst verwalten, verändert sich ihre Struktur und damit ihre Funktion mit jeder Störung, auf die sie reagieren49. Aus diesem Grunde sind Systeme einer strukturellen Drift ausgesetzt, behalten ihre Identität nur, indem sie sich verändern. Sie haben nicht nur eine Geschichte, sondern werden gar zur Geschichte ihrer Interaktionen. Durch diese rekursive Beschreibung ihres Gegenstandes, verlässt die Systemtheorie die lineare Kausalität von Ursache und Wirkung. Sie lässt sich nur in paradoxer Form formulieren und sieht hierdurch gerade ihre Stärke, denn die Paradoxie ist sozusagen in ihrem Gegenstand enthalten: Reale Systeme zeichnen sich eben dadurch aus, dass Paradoxien für sie kein Problem, sondern bestenfalls einen Anlass darstellen, um diese Paradoxien weiter zu entfalten und für den eigenen Strukturaufbau zu nutzen: »Hier ist erst einmal wichtig, festzuhalten, daß die Systemtheorie von der Lösung der genannten Probleme im Gegenstand ausgeht. Man kann sogar sagen, daß für sie ein ‚Gegenstandʼ durch genau diese Lösungsfähigkeit definiert ist, also gerade nicht dadurch, daß er ein ‚Problemʼ ist, sondern dadurch, daß er die Lösung eines Problems ist. Sie richtet ihre Unterscheidungen darauf, herauszubekommen, wie diese Lösungen zustande kommen« (Baecker 2002: 92). Soziale Systeme - um nun die allgemeine Systemtheorie verlassend sich der soziologischen Systemtheorie zu nähern - beginnen mit dem Problem der doppelten Kontingenz: Wenn sich zwei kommunikations- und lernfähige Organismen begegnen - die als eigenständige Systeme ja an sich schon als autonom anzusehen sind - stellt sich die Frage, wie es unter der wechselseitigen Unsicherheit, was denn nun der jeweils andere tue, dennoch zu einer Bindung kommt, die schließlich zur Herausbildung eines sozialen Systems führt. Die Lösung des Problems liegt in der wechselseitigen Konditionierung der Systeme. Da sich beide wechselseitig irritieren lassen, erzeugen sie in einem Tanz wechselseitiger Orientierung aneinander ein Beziehungsmuster, das nach einer gewissen Zeit redundant wird und als stabile Struktur erscheint50. Soziale Systeme entstehen und stabilisieren sich dabei als Muster von Erwartungen und Erwartungserwartungen und »sobald diese sozialen Systeme konstituiert sind, dient ihre Kommunikation der Aufrechterhaltung der Redundanz ihrer Strukturen« (Baecker 2002: 12). Dem Begriff der „Kommunikation” wird dabei im Design der Theorie sozialer Systeme die Schlüsselrolle zugewiesen. Unter dem Diktum „Kommunikation löst Kommunikation aus” (Luhmann 1993)51 wird die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen zum zentralen genetischen Prinzip von Gesellschaft. Nicht der Akteur mit seinem Bewusstsein und Intentionen zählt für die Genese sozialer Systeme, sondern einzig und allein die Kommunikation und das, was sie auslöst. Gefühle, Gedanken oder Intentionen etc. sind nur dann für soziale Systeme strukturbildend, wenn sie kommunikativ thematisiert und adressiert werden52. „Psychische Systeme”, d. h. Subjekte, sind deshalb – und hierin liegt eine der Provokationen der Systemtheorie - der Umwelt sozialer Systeme zuzurechnen. Ein soziales System stellt ein eigenständiges emergentes Phänomen dar, wenngleich es, um den beständigen Prozess von ‚Kommunikationen, die Kommunikationen auslösenʻ in Gang zu halten, intelligenter, das heißt sinnverstehender Wesen bedarf. Diese dienen hier jedoch nur als Medium der Kommunikation, nicht als deren Essenz. Das, was ein Mensch denkt, fühlt oder handelt, wenn er etwa eine Zahlung zu leisten hat, muss das Wirtschaftssystem nicht interessieren, ebenso wenig interessiert es das Medizinsystem, ob ein Arzt seine Arbeit unter den aktuellen Bedingungen gerne macht, oder sich lieber andere Arbeitverhältnisse wünschen würde. Soziale Systeme können die psychische Dimension von Menschen zwar in Rechnung stellen - etwa in Diskursen über das subjektive Erleben -, brauchen dies jedoch keinesfalls zu tun und können ohne weiteres die psychologischen Konditionen des Menschen, seine Bedürfnisse und Wünsche „grob” missachten. Ein konkreter Mensch kann zwar von einem sozialen System als eine Person, der etwa eine gewisse Autonomie zugeschrieben wird, adressiert werden - dies geschieht jedoch auch nur durch 116 IV. Soziologie des Entscheidens Kommunikation. Ein Chefarzt ist nicht per se der Entscheidungsträger in prekären medizinischen Fragen, sondern nur wenn er diesbezüglich von einem sozialen System als solcher adressiert wird. Die systemtheoretische Perspektive „psychische Systeme” und damit unsere intime Erfahrung des Bewusstseins nur zur Umwelt sozialer Systeme zu erklären, erscheint zunächst befremdlich, hilft aber, den Blick auf eine Reihe von Phänomenen zu lenken, die sonst durch eine subjektzentrierte Perspektive verstellt werden. So kann etwa untersucht werden, inwieweit im Funktionssystem der Medizin der Mensch als Subjekt oder Person überhaupt vorkommen muss. Im Gegensatz zu der von der Technik entlehnten Systemrationalität mit auf einen klar definierten Zweck ausgerichteten systemischen Einheiten, die sich zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen, lehrt die Luhmannʼsche Gesellschaftstheorie im Sinne eines radikalen differenztheoretischem Ansatz, dass grundsätzlich nicht von einer systemischen bzw. gesellschaftlichen Einheit, sondern von einer gleichzeitigen Durchdringung („Interpenetration”) unterschiedlichster systemischer Bezüge auszugehen ist. Im Krankenhaus bestehen medizinische, ökonomische, juristische Funktionsbezüge gleichzeitig nebeneinander und ineinander, überlappen sich, irritieren sich wechselseitig und werden darüber hinaus überlagert von den „Einzellogiken” einer Vielzahl von Akteuren, die als psychische Systeme jeweils innerhalb der Organisation Krankenhaus ihre eigenen „Interessen” verfolgen. Manche Akteure können wiederum neben den primären Funktionsbezügen der jeweiligen organisatorischen Einheit, in der sie arbeiten, fragile, manchmal aber auch stabilere soziale Systeme ausbilden, die ein äußerer Beobachter dann vielleicht als Freundschaft, vielleicht als psychische Abhängigkeiten oder Verstrickungen identifizieren könnte. In diesem Sinne impliziert eine systemtheoretische Analyse keinesfalls, dass es in Organisationen nicht auch menschlich zugehen kann (was immer das auch heißt). Symbiose oder Parasitismus53 können sich auf der Basis fremder Systembezüge immer auch anderes abspielen. Auch wenn Freundlichkeit und Menschlichkeit nicht zur Rollenbeschreibung eines Arztes gehören, heißt dies nicht, dass Ärzte per se unfreundlich oder unmenschlich sein müssen, nicht doch eine Beziehung zu einem Patienten knüpfen können, dabei gleichzeitig auch ökonomische Interessen verfolgen, vielleicht dabei auch noch darauf achten, nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, um darüber hinaus noch wissenschaftlich an dem konkreten Fall interessiert zu sein. Die Wirklichkeit zeigt sich aus systemtheoretischer Perspektive als ein polykontexturales Gebilde. Jeder systemische Standpunkt folgt - insofern dieser einem „realem” System entspricht, das sich selbstreferenziell erzeugend von einer Umwelt unterscheidet - einer eigenen Logik54, bildet eine eigene Wirklichkeitsperspektive. In diesem Sinne stellt die Systemtheorie die klassische Vorstellung von Ursache und Wirkung infrage. Die Gleichzeitigkeit unabhängiger, sich jedoch wechselseitig interpenetrierender Systembezüge kann nicht mehr im Sinne einer linearen Kausalität verstanden werden. Im Sinne Gotthard Günthers polykontexturaler Logik kann es keinen »Gottesaugenstandpunkt« (Putnam 1991) mehr geben, von dem aus eine übergreifende Systemrationalität festgestellt werden kann. Es kann nicht einmal mehr davon ausgegangen werden, dass eine solche Rationalität überhaupt existiert. Im Sinne dieser „inkongruenten Perspektiven” schärft die Systemtheorie auch im Hinblick auf die Rekonstruktion empirischer Realitäten in medizinischen Institutionen den Blick für Widersprüche und Dissonanzen - dies jedoch nicht mehr mit dem moralisch-normativen Zeigefinger, sondern als Hinweis, dass möglicherweise gerade diese Differenzen soziale Wirklichkeiten in ihrer Vielfältigkeit erst konstituieren. 6. Systemtheorie 117 (b) Funktionssysteme Moderne Gesellschaften lassen sich durch das Prinzip der funktionalen Differenzierung charakterisieren. Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Religion etc. konstituieren sich als eigenständige Teilsysteme mit jeweils spezifischem Funktionsbezug. Die Aufgabe eines Funktionssystems kann von keinem anderen System übernommen werden: Nur im Medizinsystem können Kranke behandelt werden. Weder die Rechsprechung, noch die Zahlung von Geld kann heilen. Da sich ein Funktionssystem - wie jedes System - nur an seinen eigenen systemspezifischen Operationen orientieren kann, muss es einen spezifischen Umweltbezug gestalten, der es ihm erlaubt, die Dinge unter seinem spezifischem Funktionsbezug zu assimilieren und zum Aufbau eigener Strukturen zu nutzen. So kann ein kranker Mensch im Medizinsystem zum Patienten werden, an dem sich dann Diagnose und Therapiebemühungen anschließen lassen, im Wirtschaftssystem hingegen wird er zum Schadensfall, der Versicherungen zu Zahlungen veranlasst, im Rechtssystem möglicherweise zu einem Fall, bei dem zu prüfen ist, ob alles rechtens gelaufen ist. Um ihre jeweilige Zuständigkeit schnell erkennen zu können, benötigen Funktionssysteme ein einfaches Selektionsmerkmal, das quer zu System und Umwelt liegt und ein Unterscheidungskriterium dafür bietet, ob die eigenen Operationen und Programme angeschlossen werden können oder nicht. Möglich wird dies erst durch generalisierte Kommunikationscodes, die in Form einer binären Codierung arbeiten. Die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, Recht und Unrecht, Eigentum haben und Eigentum nicht haben gestaltet jeweils eine spezifische Anschlussoperation für jeweils ein Funktionssystem. Das Medizinsystem operiert mit der Leitunterscheidung krank/ gesund. Ein System knüpft sein Handeln jeweils an der positiven Seite der Unterscheidung an – an den so genannten Designationswert -, während der andere Wert, der Reflexionswert, zur (kritischen) Betrachtung der eigenen Operationen genutzt werden kann55. Während für die meisten Funktionssysteme der positive Wert mit dem gesellschaftlich positiv bewerteten Wert übereinstimmt - die Wissenschaft orientiert sich an Hypothesen, die Wahrheit zu versprechen scheinen, in den Rechtswissenschaften wird das Recht und nicht das Unrecht ausdifferenziert –, orientiert sich die Medizin an dem negativ bewerteten Wert. Nur die Krankheit ist anschlussfähig. Krankheiten werden gesucht, während die Gesundheit hier nur den Reflexionswert für das Nicht-Vorhandene und Noch-zu-Erreichende darstellt56. Die in dem medizinischen Code angelegte Asymmetrie führt zu dem innerhalb der Gesundwissenschaften bisher wenig beachteten Befund, dass eben die Behandlung von Kranken und nicht die Behandlung von Gesunden zur Systembildung führt. Präventionsprogramme werden zwar seitens der Politik in den letzten Jahren zunehmend gefordert und gelegentlich auch initiiert, neigen jedoch wenig zur Systembildung, da sie dem politischen System zugerechnet werden müssen und entsprechend eher als Inszenierung politischer Programme verstanden werden können, denn als eine stabile Programmatik innerhalb des medizinischen Systems57. Als System orientiert sich die Medizin natürlich am Funktionsvollzug und nicht an ihren Grenzen. »Hohe Unsicherheiten in Diagnose und Krankheit« mögen zwar vorhanden sein und »werden zugestanden«, spielen aber in der Praxis der Krankenbehandlung keine Rolle, »denn die Ärzte orientieren sich natürlich nicht an ihrer Unsicherheit, sondern an dem, was sie sehen und wissen« (Luhmann 1990: 183). Krankenbehandlung kann leicht zum Ziel seiner selbst werden. Die Tatsache, dass der Erfolg ärztlichen Handelns in vielen Fällen kaum zu garantieren ist, und die Gesundung - wenn dann eingetreten - immer auch auf unspezifischen anderen Effekten beruhen kann, entlässt die Ärzte nicht aus der Verantwortung, auch angesichts der unsicheren Wissensbasis 118 IV. Soziologie des Entscheidens im konkreten Hier und Jetzt etwas für ihre Patienten tun zu müssen58. In diesem Sinne darf die Medizin keinesfalls als eine Unterabteilung des Wissenschaftssystems verstanden werden. Als Funktionsbezug gelten hier nicht die strengen Wahrheitskriterien, etwa im Sinne einer epidemologisch nachgewiesenen Wirksamkeit, sondern das Primat, angesichts von Krankheit eine Behandlung einleiten zu müssen. In der Besonderheit der medizinischen Codierung sieht Luhmann auch den Grund dafür, »daß die Medizin keine auf ihre Funktion bezogene Reflexionstheorie ausgebildet hat – verglichen mit dem, was die Theologie der Religion oder die Erkenntnistheorie der Wissenschaften zu bieten hat« (Luhmann 1990: 187). Das Handeln ziele im medizinischen Funktionssystem auf den Reflexionswert Gesundheit ab und hier sei nichts weiter zu reflektieren. Allenfalls komme es zur Darstellung einer professionellen Ethik, »die sich angesichts technischer Fortschritte vor immer neue Probleme gestellt« sehe (Luhmann 1990: 188). Medizin wird hierdurch relativ immun gegenüber Selbstkritik an ihren eigenen Funktionen, die durch die Leitunterscheidung krank/gesund aufgespannt werden. Die Konstruktion dieser Codierung manifestiert eine soziale Realität, verdeckt dabei jedoch das Paradoxon, ob die Unterscheidung zwischen krank und gesund selbst noch gesund sei. Dass eine solche Frage nicht nur ein intellektuelles Spiel mit Paradoxien darstellt, hat schon Ivan Illich (1995) mit seinem Vorwurf an das Gesundheitssystem aufgezeigt, massenhaft „iatrogene” (durch den Arzt verursachte) Erkrankungen zu produzieren. Die außermedizinische Bewegung der evidence based medicine und die Immunität der Ärzte gegenüber ihrem Anliegen weisen in eine ähnliche Richtung59. Im Sinne der Luhmannʼschen Analyse wäre zu vermuten, dass das medizinische Funktionssystem unweigerlich Paradoxien erzeugen muss, die für die Außenstehenden dann zwar als Probleme erscheinen, intern vom System jedoch wieder kreativ in die Handlungsvollzüge reintegriert werden können. Den vorangegangenen systemtheoretischen Überlegungen folgend müssten sich dann solche Prozesse des geschickten Umgangs mit dem Scheitern und anderen Grenzen auch aus den empirischen Beobachtungen des Krankenhausalltages rekonstruieren lassen. Erst in der Krankenbehandlung wird das Medizinsystem zum autonomen System. Hier kann es seine eigenen diagnostischen und therapeutischen Programme anschließen und das, was medizinischer Sachverstand ist, kann keine äußere Instanz infrage stellen. »Die Form funktionaler Ausdifferenzierung besagt ferner, daß alle Funktionssysteme sich selbst regulieren und kontrollieren müssen. Eine Kontrolle von außen, zum Beispiel eine religiöse Kontrolle oder eine politische Kontrolle, ja selbst eine wissenschaftliche Kontrolle ist immer inadäquat, weil sie an einer fremden Funktion ausgerichtet ist« (Luhmann, 1983b: 171). »Der Arzt weiß es einfach besser, und vor allem weiß er, daß er es besser weiß« (ders.: 173). Innerhalb der Medizin gibt es keine internen Gründe, die das Wachstum und die weitere Ausdifferenzierung dieses Funktionssystems behindern. Neue Krankheiten können entdeckt und die alten Krankheiten können immer genauer diagnostiziert und geheilt werden. Die Entwicklung des medizinischen Fortschrittes findet innerhalb der modernen Medizin keine Grenzen, denn prinzipiell gibt es weder medizinische Gründe noch mehr für den Kranken zu tun, noch eignen sich etwa ökonomische oder moralische Maßstäbe, um den Sinn einer therapeutischen Maßnahme medizinisch beurteilen zu können. Luhmanns differenztheoretischen Überlegungen entsprechend besteht auch in der Medizin keine gesamtgesellschaftliche Rationalität. Die Interessen der verschiedenen Systeme und Subsysteme, die wiederum als eigenständige Subsysteme operieren, führen regelmäßig zu Interferenzen, die jedoch auf den jeweiligen Systemebenen als wechselseitige Irritationen in Rechnung gestellt 6. Systemtheorie 119 werden können. Trotz massiver Forderungen systemfremder Kräfte (insbesondere wirtschaftlicher Natur) kann die inhaltliche und operative Ausgestaltung des Medizinsystems immer nur innerhalb der Funktionen des Systems geleistet werden. (c) Professionalisierung Als ein modernes Funktionssystem entfaltet sich die Medizin »als ein Gesamtkomplex von Wissen, Forschung, Ausbildung und Behandlung, für den Leistungsabgabe eine Form der Regelung der eigenen System/Umwelt-Beziehungen« darstellt (Stichweh 1987: 263). Professionalisierung heißt in diesem Sinne auch, dass für die Medizin nun gerade nicht mehr der ganze Mensch (was immer das auch heißen mag) im Zentrum des Handelns steht, sondern der spezifische Leistungsvollzug überwiegend organbezogener Therapien und Diagnosen. Im institutionellen Rahmen des Krankenhauses wurde die Distanzierung vom Patienten erst möglich und erlaubte die Inklusion von Forschung in die Medizin. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Medizin ist jedoch keinesfalls trivial, denn die ‚Expertenʼ der akademischen Disziplinen generieren Wissen »eines relativ esoterischen Typs«, da sie ihre Wissensbasis unter kontrollierten (Labor-)Bedingungen erzeugen. Diese hat zwar oft »wissenschaftlichen Status«, ist jedoch nach Stichweh »dennoch in entscheidender Sicht insuffizient«, denn zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und handlungspraktischer Anwendung derselben zeigt sich hier eine Grauzone, die nach einem personalen Interpreten verlangt, der im Einzelfall entscheidet, was denn nun zu tun sei: Der »Tendenz nach gibt es eine Überkomplexität der Situation im Verhältnis zum verfügbaren Wissen, eine Relation, die es ausschließt, das Handeln des Professionellen als problemlose Applikation vorhandenen Wissens mit erwartbarem und daher leicht evaluierbarem Ausgang zu verstehen [...] Ein wesentliches Moment der Problemsituation ist damit Ungewißheit hinsichtlich der Dynamik der Situation, hinsichtlich der zu wählenden Handlungsstrategie und schließlich dem mutmaßlichen Ausgang, und ebendiese Struktur läßt auf der Seite des Professionellen die Relevanz subjektiver Komponenten wie Intuition, Urteilsfähigkeit, Risikofreudigkeit und Verantwortungsübernahme hervortreten, die zugleich mit dem Vertrauen des Klienten als seiner komplementären und möglicherweise erfolgsrelevanten Investition interagieren« (Stichweh 1987: 228). Klinische Professionalität besteht nun im Gegensatz zur wissenschaftlichen Professionalität gerade darin, dass man »nicht auf demonstrative Offenlegung, das Mitkommunizieren des noch unsicheren Status des Wissens setzen kann. Eine solche Option, die gerade in der Relativität der Wahrheit die Unbegrenztheit des eigenen Fortschreitens erfährt, ist für die Professionen durch das Faktum oft existentieller Betroffenheit des Klienten ausgeschlossen, welches eher dazu zwingt, Ungewißheit zu verdecken, sie in Formen abzuarbeiten, die das Vertrauen des Klienten nicht erschüttern« (Stichweh 1987: 228). Wenn die Medizin im Sinne ihrer funktionsspezifischen Leistungsvollzüge unmittelbar dem Patienten gegenüber zum Handeln verpflichtet ist, sich jedoch in Bezug auf die Begründung für ihr Handeln nur mittelbar auf die kollektiv geteilte wissenschaftliche Basis berufen muss, dann entsteht eine Kontingenzlücke, die innersystemisch wieder geschlossen werden muss60. Dies geschieht, indem in das Medizinsystem Personen eingeführt werden, denen die Rolle des autonom agierenden Professionellen zugeschrieben wird. In diesem Sinne stellt die Ärzteschaft im Gegensatz zum Pflegebereich eine Profession dar, denn während der Krankenpfleger seine Tätigkeit zwar lernen muss, dann aber mehr oder weniger „routiniert” seine Pflicht erfüllen IV. Soziologie des Entscheidens 120 kann, beinhaltet ärztliche Tätigkeit im Sinne der vorangegangenen Ausführungen immer auch angesichts von Unsicherheit Verantwortung übernehmen zu müssen. Die »Ausdifferenzierung der Klientenorientierung« und die »Durchsetzung des Primats des Handlungsbezuges«, die »Verpflichtungen des individuellen Professionellen gegenüber dem individuellen Klienten« (Stichweh 1987: 230f.) erscheinen hier gewissermaßen als systemische Notwendigkeiten der Leistungen und Grenzen der modernen Medizin. Der Klientelbezug ist hier jedoch nicht in dem Sinne zu verstehen, dass sich nun die Arzt-Patient-Beziehung als soziales Subsystem in den Vordergrund des Behandlungsprozesses schiebt. Im konkreten Fall muss zwar entschieden und abgewogen werden, was dem Patienten zumutbar erscheint, dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass nun entsprechend viel mit dem Patienten geredet oder dieser gar aktiv in den Behandlungsprozess eingebunden werden muss. Stattdessen ist es seitens der Ärzte – den empirischen Ergebnissen entsprechend – eher üblich, Patienteninteressen in paternalistischer Form als stereotyp zu antizipieren und dann stellvertretend für den Patienten zu bestimmen und ihn zu vertreten. Systemtheoretisch gesprochen: Im Medizinsystem wird ein Modell des individuellen Patienten konstruiert und verhandelt. Als Subjekt bleibt der Patient jedoch in Regel weiterhin in der Umwelt des Behandlungssystems61. Die Diffusität an der Grenze zwischen Wissenschaft und Praxis konstituiert einerseits die spezifische Rolle des autonom agierenden Professionellen und behindert gleichzeitig den Zugriff anderer Funktionssysteme auf die Medizin: Das Recht scheitert am mangelnden Verständnis medizinischen Wissens. Kostengründe lassen sich nicht gegen Heilungschancen aufrechnen, die Politik ist selbst auf die Expertise ausgewiesener Mediziner angewiesen, und die akademische Wissenschaft weiß nichts vom Handlungsdruck der Praxis. (d) Entscheidungstheorie Ausgehend von dem Diktum, dass man nur jene Fragen entscheiden könne, die prinzipiell unentscheidbar seien (v. Foerster 1994: 351), steht das Problem der Kontingenz im Zentrum der systemtheoretischen Entscheidungstheorie. Im Gegensatz zur Rational-Choice-Theorie bildet also nicht die Berechenbarkeit (des zu erwartenden Gewinns) den Ausgangspunkt der Analyse, sondern das eigentliche Problem, aus dem heraus sich dann die Entscheidungsprozesse entfalten, besteht in der Unberechenbarkeit. Da Systeme immer in Umwelten „leben”, die wiederum Systeme enthalten, deren Verhalten prinzipiell nicht in seiner Gänze vorhersagbar ist, muss sich jedes System gleichsam von einer Vielzahl verschiedener Blackboxes umgeben sehen. Es kann und muss zwar bestimmte Verhaltensweisen erwarten, kann jedoch niemals sicher sein, ob das, was es erwartet, auch eintritt. Erst aufgrund dieser unsicheren Ausgangslage stellt sich für ein System, das zur Reflektion seines eigenen Handelns fähig ist, das Problem des Entscheidens. Einhergehend mit der funktionellen Autonomie von Systemen, die ihr eigenes Verhalten beobachten können, entsteht hier etwas, was ein äußerer Beobachter dann durchaus als Autonomie oder gar „freien Willen” interpretieren könnte. Die selbstreflexive Bewältigung von Kontingenz erzeugt den „Entscheider”, das heißt, ein System, das – wenn man diesem Selbstbewusstsein unterstellen würde - zumindest darüber entscheiden muss, ob es die Herausforderung annimmt, selbst Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen zu verantworten62. Gerade auch im originären Funktionsbezug der Medizin muss mit einer Vielzahl an Unsicherheiten gerechnet werden – entsprechend entsteht gerade hier Entscheidungsbedarf. Blackboxes stellen dabei nicht nur die psychischen Systeme (die Patienten, die Angehörigen) und die umgebenden sozialen Systeme 6. Systemtheorie 121 (etwa die Krankenkassen), sondern - trotz ausgefeilter Diagnostik - immer auch die Körper des Patienten dar. Das medizinische Funktionssystem kann und muss diese Herausforderung annehmen. Dies geschieht, indem mit der Rolle des professionellen Arztes eine Person adressiert wird, der diesbezügliche Entscheidungskompetenzen zugestanden werden. Wenn nun nicht Berechenbarkeit, sondern Unberechenbarkeit das Grundproblem des Entscheidens darstellt, dann stellt sich auch die Rationalität von Zwecken in einer anderen Weise dar, denn dem im Zweckbegriff implizierten Kausalitätsverhältnis von Zweck und Mittel ist aus systemtheoretischer Sicht nicht zu trauen: Da sich Zwecke beim genaueren Hinsehen nicht mehr auf objektive Wahrheiten oder Notwendigkeiten berufen können, liegt ihre funktionale Brauchbarkeit gerade darin, dass sie »subjektive Vorstellungen künftiger Wirkungen« darstellen und »zwar subjektiv nicht nur als Erwartung eines faktischen Verlaufs, sondern auch als Wertschätzung, die über den lohnenden Einsatz systemeigener Kräfte bestimmt« (Luhmann 1991: 188). »Grundlegend vereinfacht sich das System seine Umweltlage dadurch, daß es die objektive Situation durch eine Subjektive ersetzt, das heißt sein Handeln nicht unmittelbar durch die Wirklichkeit bestimmen läßt, sondern es nach seiner Vorstellung von der Wirklichkeit ausrichtet« (ders.: 182). Zwecke sind nützlich. Jedoch stellt es keineswegs ein einfaches Unterfangen dar, diese festzustellen, denn die »richtigen Zwecke liegen nicht auf der Straße« (ders.: 211). Entsprechend ist das System gefordert, intern Wege zu finden, diese Entscheidungsprozesse zu rationalisieren. Dies kann geschehen über »Subjektivierung« (etwa durch das Einrichten professioneller Expertenrollen), »Institutionalisierung« (etwa durch Programme und institutionelle Ideologien), »Umweltdifferenzierung« (etwa als Dienstleistung im Klientelbezug) und nicht zuletzt über »Innendifferenzierung und Unbestimmbarkeit der Systemstruktur« (etwa durch die Ausbildung von Hierarchien und entsprechenden Entscheidungsrollen). Da der Zweck der Zwecke nicht zu finden ist, bleiben Zwecke zwar ein »Gewaltmittel der Rechtfertigung« und vermögen »daher nicht allein zu überzeugen« (ders.: 48), zeigen aber darüber hinaus eine systemische Funktion, nämlich in einem »ganz allgemeinen Sinne als Funktion der Absorption von Komplexität und Veränderlichkeit« (ders.: 179). Die Dekonstruktion der klassischen Zweck-Mittel-Relation eröffnet eine neue Beobachtungsperspektive auf die empirischen Realitäten innerhalb von Organisationen: Entscheidungsgremien könnten daraufhin untersucht werden, ob sie mittels Erhöhung oder Verminderung von Komplexität die Entscheidungsfindung fördern, unter welchen Voraussetzungen beispielsweise in Falldiskussionen die Kontingenz erhöht wird, indem man sich anderen Standpunkten öffnet, und in welchen Fällen man lieber über die dogmatische Anwendung institutioneller Programme eigene Handlungsunsicherheiten überdeckt. In diesem Sinne wäre auch die Rolle des Chefarztes als Letztentscheider kritisch zu hinterfragen: Wird er gebraucht und gefragt, weil er das Fallgeschehen besser überblickt und angemessener beurteilen kann, oder besteht seine Aufgabe eher darin, Kraft seines Amtes eine (beliebige) Zweck-Mittel-Relation setzen können, um hierdurch wieder eine Handlungsperspektive zu eröffnen? Entsprechend den vorangehenden Überlegungen macht es für die Systemtheorie wenig Sinn, eine soziologische Entscheidungstheorie - entsprechend der Rational-Choice-Theorie - auf ZweckMittel-Relationen bzw. nutzentheoretisch analysierbare Präferenzen zurückzuführen, zudem ja einerseits auch oftmals gegen vernünftige Präferenzen entschieden würde und andererseits der »Charakter einer Handlung bzw. einer Entscheidung als nur momenthaftes Ereignis nicht ernst genug« genommen werde (Luhmann 1996: 276). Um zu einer allgemeineren Theorie des Entscheidens zu gelangen, schlägt Luhmann vor, »eine Handlung immer dann als Entscheidung 122 IV. Soziologie des Entscheidens anzusehen, wenn sie auf eine an sie gerichtete Erwartung reagiert. Wir können auch sagen: daß sie immer dann, wenn sie darauf reagiert, mit Hilfe von Erwartungen beobachtet wird. Erst die Prognose des Verhaltens macht es möglich, ihr zu folgen. Dabei kann es sich um Fremderwartungen oder um Eigenerwartungen des Handelnden selbst handeln, und die Erwartungen können gut eingeführt oder auch neuartig sein« (ders.: 278). Das Entscheiden wird hier nun als ein primär sozialer Prozess verstanden, denn es referiert auf einen signifikanten anderen. Das Wesen einer Entscheidung liegt nun darin, ob eine Erwartung erfüllt wird oder nicht: »Die Steigerung und Zuspitzung der Sinnbezüge, die mit dem Erwarten des Handelns verbunden sind, schaffen eine Art Meta-Kontingenz. Nicht nur das Handeln kann so oder auch anders ablaufen, sondern kontingent ist außerdem: ob man der an das Handeln gerichteten Erwartung Rechnung trägt oder nicht. Man muß dann die Erwartung annullieren, um wieder alternativenlos und sachorientiert (statt: sozialorientiert) handeln zu können« (ders.: 280). Oder es wird eben erwartet, dass „vernünftig” entschieden wird – was immer das auch heißt. Aber auch hier provoziert die soziale Erwartung und nicht eine abstrakte Rationalität die Entscheidung63. Einen Zweck (im Sinne eines zweckrationalen Handelns) braucht man innerhalb dieser Theoriedisposition nicht mehr, oder bestenfalls als Surrogat für fehlende Erwartungen: »Dann rekonstruiert eine Zweckvorstellung die fehlende Erwartung, und man prüft am Zweck, ob man die Entscheidung treffen kann, als ob sie auf eine Erwartung reagiere« (ders.: 286). Unter dieser Theoriedisposition stellt sich das Problem des Entscheidens nicht mehr als eine Frage der Handlungsrationalität, sondern als Frage der Bedingungen, »unter denen ein soziales System sich zum Entscheiden erpresst [sieht], statt sich nur von Handlung zu Handlung zu reproduzieren. In den Zusammenhang dieser Fragestellung müßten dann Erwartungsaggregate wie Normen, Rollen oder Personen eingeführt werden mit der Absicht zu klären, ob sie Entscheidungslasten aufbürden und weshalb« (ders.: 294). Luhmann formuliert hier die Grundlagen einer originär soziologischen Entscheidungstheorie, denn auch der Entscheider erscheint hier als eine emergente Ordnungsleistung sozialer Systeme. Der Entscheider entsteht erst als Leistung einer Zurechnung; und ist dann erst einmal jemand als Entscheider konstruiert, und dann ist eben der der Entscheider, der entscheidet. Diese Tautologie lässt in realen Systemen einige Besonderheiten vermuten: »Die Annahme, dass es der Entscheider sei, der entscheidet, führt zu Mythen, die teils an Erwartungen, teils an Begründungen und Rechtfertigungen anschließen. Die wichtigsten wären: die Entscheidungen seien, zumindest der Intention nach, rational. Sie richteten sich nach den Langfristinteressen der Organisatoren [...]. Eine genauere Beobachtung der Entscheidungsparadoxie wird hier erhebliche Diskrepanzen zwischen Mythos und Realität feststellen. (Luhmann 2000a: 136). Speziell auch in medizinischen Organisationen ist zu vermuten, »daß die Semantik der Rationalität wie ein Singen und Pfeifen im Dunkel praktiziert wird, um Unsicherheit und Angst zu vertreiben« (Luhmann 1996: 298). Auch wenn man die Beziehung von Entscheidung und Entscheidungsträger als ein Zurechnungskonstrukt betrachtet, so bedeutet dies keinesfalls, dass dieser Vorgang nur eine Illusion darstellt, die zerbricht, falls sie durchschaut wird – also keine soziale Realität darstellt. Da sowohl der Entscheider selbst wie auch seine Beobachter diese Zurechnung vollziehen, muss man hier wohl eher von stabilen Eigenwerten von Organisation sprechen, die »in der rekursiven Praxis des organisierten Entscheidens immer wieder bestätigt« werden (Luhmann 2000a: 136). Da sich wiederholende Gefühle von Macht und Ohnmacht außerdem im Körper der Betroffenen habitualisieren, gewinnen die Beteiligten zudem eine emotionale Bindung an ihre Rolle64. Entscheidungen erscheinen im sozialen System nur dann als Entscheidungen, wenn sie einem Entscheider zugerechnet werden, das heißt – in welcher Form auch immer – als Entscheidungen kommuniziert werden65. Die Bindung der Entscheidung an die soziale Konstruktion impliziert, 6. Systemtheorie 123 »dass latent eine Möglichkeit der Psychiatrisierung mitgeführt wird, die benutzt werden kann, wenn die zusätzliche Unterscheidung von normal und pathologisch eingeführt werden kann« (Luhmann 2000a: 144). Entscheidungen können einfach dadurch dekonstruiert werden, dass der sie vertretende Akteur nicht ernst genommen wird. Umgekehrt können Entscheidungen Personen unterstellt werden, deren Verhalten ursprünglich gar nicht entsprechend intendiert war. Außerdem »ist gerade in Organisationen so gut wie alles Verhalten, selbst der Arbeitsgriff an der Maschine, die schlichte Auskunft über das Zuspätkommen, als Entscheidung thematisierbar, wenn es zu Problematisierungen kommt« (Luhmann 2000a: 68). Aus der Konzeption der sozialen Konstruktion des Entscheiders lassen sich eine Reihe von Fragen an das empirische Material stellen. Wie ist das Verhältnis von Hierarchie und Entscheidung? Unter welchen Bedingungen werden Personen Entscheidungen zugerechnet, die sie aus subjektiver Perspektive gar nicht getroffen haben? Oder der umgekehrt: unter welchen Bedingungen werden von einem Akteur als Entscheidungen intendierte Handlungen nicht als solche wahrgenommen? Was fördert und was verhindert die Dekonstruktion von Entscheidungen in Organisationen? Entscheidungen kehren im sozialen System das Verhältnis von unbestimmter Vergangenheit und bestimmter Zukunft um. Die Zukunft erscheint determinierbar, indem man sich für dieses und nicht für jenes entscheidet66. Die Vergangenheit demgegenüber erscheint als unbestimmter Möglichkeitsraum, als Reservoir einer Vielzahl von Alternativen, die man auch hätte einschlagen können und auf die man möglicherweise zukünftig wieder zurückgreifen könne. Entscheidungen haben in diesem Sinne »etwas mit dem Wiedergewinn von Freiheit zu tun [... ], wenn man „Freiheit” nicht als Freiheit von Zwängen versteht, sondern als Kunstfertigkeit oder „Findigkeit” [...] in die bereits determinierte und überdeterminierte Welt Alternativen hineinzufingieren oder hineinzukonstruieren, die dort Alternativen sichtbar machen, wo bisher nur die Verhältnisse als solche, als „herrschende”, auf sich aufmerksam machten. Die Entscheidung arbeitet mit Konstruktionen von Alternativen, die dort eine Wahl eröffnen, wo bisher nur die Wirklichkeit als solche sichtbar war« (Baecker 2000: 100). An dieser Stelle zeigt sich erneut ein radikaler Perspektivenwechsel gegenüber der Rational-Choice-Theorie. Der Sinn von Entscheidungen kann nicht mehr darin gesehen werden, möglichst rational bestimmte Zwecke oder Programme zu verfolgen, sondern besteht gerade darin, Willkür zu ermöglichen, um der erdrückenden Last unterschiedlichster Rationalitäten entgehen zu können. In diesem Sinne kann an das empirische Material die Frage gestellt werden, inwieweit Prozesse der Entscheidungsorganisation nicht vielfach eher dazu dienen, aus den organisationsüblichen Rationalitätszwängen entweichen zu können, beispielsweise indem man dann vielleicht einen geschickten Weg (er)findet, um sich der Verantwortung für bestimmte Fälle zu entledigen. (e) Organisation Entsprechend den klassischen Organisationstheorien sind Organisationen darauf ausgerichtet, einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Aus systemtheoretischer Sicht stellt eine Organisation eine Einheit dar, die zunächst einmal einfach nur am Leben bleiben will und sich - wie jedes andere System - anhand ihrer eigenen Operationen reproduziert (s. a. Luhmann 2000a: 47ff.). Darüber hinaus stellen Organisationen soziale Einheiten dar, die sich selbst beobachten und ihren eigenen Funktionsbezüge, sozusagen ihre Aufgaben, durch interne Entscheidungen setzen können. Sie rekrutieren eigenständig ihre Mitglieder und entscheiden über deren Aufnahme oder 124 IV. Soziologie des Entscheidens Einstellung. Sie legen Stellen- oder Arbeitsbeschreibungen fest, suchen spezifischen Kontakte bzw. Kooperationen mit der Außenwelt und formulieren Programme erfolgreicher Arbeit und entwickeln diesbezüglich Formen der Selbstbeobachtung, um zu evaluieren, ob sie ihren selbst gesteckten Anforderungen genügen. Organisationen sind sich selbst beobachtende und sich selbst bestimmende Funktionseinheiten. Als Clou dieser Theoriedisposition ergibt sich hier die Verbindung von soziologischer Organisations- und Entscheidungstheorie: »Organisationen entstehen und reproduzieren [sich], wenn es zur Kommunikation von Entscheidungen kommt und das System auf dieser Operationsbasis operativ geschlossen wird. Alles andere - Ziele, Hierarchien, Rationalitätschancen, weisungsgebundene Mitglieder, oder was sonst als Kriterium von Organisation angesehen worden ist - ist demgegenüber sekundär und kann als Resultat der Entscheidungsoperationen des Systems angesehen werden. Alle Entscheidungen des Systems lassen sich mithin auf Entscheidungen des Systems zurückführen. Das setzt voraus, dass auch die Gründung einer Organisation und auch die Übernahme von Mitgliedschaften als Entscheidung beschrieben wird, und dies auch dann, wenn zum Beispiel in Familienunternehmen die Familienmitglieder bevorzugt herangezogen werden« (ders.: 63)«. Wenngleich man in Organisationen auch körperliches Verhalten, manuelle Operationen und Technik (inklusive vielfältiger Routinen) finden kann, so lässt die soziologische Betrachtungsweise deutlich werden, dass man sich irgendwann einmal für diese und nicht für andere Techniken, Operationen, Routinen etc. entschieden hat. Selbst hochautomatisierte Produktionsprozesse müssen in diesem Sinne als von der Organisation selbst bestimmt gesehen werden. Zumindest theoretisch kann die Geschichte der Organisation als eine Kette von Entscheidungsprozessen nachgezeichnet werden, die schließlich zu dem jetzigen Status quo geführt haben. Organisationen koppeln sich üblicherweise bevorzugt an ein gesellschaftliches Funktionssystem an – ein Krankenhaus an das Medizinsystem –; ihr systemischer Reproduktionsbezug ist jedoch nicht als identisch mit dem jeweiligen Funktionsbezug zu sehen. Organisationen sitzen gewissermaßen „parasitär” in den Funktionssystemen. Eine Organisation, als Funktion ihrer selbst, nutzt medizinische, ökonomische, juristische und politische Funktionsbezüge zum Aufbau eigener Strukturen. Umgekehrt nutzen Funktionssysteme Organisationen zur Reproduktion ihrer spezifischen Wertbeziehungen, denn nur Organisationen können die Funktionsbezüge in der Gesellschaft umsetzen. Ob das jeweilige Organisationssystem und das gesellschaftliche Funktionssystem in einer komplementären Beziehung zueinander stehen, oder ob dann das Verhältnis auch einmal einen einseitig parasitären Charakter zeigen kann, bleibt dabei eine offene Frage, die jeweils im Einzelfall untersucht werden muss. Aus systemtheoretischer Perspektive ist nicht damit zu rechnen, dass die Leistungsangebote der Organisationen des Medizinsystems optimal an seine Funktionen angepasst sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass innerhalb von Organisation ein Spannungsverhältnis von Zweck- und Systemrationalität besteht. Was von außen als Zweck rational erscheint, ist von innen nicht unbedingt vernünftig im Sinne des eigenen systemischen Vollzugs67. Es ist zu erwarten, dass sich gerade in der empirischen Rekonstruktion realer Entscheidungsprozesse diesbezügliche Inkongruenzen zeigen. Da sich das Krankenhaus hinsichtlich seines gesellschaftlichen Auftrags klar an das medizinische Funktionssystem ankoppelt hat, ist organisationsintern mit einem ausgefeilten Management der zu erwartenden Dissonanzen zu rechnen. Auch wenn letztlich die Reproduktion der eigenen Organisation und nicht der Patient im Vordergrund steht, so darf die im Funktionsbezug begründete Legitimation der Organisation nicht allzu leicht aufs Spiel gesetzt werden. Zumindest nach außen hin muss deshalb der Zweck hochgehalten werden, 6. Systemtheorie 125 während die interne Realität oftmals nach einem Doppelspiel verlangt, in dem dann einige Karten auch einmal verdeckt ausgespielt werden müssen. Verkompliziert wird das Problem der verschiedenen Kontexturen ineinander verwobener Systemreferenzen durch den Sachverhalt, dass die Mitglieder von Organisationen als psychische Systeme zur Umwelt der Organisation zu rechnen sind. Das „wirkliche” Innenleben der Mitarbeiter interessiert nicht – wer fragt schon, ob ein Stationsarzt glücklich ist oder nicht. Seine subjektiven Wünsche oder Vorstellungen müssen keineswegs mit den Zielen der Organisation übereinstimmen. Alltagspraktisch stellt die Differenz von Rolle bzw. Position und Subjekt für Organisationen kein Problem dar, denn »es genügt ihr für die Fortsetzung ihrer eigenen Operationen, die Einheit von Individuum und Person als operative Fiktion zu unterstellen« (Luhmann 2000a: 90). Die symbolische Einheit „Person”68 ist für die Organisation adressierbar, mit ihrem rollengemäßen Verhalten kann gerechnet werden, denn das Problem der Bindung von Individuen an Organisationen - die Bereitschaft, die ganzen Zumutungen zu ertragen – löst sich durch die Integration der unterschiedlichen Perspektiven in der so genannten Karriere. Hier verbinden sich die biografischen Interessen nach beruflichem Aufstieg mit den Erwartungen von Organisationen an die von ihnen ausgewählten Personen. Die Karriere bietet das stabilisierende Moment, das »es sowohl den Individuen als auch den Organisationen ermöglicht, die Entscheidungskontingenzen zu ertragen und zu nutzen. Man geht dann von flexiblen Personen aus, die sich nicht mit bestimmten Ideen, Zielen, Projekten, Reformvorhaben identifizieren, sondern nur mit ihrer eigenen Karriere; das heißt: von Personen, die alle möglichen Wechselfälle als Mitglieder von Organisationen überdauern werden; von Personen, denen eine Identifikation mit bestimmten Projekten nur zugeschrieben wird mit dem Ziel, sie in ihrer Karriere zu fördern bzw. auszuschließen. Und Karriere ist als Form für strukturelle Kopplung genau deshalb stabil, weil sie nichts anderes ist als in Form gebrachte Kontingenz« (ders.: 102). Der wichtigste Mechanismus der Organisation, welcher dazu dient, ihre Mitglieder zu konditionieren, besteht darin, über die Inklusion bzw. Exklusion von Karrierechancen zu entscheiden. Erst hierdurch gelingt es den Organisationen wirklich, ihre Mitglieder zu ihren Entscheidungen zu verpflichten. Allgemeine Werte wie Freiheit und Gleichheit sind in Organisationen suspendiert, »harmonisieren nicht mit der Sonderstellung der Mitglieder in Organisationen und dem Ausschluss aller anderen« (ders.: 393), was jedoch nicht heißt, dass individuellen Eigenarten und Präferenzen der Mitglieder im Sinne der Harmonie von Organisationen ein gewisser Rahmen zugestanden wird bzw. nicht immer allzu genau hingeschaut wird, was die Mitglieder im Einzelfall wirklich tun und lassen. Ein soziales System, das gefordert ist zu entscheiden, läuft damit immer Gefahr, sich durch Selbstkritik zu dekonstruieren. Dies kann beispielsweise geschehen, wenn mittels Metakommunikation die eigenen Entscheidungsgrundlagen thematisiert werden und gerade hierdurch zügiges Entscheiden verhindert wird. Als soziale Systeme, die aus einer individuellen Geschichte von Entscheidungen entstanden sind und sich auch in Zukunft durch Entscheidungen reproduzieren, haben Organisationen einen Weg gefunden, der Dekonstruktion durch ihre eigene Paradoxie - zu entscheiden, ob es überhaupt angemessen sei, zu entscheiden - vorzubeugen: »Sie können, wie immer das geschieht, die Akzeptanz von Entscheidungen durch Entscheidungen sicherstellen. Sie bilden die dafür notwendigen Strukturen« (ders.: 145). Eine Organisation entfaltet eine Reihe interner Strukturen, die ihre Entscheidungsfähigkeit herstellen und erhalten. Zunächst gelingt es, über die innere Differenzierung Positionen und Zuständigkeiten festzulegen. Die Komplexität wird aufgeteilt, die Verantwortlichkeiten „taylorisiert”. Die Wirtschaftsabteilung braucht nicht über medizinische Fragen zu entscheiden, die Rechtsabteilung nicht über ökonomische Fragen. Das, was von den einen entschieden worden ist, muss dann von den anderen 126 IV. Soziologie des Entscheidens stillschweigend als „Irritation” ernst genommen und verarbeitet werden. Die Einzelprozesse können im Einzelfall funktionell integriert werden, etwa durch eine gemeinsame Anordnung seitens des Chefarztes und des Verwaltungsdirektors. Eine andere Form, die Dekonstruktion von Entscheidungen zu verhindern, besteht in der „Legitimation durch Verfahren”. Ausformulierte Prozessroutinen, aber auch die Etablierung von formellen Entscheidungsgremien verlagern die Begründung vom Zweck zum Mittel. Kontingenz wird hier bewältigt, indem nicht mehr der Gegenstand, sondern das Wie der Entscheidung im Vordergrund steht. Letztlich kann die Hierarchie selbst als eine »supplementäre Einrichtung« einer kontingenten Welt angesehen werden, die man braucht, »weil anders nicht die Teile darauf hingewiesen werden können, welchem Zweck sie als Mittel zuzuarbeiten haben. Und man braucht sie, um den Mitteln, was immer sie bezwecken mögen, den Zweck vor Augen zu führen, der als Zweck des Ganzen eingeführt wird« (Baecker 2001: 99). Machtverhältnisse asymmetrisieren die Kommunikation von Entscheidungen: »Sie sind, wenn man so will, Parasiten an Stabilitätsinteressen von ausdifferenzierten Systemen. [Man] gewöhnt sich an sie, weil ein zu spät angemeldeter Widerstand mit Überraschung aufgenommen werden und unvorteilhafte Konflikte auslösen würde« (Luhmann 2000a: 67). Macht und Herrschaftsverhältnisse erscheinen hier sekundär als Folgeerscheinungen des spezifischen Funktionsproblems von Organisationen. In diesem Sinne stellen Machtverhältnisse bei Luhmann Strukturen, jedoch keine Systeme dar. Unter diesem theoretischen Blickwinkel erscheinen die steilen, oftmals totalitär erscheinenden Hierarchien im Krankenhaus in einem anderen Licht: Nämlich nicht (nur) als Machtstruktur, sondern auch als eine Antwort auf ein Entscheidungsproblem. Eine Rekonstruktion der Entscheidungsstrukturen im Krankenhaus muss in diesem Sinne das empirische Material auch daraufhin befragen, wie es der Organisation Krankenhaus gelingt, bei prekären Entscheidungen die Dekonstruktion ihrer eigenen Entscheidungsgrundlagen zu verhindern. Wie und an welchen Stellen wird ein weiteres Fragen verhindert bzw. auf informelle Wege verwiesen (mit vorgehaltener Hand kann Kritik an der Chefentscheidung geäußert werden)? Die Entscheidung über Entscheidungsprämissen stellt eine weitere Form dar, die vielfältigen Kontingenzen realer Entscheidungssituationen zu bewältigen. »Mit „Prämisse” soll gesagt sein, dass es sich um Voraussetzungen handelt, die bei ihrer Verwendung nicht mehr geprüft werden; oder vielleicht besser: dass zwar die Relevanz für das anstehende Problem, nicht aber die Wahrheit der Prämisse eine Rolle spielt« (ders.: 222). In ihrer stärksten Form entwickeln sich Entscheidungsprämissen als eine Weltsicht, die für sich beansprucht die „Realität” darzustellen. Entscheidungsprämissen setzen einen Rahmen, »in dem eine Organisation ihre Welt konstruieren, Informationen verarbeiten und immer neu Unsicherheit in Sicherheit transformieren kann. Denn den Organisationen fehlt das, was in den gesellschaftlichen Funktionssystemen die binäre Codierung leistet, die Orientierung an einer einzigen positiv/negativ-Unterscheidung wie Haben/Nichthaben, Wahrheit/Unwahrheit, Recht/Unrecht. Selbstverständlich binden sich Organisationen, sofern sie in bestimmten Funktionssystemen tätig werden, an deren Codes [...], aber damit allein sind die Grenzen bestimmter Organisationssysteme noch nicht markiert [...]. Entscheidungsprämissen sind demnach auf der Ebene der Organisationssysteme das funktionale Äquivalent für die Codierung der Funktionssysteme. [...] Aber sie sind, im Unterschied zu den Codes der Funktionssysteme, veränderbar, wenn auch nur in ständiger selbstreferenzieller Anpassung an das, was im Moment nicht zur Disposition steht« (ders.: 238f.). Auf einer noch fundamentaleren Ebene werden die Entscheidungsgrundlagen von Organisationen durch so genannte Entscheidungsprogramme festgelegt. Diese Programme legen Kausalrelationen 6. Systemtheorie 127 fest. Dies geschieht entweder in inputorientierten Programmen, in Konditionalprogrammen, die jeweils die Bedingungen benennen, auf die dann entsprechende Konsequenzen folgen sollen, oder in outputorientierten Programmen, in Zweckprogrammen, in denen über festgelegte Zweck-Mittel-Relationen bestimmte Projekte verfolgt werden (ders.: 261f.). Mittels dieser Entscheidungsprogramme gelingt es Organisationen, die Entscheidungskomplexität erheblich zu reduzieren. Die Zweckorientierung lässt die Nebenfolgen des Handelns in den Hintergrund treten, man braucht sie nicht mehr zu thematisieren. Umgekehrt: wenn man entschieden hat, seine Operationen problemorientiert anzuschließen, dann muss man sich nicht allzu viel mit den Ergebnissen herumschlagen. Für medizinische Organisationen, die angesichts unheilbarer Krankheiten ihrer Klienten permanent mit den Misserfolgen ihres therapeutischen Handelns konfrontiert sind, empfiehlt es sich, Konditionalprogramme zu verwenden, das heißt, die internen Evaluationskriterien für eine erfolgreiche Arbeit nicht an den Therapieausgang, sondern an die Therapievollzüge zu koppeln. Ob beispielsweise die in Betracht gezogene Chemotherapie wirklich heilt oder zumindest einen Gewinn an Lebensqualität und Lebenslänge verspricht, ist dann für das Krankenhaus nur von sekundärem Interesse. Wichtiger scheint nun für die Ärzte, dass man überhaupt eine Therapie für das Problem der Krankheit anzubieten hat69. Da in der Realität medizinischer Organisationen auch das offensichtliche Scheitern verarbeitet werden will und entsprechend im Behandlungsteam durchaus mit Zweifeln an dem Sinn der Arbeit zu rechnen ist, ist zu erwarten, dass sich spezielle professionelle Erklärungsmuster entwickeln, um den Sinn und die Bedeutung des eigenen Handelns kommunikativ wieder herzustellen. In diesem Sinne wäre im empirischen Material nach professionsideologischen Supplementen Ausschau zu halten, die die organisationsüblichen Entscheidungsprogramme legitimieren, das heißt: neuen Sinn inszenieren. Um die bisherigen Ausführungen zu pointieren: Organisationen lassen sich aus systemtheoretischer Perspektive als zwecksuchende Systeme auffassen. Sie entstehen durch Entscheidungen – also aus Kontingenz -, sind aber gleichzeitig gefordert, die Willkür ihrer Unterscheidungen und Operationen zu verdecken. Sie erzeugen Unbestimmbarkeit, um diese dann für eigenverantwortliche Unsicherheitsadsorption – dem Aufbau eigener Strukturen und Handlungsoptionen - nutzen zu können. Personen in ihren zugewiesen Stellen und Positionen spielen in diesem Spiel der Kontingenz eine zentrale Rolle: Als Kompetenzen und Fachautoritäten dienen sie einerseits als der Joker, der in Anbetracht „prinzipiell unentscheidbarer Entscheidungen” eine Festlegung bestimmt, die erst Entwicklung im Sinne weiterer Anschlussoperationen ermöglicht. Positionsinhaber können sich mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit und Rationalität ihres Handelns für ihre Entscheidungen entschuldigen. Zwecke, Programme, Entscheidungsprämissen, der Rekurs auf die Wissenschaft, Evaluationen etc. dienen immer auch dazu, als vorzeigbare Erklärungen die eigene Verantwortung für das Geschehen einklammern zu können - man kann seine Entscheidungen als durch äußere Rationalitäten aufgezwungen verkaufen. Entscheidungen lassen sich je nach Bedarf rationalisieren und wieder depersonalisieren. Das System gewinnt hierdurch innere Flexibilität, kann dynamisch Verantwortlichkeiten zuweisen und hierdurch Handlungsfähigkeit auch im Krisenfalle erhalten. Nicht zuletzt eröffnet die Möglichkeit, Fehler im Zweifelsfall einzelnen Individuen zurechnen zu können, einer Organisation zusätzliche Freiheitsgrade, um auch prekäre Aufträge annehmen zu können. Probleme können hierdurch leichter aus der Umwelt ins Organisationssystem aufgenommen werden, um sie dann – falls sie sich doch als unverdaulich erweisen – wieder in ein psychisches System zu entlassen, etwa indem IV. Soziologie des Entscheidens 128 dann einem konkreten Individuum die Schuld für das Versagen zugeschrieben wird. In diesem Sinne ist damit zu rechnen, dass viele Systemmitglieder an nicht eingestehbaren Rollenkonflikten scheitern müssen. Organisationen brauchen Menschen, denen entsprechende Kompetenzen zugeschrieben werden, um die erforderlichen Komplexitätsreduktionen leisten zu können, die nötig sind, um in hyperkomplexen Umwelten weiter funktionieren zu können. Nichtwissen kann nicht durch Wissen reduziert werden70, sondern nur dadurch, dass man der unsicheren Ausgangslage mit einer abgesicherten Praxis begegnet, also »nur durch Entscheidungen, die ihrerseits natürlich auch die Richtung und Methode der Suche nach Wissen betreffen können. Nur mittels Entscheidungen kann man eine prognostizierbare Zukunft erzeugen. Unsicherheitsabsorption ist ein Entscheidungsprozess« (Luhmann 2000a: 186). Autoritäten sind aus systemischer Sicht zunächst als »eine den Kommunikationsprozess abkürzende Unterstellung« zu verstehen (ders.: 204).Unsicherheitsadsorption ist in diesem Sinne durchaus synonym mit Macht zu sehen, denn in Organisationen geht es »nicht so sehr um Instrumentierung eines als extern vorausgesetzten Willens und entsprechender Interessen, sondern das Problem ist, wie man mit der Orientierungsunsicherheit zurechtkommt, die in den gesellschaftlich ausdifferenzierten Funktionssystemen laufend reproduziert wird. Dafür und nur dafür brauche Organisation eine hierarchische Ordnung ihrer internen Machtverhältnisse« (ders.: 221). Dass es sich hier um Willkür und nicht um Zweckrationalität handelt, wird innerhalb des Organisationssystems durchaus beobachtet, jedoch in der Regel in einer Form kommuniziert, die nicht die eigenen Entscheidungsgrundlagen dekonstruiert. Doppeldeutigkeit in Form von Ironie oder diffuser Kommunikation eignet sich hier, um die Form der Organisation zu waren71. In diesem Sinne stellt die Hyperkomplexität der Welt zugleich die Grundlage wie auch das Problem von Organisationen (und ebenso der Professionen) dar. Die grundsätzlichen Probleme können nicht durch Technik und Routinen gelöst werden, denn wenngleich die feste Koppelung von kausalen Elementen zu Funktionseinheiten auf der einen Seite zuverlässig Arbeitsprozesse organisiert und vereinfacht, so erzeugt diese Automatisierung eine Indifferenz gegenüber der Umwelt und damit das Risiko, auf Irritationen nicht mehr durch Entscheidung reagieren zu können. In diesem Sinne müssen Organisationen als soziale Systeme betrachtet werden, die »in der modernen Gesellschaft ausdifferenziert« werden, »um Entscheidungen möglich zu machen, die sie vor dem Hintergrund der Einführung von Routinen in einem ersten Schritt unmöglich macht, genau in dieser Form Entscheidungen über Routinen jedoch erst möglich macht. Die Konstruktion ist paradox, aber das muß sie nach „postmodernen” Vorgaben auch sein, um überhaupt glaubwürdig zu sein« (Baecker 2000: 100). (f) Zusammenfassung − Leitunterscheidung der modernen Systemtheorie ist die Differenz von System und Umwelt. Ein System ist eine Funktion seiner selbst, erzeugt sich seinen internen Funktionen entsprechend als Differenz zur Umwelt. − Soziale Systeme entstehen als selbstreferenzielle Kommunikationszusammenhänge („Kommunikation löst Kommunikation aus”) und stabilisieren sich dabei als Muster von Erwartungen und Erwartungserwartungen. Ist ein System erst einmal etabliert, dient seine Kommunikation dazu, die Redundanz der Systemstrukturen aufrechtzuerhalten. 6. Systemtheorie 129 • Die moderne Gesellschaft lässt sich durch das Prinzip der funktionalen Differenzierung charakterisieren. Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Religion etc. konstituieren sich als eigenständige Systeme mit einem spezifischen Funktionsbezug. Da sich ein Funktionssystem - wie jedes System - nur an seinen eigenen Operationen orientieren kann, muss es ihm als Operationsbasis gelingen, einen spezifischen Umweltbezug herzustellen, der es ihm erlaubt, die Dinge unter seinem spezifischen Funktionsbezug zu assimilieren und zum Aufbau eigener Strukturen zu nutzen. Anschlussfähig für das Medizinsystem ist die Krankheit, entsprechend kann sie hier (und nicht an der Gesundheit) ihre Operationen und Behandlungsprogramme anschließen. − Die Medizin ist keine Unterabteilung des Wissenschaftssystems - Letzteres hat als Funktionsbezug die Wissensvermehrung, Ersteres die Krankenbehandlung. Die Differenz von Wissenschaft und einer Medizin, die sich in ihrer Handlungspraxis auf Wissenschaft beruft, erzeugt eine Grauzone, die nach einem personalen Interpreten verlangt, der im Einzelfall entscheidet, was denn nun zu tun sei. Hierdurch konstituiert sich die besondere Rolle des Arztes als einem professionellen Experten. Im Sinne eines „funktionellen Individualismus” muss dieser im konkreten Fall abwägen und entscheiden, was zu tun ist. − Ausgehend von dem Diktum, dass man nur jene Fragen entscheiden könne, die prinzipiell unentscheidbar seien, steht das Problem der Kontingenz im Zentrum einer systemtheoretischen Entscheidungstheorie. Nicht die Berechenbarkeit (wie in der Rational-Choice-Theorie), sondern die Unberechenbarkeit einer hyperkomplexen Welt bildet aus dieser Perspektive die Ausgangslage sozialer Entscheidungsprozesse. − Entscheidungen können im Luhmannʼschen Sinne als Handlungen verstanden werden, die auf eine an sie gerichtete Erwartung reagieren. Das Entscheiden wird hier nun als ein primär sozialer Prozess verstanden, denn es referiert auf einen signifikanten anderen. Das Wesen einer Entscheidung besteht nun darin, ob eine Erwartung erfüllt wird oder nicht. − Auch wenn man die Beziehung von Entscheidung und Entscheidungsträger als ein Zurechnungskonstrukt betrachtet, so bedeutet dies keinesfalls, dass dieser Vorgang nur eine Illusion darstellt, die zerbricht, falls sie durchschaut wird – also keine soziale Realität darstellt. − Organisationen stellen soziale Einheiten dar, die sich selbst beobachten und ihre eigenen Funktionsbezüge, sozusagen ihre Aufgaben, durch interne Entscheidungen setzen können. Sie rekrutieren eigenständig ihre Mitglieder und entscheiden über deren Aufnahme oder Einstellung. Sie legen Stellen- oder Arbeitsbeschreibungen fest, suchen spezifischen Kontakte bzw. Kooperationen mit der Außenwelt und formulieren Programme erfolgreicher Arbeit und entwickeln diesbezüglich Formen der Selbstbeobachtung, um zu evaluieren, ob sie ihren selbst gesteckten Anforderungen genügen. − Organisationen lassen sich als zwecksuchende Systeme auffassen. Sie entstehen durch Entscheidungen – also aus Kontingenz -, sind aber gleichzeitig gefordert, die Willkür ihrer Operationen zu verdecken. Aus diesem Grunde entfalten Organisation eine Reihe interner Strukturen, die ihre Entscheidungsfähigkeit herstellen und erhalten. Dies kann etwa über die Ausbildung von Hierarchien geschehen oder indem Entscheidungsprämissen und Entscheidungsprogramme formuliert werden. IV. Soziologie des Entscheidens 130 − Autoritäten sind aus systemischer Sicht zunächst als „eine den Kommunikationsprozess abkürzende Unterstellung” zu verstehen, die darin besteht, dass einer Person innersystemisch die Fähigkeit zugeschrieben, Unsicherheit adsorbieren zu können. Die Möglichkeit, Fehler und Schuld im Zweifelsfall einzelnen Individuen zuschieben zu können, öffnet einer Organisation zusätzliche Freiheitsgrade des Handelns. − Die Hyperkomplexität der Organisation-Umwelt-Beziehungen stellt zugleich die Grundlage wie das Problem von Organisationen dar. In diesem Sinne lassen sich die Entscheidungsparadoxien von Organisationen nicht durch Techniken oder Routinen lösen. Anmerkungen 1 Entgegen der verbreiteten Vorstellung, dass die Entscheidung für eine konstruktivistische Epistemologie zugleich auch einen Pluralismus in der wissenschaftlichen Wirklichkeitsinterpretation mit sich bringe und damit im Sinne eines everything goes bestenfalls noch ästhetische Kriterien die Legitimation für eine gelungene Analyse abgeben können, gehe ich hier mit Harré und Krauzs (1986) davon aus, dass ein methodologischer Objektivismus sehr wohl mit einer konstruktivistischen Position zu vereinbaren sind bzw. dass Relativismus nicht mit Perspektivenlosigkeit zu verwechseln ist. 2 Zum Vergleich, den Parallelen und Unterschieden siehe ausführlich Bohnsack 1999 (81ff.). 3 Während in der Methode der Objektiven Hermeneutik die Begründungsschritte und Überprüfungsschritte der Sinnrekonstruktion in Form eines Wechselspiels von induktiven und deduktiven Schritten einem formalen Kalkül folgen, also prinzipiell von jedem Forscher gangbar sind, verlangt der Schritt der Hypothesengeneration als abduktiver Schritt eine gewisse Kreativität des Forschers und ist deshalb nicht formalisierbar. Forschungspraktisch – jedoch nicht prinzipiell – kann es vorkommen, dass die richtige Hypothese noch nicht gefunden ist. Die Methode bleibt dabei in ihrem Geltungsanspruch objektiv, der Forscher kann sich jedoch im Einzelfall auf dem Irrweg befinden - wenngleich dies wiederum durch die deduktiven Schritte der Hypothesenfalsifikation kontrolliert werden soll. 4 »Soziale Deutungsmuster strukturieren Kommunikation, indem sie Limitationen einführen für das, was in bestimmten Situationen gesagt werden kann. Darin liegt jedoch keine Differenz zur allgemeinen Bestimmung von Semantik als gesellschaftlichem „Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln”, an denen Kommunikation Führung gewinnt. [...] Der objektiven Hermeneutik geht es dabei vor allem um die Rekonstruktion der nicht-thematischen oder nur fragmentarisch aufscheinenden Prämissen kommunikativer Selektionen. Hier liegt die spezifische Leistungsfähigkeit des Instrumentariums, das sie der Systemtheorie anbieten kann. Sie eröffnet damit die Möglichkeit, die kommunikative Bedeutung und die Evolution sozialer Semantiken im Vorfeld expliziter Thematisierung und literarischer Kondensierung zu untersuchen« (Schneider 1995: 129). 5 »Wir gehen nicht davon aus, daß es Systeme gibt. Aber wir gehen, so Luhmann, davon aus, daß es sinnvoll ist, „Überlegungen” anzustellen, die davon ausgehen, daß es Systeme gibt. Das heißt, wir verwenden ein Konzept zweiter Ordnung, dessen Leistung darin besteht, unser Wissen und unsere Fragen anders zu sortieren als bisher – etwa ausgehend von einer Kritik der Kausalitätsprämisse und von einer Einführung des Funktionsbegriffs. Der Systembegriff beschreibt, was wir beschreiben, und er beschreibt, wie wir etwas beschreiben. Und er führt, konsequent durchgeführt, dazu, daß wir unsere bisherige Beschreibungsweise erkennen und beginnen, mit neuen Beschreibungen zu experimentieren« (Baecker 2002: 102). 6 Diese Position des Verzichts auf Ontologie und Metaphysik ist allerdings von der Systemtheorie nicht bis in die allerletzte Konsequenz durchzuhalten. Kastl (1998) spricht gar von einer „insgeheimen Transzendenz der Autopoiesis”. 7 »Die Funktion der symbolisch generalisierten Kommunikationen ist es, Selektionen so zu konditionieren, daß Kommunikationen angenommen werden, obwohl dies von der Zumutung her unwahrscheinlich ist« (Luhmann 1998a: 382). 8 Gerade im Hinblick auf die Analyse latenter Strukturen innerhalb sozialer Wirklichkeiten in Organisationen erscheint die Systemtheorie als eine Inspirationsquelle, auf die die rekonstruktive Sozialforschung nicht verzichten sollte: »Die Systemtheorie gehört zu den Jokern der interdisziplinären und vor allem transdiziplinären Diskussion in den Wissenschaften des Jahrhunderts. Kaum hat sie sich in der Durchführung ihrer Möglichkeiten in der einen Disziplin erschöpft, taucht sie in einer anderen Disziplin wieder auf. Sie ist immer wieder für einen überraschenden, vielversprechenden und befreienden Anfang gut, verliert jedoch an Überzeugungskraft, sobald sie für die einzig mögliche Theorie gehalten wird. Das ist eine Eigenschaft, die sie mit dem Konstruktivismus, ihrer Erkenntnislehre, teilt, über den der Philosoph Hannes Böhringer einmal gesagt hat, daß er nur als Zeichnung, Skizze und Modell, aber nicht in dem Versuch seiner Vervollkommnung zu überzeugen vermag. Vielleicht hat eine Theorie immer diese Qualität eines Jokers, Anmerkungen 131 der die Dinge durcheinander bringt, indem er an Stellen Verzweigungen schafft, an denen man nicht mit ihnen rechnete, den man jedoch immer dann, wenn man einer Verzweigung folgt, wieder aus den Augen verleiert – bis er eine neue überraschende Verzweigung schafft« (Baecker 2002: 83). 9 Raymond Boudon bemerkt hierzu: »Das logische Atom der soziologischen Analyse ist daher der einzelne Akteur. Selbstverständlich agiert dieser Akteur nicht in einem institutionellen und sozialen Vakuum. Die Tatsache, daß seine Handlung im Kontext von Zwängen abläuft, also von Faktoren, die er als Gegebenheiten akzeptieren muß, bedeutet jedoch nicht, daß man sein Verhalten als ausschließliche Konsequenz aus diesen Zwängen qualifizieren kann. Die Zwänge sind nur einer der Faktoren, mittels derer wir die individuelle Handlung erfassen können. Mehrere der vorangegangenen Analysen legen den Gedanken nahe, daß im allgemeinen das Verstehen der vom Soziologen zwischen den Eigenschaften des Interaktionssystems und dem Verhalten des Individuums nachgewiesenen Kausalitätsbeziehungen nur möglich ist, wenn diese Verhaltensweisen als zweckorientierte Handlungen aufgefaßt werden. [...] In Anlehnung an die Paretianische Unterscheidung zwischen logischen Handlungen und nicht-logischen Handlungen muß der Soziologe in zahlreichen Fällen komplexere Analyseschemata für die individuelle Handlung verwenden als der Wirtschaftswissenschaftler« (Boudon 1980: 30). 10 »Das Lernen kann sogar als eine Variante der RC-Erklärung gelten. Es ist die „rationale” Selektion von Erwartungen und Bewertungen nach entsprechenden Erfahrungen des Organismus in einer Umgebung. Insofern ist auch der Versuch [...] die sogenannte „voluntaristische” gegen die „verhaltenstheoretische” Handlungstheorien auszuspielen, gegenstandslos. Gerade die neueren Entwicklungen in der Einstellungstheorie der kognitiven Sozialpsychologie zeigen, daß es hier in der Tat keinerlei grundsätzlichen Unterschied zwischen verhaltenstheoretischen S-R- und voluntaristischen S-O-RTheorien gibt« (Esser 2000: 260). 11 Auch wenn das der Rational-Choice-Theorie zugrunde liegende Kosten-Nutzen-Kalkül abstrakt und inhaltsleer formuliert ist, liegt dieser Theorie ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, hat also durchaus auch einen normativen Charakter: Das Individuum verfolgt aktiv und autonom seine Interessen und versucht zielgerichtet auf seine Umwelt einzuwirken. Entsprechend liegt der Schritt zu einer utiliaristischen Gesellschaftstheorie nahe: Ziel der Sozialordnung könne dann nur eine demokratische Gesellschaftsordnung sein, in der sich dann möglichst viele Individuum frei entfalten könnten (vgl. hierzu auch Coleman 1991: 5). Den Gedanken von Kappelhoff folgend, scheint diese extrem individualistische Position »nur vor dem Hintergrund der christlichen Tradition, die den Menschen als Ebenbild Gottes begreift« verständlich (Kappelhoff 2000: 219f.). 12 Inwieweit der Versuch von Esser gelingt, lebensweltliche mit nutzentheoretischen Erklärungsansätzen in Einklang zu bringen, ist eine andere Frage. Schmidt (2000) etwa sieht in seiner kritischen empirischen und theoretischen Studie den Versuch, phänomenologische Positionen mit der Rational-Choice-Theorie zu verbinden, als gescheitert an. Theorien rationalen Handelns hätten nur eine eingeschränkte empirische Relevanz zur Erklärung dessen, was in konkreten Lebenswelten vor sich geht. 13 »Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handelnʼ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußerliches oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Sozialesʼ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (Weber, 1980: 1). 14 Weber geht es in seiner Methode nicht um die Feststellung äußerlich feststellbarer wiederkehrender Regelmäßigkeiten, sondern um die »richtige kausale Deutung typischen Handelns, was bedeutet, daß der als typisch behauptete Hergang sowohl (in irgendeinem Grade) sinnadäquat erscheint wie (in irgendeinem Grade) als kausal adäquat festgestellt werden kann. Fehlt die Sinnadäquanz, dann liegt selbst bei größter und zahlenmäßig in ihrer Wahrscheinlichkeit präzis angebbarer Regelmäßigkeit des Ablaufs (des äußeren sowohl wie des psychischen) nur eine unverstehbare (oder nur unvollkommen verstehbare) statistische Wahrscheinlichkeit vor« (Weber, 1980: 5). 15 Zur Vernachlässigung der Dimension des kommunikativen Handelns bei Weber siehe auch Habermas (1997: 377ff.). 16 Wenn nur die anderen einen anerkennen können, dann wird auch die Präferenzstruktur zu einer Funktion der anderen und ist nicht mehr als invariant zu betrachten, der Handelnde wird somit auch zu einer Funktion des Sozialen, und in diesem Sinne würde man zu einem komplexeren Theoriedesign kommen, in welchem das, was als Variable und Konstante zu gelten hat, nicht mehr nur in einer Richtung festzulegen ist. 17 Der Begriff Werterwartungstheorie wird weit gehend synonym mit den Begriffen „Nutzentheorie” und SUE-Theorie (subjective utility expectation theory) verwendet. 18 »Die Annahmen der WE-Theorie [Werterwartungstheorie] lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen. Die WETheorie geht davon aus, daß jedes Handeln eine Selektion, letztlich also: eine Entscheidung zwischen Alternativen ist. „Wahl” und „Entscheidung” meint, anderes als im üblichen Sprachgebrauch keineswegs, daß es sich um ein bewußtes, abwägendes Tun handelt, sondern nur daß aus mehreren möglichen Alternativen eine schließlich zum Zuge kommt – wie und warum auch immer. Zweitens wird angenommen, daß jedes derart selegierte Handeln gewisse Folgen hat. Die Folgen können drittens vom Akteur als unterschiedlich zuträglich empfunden werden – positiv oder negativ in verschiedenen 132 IV. Soziologie des Entscheidens Graden, oder aber auch neutral. Entsprechend sind die Folgen für den Akteur mit unterschiedlichen Bewertungen versehen. Die Folgen treten viertens mit dem Vollzug des Handelns jeweils mit einer unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit ein, die der Akteur als Erwartungen gespeichert hat. Die Alternativen werden fünftens einer Evaluation unterzogen: Sie werden nach einer gewissen Regel gewichtet. Diese Gewichte der Alternativen werden als Wert-Erwartungen bezeichnet. Wir nennen sie auch WE-Gewichte oder EV- bzw. EU-Gewichte, von „expected value” bzw. „expected utility” als andere Ausdrücke für die Wert-Erwartung. [...] Schließlich wird sechstens eine Selektion vorgenommen und jene Alternative aus allen betrachteten ausgeführt, deren WE- bzw. EU-Gewicht im Vergleich maximal ist« (Esser 1999: 248). 19 Esser erläutert seine Überlegungen etwa durch das Beispiel der Entscheidung Hitlers zur weiteren Kriegseskalation an: Warum Hitler trotz der Einsicht, dass der Krieg schon verloren ist, 1941 den USA noch den Krieg erklärt, erklärt sich durch seinen Wunsch, der größte Mann der Geschichte werden. Da es im Hinblick auf dieses Ziel keinen Unterschied mache, ob man den totalen Sieg oder die totale Niederlage erlange, mache, stelle das Verhalten Hitlers, die kriegerischen Auseinandersetzungen noch auszuweiten, eine folgerichtige Konsequenz seiner Präferenzstruktur dar (Esser 1999: 202ff.). 20 Dass die Konzeption einer auf Regeln gegründeten „Objektiven Hermeneutik” auch anders gehen kann, zeigt etwa Oevermann auf: Indem er die Beziehung vom Allgemeinen und Speziellen dialektisch und nicht deterministisch konzipiert, vermeidet er die typischen Reduktionismen der Rational-Choice-Theorie und erlaubt so die Integration sozialisations- und kompetenztheoretischer Aspekte in sein Erklärungsmodell (vgl. Kap. IV.5). 21 »If men define situations as real, they are real in their consequences« (Thomas/Thomas 1928: 572). 22 Die Theoretiker des Rational Choice übersehen jedoch in ihrer Rezeption der Soziobiologie, dass in der soziobiologischen Argumentation keinesfalls der individuelle Nutzen eines Akteurs im Vordergrund steht, sondern der abstrakte Selektionsvorteil einer bestimmten genetischen Disposition. Für die Soziobiologie erklärt sich altruistisches Verhalten, wie etwa die Verwandtschaftshilfe, nicht durch den Individualnutzen, den der gemeinnützig handelnde Akteur für sich verbuchen kann, sondern nur im Hinblick auf das überindividuelle Kriterium des durchschnittlichen Selektionsvorteils im Genpool. Diese Position scheint – wenn einmal richtig durchdacht - doch recht weit von dem individualistischen Menschenbild der Rational-Choice-Theorie entfernt zu sein. Zur kurzen Illustration des Gesagten, ein Zitat aus Dawkins „Egoistischem Gen”: »Wir sind Überlebensmaschinen - Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden. Dies ist eine Wahrheit, die mich immer noch mit Staunen erfüllt. Obwohl sie mir seit Jahren bekannt ist, scheine ich mich niemals an sie gewöhnen zu können, und eine meiner Hoffnungen geht dahin, daß es mir gelingen möge, auch andere in Erstaunen zu versetzen. (Dawkins 1998: 18). Zu den epistemologischen Grundannahmen des soziobiologischen Denkens siehe auch Vogd (2001d). 23 Die Frage der relationalen Macht ergibt sich aus der Struktur von sozialen Netzwerken. Dabei besitzt ein Akteur umso mehr relationale Macht, je höher die Zahl der Tauschalternativen ist, auf die er zurückgreifen kann (vgl. auch Cook und Emmerson 1984). 24 Wie Ortmann et al. feststellen, kommt die Gesellschaft in diesem Bild nicht vor. »Sie könnte ins Bild kommen als »soziale Landschaft organisatorischer Entscheidungsalternativen«, als »nicht nach individuellen Bedürfnissen geregelte Streckenführung«, als »Fahrpläne« oder »Straßenverkehrsordnungen«, als »sozial gesetzte Nötigungen für die Akteure, bestimmte Wege zu nehmen und bestimmte Ziele zu erreichen« (Ortmann, et al. 2000: 16). 25 Vgl. Bateson (1992: 241ff.). 26 Denn es geht »um die Beibehaltung oder Verbesserung ihrer Position, das heißt um die Bewahrung oder Vermehrung des nur innerhalb dieses Feldes erzeugten spezifischen Kapitals, zu kämpfen; und sie tragen damit dazu bei, daß auch auf allen anderen die der Konkurrenz entspringenden, oft als unerträglich empfundenen Zwänge lasten (natürlich nur, soweit man sich nicht durch einen heroischen Verzicht selbst aus dem Spiel ausschließt – ein Schritt, der unter dem Gesichtspunkt der illusio freilich den gesellschaftlichen Tod darstellt, als etwas nicht Auszudenkendes). Kurz, niemand, nicht einmal die, die das Spiel dominieren, kann dabei gewinnen, ohne sich auf das Spiel einzulassen, ohne ihm zu verfallen; was besagt, daß es kein Spiel gäbe ohne innere, tief, nämlich körperlich empfundene Teilnahme am Spiel, ohne jenes Interesse am Spiel selbst, das den unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Interessen der verschiedenen Spieler zugrunde liegt, den Wünschen und Bestrebungen, die sie erfüllen und die, durch das Spiel hervorgebracht, von der Position abhängen, die sie darin innehaben« (Bourdieu 2001: 196f.). 27 Hierzu Bourdieu: »Jede Art Kapital (ökonomisches, kulturelles, soziales) tendiert (in unterschiedlichem Grade) dazu, als symbolisches Kapital zu funktionieren (so daß man vielleicht genauer von symbolischen Effekten des Kapitals sprechen sollte), wenn es explizite oder praktische Anerkennung erlangt: die Anerkennung als Habitus, dessen Strukturen den Strukturen des Raumes entsprechen, indem er sich hervorbrachte. Mit anderen Worten: Das symbolische Kapital [...] ist nicht eine besondere Art Kapital, sondern das, was aus jeder Art von Kapital wird, das als Kapital, das heißt als (aktuelle oder potentielle) Kraft, Macht oder Fähigkeit zur Ausbeutung verkannt, also legitim anerkannt wird. Genauer gesagt: Das Kapital existiert und agiert als symbolisches Kapital [...] in Beziehung zu einem Habitus, der darauf eingestellt ist, es als Zeichen, und zwar als Zeichen von Wichtigkeit, wahrzunehmen, das heißt, es in Abhängigkeit von kognitiven Strukturen zu kennen und anzuerkennen, die geeignet und entsprechend ausgerichtet sind, ihm Anerkennung Anmerkungen 133 zu schenken, weil sie selbst übereinstimmen mit dem, was es ist. Als Produkt der Verklärung einer Machtbeziehung zu einer Sinnbeziehung befreit das symbolische Kapital von der Bedeutungslosigkeit als Mangel an Wichtigkeit und Sinn« (Bourdieu 2001: 311). 28 Insbesondere geschieht dem Wissenschaftler leicht der scholastische Irrtum, davon abzusehen, dass seine Vernunft, seine Modelle und Konzepte selbst historisch bedingt sind und auf den Gesetzen seines spezifischen Feldes beruhen, das jeweils eigene Referenzen erzeugt. Entsprechend liegt für Bourdieu ein Grundproblem der akademischen Forschung in der Überbetonung der scholastischen Vernunft mit ihren expliziten und impliziten Rationalitätsannahmen und der daraus resultierenden Verwechslung von Theorie und praktischem Sinn (Bourdieu 2001: 82). Siehe hierzu auch Bourdieu (1998). 29 Kursiv im Original. 30 Die »absolute Macht« würde dann darin bestehen, den »anderen alles rationale Antizipieren zu versagen, sie in absoluter Ungewißheit zu belassen und ihnen keinerlei Anhaltspunkte zu geben, die ihnen ermöglichen, vorauszusehen, was geschehen wird« (Bourdieu 2001: 294). Die absolute Macht würde keiner Regel folgen. Sie »folgt der Regel, keiner zu folgen. Ja, schlimmer noch: die Regel jedes Mal oder nach Belieben und nach Maßgabe ihrer Interessen zu ändern« (Bourdieu 2001: 295). 31 »Eine der Hauptfunktionen des Habitusbegriffs besteht darin, zwei einander ergänzende Irrtümer aus dem Weg zu räumen, die beide der scholastischen Sicht entspringen: einerseits die mechanistische Auffassung, die das Handeln für die mechanische Folge äußerer Ursachen hält, andererseits die finalistische, die – so namentlich die Theorie des rationalen Handelns – dafürhält, daß der Agierende frei, bewußt und, wie manche Utilaristen sagen, with full understanding handelt, wobei die Handlung aus der Berechung von Gewinnchancen hervorgeht. Gegen die eine wie gegen die andere Theorie ist einzuwenden, daß die sozialen Akteure über eine Habitus verfügen, den vergangene Erfahrungen in ihren Körper einprägten: Dieses System von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata ermöglicht es, praktische Erkenntnisakte zu vollziehen, die auf dem Ermitteln und Wiedererkennen bedingter und üblicher Reize beruhen, auf die zu reagieren sie disponiert sind, und ohne explizite Zwecksetzung noch rationale Mittelberechnung Strategien hervorbringen, die – freilich in den Grenzen der strukturellen Zwänge, aus denen sie resultieren und die sie definieren – angemessen sind und ständig erneuert werden« (Bourdieu 2001: 177). 32 »Wenn den Habitus und das Habitat, die Dispositionen und die Position, den König und seinen Hof, den Chef und sein Unternehmen, den Bischof und die Diözese dieselbe Geschichte umtreibt, dann kommuniziert Geschichte gewissermaßen mit sich selbst, reflektiert sie in sich selbst. Der doxische Bezug zur heimatlichen Welt ist eine Beziehung der Zugehörigkeit und des Besitzes, in der von der Geschichte besessene Körper sich unmittelbar die Dinge aneignet, in denen dieselbe Geschichte wohnt« (Bourdieu 2001: 194f.). 33 Der Begriff des Unbewussten ist bei Bourdieu keinesfalls im psychoanalytischen Sinne als ein verborgener Triebkonflikt zu verstehen, sondern bezeichnet den riesigen Komplex verkörperten Wissens, der durch vergangene Erfahrungen geformt wird, der - da er eben seinem eigenen Erkenntnisvorgang selbst entspricht - sich nicht seiner eigenen Bedingungen bewusst sein kann: »Das „Unbewußte”, [...] ist in Wirklichkeit nämlich immer nur das Vergessen der Geschichte, von der Geschichte selber erzeugt, indem sie die objektiven Strukturen realisiert, die sie in den Habitusformen herausbildet, diesen Scheinformen der Selbstverständlichkeit. Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart« (Bourdieu 1997: 105). 34 Bourdieus Analyse wendet sich hier selbstreflexiv den Grundlagen des eigenen Denkens und Erkennens zu und bringt hiermit die Subjektivität wieder in den Analyseprozess ein, jedoch als eine objektivierte „Subjektivität”, die nun in ihrer jeweiligen Rationalität als eine historisch und sozial bedingte Subjektivität begriffen wird. 35 »Die Logik ist das Unbewußte einer Gesellschaft, die die Logik erfunden hat. Die logische Handlung, wie Pareto sie definiert, oder das rationale Handeln im Sinne Webers sind Handlungsweisen, die, da sie für den, der sie vollzieht, wie für den, der sie beobachtet, den gleichen Sinn haben, nichts ihnen äußerliches kennen, keinen Überschuß an Sinn außer dem, daß sie von den historischen und sozialen Bedingungen dieser perfekten Durchschaubarkeit absehen« (Bourdieu 2001: 205f.). 36 »Und obwohl sie dem Anschein nach der Theorie des Habitus als eines Produkts von Konditionierungen, die zur Reaktion auf übliche und bedingte Reize stimulieren, sehr nahesteht, schreibt die Entscheidungstheorie von Bayes, der zufolge die Wahrscheinlichkeit als ein „rationaler Grad an (individuellem) Glauben” interpretiert werden kann, der „Konditionalisierung” (verstanden als Einpassung der neuen Informationen in die Glaubensstruktur) keine dauerhafte Wirkung zu; sie geht davon aus, daß die rationalen Glaubensgrade – die subjektiven Wahrscheinlichkeiten-, die verschiedenen Ereignissen zugemessen werden, sich entsprechend neuer Tatsachen kontinuierlich (was nicht falsch ist) und vollständig verändern (was nie völlig richtig ist). Selbst wenn man anerkennt, daß Handeln von der Information abhängt und diese nicht vollständig sein kann, daß das rationale Handeln seine Grenzen in den Grenzen der verfügbaren Information findet und daß ausschließlich wohlinformiertes rationales Handeln die Bezeichnung als „vernünft- 134 IV. Soziologie des Entscheidens iges Handeln” – prudential – verdient, so wird doch das rationale Handeln, verstanden als eines, das die mit größter Wahrscheinlichkeit besten Folgen zeitigt, als Ergebnis einer Entscheidung gedacht, die auf Überlegung beruht, also auf der Prüfung der möglichen Folgen der Wahl zwischen verschiedenen Alternativen und auf der Abwägung der Vorteile der verschiedenen Handlungen im Hinblick auf ihre Folgen. Angesichts solcher Konstruktionen kann man sich stets nur fragen, welchen Status man ihnen geben soll: Handelt es sich um eine normative Theorie – wie soll entschieden werden? Oder um eine deskriptive Theorie – wie treffen Akteure Entscheidungen? Handelt es sich um eine Regel im Sinne von Regelmäßigkeit – es geschieht regelmäßig, daß - oder um eine Regel im Sinne einer Norm – die Regel ist, daß -? Dem Problem entzieht man sich auch dadurch nicht, daß man das Unbewußte oder irgendeine ominöse Intuition in Anschlag bringt« (Bourdieu 2001: 282). 37 Der Versuch durch externe Berater auf die Prozesse im Krankenhaus Einfluss nehmen zu wollen ist insbesondere dann zum Scheitern verurteilt, wenn einerseits die impliziten Regeln und Machtverhältnisse des jeweiligen Feldes nicht berücksichtigt werden und andererseits die Außenseiterrolle des Beraters nicht thematisiert wird. Zur Analyse eines Beratungsprojektes aus Bourdieuʼscher Sicht siehe auch Wallenczus (1998), zur mikropolitischen Untersuchung von Organisationsberatungsprozessen im Krankenhaus Iding (2000). 38 Da auch Nichtstun und Schweigen innerhalb der sozialen Welt einen Ausdruckscharakter haben, gilt hier das metakommunikative Postulat, dass man nicht nicht kommunizieren kann. 39 Aus der analytischen Perspektive von Oevermanns „Objektiver Hermeneutik“ ist die Krise der Normalfall, während die Routine die Ausnahme darstellt. 40 Oevermann (1995: 94) bezeichnet die »Selbst-Szientifizierung durch Selbst-Subsumption unter wissenschaftliche Theorien« als eine »technokratische Regression«, in der »die Autonomie zugunsten einer Aufgeklärtheit aufgegeben wird«. 41 Illustrativ im Hinblick auf eine entwicklungsspezifische Typik ärztlichen Handelns ist das Buch „Arzt sein – Mensch bleiben” von Wettreck (1999). 42 Oevermann charakterisiert in seinem Strukturmodell der Religiosität das Spezifische der Religion durch drei Merkmale. Zunächst stellt sich »wegen des grundsätzlich gegebenen Bewußtseins von der Endlichkeit von Praxis« unumgänglich ein »Bewährungsproblem«. Insbesondere mit der Antizipation des Todes zeigt sich die potenzielle Krise in ihrer radikalsten Form. Dieses Bewährungsproblem kann nie endgültig gelöst werden, da sich mit jeder Lösung einer aktuellen Krise wieder die Möglichkeit neuer Krisen eröffnet, die wiederum bewältigt werden müssen. Nach Oevermann ist die »Paradoxie der Bewährungsproblematikpraktisch lebbar, wenn positive Kriterien der Bewährung« zur Verfügung stehen. Hieraus leitet sich das zweite Merkmal der Religion ab: »Die nicht stillbare Bewährungsdynamik erfordert also einen Bewährungsmythos, der grundsätzlich über Herkunft und Zukunft sowie über die aktuelle Identität der eigenen Lebenspraxis so Auskunft geben kann, daß darin die Unverwechselbarkeit der eigenen Lebenspraxis verbürgt ist«. Dieser Bewährungsmythos ist nicht rational ableitbar, sondern besteht in einer »suggestiven Evidenz«, die im kollektiven Verbürgtsein einer Gefolgschaft oder Gemeinschaft abgesichert wird. (Oevermann 1995: 63ff.). 43 Der naturwissenschaftliche Bewährungsmythos (entspricht hier dem abstrakten Typus einer reinen naturwissenschaftlichen Profession, die wohl am ehesten an den Universitätskliniken zu finden ist) gleicht dem Leiden eines Sisyphus, der den Stein des Todes und der Krankheit immer wieder auf den Berg schiebt, um dann dem nächsten Leiden begegnen zu müssen, sich dabei jedoch seiner Aufgabe nicht entziehen kann. 44 Entsprechend den spezifischen, im Sinne von Oevermann als objektive Sinnstrukturen geltenden Regeln der medizinisch-professionellen Interaktionszusammenhänge ist davon auszugehen, dass eine Professionsethik eine Spezialethik darstellt, die in ihren Maximen nicht unbedingt mit religiösen, humanistischen oder sonstigen Maximen übereinstimmen muss. 45 Der Charisma-Begriff meint hier im Sinne von Oevermanns Strukturmodell der Religiosität die Haltung, auch in Anbetracht von Krise und Unsicherheit, der Zukunft mit einer Heilserwartung entgegentreten zu können. Dies geht hier eben nicht mehr über den Rekurs auf rationales Wissen, sondern nur über den Rekurs auf einen suggestiv verbürgten Bewährungsmythos. 46 Die Ethik der Praxis und der Reflexion der Wissenschaft sind bei Oevermann grundsätzlich zwei unterschiedliche Dinge. »Entscheidungen werden eben nur in der Praxis getroffen, nicht in der Wissenschaft. Deshalb muß man zwischen zwei ganz verschiedenen Kriterien unterscheiden: einer methodischen Kritik, in der es ausschließlich um Schlußfolgerungen geht, und einer praktischen Kritik, in der es darüber hinausgehend um Fragen der ethischen und moralischen Begründbarkeit praktischer Lebensverhältnisse geht« (Oevermann 1996a: 11). 47 Die Form des Systems nimmt hier die Form eines Paradoxons an, denn die Differenz zwischen System und Umwelt, die dieses System setzt, wird wieder in das System eingeführt. Luhmann greift zur formalen Beschreibung dieses selbstreferenziellen Prozesses auf den Kalkül der Form von Spencer-Brown (1972) zurück, indem als „erster” Beobachtungsakt ein Unterschied, ein „Etwas” gegenüber dem „unmarked space” gesetzt wird, um dann diesen Unterschied als zweiten Schritt der Systembildung wieder in sich selbst einzuführen. Während in der klassischen Logik selbstbezügliche Formen als Paradoxien verboten sind, stellt es mathematisch weniger ein Problem dar, Gegenstände als Funktionen ihrer selbst zu beschreiben. Anmerkungen 48 135 Es macht durchaus Sinn, Zellen als eigenständige Systeme in einer Umwelt zu betrachten, die Organe, Körper oder gar Menschen enthält - etwa immer dann, wenn die Zellen das nicht tun, was sie eigentlich sollen (z. B. ein Geschwulst ausbilden). 49 »Die Systemtheorie verlängert zunächst nur die klassische Welttheorie, indem sie mit Hilfe des kybernetischen Erklärungsprinzips jedes System als Funktion seiner selbst beschreibt: S = f (S). Jedes System ist eine Funktion der Einschränkungen, die es konstituieren. Das ist genauso tautologisch wie die klassische Welterklärung. Allerdings wird die Kausalität in einem zweiten Schritt gespalten, indem die Formel erweitert wird zu der Behauptung, daß jedes System eine Funktion seiner selbst und seiner Umwelt ist, und letzteres in der Weise, daß es sich in dieser Umwelt von dieser Umwelt unterscheiden können muß. Das System wird als der Unterschied definiert, den es macht: S = f (S, U). Das System S ist eine Funktion f seiner selbst, S, und seiner Umwelt U. In einem dritten Schritt, der innerhalb der Systemtheorie bis heute zwischen biologischen und soziologischen Theorievarianten auf der einen Seite und ingenieurwissenschaftlichen Varianten auf der anderen Seite umstritten ist und unter dem Paradigma der „Selbstorganisation” nach wie vor für Unruhe sogt, wird das System geschlossen und damit zur Funktion seiner Selbst erklärt: S = S (S, U). Damit handelt sich die Systemtheorie das Problem einer Oszillation zwischen Tautologie [S = S (S)] und Paradoxie [S = S (U)] ein, das im Nachhinein verständlich macht, welche theorietechnische Leistung in der Einführung des Funktionsbegriffs bestand. Das kleine f verschob die Frage nach der Reproduktion des Systems auf ein Drittes, das sich weder in der Identität des Systems (S = S) noch in der Differenz zwischen System und Umwelt (S ≠ U) erschöpfte. Dieses Dritte ist der Joker, den niemand je zu Gesicht bekam, dem die Systemtheorie jedoch nicht aufhört nachzustellen« (Baecker 2002: 86). 50 Hierzu Luhmann: »Wir müssen uns jetzt der Frage stellen, wieso das Problem der doppelten Kontingenz »sich selbst löst«; oder weniger zugespitzt formuliert: wie es dazu kommt, daß das Auftreten des Problems einen Prozeß der Problemlösung in Gang setzt. Entscheidend hierfür ist der selbstreferentielle Zirkel selbst: Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will. Dieser Zirkel ist, in rudimentärer Form, eine neue Einheit, die auf keines der beteiligten Systeme zurückgeführt werden kann. In dieser Einheit hängt die Bestimmung eines jedes Elements von der eines anderen ab, und gerade darin besteht die Einheit. Man kann diesen Grundtatbestand auch als eine sich selbst konditionierende Unbestimmtheit charakterisieren: Ich lasse mich von Dir nicht bestimmen, wenn Du Dich nicht von mir bestimmen läßt. Es handelt sich, wie man sieht, um eine extrem instabile Kernstruktur, die sofort zerfällt, wenn nichts weiter geschieht. Aber diese Ausgangslage genügt, um eine Situation zu bilden, die die Möglichkeit birgt, ein soziales System zu bilden. [....] Dieses soziale System gründet sich mithin auf Instabilität. Es realisiert sich deshalb zwangsläufig als autopoietisches System. Es arbeitet mit einer zirkulär geschlossenen Grundstruktur, die von Moment zu Moment zerfällt, wenn dem nicht entgegenwirkt wird« (Luhmann 1993: 166.). 51 Eine ausführliche Diskussion des Kommunikationsbegriffes findet sich in Luhmann (1993: 191-241). 52 »Die unausgesprochene Einschätzung der Funktion von Kommunikation scheint auf den ersten Blick eine rein psychische Leistung zu sein und zu bleiben, gerade wenn sie nicht formuliert wird; [...] Eine genauere Analyse würde jedoch rasch zeigen, dass eine Verkapselung solcher Kalkulationen im Einzelbewusstsein keinerlei soziale Folgen hätte. Ein Beitrag zur Autopoiesis von Kommunikation kann nur über Kommunikation laufen, wie immer anspruchsvoll die Mitwirkung von Bewußtsein vorausgesetzt wird. Soziale Resonanz ist nur zu gewinnen, wenn verstanden wird, um was es geht« (Luhmann 2000a: 61). 53 Serres (1981) folgend können letztlich alle Systeme in dem Sinne als Parasiten verstanden werden, als dass sie sich von Umwelten nähren, die ihrerseits selbst Systembezüge beinhalten, die hierdurch zumindest irritiert werden. Der »Parasit« als »ausgeschlossener Dritter« würde in diesem Sinne gar die Elementareinheit des Lebendigen darstellen, der - indem er ausnützt - andere dahin treibt, weiter zu evolvieren. 54 Im Sinne von Gotthardt Günthers polykontexturaler Logik gibt es keinen »Ort der Orte«, keinen »ausgezeichneten Ort der Begründung«, keine übergreifende Rationalität oder Logik, denn alle Kausalitäten bleiben in dem Sinn gleichzeitig wahr, dass die jeweiligen Ursache-Wirkungs-Hierarchien erhalten bleiben. Für das Gesamtsystem existiert jedoch keine letzte Begründung mehr, denn: »Was Grund und was Begründetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begründung. Der Wechsel des Standortes regelt den Umtausch von Grund und Begründetem. Jeder Ort der Begründung ist in diesem Fundierungsspiel Grund und Begründetes zugleich. Orte sind untereinander weder gleich noch verschieden; sie sind in ihrer Vielheit voneinander geschieden. Die Ortschaft der Orte ist bar jeglicher Bestimmbarkeit« (Kaehr 1993: 170). 55 »Gotthard Günther (1978) bezeichnet die positive Seite der Unterscheidung als Designationswert und die negative als Reflexionswert. Darin kommt bereits ein (logischer) Funktionsunterschied zum Ausdruck: Die Designation dient nur der Bezeichnung dessen, was in ontologischer Sprache Sein oder Seiendes heißt. Der nicht-designierende Wert bleibt somit frei für andere Aufgaben, die sich zunächst allgemein als Reflexion der Einsatzbedingungen des Designationswertes begreifen lassen. Übersetzt man diese Unterscheidung aus der Logik in die empirische Systemforschung, bekommt der positive Wert den Sinn, die Anschlussfähigkeit der Operationen des Systems für Operationen des Systems zu bezeichnen. Das System kann nur auf dieser Seite operieren. Der negative Wert ist dann wiederum frei, um den Sinn solcher Operationen als Information beobachtbar zu machen mit der Maßgabe, dass auch die Beobachtung nur in der Form einer systeminternen Operation erfolgen kann. Binäre und in sich asymmetrisch gebaute Codes haben ein komplexes Verhältnis zu anderen Unterscheidungen, auf die die operative Schließung eines Systems sich gründet. Vor allem ist wichtig, dass sie quer stehen zu Unterscheidung von 136 IV. Soziologie des Entscheidens System und Umwelt bzw. Selbstreferenz und Fremdreferenz. Es wäre eine Fehlanwendung eines Codes, wenn das System sich selbst mit dem positiven Wert und die Umwelt mit dem negativen Wert auszeichnen würde, denn damit wäre die mit der Codierung eingeführte Beweglichkeit wieder verschenkt. [...] Die Codierung setzt das System jedoch in die Lage, Überraschungen als Irritationen zu behandeln, sie zu digitalisieren, sie als Problem der Zuordnung zu Codewerten aufzufassen und entsprechende Programme für ihren Gebrauch zu entwickeln – kurz: zu lernen« (Luhmann 2000b: 66/67). 56 »Wenn es ein Code sein soll, muß ein Positivwert und ein Negativwert nachweisbar sein, so daß die Operationen durch eine Asymmetrie strukturiert werden. Der Positivwert vermittelt die Anschlußfähigkeit der Operationen des Systems, der Negativwert vermittelt die Kontingenzreflexion, also die Vorstellung, es könnte auch anders sein. Im Anwendungsbereich des Systems der Krankenbehandlung kann dies nur heißen: der positive Wert ist die Krankheit, der negative Wert ist die Gesundheit. Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine Gesundheit« (Luhmann 1990: 187). 57 Jost Bauch (1996) diagnostiziert für die Zukunft eine Erweiterung des medizinischen Codes in Richtung einer gesundheitsorientierten Unterscheidung in der Codierung „lebensförderlich/lebenshinderlich”. In dieser würde die Gesundheit gar zum zentralen Leitwert gesellschaftlichen Handelns. Zur Bewertung dieses Anliegens ist hier der Kritik von Stollberg (2001: 63f.) zuzustimmen, dass es sich bei Bauchs Versuch weniger um eine Rekonstruktion der systemtheoretischen Funktionsbezüge im Luhmannʼschen Sinne handle, denn um die Reformulierung biopolitischer Argumente. 58 Manche Vertreter der Bewegung der so genannten evidence based medicine gehen davon aus, dass für mehr als 75 % Prozent der üblichen alltäglichen medizinischen Praktiken die wissenschaftliche Evidenz noch nicht erwiesen ist (vgl. Deppe 2000: 242f.). 59 Möglicherweise entfaltet das Medizinsystem in sich Paradoxien, die dann weder durch mehr Medizin noch durch eine bessere Medizin in den Griff zu kriegen sind. Sowohl für die Medizin als auch für die Politik, welche die Probleme der Medizin im Wesentlichen für Steuerungs- oder Finanzierungsprobleme hält, ist dies eine befremdliche Perspektive. Für die Medizin selbst dürften solche Überlegungen keine Rolle spielen, denn warum und wozu sollte sie auf solche Dekonstruktionsversuche von außen reagieren? In der Systemtheorie finden sich auch abgemilderte, weniger radikale Positionen: Renate Mayntz geht etwa anlehnend an Parsons noch von einem gesellschaftlichen Gesamtsinn der funktionellen Teilsysteme im Sinne einer sinnhaften Spezialisierung aus (Mayntz 1988: 17) – hier erscheinen dann die Folgeprobleme des Medizinsystems eher als »Entfremdung auf der Mikroebene«, als »Probleme der Regulation ungleicher Teile« und als »Gefährdung der Integration des Gesamtsystems«, also als Steuerungsprobleme, die durch kluge Interventionen mehr oder weniger gut in den Griff zu bekommen sind. 60 Hierzu wieder Stichweh: »Moderne Professionen sind so etwas wie eine Reaktion auf eine Kontingenzsteigerung durch Wissenschaft, die u. a. die prekären Grenzübergänge im Verhältnis von Wissensbasis, Handlungsvollzug und Handlungserfolg genauer hervortreten läßt: die Wissensbasis selbst wird zu komplex, um noch ein unproblematisches Verhältnis zur Handlungspraxis unterhalten zu können; in den Handlungsvollzügen wird in dem eben erläuterten Sinn mitrealisiert, auf wie viel Nichtwissen und Ungewißheit sie aufruhen, und schließlich werden Handlungserfolge präziser zurechenbar, womit auch ihr Nichteintreten wahrnehmbar wird (Stichweh 1987: 230). 61 Dafür, dass diese fundamentale Systemdifferenz wirklich besteht und nicht überwunden werden kann, sprechen auch die empirischen Befunde, dass Versuche, die Arzt-Patient-Beziehung in Form eines shared-decion-making zu demokratisieren, zwar auf der oberflächlicher Ebene manchmal zu gelingen scheinen, dann aber beim genaueren Hinsehen im Hinblick auf ihre ursprüngliche Intention als gescheitert gesehen werden müssen (siehe hierzu etwa Braddock, et al. 1999). 62 Auch in der Frage des freien Willens wechselt die Systemtheorie hier vom Sein zum Prozess. Die Epistemologie, die Frage, welche Rolle man in der Welt einnimmt, wird hier sozusagen selbst zu einer Frage der Entscheidung, denn in jeder Epistemologie müssen nach Foerster (350ff., 1994) zwei grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden (A und B). A. Die Entscheidung der Stellung des Menschen im Universum: Bin ich Beobachter (1) oder bin ich Teil des Universums (2). B. Die Frage der Kausalität meiner Erfahrung: Bin ich Opfer (3) oder bin ich Schöpfer meiner Erfahrung (4). Die Entscheidung dieser Fragen hat Konsequenzen für unser Leben: 1. Wahl von (1) und (3): Ich lebe in einer Welt des „Muss”. Die geschaffene „Objektivität” beseitigt meine Verantwortung. 2. Wahl von (2) und (4): Ich bin verbunden mit der Welt und bin mit meinem Handeln verantwortlich für die Entwicklung der Welt. Die letztere Option erhöht die Möglichkeit der Autoevolution und eröffnet ein neues Spektrum evolutionärer Chancen. Eine Reihe von Soziobiologen gehen in diesem Sinne davon aus, dass das psychische Bewusstsein nur deshalb entstanden ist, um jenseits von Programmroutinen Freiheitsgrade zu gewinnen, etwa indem man dadurch den Vorteil erlangt, andere Systeme nun besser überlisten zu können (siehe etwa Nooan 1987). 63 Luhmanns entscheidungstheoretischer Ansatz würde auch erklären, warum die »Informationssuche und -sammlung in Organisationen ganz anders verlaufen, als von der Theorie rationalen Entscheidens vorausgesagt werden würde: Informationen machen gesprächig, sie haben einen symbolischen Wert, und sie sind nützlich für den Fall, daß die zu treffende oder getroffene Entscheidung in Diskrepanz gerät zu Erwartungen. Entsprechend werden Informationen in Anmerkungen 137 weitem Umfange gegen ihren angegebenen Sinn gelesen: sie verraten etwas über die Entscheidungserwartung des Informanten; sie drängen die Entscheidung in eine Richtung, weil jemand das wünscht. Von Mitgliedern in Organisationen wird dementsprechend „politisches“ Gespür verlangt: Sie müssen sensibel sein in bezug auf das Erwartungsnetz, das die Entscheidung beherrscht. Unter Zeitbeschränkungen wird die Informationssuche weitgehend auf das Abtasten von Erwartungskonflikten beschränkt« (Luhmann, 1996: 287). 64 »Mit einer von Michel Serres eingeführten Metapher kann man daher sagen: der Entscheider ist der Parasit seines Entscheidens. Er profitiert davon, dass der Entscheidung eine Alternative zu Grunde liegt. Die Entscheidung vergeht, er bleibt. Die Entscheidung kann allenfalls noch Thema weiterer Kommunikationen sein, den Entscheider kann man fragen (und damit anerkennen)« (Luhmann 2000a: 137). 65 »Und müsste man dann nicht sagen, dass der Handelnde erst an der sozialen Resonanz merkt, dass ihm sein Handeln zugerechnet wird; und dass er dann wohl beraten ist, wenn er sich im Wege der Voranpassung darauf eingestellt und entsprechende Erklärungen, Motive zum Beispiel, bereithält? Aber dann muss man zugestehen: Derjenige handelt, der als Handelnder behandelt wird« (Luhmann 2000a: 124). 66 »Was hier vor sich geht, ist ein re-entry der in die Zeit oder genauer: der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft in die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Ein „re-entry” hat zur Folge, dass das System so viele Möglichkeiten (so viel „Sinn”) gewinnt, dass es für sich selbst unkalkulierbar wird. Es kann seine eigenen Möglichkeiten nicht ausrechnen, es kann seine eigene Einheit operativ nicht erreichen. Es ist und bleibt auf Imagination angewiesen. Genau das wird im operativen Vollzug als Wahlfreiheit erfahren« (Luhmann 2000a: 140f.). 67 Forderungen nach einer ärztlichen Selbstbegrenzung, die gar darin mündet, dass sich medizinische Organisationen durch gute Arbeit überflüssig machen sollten, wie sie beispielsweise Klaus Dörner stellt, haben unter diesem Blickwinkel wenig Chancen an die richtige Adresse zu gelangen (vgl. Dörner 2001: 200ff.). 68 »Personalität ist demnach nichts weiter als ein Symbol für die Fähigkeit zur Teilnahme an Kommunikation, und „Symbol” hier im ursprünglichen, strengen Sinne gemeint als eine Markierung, die den Zusammenhang von etwas Getrenntem bewirkt« (Luhmann 2000: 92f.). 69 Die vielfach unter Anfängern zu hörende Selbstironisierung „Operation erfolgreich, Patient tot” pointiert den programmatischen Handlungsbezug. Das Konditionalprogramm legt fest, was zu tun ist bzw. auch in Zukunft wieder zu tun ist und wo man besser nicht so genau hinschauen sollte. In diesem Sinne bestimmen Entscheidungsprogramme das, auf was eine Organisation zu achten hat, was sie intern als Aufgabe repräsentieren soll, was sie sich merken soll: »In beiden Formen, als Konditionalprogramme und Zweckprogramme, strukturieren Entscheidungsprogramme das Gedächtnis des Systems. Sie haben den für die Gedächtnisbildung unerlässlichen Vorteil, gut dokumentiert zu sein. Sie entscheiden darüber, was aus der Fallpraxis des Systems erinnert wird und was vergessen werden kann« (Luhmann 2000a: 275). 70 Wissenschaft im guten Sinne erzeugt - Poppers Falsifikationstheorem folgend – mehr Fragen als Antworten. Grundlagenwissenschaft erzeugt mehr Komplexität, als es angewandte Wissenschaft vertragen kann. Entsprechend gilt auch hier Luhmanns wissenschaftstheoretisches Diktum, dass es unter den gegebenen Bedingungen leichter ist, »Konstruktionen zu entwerfen und nachzuvollziehen als richtige Realitätswahrnehmungen zu behaupten und durchzusetzen« (Luhmann 1998b: 634). 71 »[Ironie] lässt Doppelsinnigkeit erkennen zugleich mit Hinweis, dass darauf nicht eingegangen werden sollte. In diesem Zusammenhang gehört auch die nicht seltene Entscheidung, eine entscheidbare Entscheidung nicht zu kommunizieren, also nicht zu entscheiden, weil die dabei unvermeidliche Unsicherheitsabsorption Verdachtsmomente stärken oder bestehende Konfliktlinien durch widerspruchsvolle Interpretation der „wirklichen Intention” der Entscheidung verschärfen würde« (Luhmann 2000a: 192). 139 V. Das medizinische Feld »Im modernen Krankenhaus [befindet sich] die zusammenfassende Veranstaltung von Pflege, Therapie, Diagnose und Isolierung. Trotzdem wäre es voreilig zu meinen, daß damit nun endlich das Krankenhaus in dem Sinne soziologisch begriffen sei, der uns hier vor Augen schwebt« (Rohde 1974: 144). Vieles von dem, was in den ärztlichen Entscheidungsprozessen passiert und später noch ausführlich analysiert wird, ist leichter zu verstehen, wenn zunächst die Kontexte alltäglichen Handelns im Krankenhaus in systematischer Form verdeutlicht werden. Wenn die Eigenarten der Organisation Krankenhaus zunächst im Allgemeinen verstanden worden sind, wird es leichter fallen, die spezifischen Logiken ärztlicher Entscheidungsprozesse im Speziellen nachzuvollziehen. Im Sinne meiner empirischen Rekonstruktion und auch im Sinne moderner organisationssoziologischer Positionen (Weick 1998; Baecker 1999) kann dabei im Gegensatz zu der traditionellen organisationstheoretischen Auffassung nicht von einer Gesamtrationalität innerhalb der Organisation Krankenhaus - zwischen System, Subsystemen und den Mitarbeitern - ausgegangen werden. Vielmehr sind oft gerade die Spannungen oder gar die (unterschwelligen) Konflikte konstitutiv für den organisatorischen Zusammenhalt. Die Vielheit der Perspektiven - die “Polykontexturalität”, um mit Luhmann (1998a) zu sprechen - bestimmt das soziale Geschehen. Die differenten Standpunkte der Patienten, der Pfleger, der Internisten, der Chirurgen, der Verwaltungsangestellten etc. können in einer Welt des Krankenhauses gleichzeitig nebeneinander bestehen, ohne sich kommunikativ durchdringen zu müssen. Erst der differenztheoretische Blickwinkel erlaubt auch die Analyse der empirisch vielfältig anzutreffenden „Agonien” zwischen Personen und Systemen, denn hier braucht nicht mehr von einer Einheit zwischen den Intentionen der Akteure und der Rationalität von Organisationen ausgegangen zu werden. Spannungen zwischen System und Handelnden - es gibt keinen Stationsarzt, der nicht seine Unzufriedenheit im Interview über seine aktuellen Arbeitsverhältnisse äußert - können dann ihrerseits als Konstituenten sozialer Realitäten betrachtet werden, die dann trotz ihrer oft schmerzhaften “Agonien” recht stabile soziale Strukturen aufbauen können. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass der Unmut der Unzufriedenen über Karriereerwartungen im System adsorbiert wird und den allzu Unzufriedenen eine persönliche Macke attribuiert wird. Unter der Voraussetzung, dass theoretische Begriffe hier nicht um ihrer selbst willen gebraucht werden, sondern dazu dienen sollten, die strukturellen Besonderheiten der empirisch gefundenen sozialen Verhältnisse scharf und deutlich zu beleuchten, scheint mir die Bourdieusche Konzeption von Habitus und Feld besonders geeignet, um die Bedingungen der Institution Krankenhaus zu beschreiben. Anders als in den abstrakten Begrifflichkeiten der Luhmannschen Systemtheorie, gelingt es hier leichter, die Interaktionslogik der individuellen Akteure in ihren jeweiligen Positionen zu beschreiben. Der systemische Zusammenhang bleibt hier sozusagen erhalten, bekommt aber genug Fleisch, um der Flut des empirischen Materials in allen seinen fallspezifischen Besonderheiten und Details kraftvoll gegenübertreten zu können. Zunächst wird das medizinische Feld unter der Spannung zwischen den Professionellen und Laien betrachtet. Als Professionelle sind hier alle diejenigen anzusehen, welche hauptamtlich in den medizinischen und paramedizinischen Berufen in der Organisation Krankenhaus arbeiten. 140 V. Das medizinische Feld Durch ihre Ausbildung und oftmals langjährige Berufsausbildung autorisiert, haben die ärztlichen Berufe darüber hinaus einen Expertenstatus. Der Experte verfügt gegenüber dem Laien nicht nur über den Zugriff zu Sonderwissensbeständen, sondern besitzt per definitionem die Kompetenz, mit diesem Wissen gekonnt umzugehen. Der moderne Arzt ist dabei selbst nicht mehr “total versiert” (Rohde 1974: 261), sondern besitzt nur noch für einen Bruchteil des immensen medizinischen Wissensbestands den Expertenstatus. Dennoch muss er als professioneller Arzt in der Lage sein, das medizinische Wissen zumindest überblicken zu können, um - wenn auch nicht selbst behandeln zu können -, dann gezielt weiterverweisen und überweisen zu können. Wider die politische Forderung nach Patienten-Empowerment bleiben Patienten und ihre Angehörigen in den allermeisten Fällen in dem Status des Laien. Nicht nur, dass sie kaum die Expertise ihrer eigenen Krankheit leisten könnten, auch wenn sie - etwa durch eine lange chronische Krankheit – selbst zum Experten ihres eigenen Krankseins geworden wären, so bedeutet dies noch lange nicht, dass sie während eines akuten Krankheitsschubs den professionellen Agenten im Krankenhaus peer to peer entgegen treten können. Besonders die Logiken der organisatorischen Zwänge, die sich hinter den Kulissen abspielen, bleiben dem Patienten verborgen. Zumindest in den organisatorischen Fragen bleibt er Laie, denn oftmals ist es für den Patienten nicht so leicht herauszubekommen, wer überhaupt im Krankenhaus in seinem Falle etwas zu sagen hat (s. hierzu auch Rohde 1974: 415). Unabhängig von medizinisch-wissensmäßigen und sozial-organisatorischen Grenzen der Patientenpartizipation sind Patienten allein schon aufgrund schwerer Krankheit »zwar nicht de jure, aber de facto« als »entmündigt« anzusehen (ders.: 396). Letzteres gilt weniger für die Angehörigen der Patienten. Sie sind zwar nicht als Person existenziell betroffen, sind jedoch ähnlich hilflos im Hinblick auf die organisatorischen Realitäten der Institution Krankenhaus sowie in Bezug auf ihr fehlendes Verständnis für medizinische Fragen. Aus diesem Grunde macht es hier Sinn, die strukturellen Besonderheiten des Verhältnisses von Laien zu den Professionellen in dem gemeinsamen Unterkapitel »Patienten und Angehörige (I.)« zu behandeln. Die Patienten scheinen dabei zwar zunächst etwas vernachlässigt zu werden. Wie sich jedoch später in den Rekonstruktionen zeigen wird, entspricht dies genau ihrer Rolle im medizinischen Feld. Um mit Rohde zu sprechen: Der Patient ist zwar einerseits »Ausgangs- und Zielpunkt der Veranstaltung« Krankenhaus, stellt jedoch zugleich nur ein »ʼephemeresʼ Moment« dar. »Er berührt nur gleichsam das Funktionsgefüge (und wird von diesem erheblich berührt), aber er geht recht eigentlich in dieses nicht ein« (ders.: 395). Aus diesem Grunde bedeutet die Koexistenz und Zusammenarbeit von Pflegern und Ärzten auf oftmals engstem Raum nicht, dass hier auch gemeinsam Entscheidungen verhandelt werden, wie die Rekonstruktionen im Unterkapitel »Pflegebereich, inklusive paramedizinische Felder (II.)« aufzeigen. Auch wenn dies seitens der Pflegekräfte oftmals anders gewünscht wird und viele gesundheitswissenschaftliche Forschungsprojekte die Forderung einer besseren Kooperation von Ärzten und Pflege aufgreifen, steht auch die Pflege weit gehend außerhalb der ärztlichen Entscheidungs- und Handlungsdomänen. Explizite Einflussnahme der Pflegekräfte auf ärztliche Entscheidungen bleiben eher die Ausnahme, wenngleich durchaus auch indirekte Formen der Beeinflussung bestehen. Demgegenüber dringt der »ökonomisch administrative Bereich (III.)« durchaus machtvoll in die ärztlichen Domänen hinein. Ärzte erleben diesbezügliche Einflussnahmen in der Regel als ‚feindlicheʼ Übergriffe. Wenngleich die ärztlichen Funktionsbezüge zumindest in dem Sinne autonom bleiben, dass sie niemals vollständig durch die Ökonomie determiniert werden, so muss ärztliches Handeln dennoch die spezifischen Konditionen dieses Feldes immer auch mit berücksichtigen - zumindest in der Form, dass die administrativen Vorgaben gekonnt umgangen 1. Patienten und Angehörige 141 werden. Während die Akteure der anderen Felder (Patienten, Pfleger, Ärzte etc.) in der Regel persönlich miteinander in Kontakt treten, sich sehen können bzw. zumindest innerhalb der Gebäudegrenzen des Krankenhauses anzutreffen sind, wirkt das administrativ-ökonomische Feld als externe Kraft in unpersönlicher Form durch die Mauern des Krankenhauses hindurch. Die empirische Rekonstruktion der Rahmenbedingungen ärztlicher Entscheidungsprozesse zwingt hier, die räumlichen Grenzen des Krankenhauses zu verlassen und auch jene anonym agierenden Akteure mit einzubeziehen, die kein Mitarbeiter des Krankenhauses je persönlich zu Gesicht oder am Telefon zu sprechen bekommt. Im Gegensatz zu oft landläufigen Meinungen ist keinesfalls von einer Identität von Medizin und Wissenschaft auszugehen. In einem »Exkurs: Wissenschaft (IV.)« werden die Eigenarten der Beziehung zwischen dem wissenschaftlichen und dem medizinischen Feld angerissen. Das ärztliche Feld schließlich wird ausführlich in einem eigenständigen Kapitel behandelt werden. 1. Patienten und Angehörige Im Folgenden möchte ich einige der grundlegenden sozialen Bedingungen herausarbeiten, die die Rolle der Patienten und der Angehörigen im medizinischen Feld bestimmen. Zunächst wird es darum gehen, einige Unterschiede zwischen den Lebenswelten des medizinischen Laien gegenüber der Welt der Professionellen zu verdeutlichen: Des einen Krise ist des anderen Routine. Darüber hinaus stellt die Frage des Informationsmonopols der Ärzte ein wichtiges Merkmal der Beziehung von Laien und Professionellen dar: Das Problem der Aufklärung bleibt virulent. Im Hinblick auf die Frage der Patientenpartizipation wird anschließend der medizinisch-institutionelle Regelfall beleuchtet: Patienten haben wenig zu entscheiden. In den letzten beiden Analyseeinheiten steht die Frage im Vordergrund, unter welchen Bedingungen selbst exotische Patientenwünsche Berücksichtigung finden und inwieweit Angehörigeneinflüsse Geltung gewinnen könnten. (a) Alltäglichkeit vs. Außeralltäglichkeit Während die existenzielle Bedrohung für den Kranken zur Außeralltäglichkeit gehört, ein krisenhaftes Ereignis darstellt, das seine gesamte Welt in Frage stellen kann, gehört für den Mediziner selbst der Umgang mit schwerster Krankheit zur alltäglichen Routine. Selbst das Therapieversagen oder gar der Tod stellt für ihn nichts Außergewöhnliches mehr dar. Diese Dinge sind für ihn schon längst zu Vorgängen geworden, für deren Behandlung bewährte Routinen bereitstehen. Das Schicksal eines einzelnen Menschen – wenngleich es sich im Einzelfall durchaus auch mal ins Gedächtnis einbrennen kann – verschwimmt in der Regel in einem Meer von Fällen. Allein schon deshalb, weil ständig neue Patienten auf Behandlung warten, wird kaum Zeit bleiben, mehr als nötig am konkreten Fall zu kleben. In diesem Sinne lässt sich das Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten im medizinischen Feld hier durchaus analog der Bourdieuschen Beziehung zwischen Priesterschaft und Laien im religiösen Feld beschreiben (Bourdieu 2000: 16): Was des einen Routine und berufliches Geschäft ist, stellt für den anderen Segen oder Unglück dar. Diese beiden Handlungs- und Erlebensperspektiven können weit gehend unberührt nebeneinander koexistieren, oft nur durch die wenigen Sekunden oder Meter getrennt, welche die ärztlichen Gespräche vor dem Patientenzimmer mit dem Patientengespräch zu zwei vollkom- 142 V. Das medizinische Feld men unterschiedlichen semantischen und lebensweltlichen Horizonten werden lassen. Deutlich wird diese Differenz der Perspektiven in der Regel nur dann, wenn sich die beiden Sphären kommunikativ durchdringen, wie im folgenden Beispiel der Beobachtung einer chirurgischen Beratungssituation deutlich wird: Routine vs. Krise: “Ich habe kein Malignom” Eine Frau, ca. 35-40 Jahre alt, Aussiedlerin, jedoch mit guten Deutsch-Kenntnissen, kommt in die chirurgische Sprechstunde eines städtischen Krankenhauses. Sie erzählt dem Arzt, dass vor 10 Jahren Gallensteine entdeckt worden seien. Diese seien dann jedoch wieder verschwunden. Sie legt dem beratenden Arzt ein Ultraschallbild vor, sowie ein Bild einer Computertomografie (CT). Der Arzt stellt fest, dass er mit dem Ultraschall nichts anfangen könne, da dieses weder beschriftet sei, noch ein Befund vom Arzt beiliege. Ebenso vermisse er den schriftlichen Befund der CT. Der Chirurg schlägt der Patientin vor, hier im Haus noch einen Ultraschall machen zu lassen, damit ein ordentlicher Befund vorliegen würde. Eine halbe Stunde später wird die Patientin wieder ins Beratungszimmer gebeten. Der Arzt liest den Befund laut vor: “... eine auffällige Stelle, die jedoch nicht den Ultraschallschatten eines Steines wirft ... “ und kommentiert: “Da ist irgendetwas, aber keine typischen Gallensteine.” Der Arzt sucht nach der Telefonnummer des Radiologen, der die CT gemacht hat. Er findet die Nummer und lässt sich mit dem Arzt verbinden. “Guten Tag, Herr Dr. A. vom Krankenhaus X. Ich brauche den Befund von Frau A., möglicherweise Malignom verdächtig. ... Auf dem Ultraschall sieht man etwas Wandständiges, was keinen Schatten macht. Wenn nicht vorhanden ..., wir müssen sowieso eine neue CT machen, mit Kontrastmittel.” ... Das Telefongespräch wird beendet, ohne dass der Arzt hierdurch weitere Informationen erhält, die den Befund hätten klären können. Sofort als der Chirurg den Hörer auf das Telefon gelegt hat, äußert die Patientin mit erregter Stimme: “Ich habe kein Malignom.” Der Arzt antwortet: “Da ist eine Vorstülpung und wir müssen abklären, was da ist, es kann etwas Entzündliches sein, aber auch was anderes ...” Die Patientin kontert: “Ich will das nicht, Malignom, vielleicht trifft das nicht zu.” Der Arzt versucht es erneut: “Wir müssen auf jeden Fall eine neue Untersuchung machen lassen, eine CT mit Kontrastmittel machen.” Die Patientin spricht immer erregter: “Das war immer okay, die Beschwerden waren schon immer und da war nichts. Ich will gesund sein wegen meiner Tochter.” Der Arzt fragt: “Und jetzt?” Patientin: “Klar, ich mach es.” Der Arzt: “Sollen wir reingucken?” Die Patientin antwortet mit wütendem Ton: “So sprechen die Chirurgen!” Der Arzt: “Sie haben schwere Beschwerden, ich habe jetzt einen Befund von Leuten hier im Hause, die ich kenne. Jetzt müssen wir das abklären.” Die Patientin antwortet etwas ruhiger: “Klar mache ich.” Der Arzt erklärt ihr kurz das weitere Vorgehen: “Jetzt mache ich eine Kopie von hier für den Hausarzt und schreibe ihm, welche Untersuchungen ich empfehle. Während der Arzt den Brief an den Hausarzt schreibt, bleibt die Patientin bedrückt auf ihrem Stuhl sitzen. Als der Arzt sich ihr wieder zuwendet, sagt sie mit zitternder Stimme: “Ich habe Angst!” Ohne auf die Bemerkung einzugehen beginnt der Arzt zu erzählen: “Ich habe jetzt an den Hausarzt geschrieben (liest vor). [...] Bitte um CT [...] gerne auch hier im Haus und um Laborkontrolle [...] und dann möchte ich Sie wiedersehen ... Das ist immer schlimm, wenn Patienten zu zwei bis drei Ärzten gehen, dann kommt man nicht mehr klar.” Die Patientin fragt: “Kann ich hier bleiben zur Untersuchung?” Der Arzt antwortet ihr: “Nein, Sie müssen erst einmal zum Hausarzt und der kann Sie dann, wenn er möchte, wieder hierher überweisen und wir können das dann hier machen. Aber die Hauptsache ist, wenn Sie dann einen Befund haben dann möchte ich Sie noch einmal sehen.” Patientin: “Ich mache dann einen Termin bei Ihnen.” Arzt: “Gut, dann sehen wir uns wieder.” Die Patientin fängt an zu weinen. Der Arzt spricht zu ihr mit warmer Stimme: “Es wird alles gut werden.” Hier kreuzen sich zwei inkompatible Erfahrungsräume. Die Welt des routinierten Klinikers und die Welt einer Mutter. Für den Arzt gilt es, eine diagnostische Unsicherheit abzuklären. Die 1. Patienten und Angehörige 143 im Ultraschall gesehene Struktur könnte ein Artefakt der sonografischen Untersuchung sein - nicht selten für diese Technik der Diagnose. Sie könnte auch eine gutartige Veränderung sein oder eben auch ein tumoröser Prozess. Für den Arzt besteht möglicherweise nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass es sich wirklich um eine bösartige Geschwulst handelt, und selbst wenn dies der Fall wäre, würde dies dem Chirurgen kein Kopfzerbrechen bereiten, sondern dieser wüsste, dass nun ein chirurgischer Routineeingriff anstände, dem anschließend eine Tumornachsorge durch Chemotherapie oder Bestrahlung folgen würde. Für den Arzt geht es hier nur darum, die möglichen Differenzialdiagnosen abzuklären. Vorgänge dieser Art gehören zu seinem täglichen Brot. Im Gespräch mit dem Kollegen verfällt er wie von selbst in den medizinischen Routinejargon: “Wandständige Struktur im Ultraschall, die keine Schatten wirft, malignomverdächtig.” Jeder Kollege weiß nun sofort, worum es geht: Die Diagnose muss überprüft werden und der Begriff Malignom steht für die differenzial-diagnostische Möglichkeit einer Krebserkrankung, die es auszuschließen oder gegebenenfalls zu therapieren gilt. Demgegenüber verbindet die Patientin das Wort Malignom gleichsam mit dem Todesurteil. Ein Malignom zu haben heißt, zu sterben und die eigene Tochter nicht mehr versorgen zu können. Die Abklärung der Verdachtsdiagnose wird zur Tortur, denn was nicht sein darf, kann nicht sein. Das unvermeidliche Schicksal kann nur verdrängt werden, muss von ihr ausgeblendet werden. Vermutlich weiß die Patientin weder von den Unsicherheiten der Diagnose, noch von der Chance, manche Tumorerkrankung in ihrem Anfangstadium noch gut heilen zu können. In ihrer Erfahrungswelt bedeutet Malignom nur: ein unerträgliches Übel. Mit der Verdachtsdiagnose Krebs bricht die Außeralltäglichkeit des Todes, die Potenzialität einer lebensbedrohlichen Erkrankung brutal und unvermittelt in ihren Alltag hinein. Wie “zufällig” kreuzen sich hier die alltäglichen ärztlichen Handlungsroutinen mit der außeralltäglichen existenziellen Bedrohung ihres konkreten, einzigartigen Lebens. Die routinierten medizinisch professionellen Lebenswelten und die Erfahrungswelten der existenziell bedrohten Patienten treffen nur funktionell aufeinander, nicht inhaltlich; sie bilden von sich aus keinen gemeinsamen Erfahrungsraum. Der Patient berührt nur das Funktionsgefüge des Krankenhauses, wenngleich er von diesem erheblich berührt wird. (b) Aufklärung Ärzte besitzen gegenüber den Laien das Informationsmonopol, denn auch wenn prinzipiell aufgeklärt werden sollte - dies gebieten schon die juristischen Vorgaben - bleibt es in ihrer Hand, was, wie und wie viel gesagt wird. Durch die selektive Öffnung und Schließung von »Bewusstheitskontexten« (Glaser/Strauss 1974) entsteht ein Raum von Möglichkeiten kleiner und großer Täuschungen, die dann oft in der guten Absicht, einfach die Hoffnung nicht zerstören zu wollen, manchmal aber auch zum Selbstschutz der Ärzte getroffen werden. Gerade in der Frage der Aufklärung, sei es über die Schwere von Krankheit, Grenzen medizinischer und institutioneller Möglichkeiten, wie auch der Berichterstattung über Behandlungsfehler, reproduziert sich eine tiefe Asymmetrie in der Beziehung zwischen Professionellen und Laien. Die folgenden Beispiele zeigen einige Spielarten dieser Thematik auf: V. Das medizinische Feld 144 Arrangement der Hoffnung: “Die Chemotherapie, das ist nur das Tüpfelchen auf dem »i«” Die Oberärztin einer chirurgischen Station erklärt Herrn X., dem ein paar Tage zuvor chirurgisch ein Rektumkarzinom entfernt wurde, dass dieser nun geheilt sei und die adjuvante Chemotherapie jetzt nur noch eine kosmetische Bedeutung habe: 8:20 Oberarztvisite Oberärztin (zu einem Patienten, der ein paar Tage zuvor aufgrund eines Rektumkarzinom operiert wurde): Eigentlich sind Sie geheilt ... die Chemotherapie, das ist nur das Tüpfelchen auf dem ‚i’ Routinierte Kliniker wissen aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass eine Krebserkrankung trotz Operation wiederkommen kann. Entsprechend empfehlen die Richtlinien für die postoperative Tumorbehandlung als weiterführende Therapie Bestrahlung bzw. Chemotherapie. Dennoch argumentieren die Chirurgen gerne in der Semantik der vollständigen Heilung, denn im Sinne eines »Arrangements der Hoffnung« (Hermann et. al. 2001) möchte man die je nach Krankheitsbild mehr oder hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Erkrankung einmal wiederkehrt, nicht zu deutlich benennen. Das Bild der Hoffnung wird hier jedoch durch die therapeutische Notwendigkeit gebrochen, eine Chemotherapie anschließen zu müssen. Aus dem „Sie sind geheilt“ wird nun das einschränkende „eigentlich sind Sie geheilt“, wobei jedoch diese Einschränkung ihrerseits sofort wieder mit dem Hinweis auf das I-Tüpfelchen zurückgenommen wird. Der Bewusstheitskontext wird hier im Gespräch geschickt wieder geschlossen, indem dann einerseits die Krankheit bagatellisiert wird, ohne andererseits das medizinisch Notwendige, nämlich die Last einer weiteren Chemotherapie, auszusparen. Es reicht, den Patienten nur so weit aufzuklären, wie es der nächste medizinisch indizierte Therapieschritt gebietet. Die existenziell-bedrohliche Dimension wird durch diese Salami-Taktik der Gesprächsführung weit gehend ausgeblendet. Diese und ähnliche Arrangements der Therapiemotivation sind in onkologischen Kontexten weit verbreit. In der onkologisch-hämatologischen Station ist als diesbezügliche Standardformel oft zu hören: „Prinzipiell ist Ihre Krankheit heilbar“. Hierdurch motiviert, lassen sich Patienten leichter zu einem aggressiven Therapieregime überzeugen, das oftmals selbst erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringt, dafür aber die Chance bietet, ein paar Jahre – manchmal auch nur Monate - Überlebenszeit zu gewinnen, wenngleich die endgültige Heilung oftmals doch die Ausnahme bleibt. Der Funktionsbezug des Krankenhauses liegt auch in der Onkologie in der Krankenbehandlung - nicht in der Heilung. Der Versuch einer Therapie und die Motivation des Patienten zum nächsten Behandlungsschritt stellen den vordergründigen Orientierungsrahmen dar. Die realen Heilungschancen sind dabei sekundär und können gegebenenfalls - falls nicht als weiteres Argument für die Therapie geeignet - ausgeblendet werden, denn instruktiv ist die Krankheit, nicht jedoch der Behandlungserfolg. Letzterer ist jedoch zu ungewiss, als dass er das Kriterium für die Behandlungsentscheidung darstellt. Spiel der Täuschung: “Es kann dann doch sein, dass die Krankheit noch mal wiederkommt” Im Anschluss an die chemotherapeutische Behandlung einer Leukämie, die den Laborwerten nach erfolgreich verlaufen ist, erklärt der Chefarzt dem Patienten gegenüber, dass dieser nun als geheilt entlassen werden könne. Daraufhin bedankt sich der Patient ausdrücklich bei dem behandelnden Team. Professor Wieners wendet sich daraufhin noch einmal kurz zu dem Patienten und erklärt, 1. Patienten und Angehörige 145 dass geheilt nicht unbedingt bedeute, dass die Krankheit nicht wiederkommen könne. Daraufhin antwortet der Patient, dass er dies weiß und auch schon vorher gewusst habe: 9:40 Chefarztvisite (im Patientenzimmer) Prof. Wieners: Sie können wir jetzt als geheilt entlassen ... es geht ja heute nach Hause. Patient: Jetzt muss ich Ihrem Team ausdrücklich noch mal das Lob aussprechen ... Sie haben sich hervorragend um mich gekümmert ... auch um die Kleinigkeiten, die kleinen Probleme, die ich so hatte [...] Prof. Wieners (wendet sich zum nächsten Patienten, dreht aber nochmals zu Herrn Schulz zurück): Auch wenn ich jetzt sage “geheilt”, kann es dann doch sein, dass die Krankheit noch mal wiederkommt. Patient: Ja, das weiß ich ja, wusste ich auch schon, als ich mit der Therapie angefangen habe. Bemerkenswert erscheint hier, dass im Gegensatz zu dem vorigem Beispiel die Spannung zwischen dem »Arrangement der Hoffnung« und dem wahrscheinlichen Krankheitsverlauf durch den Chefarzt expliziert wird. Zunächst wird wie gehabt das Spiel der Täuschung aufgebaut. Die überschwängliche Reaktion des Patienten - sein Lob an das Team - lässt den Chefarzt jedoch noch zu einer Bemerkung hinreißen, die Täuschung kurz zu durchbrechen. Die Gefahr eines “wirklichen” Missverständnisses, das dann vielleicht zu einem leichtsinnigen Verhalten führen könnte, scheint hier zu groß zu sein. Der Patient gibt demgegenüber zu erkennen, dass er sehr wohl um das Spiel der Täuschung wisse. Das Arrangement der Hoffnung kann nun guten Gewissens im Einverständnis aller Beteiligten weitergespielt werden und braucht nicht durch die unschönen Wahrscheinlichkeiten ungünstiger Krankheitsverläufe durchbrochen zu werden. Der Patient gliedert sich hier gleichsam optimal in die Funktionsbezüge der Krankenbehandlung ein, denn das Spiel der wechselseitigen Täuschung läuft hier nicht einmal Gefahr, durch das kurze Ansprechen medizinischer Wahrheiten ausgehebelt zu werden. Die Rahmenwechsel zwischen den beiden sozial erzeugten Realitäten, einerseits dem beruhigenden “so tun als ob” und andererseits dem verunsichernden “medizinisch Wahrscheinlichen”, kann hier spielend leicht hin und zurück vollzogen werden. Im Spannungsfeld sozialer Erwartungen: “Der eine sagt»alles kein Problem«, der nächste kommt her und sagt »Sie werden sterben«” Ein chirurgischer Stationsarzt erzählt im Interview von dem Fall eines Patienten, der aufgrund fortgeschrittener Lebermetastasierung nur noch eine kurze Lebenserwartung hatte. Er selbst habe versucht, den Patienten aufzuklären, damit dieser noch eine Chance habe, in seinen letzten Tagen die wesentlichen Dinge mit seiner Familie bereden zu können. Der Chefarzt wiederum habe dann allerdings während der Visite gesagt, dass sich seine Lage wieder verbessern würde. Der Patient sei dann schließlich 14 Tage später gestorben, habe es aber die ganze Zeit über abgelehnt, mit dem Stationsarzt nochmals zu reden, da dieser ja die negative Nachricht verkündet hatte. Vielleicht sei aber auch einfach die Zeit für diesen Patienten zu kurz gewesen, um konstruktiv mit der Nachricht umgehen zu können. Im Kontrast zu diesem Fall benennt der Stationsarzt das Beispiel einer 90-jährigen Frau, die alleine in einem Altersheim lebt. In diesem Falle würde er eine Aufklärung nicht mehr sinnvoll erachten: Stationsarzt Scholz: »Ich mache es dann wie gesagt schon so, dass ich den Patienten aufklären möchte, aber das schafft dann auch wieder schwierige Situationen, wenn dann andere Ärzte Hoffnung machen, denn dann wird der Patient eher dem Arzt vertrauen, der sagt, es wird schon alles okay [... da] 146 V. Das medizinische Feld war halt sozusagen der Patient mit einem fortgeschrittenen metastasierten Leiden, mit einer diffusen Lebermetastasierung, wo ich sozusagen anhand der minimalen klinischen Erfahrung, die ich habe von mittlerweile fast drei Jahren oder so, sagen würde, dass der Patient nicht mehr lange lebt, wo die Laborwerte sehr, sehr schlecht waren [...]. Eine Führungskraft in diesem Hause hat es eher so ausgedrückt, dass es alles wieder wird und dass es alles schon wieder in Ordnung kommt und sozusagen damit ist man natürlich einem Problem aus dem Weg gegangen, dass man sich mit dem Patienten und dem Sterben irgendwo was ansteht auseinanderzusetzen und dass ist für den sozusagen, der diese etwas optimistische Darstellung der Zukunft betreibt, für den, der geht raus, sagt, ist alles gut, und für den ist dann das Problem erledigt, aber es hilft dem Patienten nicht viel, weil der Patient nicht mehr viele Tage zu leben hat und auch die Chance kriegen muss, dass er bestimmte Sachen klären kann, ja, dass er sozusagen mit seiner Familie alles regelt, dass Dinge wo er meint, die nie getan zu haben, auch wenn’s nur über irgendwas reden ist, [...] und ich für meinen Teil habe ihm gesagt, passen Sie uff, die Leber ist diffus durchmetastasiert, und diese Bestrahlung ist eher, ob die hilft wissen wir nicht, aber Sie werden an Ihrer Tumorerkrankung sterben, ja? Und da war natürlich so ’ne Situation von zwei verschiedenen Ärzten, der eine sagt, ist alles kein Problem, und der nächste kommt her und sagt, Sie werden daran sterben und den zeitlichen Rahmen muss man offen lassen, kann man nicht wissen, kann man nur sagen bald [...] Der Patient war in 14 Tagen tot. [...] Ja, er hat mich die gesamte Zeit abgelehnt, ne, weil ich sozusagen der war, der es ihm gesagt hat, ich war der, der auch obwohl er ihn abgelehnt hat, vielleicht auch recht behalten hat und hat natürlich irgendwo, vielleicht ist dann die Zeit auch wieder zu kurz, dass man denn von Ablehnung in konstruktives Umgehen damit umschlägt, ich weiß nicht, ob man das in 14 Tagen hinbekommt [...], sicher und ich bin auch der Letzte, der jetzt sozusagen auch einer 90-jährigen Oma sagt, Sie werden sterben an Ihrer Tumorerkrankung, so nicht; aber ich denke, wenn Patienten bewusst sind, wenn die Kinder und Familie haben und wenn da doch ein bisschen was dranhängt, wenn die gehen, dann bleibt ein Loch und deshalb sollte man denen das irgendwie sagen; und wenn die 90jährige Oma aus’m Altersheim kommt und keinen mehr in der Welt hat, denk ich, dann soll die auch in der Gewissheit leben, dass das alles ausoperiert ist, soll ihr Leben genießen und sich keine Gedanken darüber machen na; das sind sozusagen die beiden Extrembeispiele.« Die Semantik der Aufklärung kompliziert sich in diesem Beispiel dadurch, dass im ärztlichen Team unterschiedliche Positionen vertreten werden. Während der Stationsarzt dem Patienten gegenüber im Hinblick auf die Krankheitsdynamik einen offenen Bewusstheitskontext herstellt, versuchen die Ärzte der Leitungsebene, über die Dramatik des Krankheitsbildes hinwegzutäuschen. Der Stationsarzt erklärt im Gespräch seine Kriterien für die Patientenaufklärung. Es scheint sich hier aus seiner Sicht um eine Wertentscheidung zu handeln. Ob ein Patient die Chance haben sollte, seinen Angehörigen im Angesicht seines Todes gegenüberzutreten, oder ob dieser sich so lange wie möglich keine Gedanken über seinen baldigen Tod machen soll, kann nicht aus der medizinischen Logik heraus beantwortet werden. Die Auseinandersetzung mit der Frage des Todes scheint hier die Privatsache des betreuenden Arztes darzustellen. Dieser scheint zunächst allein dafür verantwortlich zu sein, was und wie er etwas seinen Patienten sagt. Das Motiv, das die diesbezügliche Verantwortlichkeit dem einzelnen Arzt zugerechnet wird, taucht mehr oder weniger in allen Einzelinterviews auf. Die sich hier in der Interviewsequenz zeigende Interaktionsdynamik lässt jedoch deutlich werden, dass es sich hier keinesfalls nur um ein privates Phänomen handelt, was nur Patient und Stationsarzt betrifft. Die „Leitkultur“ des routinierten Hoffnungmachens, lässt den jungen Stationsarzt im Hinblick auf seine Aufklärungsversuche in Legitimationszwänge kommen. Gegenüber der Position des geringsten Widerstandes – vertreten durch die Leitungsebene – hat er nun die emotionale Last der Ablehnung durch den Patienten ganz alleine zu tragen. Es verlangt erhebliche Kraft, gleichzeitig gegen den Strich der Haltung der Vorgesetzten und gegen die Patientenerwartung zu bürsten. Das Aussprechen der unerwünschten Wahrheit verlangt deshalb nach einer Motivation, die über der Last der Aufklärung steht. Interessanterweise benennt der Arzt hier seine Kriterien, wann er es für notwendig halte, aufzu- 1. Patienten und Angehörige 147 klären und wann nicht. Ausschlag gebend ist für ihn wieder eine soziale Erwartung, nämlich ob die Aufklärung im Sinne der Interessen der Angehörigen des Patienten liegen würde. Personen mit sozialem Umfeld verdienen in der hier entfalteten Hierarchie eher, alles offen gesagt zu bekommen als eine allein stehende alte Frau aus dem Altersheim. Andersherum gesagt: Die Kosten des Verschweigens könnten sich in diesen Fällen für die Stationsärzte als zu hoch erweisen, denn wahrscheinlich wäre er es dann, der sich den wiederholten Vorwürfen der Angehörigen und Patienten stellen müsste. Demgegenüber sind die Leitungspositionen von diesbezüglichen Fragen eher abgeschirmt, sie hätten die sozialen Kosten einer falschen Hoffnung nicht zu tragen. Im medizinischen Feld selber erscheinen hier Spannungslagen, die der Stationsarzt balancieren muss. Auf der einen Seite stehen antizipierte Angehörigeninteressen, auf der anderen Seite die Haltung der Leitungsebene, im Arrangement der Hoffnung weithin den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Legitimationsgrenzen: “Dem Enkel, dem sage ich das jetzt natürlich nicht, was ich eben erzählt habe” Frau Moll, eine 72-jährige Patientin, die Sonntagnachmittag auf die internistische Station aufgenommen worden ist, verstirbt am folgenden Montag. Die Stationsärztin erklärt der Famulantin und dem Beobachter, dass sie in der Patientenakte einen Fehler in der Krankenhausbehandlung entdeckt habe. Sonntagnachmittag habe niemand Fieber gemessen. Möglicherweise sei hierdurch eine Lungenentzündung nicht rechtzeitig erkannt worden. Wenngleich die Todesursache nicht unbedingt mit diesem Unterlassen zusammenhängen würde, könnte sich hier dennoch ein Legitimationsproblem ergeben, falls jemand in der Akte nachschauen würde. Natürlich würde sie den Angehörigen jetzt aber nicht das sagen, was sie soeben gesagt hätte: Dr. Reif (zum Beobachter und der Famulantin): Das ist dann auch so eine Sache. Die ist dann Sonntagnachmittag gekommen und keiner hat Fieber gemessen [...] das muss man jetzt mal bei den Schwestern ansprechen, wenn ich das dann aufschreibe, dann sagen die: das sollen wir doch immer, brauchen Sie doch nicht zu schreiben, aber dann geschieht das doch nicht. ... gut das war dann eine Schrittmacherpatientin ... stand unter starken Arrhythmika ... selbst wenn das jetzt eine Lungenentzündung gewesen wäre und man hatte Antibiotika gegeben, dann hätte man den Verlauf vielleicht nicht ändern können .... auch hätte das jetzt ein Schlaganfall sein können ... heute morgen bei der Untersuchung, war der Arm ja dann wie ein Stein runtergefallen ... ich sage da jetzt nur, in der Fieberkurve ist jetzt eine Lücke und wenn da jetzt einer nachschauen würde, dann gäbe es ein großes Problem ... [...] Dem Enkel, dem sage ich das jetzt natürlich nicht, was ich eben erzählt habe. Behandlungsfehler bleiben den Patienten und Laien gegenüber in der Regel verborgen. Allein schon aus rechtlichen Gründen ist hier geboten, den Mantel des Schweigens anzuziehen, denn die Gefahr, juristisch belangt zu werden, stellt eine so ernsthafte Bedrohung medizinischen Handelns dar, dass kaum eine Alternative zur inneren Schließung im Hinblick auf prekäre Informationen besteht. Vieles was die Mediziner tun - und wohl oder übel auch tun müssen - kann gegenüber den Laien nicht kommuniziert werden. Wenn etwa frisch verstorbene Patienten den jungen Assistenten noch als Übungsobjekt dienen, um schwierige Eingriffe für den Ernstfall zu trainieren1, so gebietet allein schon die Pietät, dass man die Angehörigen diesbezüglich nicht vorher um Erlaubnis fragt. In solchen Fragen zeigt sich eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen dem, was sich der Alltagsethik nach gehört - etwa ein würdevoller Umgang mit der Leiche -, und den internen professionsethischen Maximen medizinischer Praxis. Hier ist natürlich zu fördern, dass trainierte Ärzte die Eingriffe durchführen. 148 V. Das medizinische Feld Sowohl das für den reibungslosen Ablauf von Therapie und Diagnose notwendige »Arrangement der Hoffnung« als auch die Befürchtung, aus Gründen der juristisch-legitimatorischen Absicherung die wahren Gründe oder Motive nicht darlegen zu können, lassen das Spiel um die Gestaltung von offenen und geschlossenen Bewusstheitskontexten zu einem wesentlichen strukturellen Merkmal medizinischer Organisationen werden. Die auch unter den Ärzten oftmals erheblichen Zweifel an dem Sinn der von ihnen durchgeführten Therapien werden üblicherweise vor dem Patientenzimmer abgelegt. Erst wenn der Tod offensichtlich medizinisch nicht mehr aufzuhalten ist - stellt sich die Frage der Aufklärung erneut. Was jetzt und wie es gesagt werden kann, wird in der Regel als persönliche Wertentscheidung der jeweils betreuenden Ärzte angesehen. Die Kommunikation dieser Entscheidung ist jedoch wiederum in den sozialen Zusammenhang der jeweiligen Organisationskultur eingebettet und ist deshalb keinesfalls als “privat” anzusehen, sondern unterliegt einer tiefer liegenden Semantik reziprok unterstellter Erwartungserwartungen. Im Resultat erscheint dann auch in der Aufklärung oftmals einfach durch der Weg des geringsten Widerstandes. Therapiefehler in der Krankenbehandlung, ebenso wie organisatorische und qualifikatorische Einschränkungen der Krankenbehandlung werden in der Regel nicht - und können auch nicht - offen kommuniziert werden. Juristisch gesehen2 müssten etwa Patienten darüber aufgeklärt werden, wenn sie - wie in der Psychosomatischen Station gesehen - über mehrere Wochen hinweg nur durch Ärzte im Praktikum betreut werden3 (siehe hierzu auch Kapitel VII.). Praktisch geschieht das nicht - kann auch wohl kaum geschehen, denn dies würde den Ruf des Krankenhauses bzw. der jeweiligen Abteilung massiv treffen. Insbesondere in einer Uniklinik ergeben sich aufgrund des wissenschaftlichen Interesses auch noch andere Zwänge, die in der Regel kaum offen kommuniziert werden können. Wenn etwa schmerzhafte diagnostische Eingriffe nicht der Therapie, sondern nur dem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse dienen, ist es für die Ärzte geboten, dies nicht allzu offen vor dem Patienten zur Diskussion zu stellen. Die Teilnahme an randomisierten Studienprotokollen fordert eine diffizile Motivationsarbeit, da aufgrund des Zufallsprinzips in der Auslosung dem Patienten - oftmals gegen die Überzeugung der Ärzte - der Sinn aller entsprechend der Randomisierung möglichen Behandlungsalternativen gleichzeitig verkauft werden muss. Zusammenfassend: Das Informationsmanagement der Ärzte stellt keinesfalls nur ein Privatvergnügen eines einzelnen Arztes dar, was dieser dann entsprechend seiner Persönlichkeit so oder anders handhaben kann. Vielmehr zeigen sich hinter dem Aufklärungsproblem schon einige Grund legende Orientierungsrahmen verborgen, die eindeutig sozialer Natur sind, sei es innerhalb von Erwartungsstrukturen oder funktionellen Kontexturen, insbesondere aber auch im Bereich der legitimatorischen Absicherung. (c) Patienten haben wenig zu entscheiden Wenngleich Patienten allein schon aus formaljuristischen Gründen an den ärztlichen Entscheidungen über Therapie und Diagnose zu beteiligen sind, so zeigt doch die empirische Realität, dass der Patient – wenn einmal in der Obhut des Krankenhauses – eher wenig zu entscheiden hat. In den folgenden Beispielen wird die diesbezügliche Logik der Praxis in ihren jeweils unterschiedlichen Schattierungen demonstriert. 1. Patienten und Angehörige 149 Störende Kommunikationen abkürzen: “Und die Patienten sind dann sowieso überfordert” 1. Im Anschluss an ein chirurgisches Beratungsgespräch fragt der Beobachter die Oberärztin, ob Patienten bei ihr an den Entscheidungen partizipieren können. Die Ärztin verneint dies mit dem Hinweis, dass dies wenig sinnvoll sei und den Patienten überfordere. Hilfreich für den Prozess der Aufklärung wäre allerdings unter den Assistenten die Aushändigung beliebter vorgefertigter Bögen über die Krankheitsbilder und ihre jeweiligen Therapien4: Beobachter: Kann der Patient da mit entscheiden? Dr. Kindl: Nein, wir Chirurgen bilden uns vorher eine Meinung, und dann erklären wir das dem Patienten. ... Die Beratung kostet Zeit und Überstunden. [...] Und die Patienten sind dann sowieso überfordert. Das habe ich mal bei einer Beratung bei einer Hernie am Bein in der AiP-Zeit erlebt. Der Arzt hat dann gesagt: Sie können es machen lassen oder auch nicht, das können Sie entscheiden und der Patient war dann ganz verzweifelt: ‚Was soll ich denn machen.‘ ... Und dann rennen die Patienten sowieso oft von Arzt zu Arzt und man hat nichts davon, (man gibt sich Mühe, erklärt alles und dann kommen die nicht wieder). ... Was wir immer machen und für gut halten sind diese Merkblätter. Die Chefs halten die immer für überflüssig. Die Assistenten aber ‚lieben‘ die. Die Trennung zwischen professionellen Experten und Laien impliziert, dass der Patient, insbesondere in komplexen medizinischen Fragen, letztlich nicht selbst über seine Belange entscheiden kann5. Der Patient - so das nur schwer von der Hand zu weisende ärztliche Argument - sei damit sowieso überfordert. In den ärztlichen Entscheidungsprozess einen demokratisches Moment einzubauen, stellt aus der Perspektive der Ärztin hier vergebliche Mühe dar, zumal hierdurch noch die Gefahr droht, dass ein langwieriger Entscheidungsprozess die zeitlich eng gefassten Stationsroutinen durcheinander bringt. Der herrschaftsfreie Diskurs braucht Zeit, die hier nicht vorhanden ist. Die kommunikative Spannung zwischen medizinischen Routineprozeduren des Experten auf der einen Seite und dem Laien auf der anderen, für den der Prozess, in den er nun eingefädelt werden soll, unbekannt oder gar bedrohlich ist, lässt sich seinerseits routiniert behandeln: die unter den Ärzten beliebten vorgefertigten Informationsblätter rationalisieren den Aufklärungsprozess und vermeiden “überflüssige” Kommunikation. Von der Position des Chefarztes aus gesehen kann demgegenüber leicht auf dieses Instrument verzichtet werden, da sein Wort qua Amtscharisma per se mit der Aura des definitiven Urteils umgeben ist, die Kommunikation also nicht weiter abgekürzt zu werden braucht. Kommunikation als Überzeugungsarbeit: “Der hat keine Einsicht in das, was er hat” Herr Bernd leidet unter einer akuten myeloischen Leukämie. Durch die bisher durchgeführten Chemotherapien konnte die Krankheit jedoch nur leicht in Schach gehalten werden. In der Oberarztvisite erklärt der Oberarzt dem Patienten die von ihm in Betracht gezogene Therapieoption der Transplantation von Stammzellen durch einen Fremdspender. Der Patient lehnt das Therapieangebot ab und erklärt, dass er diesbezüglich auch auf dieser Station nur Negatives gehört habe. Im Arztzimmer rekapituliert der Stationsarzt dem Beobachter gegenüber nochmals das Visitengespräch. Er erklärt, dass der Patient überhaupt keine Einsicht in sein Krankheitsbild habe und verdrängen würde, dass er ohne diese Therapie innerhalb von einem Jahr tot sein werde: 150 V. Das medizinische Feld 9:40 Oberarztvisite (Patientenzimmer) [...] Prof. Krause:... ist ja jetzt so gewesen, dass nach 3 Monaten die Leukämie wieder da war .... jetzt können wir ja sagen „haben wir schon ein 3/4 Jahr bei Ihrer schweren Krankheit gewonnen“ ... aber dann müssen wir auch ernsthaft sagen „mit dreimal Chemo können wir die Leukämie nicht ernsthaft besiegen ... jetzt müssen wir überlegen mit der Fremdtransplantation ... Herr Bernd: Geschwister habe ich ja keine und von der Fremdtransplantation habe ich jetzt nur Schlechtes gehört ... habe es ja auch hier gesehen, wie es den Patienten geht ... [...] Prof. Krause: ... ist ja jetzt, dass hier nur die Patienten sind, wo das nicht klappt ... die, bei denen das geklappt hat, sind dann zu Hause ... Sie wissen ja, dass die Leukämie eine tödliche Krankheit ist ... ist dann ein Risiko Abwägen ... [...] (im Arztzimmer) Dr. Kringe (anschließend zum Beobachter): Hast Du ja mitgekriegt [...] ... Herr Bernd ... der hat dann keine Einsicht in das, was er hat ... wenn wir jetzt eine Fremdtransplantation machen, dann hat er zu einem Drittel eine gute Chance, geheilt zu werden, zu einem Drittel ist er dann chronisch krank und zu einem Drittel verstirbt er während der Therapie ... ist eine gute Chance ... jetzt ist das natürlich altersabhängig ... in seinem Alter ist die Chance dann nicht mehr so gut ... mit 60 ist das dann schlechter als bei jungen Patienten ... hat er einfach ein höheres Risiko ... die Nebenwirkungen einer Hochdosischemotherapie sind ... er wird dann ja alle denkbaren Infektionen bekommen ... ist ja dann 3 Wochen aplastisch bei der allogenen Transplantation ... die Jungen verkraften das dann ... aber bei den Älteren hängt das dann doch sehr von dem Allgemeinzustand ab ... er verdrängt das einfach, dass er jetzt in einem Jahr tot sein wird ... . Die Ärzte werten eine Entscheidung des Patienten gegen die von ihnen vorgeschlagene Therapiemaßnahme nicht als Akt einer autonomen und entscheidungsfähigen Persönlichkeit, sondern attribuieren diese als Irrationalität und fehlende Krankheitseinsicht. Letztere wird gar psychologisierend als Todesverdrängung gewertet. Alle Therapiechancen auszuschöpfen, gilt hier als das einzig akzeptable Rational. Demgegenüber erscheint im ärztlichen Orientierungsrahmen der Verzicht auf die äußerst leidvolle und keineswegs Erfolg versprechende Therapieoption der Fremdtransplantation als kein vernünftiger Weg. Auch hier gilt, dass der Patient eigentlich über seine Therapie nicht entscheiden kann. Die sich hier manifestierende Widerständigkeit des Patienten fordert von den Ärzten den Einsatz von Kommunikation. Es ist hier Überzeugungsarbeit zu leisten, um weiter mit dem, was zu tun ist, fortfahren zu können. Das Gespräch stellt jedoch hier keinen Diskurs der Entscheidungsfindung dar - es geht hier nicht darum, verstehend die Position des anderen zu berücksichtigen, sondern darum, ihn zu überzeugen. Prinzipiell hat auch hier der Patient nichts zu entscheiden, denn wenn er doch entscheidet, stimmt etwas mit ihm nicht (s. hierzu auch Kap. VII.3.). Ein Sonderfall im Hinblick auf die Patientenpartizipation – dies zeigt die komparative Analyse – stellt die psychosomatische Station dar. Hier soll der Patient entscheiden, aber eben richtig entscheiden. Das Subjekt kann hier im Gegensatz zur Chirurgie und Onkologie nicht einfach unterworfen werden, sondern muss als Bündnispartner gewonnen werden6. 1. Patienten und Angehörige 151 Legitimatorische Absicherung: “Darf der Meier sterben?” Die Schwester fragt den Stationsarzt der chirurgischen Abteilung, ob Herr Meier sterben dürfe. Der Stationsarzt beantwortet die Frage: 8:45 Stationszimmer (am Frühstückstisch) Schwester Margot: Darf der Meier sterben? Stationsarzt Scholz: Ja, der darf sterben. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier die Schwester den Arzt fragt, ob ein Patient sterben dürfe, verdeckt den bemerkenswerten Sachverhalt, dass es hier um eine Entscheidung um Leben und Tod geht, und dass diese Entscheidung von einem Arzt zu treffen ist. Weder dem Patienten selber noch den Angehörigen, aber auch nicht den Schwestern, welche diesbezügliche Patientenwünsche möglicherweise besser kennen als der Arzt, steht die Entscheidung über den Tod zu. Nur dem medizinischen Blick ist das abschließende Urteil erlaubt. Auch hier haben alle anderen nichts zu entscheiden. Wenn die Todesstunde prinzipiell durch intensivmedizinische Maßnahmen hinausgeschoben werden kann, dann wird das Sterben nun zum medizinisch-legitimatorischen Problem. Entsprechend wird nach einem Fachmann verlangt, der diese Entscheidung treffen kann. Nur dieser ist qua definitionem in der Lage, die medizinische Situation zu überblicken, um so zwischen Humanität und administrativ-juristischer Absicherung balancieren zu können. Der todgeweihte Patient wird dabei zwangsläufig der Intimität seines eigenen Sterbeprozesses beraubt, denn die Entscheidung für oder gegen den Tod bleibt prekär (s. hierzu ausführlich die Rekonstruktionen in Kap. VII.2.). Der Patient oder seine Angehörigen haben hier zunächst einmal nichts zu entscheiden. Dies heißt zwar nicht, dass der Arzt diesbezügliche Wünsche nicht auch in seine Überlegung mit einbeziehen kann, aber dennoch ist die Attribution der Entscheidungsverantwortung eindeutig festgelegt. Erst in Form einer juristisch stichfest formulierten Patientenverfügung betrachtet die Medizin den Patientenwillen als eine wirklich ernst zu nehmende Entscheidung. Institutionelle Arrangements: “Springen wir, verhalten oder schauen wir weg?” Der diensthabende Pfleger der onkologischen Station kommt freitagnachmittags in den Personalaufenthaltsraum und fragt den Stationsarzt, was geschehen solle, falls sich bei Herrn Zadek oder bei Herrn Paul der Gesundheitszustand verschlechtern sollte. Der Stationsarzt gibt daraufhin die Anweisung, dass bei dem einen auf jeden Fall die Maximaltherapie versucht werden sollte, man bei dem anderen jedoch verhalten reagieren könne: 15:10 Personalaufenthaltsraum Pfleger (kommt herein und schließt die Tür): Wie sind unsere Optionen ... Zadek, Paul ... springen wir? ... verhalten? ... oder schauen wir weg? Dr. Kringe: Bei Zadek springen wir verhalten ... bei Paul ziehen wir alle Register ... wenn da stärkere Blutungen sind, bis zur Chirurgie ... . Auf der onkologischen Station zeigen sich ausgefeilte Arrangements im Umgang mit potenziell sterbenden Patienten. Sterben und sterben lassen wird hier zur Routine. Im Sinne abgestufter Antwort- und Reaktionsmuster, welche zwischen Pflegern und Ärzten arbeitsteilig institutionalisiert sind, werden hier Arrangements gefunden, die es erlauben, zwischen den ethisch problematischen Alternativen „Maximaltherapie“ und „Unterlassen“ kleine Lösungen zu finden, etwa in dem Sinne, dass erst einmal ein wenig abgewartet wird, bevor die Bereitschaftsärzte oder gar 152 V. Das medizinische Feld das Reanimationsteam gerufen wird. Im Sinne rechtlich legitimatorischer Absicherung werden diese Entscheidungen wieder unter Führung der Ärzte getroffen. Die Wünsche der Patienten und Laien können hier wieder nur mittelbar - eben über den Weg der ärztlichen Entscheidung - zur Geltung gebracht werden. Das kranke Subjekt - nur Umwelt medizinischer Organisationen? In den Gesundheitswissenschaften findet sich unter Namen wie “informed consent“, „shared decision making“ und „informed decision making“ ein breiter Diskurs über normative Modelle der „richtigen“ Arzt-Patient-Beziehung. In diesen wird dann oft ein Idealtyp von einem Patientenverhalten konstruiert, das sich eher am autonomen Gesunden als am hilfsbedürftigen Kranken orientiert (s. z.B. Charles et al. 1997/1999; Guadagnoli et al. 1998). Letzterer nimmt – zumindest bei schwerer Krankheit – seine Entpersonalisierung und die anderen Unannehmlichkeiten eines Krankenhausaufenthaltes in der Regel billigend im Kauf, da er diese Einrichtung primär im Hinblick auf Fragen, die die fragile Struktur seines Körpers betreffen, konsultiert7. In diesem Sinne stellen Parsons pattern variables (Parsons 1951) weniger eine normative Kategorie dar, wie Ärzte oder Patienten zu sein haben, sondern bilden - wie das wohl auch gemeint war - eine rekonstruierbare Eigenschaft medizinischer Systeme. Die funktionale Spezifität des Arztes ebenso wie die passiv definierte Patientenrolle spiegeln die formalen Verhältnisse eines effizienten und hochgradig arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesundheitssystems, welches erst dadurch operationsfähig wird, indem der Patient sich diesem gegenüber “freiwillig” zum Objekt macht. Die Subjektivität des Patienten und die Arzt-Patient-Kommunikation werden im Hinblick auf das funktionelle Primat der richtigen Diagnose und Therapie zu einem sekundären Problem, dass dann gelegentlich doch ernst genommen werden muss8. Um mit Luhmann zu sprechen: »Der Arzt mag Behandlungschancen dadurch steigern, daß er den Patienten fragen kann; und er muß natürlich respektieren, daß der Patient auch als Mensch anwesend ist und daß wie immer, wenn Menschen zusammen sind, die Höflichkeit eine gewisse Kommunikation gebietet. Aber der Funktionsvollzug läuft mehr oder weniger schweigend ab. Er hat jedenfalls sein Kernproblem nicht in der Kommunikation, sondern in richtiger Diagnose und richtiger Therapie. Die basale Operation des Systems ist nicht an die Form der Kommunikation gebunden. Ein gesprächiger Zahnarzt und ein weniger gesprächiger Zahnarzt können gleich gute Arbeit leisten« (Luhmann, 1983b: 172f). Unfreundlichkeit und emotionales Abreagieren gehören zwar nicht zur Rolle des modernen Arztes, widersprechen dieser jedoch auch nicht. In diesem Sinne ist auch Rohde zuzustimmen, wenn er meint, dass der Patient als Objekt im Krankenhaus keine »Stellung« hat, sondern vielmehr eine »Lage« (Rohde 1974: 397). In der Regel wird über den Kopf des Patienten hinweg entschieden. Die Ausnahmen bestätigen die Regel in dem Sinne, dass der Patient dann eher als dumm, mit mangelnder Krankheitseinsicht ausgestattet gesehen wird, denn als ein eigenständiges und legitimes Entscheidungssubjekt. Im Vordergrund - und in diesem Sinne bestimmt sich auch seine Rolle im medizinischen Feld steht seine existenzielle Abhängigkeit von der Organisation Krankenhaus9. Krankenhäuser stellen in diesem Sinne immer auch totale Institutionen dar (Goffman 1961). Insbesondere eine soziologische Analyse kommt nicht umhin, diese fundamentalen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse anzuerkennen. Patienten, und genauso ihre Angehörigen, stehen im Krankenhaus als Laien10 1. Patienten und Angehörige 153 einer professionellen Organisation gegenüber, deren Logiken und Gesetzmäßigkeiten sie - wenn überhaupt - nur annäherungsweise nachvollziehen können. Das Krankenhaus kann zwar - um in abstrakteren systemtheoretischen Begrifflichkeiten zu sprechen - am Patienten seine systeminternen Operationen anschließen - eben Diagnostik und Therapie betreiben -; der Patient als Person ist jedoch für die primären Funktionsbezüge uninteressant - es sei denn, er wird zum Störfaktor, etwa durch fehlende compliance oder Einsicht. Letzteres können medizinische Institutionen ihrerseits wieder in Rechnung stellen und durch vermehrte Kommunikation beantworten. Wenngleich die Rekonstruktion der Rolle des Patienten im medizinischen Feld zunächst zu dem Ergebnis führt, dass der Patient hier eigentlich im Hinblick auf seine Therapie und Diagnose nichts zu melden hat, so bedeutet dies keineswegs, dass die funktionelle Depersonalisierung des Patienten innerhalb der medizinischen Strukturen nicht auch durchbrochen werden kann. Im Einzelfall kann ein Patient auch als Person Eindruck machen und über den Weg der ArztPatient-Beziehung manchmal auch therapeutische Entscheidungen in Richtungen triggern, die aus medizinischer Sicht unvernünftig erscheinen (s. hierzu ausführlich Kapitel VII.3.). Die hier gegebenen und anschließenden strukturellen Beschreibungen des medizinischen Feldes zeigen in diesem Sinne eher den Möglichkeitsraum sozialen Handelns auf und sind nicht im Sinne einer mechanistischen Determination sozialer Abläufe zu verstehen. (d) Exotische Patientenwünsche Wenngleich Patienten, wie auch die Angehörigen, eigentlich im Hinblick auf Therapie, Diagnose, aber auch die organisatorischen Abläufe im Krankenhaus eigentlich nichts zu entscheiden haben, so können sie dennoch eine Wirkung auf die Abläufe ihrer Behandlung haben, wenngleich nicht immer in Form ihrer ursprünglichen Intention. Explizit oder implizit gestellte Patientenansprüche können mit den Funktionsabläufen der Station übereinstimmen oder zumindest komplementär sein, können aber auch den üblichen medizinischen Routineabläufen zuwiderlaufen oder zumindest mehr Arbeit machen. Die Bereitschaft der Ärzte, mit diesen Komplikationen umzugehen, hängt dabei wesentlich auch davon ab, welche Motivation den jeweiligen Patienten attribuiert wird. All jene Patienten, deren Wünsche seitens der Ärzte in irgendeiner Form noch als legitim betrachtet werden, „poppen“ gleichsam aus dem medizinischen Status eines objektivierten Körpers in die Rolle einer Person, mit deren Interessen und Präferenzen man sich nun mehr oder weniger auseinanderzusetzen hat. Zur anderen Gruppe gehören Patienten, deren Wünsche bzw. ihren Willen man nicht ernst zu nehmen braucht. Diese werden pathologisiert (z.B. als psychiatrische Fälle), infantilisiert (als dumme, unwissende Personen) oder dämonisiert (als böswillige Patienten). Ob nun in ihren Motiven akzeptiert oder pathologisiert - diese Patienten stören die routinemäßigen Entscheidungsabläufe auf der Station. Da die Beobachtung solcher Fälle die spezifischen Eigenarten des ärztlichen Entscheidungsgefüges besonders deutlich werden lässt, werden diese in den Prozessanalysen unter dem Thema »“Schwierige“ Patienten (VII.3.)« ausführlich und gesondert behandelt. An dieser Stelle wird demgegenüber die Behandlung von Patientenwünschen thematisiert, die zwar im Einzelfall auch mal exotisch oder befremdlich erscheinen mögen, jedoch die Funktionsabläufe des Krankenhauses selbst nicht in Frage stellen. Diese Wünsche führen zwar V. Das medizinische Feld 154 nicht zu Entscheidungskonflikten, verdeutlichen aber gerade dadurch in Abgrenzung zu den die üblichen Gefüge störenden Wünschen die grundlegenden Orientierungsrahmen ärztlichen Handelns. Patient und Kunde: “Mache mich ab dem 1.4. selbständig und die Operation sollte vorher geschehen.” Ein 32 Jahre alter Mann kommt aufgrund von Beschwerden in der linken Leiste in die chirurgische Sprechstunde. Der Chirurg untersucht ihn und stellt dann fest, dass es hierbei um eine Leistenhernie sowie eine Samenstranglipase auf der rechten Seite handelt. Den endgültigen Befund im Hinblick auf die andere Seite sollte man am besten während der Operation erheben. Der Patient bittet daraufhin um einen baldigen OP-Termin, da er die Absicht habe, sich in 3 Wochen selbständig zu machen, und bis dahin die Sache erledigt sein solle. Der Arzt erklärt zunächst, dass dies schwierig sei, dann aber findet sich doch noch eine Lösung, deren Modalitäten im Weiteren abgesprochen werden: Herr Schneider: Ich mache mich ab dem 1.4. selbständig und es müsste vorher geschehen. Dr. Malek: Schwierig ... ich kenne jetzt den Plan nicht. Herr Schneider: Wäre jetzt wichtig für mich ... Dr. Malek: Gut, wenn Sie sonst keine Krankheiten haben. Was wir machen können. Sie kommen zur Narkosesprechstunde am Freitag, wofür Sie sich zweieinhalb Stunden Zeit nehmen müssen. ... Dann können Sie am Montag operiert werden. ... Wir machen das so: ... laparoskopische Technik. Ein Netz, ein Kunststoffgewebe, wie wenn man einen kaputten Eimer von innen flickt. ... Da wächst dann das Bindegewebe ein und macht eine gute Narbe. ... Wir haben 10 Jahre Erfahrung damit. Bemerkenswert erscheint hier die Tatsache, dass Herr Schneider hier nicht nur als Patient, sondern gleichzeitig als Kunde agiert, der mit dem Arzt die Modalitäten seiner Behandlung verhandelt. Dieser übernimmt hier auch die Rolle eines Dienstleistungsbetriebs, der gleichsam einer Autowerkstatt die terminlichen Wünsche seiner Kunden mit bedient. Die hier aufscheinende Logik eines Werkstattbetriebes steht nicht im Widerspruch, aber auch nicht im Einklang mit den Funktionsbezügen eines modernen Krankenhauses. Wenn alles nach Routine und ohne Komplikationen läuft, ergänzen sich hier die Kunden- und Patientenrollen komplementär und die Behandlung des kranken Körpers lässt sich mechanisch in die Organisations- und Lebensabläufe integrieren. Die Logik des Machbaren kann jedoch jederzeit durchbrochen werden, sei es, dass der kranke Körper anders agiert als erwartet, sei es, dass Notfälle die gewünschte Zeitplanung platzen lassen. Herr Schneider wäre dann nicht mehr Kunde, sondern nur noch Patient unter all den strukturellen Voraussetzungen der Krankenrolle. Das Beispiel steht in diesem Sinne nicht im Widerspruch zu den vorigen Ausführungen, sondern spezifiziert diese. Chirurgie: “Hat eine Biorhythmuskurve mit beigelegt” Herr Meyer, ein 42 Jahre alter Patient, bittet darum, den Operationstermin genau an den Tag zu legen, an dem seine emotionale, physische und geistige Kurve sich auf einem Höhepunkt befindet. Der Chefarzt berücksichtigt den Terminwunsch in dem von ihm erstellten Operationsplan, um dem Patienten einen Gefallen zu tun: 1. Patienten und Angehörige 155 Stationsarzt Scholz (kommentiert dem Beobachter gegenüber eine Patientenakte, in der eine Biorhythmuskurve liegt): Herr Meier hat eine Biorhythmuskurve mit beigelegt und den Wunsch-OPTermin angekreuzt [...] der Chef hat dem Wunsch stattgegeben‚ ‚wenn man einem Patienten einen Gefallen tun kann‘ .... dann gab es aber doch ein Problem mit der Wundheilung. Auch esoterische Wünsche können seitens der Ärzte ohne Probleme bedient werden, wenn sie die eigentliche ärztliche Handlungsdomäne nicht ernstlich berühren. Dem Patienten diesbezügliche Gefallen zu tun, schadet nicht, sondern verbessert bestenfalls Compliance und Therapiemotivation. Diesbezügliche Patientenpräferenzen stehen ebenfalls im komplementären, nicht im konträren Verhältnis zu den medizinisch organisatorischen Abläufen. Im Gegensatz zur Wissenschaft geht es im Medizinsystem nicht darum, den anderen von der richtigen Weltsicht zu überzeugen, sondern darum, die diagnostisch-therapeutischen Funktionsvollzüge anschließen zu können11. Aberglaube muss nicht bekämpft werden, solange er nicht stört - Astrologie ist mit Chirurgie vereinbar, mit Wissenschaft nicht. Komplementarität vs. Konkurrenz: “Misteltherapie ... das stärkt sie ... vor allem wenn man dran glaubt.” Frau Schulz, 45 Jahre alt, wurde palliativ ein Rektumkarzinom entfernt. Die Stationsärztin erklärt auf der Chefvisite, dass die Patientin sich noch bei einem Onkologen vorstellen wolle, um eine Misteltherapie anzufangen. Der Chefarzt bemerkt daraufhin zur Patientin, dass dies sie stärken würde, insbesondere wenn man daran glauben würde. Anschließend bemerkt Prof. Strauss auf dem Gang, dass es für viele Patienten wichtig sei, erst einmal einen Ort zu haben, wo sie hingehen können: Dr. Masur: Und außerdem stellt sie sich in Krankenhaus Südstadt bei einem Onkologen zur Misteltherapie vor. Prof. Strauss: Das ist gut, das stärkt sie ... vor allem wenn man dran glaubt (mit wohlwollendem Klang in der Stimme) (Auf dem Gang) Prof. Strauss: Das ist so, jetzt hat sie einen Halt ... es gibt ja verschiedene Menschentypen, ich bin eher so ein aggressiver Typ ... aber viele wissen dann erst einmal wohin und das ist wichtig. Palliative chirurgische Eingriffe stellen nur noch ein Glied in einer Kette eines manchmal lang andauernden, jedoch unaufhaltsamen Sterbeprozesses dar. Ungeachtet dieser sich hier abzeichnenden biomedizinischen Dramatik übergibt die Stationsärztin dem Chefarzt den Ball, das »Arrangement der Hoffnung« neu zu inszenieren. Entsprechend der in der chirurgischen Abteilung üblichen Praxis, lieber Hoffnung zu verkünden als vor dem drohenden Zerfall zu warnen, ist zu vermuten, dass die Ärztin damit rechnet, dass der Chef die Inszenierung mitspielt und entsprechend die Patientin wohlwollend bestärkt, die komplementäre Therapie zu beginnen. Aus Perspektive des chirurgischen Feldes stellen alternative Verfahren keine Bedrohung dar, solange die angebotenen chirurgischen Interventionen selber nicht in Frage gestellt werden. Demgegenüber zeigt der Vergleich mit der Psychosomatik, dass sich hier das Verhältnis zur “Alternativmedizin” wesentlich problematischer darstellt: Beide vertreten ganzheitliche Medizin, die Verbindung von Seele, Körper und Geist, besetzen also die gleiche Position im medizinischen Feld, stehen also in konkurrenter, nicht in komplementärer Beziehung zueinander. V. Das medizinische Feld 156 Im Kontrast hierzu kann in der Chirurgie die Sinnfrage - da eben Psychologisches und Existenzielles in ihren originären medizinischen Abläufen nicht vorkommt - aus einer Position der naiven Unschuld heraus thematisiert werden. Die Ermutigung an die Patientin, dass „daran glauben hilft“, entfaltet neben der immer auch mitschwingenden ironischen Lesart auch eine religiöse Semantik, ein charismatisches Heilsversprechen, dem einfach ohne Grund vertraut werden soll (s. hierzu auch Sanchez Garcia 1999). Die mit der Misteltherapie verbundene Hoffnung auf Heilung wird hier seitens der Chirurgen nicht nur akzeptiert, sondern in der Chefarztvisite quasi priesterlich neu inszeniert. Dass Orientierungsmuster des medizinischen Blicks durchaus mit spirituellen Orientierungen koexistieren können, zeigen auch die Rekonstruktionen von Wettreck (1999) zum ärztlichen Umgang mit Sterben und Tod auf. Insbesondere der von Wettreck hinzugezogene Kontrast der anthroposophischen Medizin zeigt auf, dass beide Orientierungsrahmen - harte Schulmedizin (“Herzkatheter” und “Chemotherapie”) auf der einen, Glaube (“Reinkarnation”) auf der anderen Seite - auch in institutionalisierter Form innerhalb einer Logik der Praxis durchaus vereinbar sein können. Während jedoch das »naturwissenschaftlich-scientistisch geprägte Medizin-System im Medizinischen Blick« eine weit gehende »Homogenität« in den Orientierungen aufweist, ist die »Spiritualität im Ärztlichen Blick durch multiple weltanschauliche Variationen geprägt« (Wettreck 1999: 321). Gleichsam als Stand und Spielbein ärztlichen Handelns können über die funktionelle Spezifität der jeweiligen Einrichtung hinausgehend zwischen Arzt und Patient auch andere “Arrangements” zur Geltung kommen. Patienten können auch Kunden sein. Zusätzlich können komplementärmedizinische Wünsche oder gar spirituelle Bedürfnisse bedient werden, solange diese nicht mit den primären medizinischen Orientierungen konfligieren. (e) Angehörigeneinflüsse Angehörige sind zwar in der Regel auch Laien und somit abhängig von der Expertise der Ärzte und einer Organisation, deren Abläufe sie nur bedingt durchschauen können. Dennoch behalten sie gegenüber dem in seiner physischen und psychischen Integrität bedrohten Patienten einige Freiheitsgrade - wenn schon nicht unmittelbar, so doch mittelbar auf die medizinischen und organisatorischen Abläufe im Krankenhaus Einfluss nehmen zu können. Dies kann geschehen, indem sie moralischen Druck entfalten, indem sie potenziell eine juristische Überprüfung der Legitimation der von ihnen beobachteten Abläufe einfordern können, oder auch nur, in dem sie ihrerseits vermehrt die Hilfe des Krankenhauses einfordern. Ihre Position im medizinischen Feld kann einerseits komplementär wie auch konträr zu den Interessen der Patienten liegen. In dem einem Fall stellen Angehörige den verlängerten Arm der Patienteninteressen dar, im anderen Fall können Angehörige mit dem Krankenhaus gar in eine Allianz gegen die Bedürfnisse des Patienten eintreten: Moralischer Druck: “Habe das Gefühl, dass er abgeschoben wird” Herr Spondel, ein 71 Jahre alter und multimorbider Patient, ist seit mehreren Wochen wiederholt in stationärer Behandlung auf der internistischen Station. Trotz der bisherigen Behandlungsversuche befindet sich der Mann dennoch in einem prekären Gesundheitszustand, der leicht in Richtung einer lebensbedrohlichen Komplikation umkippen kann. Die Ärzte planen die Verlegung in ein geriatrisches Krankenhaus. Der Sohn des Patienten spricht dem Stationsarzt gegenüber den 1. Patienten und Angehörige 157 Verdacht aus, dass er vermute, der Patient solle abgeschoben werden. Der Arzt antwortet, dass dem nicht so sei, sondern die pflegerische Betreuung in einer geriatrischen Einrichtung besser möglich sei als in einem Akutkrankenhaus: Sohn: Ich habe das Gefühl, dass er abgeschoben wird. Dr. Schmidt: Nein, das ist nicht so, auch in so einem Haus, wie in dem Mauritius wird regelmäßig Blut abgenommen und kontrolliert ... nur hier ist dann bloß ein Akutkrankenhaus, die Schwestern haben hier gar nicht die Zeit, intensiv was mit ihm zu machen ... . Der Sohn artikuliert hier seine (richtige) Vermutung, dass ärztlicherseits nach einem Weg gesucht wird, den Patienten von der Station wegzubekommen. Die Schärfe des Verdachts verpufft jedoch angesichts des rhetorischen Manövers des Arztes. Dennoch entfaltet der Sohn hier in Form eines moralischen Appells einen gewissen Einfluss. Denn das in der Regel nur verdeckt zur Geltung gebrachte administrativ-ökonomische Motiv, Patienten nicht allzu lang auf der teuren Akutstation zu belassen, droht hier entlarvt zu werden – kann aber hier seitens der Ärzte nicht ohne Weiteres eingestanden werden. Wenngleich den Ärzten hier nicht medizinisches Unterlassen vorzuwerfen ist12 - denn prinzipiell ist ja eine medizinische Weiterbetreuung auch in der neuen Einrichtung sichergestellt -, so steht dennoch die moralische Abwertung seitens der Angehörigen im Raum, nicht genug für den Patienten getan zu haben. Absicherung: “Mit den Angehörigen besprochen, auf invasive Maßnahmen zu verzichten” Der Gesundheitszustand von Frau Minker, einer multimorbiden und dementen Patientin, verschlechtert sich rapide. Auf der Oberarztvisite schlägt der Stationsarzt vor, die Frau gegebenenfalls auf die Intensivstation zu verlegen. Der Oberarzt bemerkt, dass diese Patientin eigentlich nicht dort hin solle, da dort wohl kaum die Chance bestehe, sie wieder von der Beatmung zu entwöhnen. Allerdings sei dies von ihm jetzt nur als Ratschlag gemeint. Der Stationsarzt ergänzt daraufhin, dass die Angehörigen die gesundheitliche Lage von Frau Minker noch nicht richtig wahrgenommen hätten. Daraufhin antwortet der Oberarzt, dass man ja überlegen könnte, die Patienten auf der Station zu beatmen. Zwei Tage später erklärt der Oberarzt während der Chefvisite, dass nun auch mit den Angehörigen besprochen sei, auf alle invasiven Maßnahmen zu verzichten. Der Professor bemerkt, dass er mit diesem Prozedere einverstanden sei: Mittwoch, 2.3. Oberarztvisite (auf dem Gang) Dr. Boller: Die könnte dann auf die 02 (Intensivstation). Oberarzt Dr. Heimbach: Die sollte nicht mehr auf die 02. [...] ... Man kann ja dann nur Ratschläge geben ... Ich würde da ... wenn man sie an die Beatmung hängt, dann kriegt man sie nicht mehr entwöhnt. Dr. Boller: Ich habe den Eindruck, die Angehörigen haben das noch nicht so mitgekriegt ... . Dr. Heimbach: Dann überlegen, ob man nicht auf der Station respiriert ... .[...] Freitag, 4.3. Chefvisite Dr. Heimbach: Ist mit den Angehörigen besprochen worden, auf invasive Maßnahmen zu verzichten, wenn eine Verschlimmerung eintritt. Dr. Martin: Auf alle Maßnahmen ... . Prof. Dr. Marek: Ist dann wohl auch in Ordnung. V. Das medizinische Feld 158 Während therapeutische Mühen, die aus medizinischer Sicht “sinnlos” erscheinen, sich immer als Versuch der Lebensrettung rechtfertigen lassen, bringt im umgekehrten Fall der Verzicht auf die Maximaltherapie die Ärzte den Angehörigen gegenüber in einen Legitimationszwang. Gegenüber der macht- und hilflosen Lage der Patienten befinden sich die Angehörigen in der Position, ärztliches Handeln und Unterlassen gegebenenfalls auch juristisch in Frage stellen zu lassen. In diesem Sinne müssen die Angehörigen immer dann, wenn die Rechtslage diesbezüglich nicht eindeutig ist, mit ins Boot geholt werden - erst dann und nur dann ist es „wohl auch in Ordnung“, auf weitere invasive Therapien zu verzichten. Angehörige als Therapiebegründung: “Das mit der Chemotherapie würde sie nur wegen der Kinder machen” Frau Sommer leidet unter einer terminalen Krebserkrankung und liegt nach einem palliativen Eingriff auf der chirurgischen Station. Professor Diesfeld, ein Hämatologe, erkundigt sich telefonisch nach der Patientin. Der Pfleger berichtet, dass es ihr schlecht gehe und erklärt anschließend den Schwestern gegenüber, dass er es schrecklich fände, angesichts ihres terminalen Zustandes noch eine Chemotherapie beginnen zu wollen. Schwester Anne bemerkt hieraufhin, dass dies jetzt nur noch dazu diene, der Patientin eine Hoffnung zu machen. Kurze Zeit später steht Professor Diesfeld vor der Tür und erkundigt sich nochmals nach dem Zustand der Patientin. Der Pfleger berichtet, dass es der Patientin sehr schlecht gehe und dass sie außerdem jetzt Sauerstoff bekomme. Der Professor erklärt, dass er nochmals mit dem Chefarzt der Station über die geplante Chemotherapie sprechen wolle. Die Patientin habe ihm gesagt, dass sie die Therapie jetzt nur noch ihren Kindern zuliebe machen wolle, denn sie selber sei mittlerweile in der Lage, gefasst zu sterben: Pfleger Martin: ... der will dann noch eine Chemotherapie mit ihr machen, furchtbar, die hat doch Metastasen überall ... ist ja ein Unsinn ... . Schwester Anne: Ist doch nur noch, um der eine Hoffnung zu machen ... [...]. Prof. Diesfeld: Sie hat mir auch gesagt, sie kann gefasst sterben, das mit der Chemotherapie würde sie sowieso nur wegen der Kinder machen ... das wäre sowieso auch nur eine palliative Therapie gewesen. Wenngleich sowohl im pflegerischen als auch im ärztlichen Team Einigkeit darüber besteht, dass eine weitere Chemotherapie von keinem klinischen Nutzen mehr ist, scheint hier dennoch die Erwartung im Raum zu stehen, es doch noch zu versuchen. Bemerkenswert erscheint in unserem Zusammenhang, dass der Professor die Kinder als die eigentlichen Zielakteure der Hoffnung ansieht – denn nur diesen zuliebe wolle die Patientin noch die Therapie anfangen. Ohne hier die empirische Basis dieser Zuschreibung überprüfen zu müssen, kann hier festgestellt werden, dass diese Begründung mit einer Selbstverständlichkeit gegeben wird, die darauf hinweist, dass Begründungsmuster dieser Form in medizinischen Zusammenhängen nicht ungewöhnlich erscheinen. Insbesondere auf der onkologischen Station taucht dieses Motiv – die Patienten scheinen bereit zu sterben, während die Angehörigen den nahen Tod noch abwenden wollen - wiederholt auf13. 1. Patienten und Angehörige 159 Angehörige als Co-Therapeuten: “Wenn die Kinder am Wochenende nicht da sind, können wir Frau Maaßen nicht entlassen” Die Ärzte der chirurgischen Station benötigen ein Frauenbett und überlegen, wen sie nun entlassen können. Frau Fender scheint eine mögliche Kandidatin darzustellen, unter der Voraussetzung, dass ihre Kinder am Wochenende die Pflege der Patientin übernehmen können. Die Stationsärztin versucht die Angehörigen telefonisch zu erreichen, jedoch vergeblich: Freitag, 4.4. im Stationszimmer, vor dem Bettenplan Oberärztin Dr. Puls: Können wir Frau Fender entlassen? Dr. Schneider: Die Frage ist, ob die Kinder am Wochenende da sind ... kann ja sein, dass die am Wochenende ausgeflogen sind ... (Dr. Schneider setzt sich an das Telefon und wählt eine Nummer, erreicht jedoch niemanden). Wenn wir die Kinder nicht erreichen, dann können wir Frau Zander nicht entlassen ... . Angehörige werden hier zu Co-Therapeuten, denen ein Teil der pflegerischen Aufgaben übertragen werden kann. Aus der Perspektive des ärztlichen Feldes stellt die Pflege im Krankenhaus zwar einen unverzichtbaren Bestandteil der ärztlichen Arbeit dar. Dieser kann jedoch als Anhängsel der eigentlichen Arbeit durchaus auch an kompetente Laien delegiert werden. Unter dem ökonomischen Primat immer kürzerer Liegezeiten werden Patienten und Laien hier zu »Prosumenten« (Toffler 1990)14. Von ihnen kann verlangt werden, einen Teil der Krankenversorgung mit zu übernehmen. Angehörige können hier gebraucht werden, essenzielle Bestandteile der Krankenbehandlung mit zu übernehmen und scheinen hier zunächst Autonomie und Partizipationsmöglichkeiten zu gewinnen. Der Autonomiegewinn zeigt sich jedoch bei näherem Hinsehen als Schein, denn im Hinblick auf die ökonomische Basis dieses Deals stehen die Prosumenten hier als die Verlierer dar. In einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft können private Pflegeleistungen nur erbracht werden, wenn man über die nötigen ökonomischen Reserven verfügt – also diese Arbeit unentgeltlich leisten oder einkaufen kann. Des Weiteren muss hier nochmals betont werden, dass die Angehörigen in der Regel nicht an den therapeutischen und institutionellen Entscheidungen beteiligt werden, wenngleich die sozialen Lasten in der Regel zunächst in das Laiensystem ausgelagert werden. Arrangement zur Sterbebegleitung: “Die Schwiegertochter ist jetzt völlig überfordert” Frau Mohn ist eine 92 Jahre alte Frau, die gegen ihren Wunsch, sich medizinisch behandeln zu lassen, auf die internistische Station aufgenommen wurde. Nachmittags klärt die Ärztin den Sohn und seine Frau darüber auf, dass wohl bald mit dem Sterben zu rechnen sei. Die Schwiegertochter erklärt, dass sie in den letzten Wochen mit der Pflege überfordert gewesen sei, gerade auch, da die Patientin eine ärztliche Behandlung abgelehnt habe. Die Ärztin berichtet dem Oberarzt von dem Gespräch. Dieser zeigt Verständnis für die Überforderung der Schwiegertochter: Oberarzt: ... Klar ... die Schwiegertochter ist jetzt völlig überfordert ... kann dann auch nicht richtig betreuen ... keine Infusionen geben, wenn die austrocknet. Jenseits der familiären Sterbebegleitung und der in statistischer Sicht eher unbedeutenden Hospizinitiativen erfüllen gerade auch die Akutkrankenhäuser „nebenberuflich“ den informellen V. Das medizinische Feld 160 Auftrag, die nackte und allzu bedrohliche Nähe des Sterbens aus dem alltäglichen gesellschaftlichen und familiären Leben herauszuhalten. Wenngleich administrativ und abrechnungstechnisch diese Leistung nicht formell zur Geltung gebracht werden kann, ist der informelle Auftrag zur Sterbebegleitung - als verdeckte soziale Indikation - längst zur routinierten Praxis geworden. Aus soziologischer Perspektive besteht zu der Funktion des Krankenhauses, Sterben in einem entemotionalisierten und sterilen Raum zu ermöglichen, keine Alternative. Während sich das Akutkrankenhaus eines Pflegefalls in der Regel lieber heute als morgen entledigt, so gehört der Sterbende traditionsgemäß zu seiner ureigensten Domäne. Das Krankenhaus ist – und bleibt wohl auch - Sterbeort Nummer 1. Routiniert und rationalisiert kann hier der Tod bewältigt werden, entlastet den Laien von dieser Last und dient ihm zugleich als entlastende Projektionsfläche, diesem die kühle Rationalität im Umgang mit dem Sterben vorwerfen zu können. In Bezug auf die medizinischen Entscheidungen haben Angehörige zwar eine Randstellung im medizinischen Feld, können aber dennoch einen gewissen Druck auf die Akteure im Krankenhaus ausüben – sei dies in Form moralischer Appelle oder der immer mitschwingenden Möglichkeit, eine juristische Überprüfung der Abläufe auf der Station veranlassen zu können. Hinsichtlich der Verteilung der pflegerischen Lasten stehen Angehörige und Krankenhaus in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, d.h. die Pflegeaufgaben können stückweise der einen oder anderen Position zugeschoben werden. (f) Zusammenfassung Laienbereich − Während der Umgang mit Krankheit und Sterben für den Professionellen eine mehr weniger routinierte Alltäglichkeit darstellt, wirft die existenzielle Bedrohung durch Krankheit den Patienten in einen Raum der Außeralltäglichkeit, deren Gesetzen er mehr oder weniger hilflos ausgeliefert ist. − Die Gestaltung offener und geschlossener Bewusstheitskontexte (Glaser & Strauss) bleibt ein zentrales, strukturierendes Merkmal der Beziehung zwischen Professionellen und Laien. Kleinere und größere Täuschungen im Sinne eines »Arrangements der Hoffnung«, Verschweigen von Drittinteressen und nicht zuletzt eine Informationspolitik, die rechtliche Angreifbarkeit vermeidet, gehören zum Alltag in medizinischen Institutionen und schaffen Verhältnisse, die für den Außenstehenden oft nur schwer zu durchdringen sind. − Entscheidungen über Therapie, Diagnose und Beendigung der Therapie unterstehen primär der ärztlichen Domäne. Der Patient erscheint hier in der Rolle des Überforderten. Seine “Widerstände” werden in der Regel als fehlende Krankheitseinsicht betrachtet. Insbesondere auch die Frage, ob ein Patient sterben darf, obliegt der ärztlichen Entscheidungsdomäne. Systemisch gehört der Patient zur Umwelt medizinischer Organisationen; tendenziell hat er nichts zu entscheiden. − Patientenwünsche, die dem medizinischen Rational der jeweiligen Station nicht widersprechen, können und werden im Sinne einer erweiterten Dienstleistung bedient werden. In diesem Sinne fordert auch der Wunsch nach komplementären, esoterischen Heilverfahren nicht unbedingt zum Widerspruch heraus, sondern kann durchaus mit bedient werden. − Falls das Verhalten des Patienten der üblichen medizinischen- und organisatorischen Logik fundamental zu widersprechen scheint, “poppt” dieser gleichsam aus dem medizinischen 2. Pflegebereich 161 Status eines objektivierten Körpers heraus und wird zu einer Person, mit deren Interessen und Präferenzen sich die Ärzte nun wohl oder übel auseinandersetzen müssen. Vielfach geschieht diese Auseinandersetzung jedoch nur in der Form, dass die betroffene Person auch in geistiger Hinsicht “pathologisiert” wird, z.B. indem ihr fehlende Krankheitseinsicht zugeschrieben wird. − Die Angehörigen können im medizinischen Feld moralischen Druck entfalten bzw. über die Androhung juristischer Schritte versuchen, Einfluss auf die Krankenhausabläufe zu nehmen. Ihre Interessen im medizinischen Feld können dabei sowohl komplementär als auch konträr zu denen der Patienten liegen. Insbesondere in der Frage des angemessenen Sterbens zeigen sich hier oft Diskrepanzen zwischen Patient und Angehörigen. 2. Pflegebereich (inkl. paramedizinische Berufe) Die Professionalisierung der Pflege bedeutet auf der inhaltlichen Ebene, dass die Pflege nicht mehr dem ärztlichen Bereich untergeordnet ist, sondern einen eigenständigen Anteil am Heilungsprozess innehat (Rohde 1974: 292). Im Sinne der arbeitsteiligen Prozesse im Krankenhaus kommen der Pflege nach Rohde (1974: 294) insbesondere folgende Aufgaben zu: die physische Pflege (1), die unterstützende emotionale Versorgung (2), die Patientenerziehung (3) und die kommunikative Vermittlung zwischen medizinischer und Laienwelt (4), des Weiteren - wie insbesondere Strauss (1998: 106 ff.)15 herausgearbeitet hat - die Kontrolle von Lebensfunktionen und Patientenverhalten (5). Auf der organisatorischen Ebene zeigt sich die Eigenständigkeit der pflegerischen Domäne zunächst einmal in der strikten Trennung des ärztlichen und pflegerischen Teams in zwei jeweils getrennten Stäben, die jeweils über eigene formelle und informelle Hierarchien verfügen. Die Trennung manifestiert sich auch in den formalen und organisatorischen Prozessen: In der Patientenakte findet sich getrennt sowohl eine ärztliche als auch eine Pflegedokumentation. Die Dienstübergaben der Pfleger und der Ärzte laufen in der Regel unabhängig voneinander und auch die Teilnahme von Pflegekräften bei Chef- oder Oberarztvisiten stellt eher die Ausnahme denn die Regel dar. Wenngleich sich die Pflege im Hinblick auf Status, Anerkennung und explizite Entscheidungsbefugnisse zweifelsohne in der schwächeren Position befindet, gelingt es ihr, organisatorische Privilegien auch gegen ärztliche Interessen und Bedürfnisse durchzusetzen. Die ärztliche Hierarchie hat keinen direkten Durchgriff auf die Pflege. Für die Errungenschaften ihrer Professionalisierung muss die Pflege jedoch auch einen Preis bezahlen. Dieser besteht einerseits darin, dass die nicht rationalisierbaren Aspekte der Pflege zunehmend geopfert werden müssen - denn einfach nur da zu sein und für den Patienten Zeit zu haben, stellt an sich weder eine speziell professionelle Qualität noch eine Aufgabe dar, die von speziell ausgebildeten Fachkräften zu leisten wäre16. Andererseits bestehen die Kosten der professionellen Autonomie der Pflege darin, die Grenzlinie gegenüber dem ärztlichen Bereich zusätzlich zu zementieren. Im Hinblick auf Entscheidung über Diagnose, Therapie sowie Therapieabbruch haben die Pfleger nicht mitzureden. Diese Domäne bleibt fest in ärztlicher Hand. Der interprofessionelle Dialog - von verschiedenster Seite und wiederholt gefordert - findet nur in Ausnahmen statt. Wenngleich die Pfleger oftmals als Verbündete des Patienten über seine Präferenzen gut Bescheid wissen und etwa auch die möglichen sozialen Implikationen der ärztlichen Therapieentscheidungen beurteilen können, so kommt dieses Wissen in den ärztlichen V. Das medizinische Feld 162 Entscheidungsprozessen in der Regel kaum zur Geltung. Im Folgenden werden zunächst unter dem Blickwinkel der Arbeitsteilung im modernen Krankenhaus einige Aufgaben der Pflege etwas ausführlicher vorgestellt. Im Anschluss daran werden einige Charakteristika der Beziehung zum ärztlichen Feld beleuchtet, um dann schließlich abschließend auf die Rolle der Pflege in medizinischen Entscheidungen einzugehen. (a) Aufgaben des Pflegebereichs Insbesondere die Pionierarbeiten von Strauss (s. a. Strauss 1994: 110 ff.) weisen darauf hin, dass der Alltag von Pflegern neben der Erfüllung der bekannten Versorgungsaufgaben im Wesentlichen durch eine Kontrollfunktion geprägt ist. Wenngleich durchaus Unterschiede in den Arbeitsbeschreibungen deutscher und amerikanischer Krankenpfleger bestehen17, so sind dennoch beide Funktionen kultur- und stationsübergreifend als eine Schlüsselkategorie pflegerischer Arbeit im Krankenhaus anzusehen. Überwachungsfunktion: “Aber die ganze Zeit hatte sie den Monitor im Auge” Im Folgenden möchte ich die Kontrollfunktion am Beispiel einer Beobachtungssequenz von Anselm Strauss verdeutlichen: »Heute beobachtete ich Krankenschwester T. etwa eine Stunde bei der Arbeit mit einem Patienten, der erst vor vier Stunden operiert worden war. Im allgemeinen war die Arbeit gemischt. Sie wechselte den Bluttransfusionsbeutel. Sie machte ihn leer und drückte eine Luftblase heraus. Später wechselte sie ihn erneut; später füllte sie die Infusionsflasche, mit einer mechanischen Bewegung. Sie leerte den Urinbehälter einmal. Sie maß Fieber. Sie setzte eine Spritze mit Beruhigungsmittel in den Schlauch ein, der zum Hals des Patienten führte. Sie gab eine Kaliumlösung in die nichtautomatische Vorrichtung für die künstliche Ernährung. Aber die ganze Zeit hindurch hatte sie den Monitor im Auge (auch wenn sie nicht unbedingt draufschaute), der die Herzströme und den Blutdruck aufzeichnete. Einmal drückte sie den Apparateknopf, um eine fünfzehnminütige Aufzeichnung der Herzfunktion zu bekommen. Und einmal leerte sie den Blasenkatheter, der zum Unterleib des Patienten führte. Und regelmäßig machte sie Notizen über die Aufzeichnungen wie auch davon, was sie gemacht hatte. Einmal bewegte sich der Patient, als sie seinen Arm berührte: Sie sagte dann ganz nett, daß sie dabei sei, ihm eine Injektion zu geben, die ihn entspannen würde. Er gab ihr zu verstehen, daß er sie verstanden hatte. Ein anderes Mal bemerkte sie, daß sich der Blutdruck nicht schnell genug absenkte; sie sagte dies dem Stationsarzt und schlug ihm vor, daß etwas getan werden sollte« (Strauss 1998: 95, 96). Neben den routinierten medizinischen Versorgungsaufgaben werden hier von der Schwester beständig die Lebensfunktionen des Patienten überwacht. Der Monitor ist im Blickwinkel, regelmäßig wird Fieber und Blutdruck gemessen und sobald die Werte in einen Bereich kommen, der nicht mehr der Norm entspricht, wird der Arzt zu Hilfe geholt, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Im Kontrast zum Mediziner, beschränkt sich die Aufgabe der Pfleger auf die Überwachung der Lebensfunktionen, denn die Entscheidung zur therapeutischen Intervention obliegt den Ärzten. Den Krankenpflegern bleibt allenfalls übrig zu entscheiden, ob und wann ein Arzt herbeigerufen wird. Die pflegerischen Entscheidungsspielräume sind hier jedoch eher als begrenzt zu sehen, denn einen Arzt nicht gerufen zu haben, bedeutet immer auch, in der Überwachung versagt zu haben und die Nichtbeachtung von Signalen des Patienten kann weit 2. Pflegebereich 163 reichende Konsequenzen mit sich bringen. Im Zweifelsfall ist deshalb immer der Arzt zu rufen, es sei denn, man hat vorher mit den Ärzten ein Arrangement getroffen - etwa in dem Sinne, dass bei einem palliativen Patienten nur noch „verhalten zu springen sei“. Entsprechend stellt sich auf der pflegerischen Seite die Frage, ob der Arzt informiert werden soll oder nicht, eher selten. Die Entscheidung, nicht zu involvieren, bedeutet immer auch, sich gegen die explizite Norm des Krankenhauses zu stellen. In Einzelfällen - insbesondere im Kontext psychosomatischer und psychiatrischer Kliniken als Allianz von Patient und Pfleger gegen die medizinische Logik beobachtet - kann dies geschehen, jedoch nur um den Preis der Geheimhaltung und Individualisierung der Verantwortungsübernahme. Strukturell befindet sich die Pflege nicht in der Rolle einer autonomen Profession, sondern in der Rolle des Helfers. Kontrollfunktion: “Wenn die Patientin schreit, werden die anderen denken, ich kümmere mich nicht um sie” Die Kontrolle der Pfleger bezieht sich nicht nur auf die körperlichen Funktionen des Patienten, sondern zielt auch auf sein Verhalten, insbesondere auf seine emotionalen Ausdrucksformen, wie die folgende Sequenz deutlich werden lässt: »Eine forsche Krankenschwester erzählt, daß sie zu der Patientin geht und sie bittet, ihre Schmerzenslaute zu dämpfen; sagt, daß die anderen das auch tun, aber wir sollten das überprüfen. Sie tut das, weil “ich denke, wenn die Patientin schreit, dann werden die anderen denken, ich kümmere mich nicht um sie – das heißt Personal und Patienten. Und wenn ich sie weiterschreien lasse, wird jemand kommen und sie zu beruhigen versuchen”, das würde auch bedeuten, daß man diese Krankenschwester für inkompetent hält. Deshalb sieht sie die Kontrolle der Schmerzäußerungen als Teil ihrer Hauptarbeit« (Strauss 1998: 111). In der Reflexion der Krankenschwester offenbart sich ein Muster wechselseitiger sozialer Kontrolle im pflegerischen Feld. Ein schreiender Patient bedeutet, dass dieser nicht gut versorgt wird. Das hörbare Erfolgskriterium pflegerischer Leistung besteht darin, dass Ruhe auf der Station herrscht. Allzu starke emotionale Reaktionen sind deshalb seitens der Pflege in den Griff zu kriegen. Auch Trauer und Depression, wenngleich verständlich und emphatisch nachzuvollziehen, sollten nicht überhand nehmen. In diesem Sinne ist es auch nicht verwunderlich, dass eine großzügige Bedarfsmedikation mit Psychopharmaka und Schmerzmittel zum pflegerischen Alltag der onkologischen Station gehört18. Auch der Tod - wenngleich ein vertrautes Übel - sollte in seiner Dramatik und Schmerzhaftigkeit nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Mit dem Hinweis auf die Patientenwürde - einer Begründung, der wohl kaum zu widersprechen ist werden sterbende Patienten seitens der Pflege in der Regel ungefragt in ein Einzelzimmer verlegt. Durchaus auch unter die Kontrollfunktion der Pflege zu subsumieren sind die weit verbreiteten Bemühungen der Pflege, ihre Patienten erziehen zu wollen. Bei allzu auffälligen Kandidaten neigen die Schwestern dazu, diese zu psychiatrisieren, und versuchen, auf die Ärzte Druck zu entfalten, diese in entsprechende Einrichtungen zu überweisen19. Die Versorgungsfunktionen - neben der Kontrollfunktion20 die zweite zentrale Aufgabe der Pflege - lässt sich mit Strauss et al. (1997) in ein Spektrum unterschiedlicher Formen von „Arbeit“ auffächern, welche alle geleistet werden müssen, um die Abläufe in der Krankenversorgung reibungslos gestalten zu können. Zu unterscheiden sind: sentimental work - die Balancierung emotionaler Zustände, insbesondere auch die Integration von Verlust und Trauererfahrungen, comfort work V. Das medizinische Feld 164 - die Sorge für das körperliche Wohlbefinden, und articulation work - die Etablierung einer erfolgreichen Kommunikation zwischen Patient und der Krankenhausorganisation. Über diese unmittelbar Patienten bezogenen Aufgaben hinaus bestimmen auch zahlreiche organisatorische und administrative Tätigkeiten den pflegerischen Alltag (Bettenmanagement, Terminkoordination, Materialbestellung, Aktenführung, etc.). Im Sinne meiner Untersuchungsfragestellung kann ich hier nicht auf die vielfältigen Facetten der pflegerischen Arbeit eingehen. Es werden im Folgenden nur die Aspekte beleuchtet, welche Licht auf die Stellung der Pflege im medizinischen Feld werfen bzw. im Hinblick auf die medizinischen Entscheidungsprozesse relevant werden können. Insbesondere im Bereich der emotionalen Patientenversorgung zeigen sich oftmals stärkere Diskrepanzen zwischen der ärztlichen und der pflegerischen Perspektive. Während - wie Rohde (1974: 107 schon zutreffend feststellt – “freundlich zu sein”, nicht unbedingt zur Rollenbeschreibung eines Krankenhausarztes gehört, gehört die Kunst, emotionale Zustände geschickt balancieren zu können, zu den zentralen pflegerischen Fähigkeiten, denn im Sinne der Aufrechterhaltung der medizinischen Funktionsvollzüge muss der Patient bei guter Laune gehalten werden - allein schon um die Zumutungen der ärztlichen Therapien und Diagnosen aushalten zu können. Während der Arzt im Sinne seiner funktionalen Spezifität den Patienten objektiviert, den Blick auf das kranke Organ richtet und damit tendenziell den Patienten als Person ignorieren muss, steht der Pfleger eher auf der subjektiven Seite des Patientenbewusstseins, und Bewusstsein wird bekanntlich durch Kommunikation genährt. Entsprechend wird es zur Aufgabe der Pflege, den Unmut der Patienten über die entwürdigenden Zumutungen der »totalen Institution« Krankenhaus (Goffman 1961) aufzufangen, auch wenn dieser sich oftmals nur indirekt - etwa Klagen über die Qualität des Essens - ausdrückt. Trauer und Ängste - sich vielfach in unsinnig erscheinenden Anliegen des Patienten ausdrückend - müssen ein Stück weit begleitet werden, und nicht zuletzt die Phasen des Sterbens verlangen eine emotional stützende Betreuung. Die Sterbebegleitung stellt in vieler Hinsicht gar das Paradebeispiel der pflegerischen Betreuung dar. Sentimental work: “Die Schwestern schauen dann vermehrt rein ... Die Ärzte schauen immer weniger rein.” Eine Famulantin fragt den angehenden Arzt, wie es denn mit Frau Hof weitergehe, einer Patientin, die offensichtlich im Sterben liege. Auf die Frage der Praktikantin hin entwickelt sich ein kurzes Gespräch über das Sterben im Krankenhaus: Famulantin: Wie geht es mit der Hof jetzt weiter? Arzt im Praktikum: Die bleibt jetzt schon da, ja. Famulantin: Sterben die hier oft? Schwester Anne: Die sterben hier schon öfters. Famulantin: Sterben die im Gemeinschaftszimmer? Schwester Anne: Nein, das ist unwürdig für die Patienten und die Mitpatienten. [...] Schwester Anne: Die Schwestern schauen dann vermehrt rein, das machen die alle von ganz alleine, die Ärzte schauen immer weniger rein. Famulantin: Warum schauen die immer rein? Schwester Anne: ... damit die nicht alleine ist. 2. Pflegebereich 165 Famulantin: ... und die Verwandten melden sich nicht? Schwester Anne: Ich weiß gar nicht, ob die welche hat ... . Bemerkenswert erscheint zunächst die Naivität, mit der die Famulantin hier die Frage des Sterbens im Krankenhaus stellt. Die Tatsache, dass der Tod zum Alltag des Krankenhauses gehört, scheint für sie bisher nicht präsent zu sein, ebenso wenig der institutionelle Modus operandi des Sterbens - die Abschirmung des Patienten in einem Einzelzimmer, die Zuwendung der Pfleger und der Rückzug der Ärzte. Die Begründung der Schwester für ihren Einsatz heißt hier schlicht: „Damit die nicht alleine ist“. In dieser Äußerung drückt sich ein Paradigmenwechsel gegenüber dem medizinischen Funktionsprimat aus. Nicht mehr Heilung oder Lebenszeit zu gewinnen steht im Vordergrund, sondern allein die Beziehung zum Patienten zählt. Diese stellt hier gleichzeitig Zweck und Mittel des Engagements dar. Ärztliches Handeln wird nun überflüssig21 - entsprechend kommen die Ärzte immer weniger ins Zimmer22. Die Beziehungsarbeit wird hier in professioneller Form geleistet, findet in einem speziellen Raum statt, damit der Prozess nicht zufällig durch Mitpatienten oder Gäste “gestört” wird. Die Frage nach den Verwandten, die hier scheinbar auf der Station wenig präsent sind, scheint aus der Perspektive der Schwestern wenig Beachtung zu finden, denn sie können im Sinne ihres professionellen Funktionsbezuges ihre Arbeit auch ohne die Angehörigen verwirklichen. Im arbeitsteiligen Prozess des Krankenhauses stellt »sentimental work« die ureigene Domäne der Pflege dar, gleichsam die systemische Antwort auf das Problem, dass hierfür die Ärzte weder Zeit haben noch hierfür besonders qualifiziert sind. Die emotionale Betreuungsarbeit der modernen Pflege darf hier jedoch nicht im Sinne des traditionell christlichen Helferideals verstanden werden. Die aufopfernde Pflege des Kranken stellt keinen Wert mehr „an sich“ dar, dem als “Bewährung vor Gott” nachzukommen sei. In der modernen Gesellschaft ist die traditionell christliche Bewältigungsstrategie wenig nachvollziehbar, denn wenn unter dem Druck der Individuierung (s.a. Brose, 1988) die Selbstthematisierung der eigenen Leistung und Gefühle zum zentralen Bewährungskriterium einer Gesellschaft wird, verliert die Aufopferung im Dienen zunehmend an Attraktivität. Eine solche Haltung stellt, wie auch Klitzing-Naujoks et al. beschreiben, einen heute nicht mehr gangbaren »Bewältigungsweg« dar. Dem stehe schon allein die »hohe Qualifizierung« des Pflegepersonals entgegen. Zudem bliebe auch die Frage nach »dem Umgang mit den nicht in die idealisierte Helferrolle passenden Beziehungsanteilen« offen (Klitzing-Naujoks et al. 1992). Kurzum: Die pflegerische Liebe findet ihre klare Grenzen - spätestens nach Dienstschluss - was dann nicht heißt, dass im Einzelfall auch persönliche Betroffenheit empfunden werden kann23. Bedeutung des toten Körpers: “Kaum ist die kalt, da wollen die das Bett schon haben.” Frau Sommer, eine 53-jährige Patientin ist am frühen morgen an den Folgen einer Krebserkrankung auf der chirurgischen Station gestorben. Der Pfleger gibt den Hinweis, dass die Frau am frühen Nachmittag für die Angehörigen in der Kapelle aufgebahrt würde. Daraufhin bemerkt der Stationsarzt, dass er gar nicht gewusst hätte, dass es im Krankenhaus überhaupt eine Kapelle gebe. Ein wenig später beklagt sich der Pfleger bei den Schwestern am Frühstückstisch über die Respektlosigkeit der Ärzte. Kaum wäre die Patientin tot, wolle man das Zimmer schon wieder belegen: 9:30 Stationszimmer Pfleger Martin: Frau Sommer wird um 14:00 für die Angehörigen in der Kapelle aufgebahrt. V. Das medizinische Feld 166 Stationsarzt Scholz: ...Haben wir eine Kapelle, wusste ich gar nicht ... 9:40 Pfleger Martin (nach einem Telefonat mit der Aufnahme, zu den Anwesenden Schwestern im Raum): Kaum ist die kalt, dann wollen die das Bett schon haben. Der Umgang mit dem Toten lässt die unterschiedlichen Orientierungen in den pflegerischen und ärztlichen Domänen nochmals deutlich hervortreten. Für die Pfleger bleibt der Körper des Patienten auch nach dem Ableben noch einige Zeit als Objekt der Würde präsent, denn er muss entsprechend einer pietätvollen Übergabe an die Angehörigen gewaschen, gebettet und gekleidet werden. Der Stationsarzt demgegenüber - immerhin schon zwei Jahre in diesem Krankenhaus - weiß noch nicht einmal, dass es im Haus eine Kapelle gibt, in der den Toten die letzte Ehre erwiesen werden kann24. Innerhalb des medizinischen Orientierungsrahmens ist der Tote nicht mehr von Interesse- es sei denn als Erkenntnisobjekt innerhalb einer Obduktion. Die nächsten Patienten warten schon auf Behandlung und entsprechend ist die nun entstandene Leerstelle sofort durch den nächsten bedürftigen Lebenden zu ersetzen. Die Entstehung dieser fundamentalen Differenz in den Haltungen der beiden Berufsbilder wird schon zu Beginn der professionellen Sozialisation gebahnt. Während die psychologischen Inhalte durchaus in ansehnlichem Umfang in die Curricula der Krankenpflegeausbildung integriert sind, steht für den angehenden Mediziner die Anatomie und Physiologie im Vordergrund. Es ist Schuller und Heim (1992) sicherlich zuzustimmen, dass für den Mediziner der Anatomiekurs eine Schlüsselrolle im Hinblick auf den auch für die Pflege oftmals befremdlichen Umgang mit dem (toten) Körper spielt25. Eine allzu starke persönliche emotionale Beteiligung - wenngleich allgemein verständlich und nachvollziehbar - ist jedoch im Sinne des Rollenverständnisses einer professionalisierten Krankenpflege zumindest im unmittelbaren Patientenkontakt in den Griff zu bekommen: Professionelle Distanz: “Jetzt niedergedrückt sein ist okay ... aber nachher nichts anmerken lassen” Die Stationsärztin kündigt den Pflegekräften der onkologischen Station an, dass ein Patient, der vor wenigen Monaten aufgrund einer Leukämie auf der Station eine Knochenmarktransplantat ion erhalten hatte und entsprechend mehrere Wochen betreut wurde, erneut mit einem Rezidiv eingeliefert werde. Die Schwestern im Stationszimmer wirken angesichts der Nachricht des dramatischen Rückfalls sehr bedrückt. Die Ärztin erklärt einer Schwester gegenüber, dass es in Ordnung sei, sich bedrückt zu fühlen, aber dass man dieses Gefühl den Patienten gegenüber nicht zeigen solle: 11:15 Stationszimmer Ärztin: (zur Schwester): ... Jetzt niedergedrückt sein ist okay, aber nachher, wenn der Martin da ist, sich nichts anmerken lassen ... . Die Nennung des Vornamens lässt deutlich werden, dass der Patient mehr als oberflächlich bekannt ist. Die Pfleger kennen den Mann, sind mit ihm für mehrere Wochen durch die Höhen und Tiefen der riskanten Knochenmarktransplantation gegangen. “Informell” ist es gestattet, dass Pfleger und Ärzte angesichts solcher herben Rückschlage Betroffenheit fühlen und auch wechselseitig kundtun. Dem Patienten gegenüber muss jedoch die Form gewahrt bleiben. Hierauf zielt die Forderung der jungen Ärztin, hier wieder die Maske der emotionalen Neutralität im Sinne einer professionellen Beziehungstechnologie aufzusetzen. Auch in emotionaler Hinsicht sind dem 2. Pflegebereich 167 Patienten gegenüber die Bewusstheitskontexte geschlossen zu halten, denn das »Arrangement der Hoffnung« darf nicht gestört werden. Authentizität und der offene Umgang mit den eigenen Gefühlen werden hier in den Privatbereich verwiesen, denn sie würden die formellen Abläufe der Station nur stören. Wenngleich der Pflege innerhalb der funktionellen Differenzierung im Krankenhaus die emotionale Betreuung der Patienten obliegt, so darf diese Arbeitsteilung jedoch keinesfalls so verstanden werden, dass die Pfleger - wie dies oft in der Selbstattribution geschieht – per se als die “Menschlicheren” anzusehen sind. Dieser Idealisierung widerspricht zum einen, dass sich mit der Professionalisierung ihre historische Rolle des mütterlichen Dienens26 selbst zu einem “Krankenmanagement” gewandelt hat. Weder Authentizität, noch die “wahrhaften” Motive des Helfenwollens im Sinne einer Gesinnungsethik stehen mehr im Vordergrund. Pflege ist keine religiöse Berufung, sondern Arbeit, und in diesem Sinne ist vor allem den professionellen Rollenerwartungen Genüge zu leisten - nicht mehr und nicht weniger27. Zum anderen ist die Arbeitszeit bekanntlich begrenzt. Personalknappheit und Rationalisierungen - nicht zuletzt im Zuge der Kostendämpfung im Gesundheitswesen - hinterlassen bei den Pflegern das Gefühl, immer weniger Zeit mit dem einzelnen Patienten verbringen zu können28. Insbesondere unter der Hochdrucksituation einer Universitätsklinik muss der Pfleger sehr schnell lernen, dass man “menschlich” nur begrenzt helfen kann29. Gleichsam als funktionelle Supplemente zu diesem Defizit sind in Teilbereichen des Gesundheitswesens Berufsfelder entstanden, in denen die unmittelbare Kommunikation mit dem Patienten eine größere Rolle spielt. Insbesondere im Bereich der Psychotherapie, Psychosomatik und Rehabilitation stellt die Kommunikation auch ein Medium der therapeutischen Behandlung dar. Jedoch gelten auch in diesen Berufsfeldern Professionalitätskriterien. Einzelne Rehabilitationsfelder wie z.B. die Logopädie sind keinesfalls ein Freiraum für diffuse Sozialbeziehungen, sondern setzen eine differenzierte Diagnostik und die Entwicklung eines spezifischen, an den Defiziten des Klienten orientierten Behandlungsplanes voraus. (b) Charakteristika der Beziehung zwischen Pflege und ärztlichem Feld Wie schon mehrfach angedeutet, stellt die Pflege innerhalb des medizinischen Feldes eine eigenständige und eigengesetzliche Domäne dar. Selbst Ärzte in Leitungspositionen haben nur bedingt Zugriff auf die Pflegekräfte, wie im Folgenden verdeutlicht wird: Grenzen chefärztlicher Macht: “Das sieht ja dort aus wie eine Müllhalde” Der Chefarzt der chirurgischen Abteilung kommt ins Stationszimmer, wo die Schwestern und Pfleger gerade um den Frühstückstisch herumsitzen. Der Professor beklagt sich lautstark darüber, dass die Tabletts der Patienten auf dem Gang ständen und immer noch nicht weggeräumt seien. Ein Pfleger bemerkt daraufhin, dass es üblich sei, dass die Patienten ihre Tabletts nach dem Frühstück rausstellen würden. Hieraufhin fordert der Chefarzt, dass die Tabletts sofort weggeräumt werden sollen. Keiner der Pfleger reagiert. Der Professor verlässt daraufhin den Raum. Eine Schwester stellt fest, dass der Chef wohl heute schlecht gelaunt sei. Ein Pfleger kommentiert den Stil, wie auf der Station mit dem Personal umgegangen werde. Anschließend sprechen die Pflegekräfte in amüsierter Atmosphäre noch ein wenig über die eben erlebte Szene: V. Das medizinische Feld 168 9:20 Stationszimmer (Der Chefarzt kommt in das Stationszimmer herein. Sechs Pfleger und Schwestern sitzen um den Frühstückstisch) Prof. Strauss: Das sieht ja dort aus wie eine Müllhalde, die ganzen Tabletts auf dem Gang. Pfleger Martin: ... Die haben gerade gefrühstückt und die räumen wir dann nachher weg. Prof. Strauss: Das geht doch nicht, das sieht aus wie auf der Müllhalde, die müssen sofort weggeräumt werden. Pfleger Thomas: Die Patienten stellen die immer raus, wenn die fertig sind. (Alle Schwestern und Pfleger bleiben sitzen, keiner rennt raus, oder deutet an, nun etwas tun zu wollen. Prof. Strauss verlässt den Raum.) Schwester Anne: Ist der wieder schlecht gelaunt oder wird der erst schlecht gelaunt? Schwester Sabine: Heute morgen war er noch guter Laune. Pfleger Martin: Hier wird ja mit dem Personal umgegangen, seit wir hier im Hause stehen die Tabletts schon immer da draußen, bevor wir sie dann abräumen ... . [...] Schwester Miung (kommt in den Raum und setzt sich noch dazu): Ich habe vorhin schon ein paar Tabletts rausgestellt. Schwester Sabine: Der Chef war eben hier, den haben die Tabletts genervt ... . Schwester Miung (herzliches Lachen): Ach ... . Pfleger Martin (humorvoll): Jetzt haben wir ja die Schuldige gefunden. Der Übergriff der chefärztlichen Autorität findet hier seine klaren Grenzen. Die Pflegekräfte können es sich ohne Gefährdung ihrer Position und Karriere leisten, seine Anordnung nicht ernst zu nehmen. Ärzte würden demgegenüber eine solche Szene angesichts der impliziten Drohung von Sanktionen kaum so locker nehmen können (s. ausführlich »das ärztliche Feld«). Selbst ein Wutausbruch des Professors kann die zwischen Pflege und Medizin bestehenden Positionen im medizinischen Feld nicht wirklich stören. Die Attacke des Chefs wird zwar seitens der Pflegekräfte als moralisch verwerflich empfunden, kann jedoch ohne Probleme dadurch entschärft werden, dass die Sache mit Humor genommen wird. Abwehr ärztlicher Übergriffe: “Da hat der Peter in Anwesenheit des Oberarztes geschrien” Eine Schwester der internistischen Station erzählt von einer morgendlichen Szene, die sich aufgrund der chaotischen Bettenorganisation ergeben hätte. Ein Stationsarzt hätte eine Patientin einbestellt, für die jedoch kein Bett reserviert gewesen sei. Als nun deswegen Patienten hin und her geschoben werden mussten, hätte gar ein Pfleger in Anwesenheit des Oberarztes geschrien: 12:10 Stationszimmer Schwester Margot: Das war ja dann heute ein Chaos hier ... dann hat der Dr. Boller ja die Frau Bertram einbestellt ... dann war die Patientin schon da, obwohl kein Bett war ... musste die dann hin und her geschoben .. ... da war ja was los, da hat der Peter [ein Pfleger] in Anwesenheit des Oberarztes geschrien ... das hat der dann auch nie gemacht ... aber das geht doch nicht, dass dann die Patienten hin und her geschoben werden ... so ein Durcheinander mit der Frau Mohn, war dann ja auch noch nicht klar, was mit ihr passiert ... . 2. Pflegebereich 169 Die Verwaltung der Betten auf dieser Station obliegt den Pflegekräften. Die geregelte Bettenorganisation wird hier durch die nicht abgesprochene Initiative eines Stationsarztes gestört. Wenngleich die Pfleger das Problem auf einer handlungspraktischen Ebene lösen werden – die einbestellte Patientin nicht aufzunehmen würde den Konflikt in unangemessener Weise nach außen tragen –, darf der ärztliche Übergriff auf die Domäne der Pflege nicht einfach so akzeptiert werden. Den Stationsarzt vor seinem Vorgesetzten anzuschreien ist als Demütigung zu werten, andererseits sinnstrukturell aber auch so zu verstehen, die gestörte Ordnung wiederherzustellen. Der verständliche Ärger eines sonst als ruhig bekannten Pflegers kann hier auch als performativer Akt verstanden werden, um auszudrücken, dass man so etwas nicht einfach durchgehen zu lasse. Dass eine Auseinandersetzung in dieser oder ähnlicher Form überhaupt möglich ist, setzt eine relative Autonomie der beiden konfligierenden Bereiche voraus. Störungen im Selbstbild der Ärzte: “Erst die Schwestern essen lassen” Ärzte erleben die Initiativen der Abgrenzung seitens der Pflege oft als Kriegserklärung. Wenn etwa die Schwestern darauf bestehen, zunächst unabhängig von den Ärzten frühstücken zu können, so erleben dies die zurückgewiesenen Stationsärzte als ungerecht, oder gar als Kriegserklärung: Stationsarzt Ebeling: ... Sagt dann eine Schwester, als ich mir ein Brötchen nehmen wollte: „erst die Schwestern frühstücken lassen“ ... . Stationsarzt Weinert: ... Das ist ein Ton hier den Ärzten gegenüber ... wir sind hier nur die Sklaven ... sobald ein bisschen Spannung ist, sind die total auf Krieg ... . Die Ärzte erleben hier eine Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild als Führungskräfte im Krankenhaus und der interprofessionellen Realität getrennter Domänen. In den seitens der Pfleger kultivierten Räumen des Rückzugs dürfen die Ärzte nicht unerlaubt eindringen. Im Kontrast zu der jederzeit möglichen fachlichen Anforderung eines Pflegers („Patientin X. benötigt dringend dieses oder jenes“) können diesbezügliche Übergriffe auch in schroffer Form abgewehrt werden. Strukturell sind Pfleger im medizinischen System nicht mehr als „Sklaven“ der Ärzte anzusehen30. Diesbezügliche Dienste - wie z.B. Kaffeekochen - stellen keine Selbstverständlichkeit mehr dar, sondern müssen immer wieder im Einzelfall ausgehandelt werden. Diese werden zwar im Einzelfall durchaus noch im Sinne des klassischen Rollenverständnisses bedient, können aber auch zum Widerstand („Krieg“) führen31. Kommunikationsschranken: “Wir kommunizieren jetzt nur noch über die Zettel miteinander” Frau Minker, eine alte bettlägerige Dame soll wieder in das Pflegeheim zurückverlegt werden. In der Oberarztvisite, bei der auch die Tochter anwesend ist, werden die Dekubitusgeschwüre begutachtet. Die Tochter bemerkt, dass diese sehr schlimm aussehen würden und wohl nie wieder zugehen würden. Der Oberarzt antwortet, dass man sie jetzt pflegen müsse und dass die Patientin jederzeit wieder auf die Station kommen könne. Wieder auf dem Gang beklagt sich der Oberarzt, dass keine Schwester bei der Visite anwesend sei, gerade in einem solchen Fall wäre dies wichtig gewesen. Die angesprochene Schwester antwortet, dass derzeit nur wenig Personal auf der Station sei. Daraufhin bemerkt ein Stationsarzt, dass Schwestern und Ärzte sowieso nur noch schriftlich miteinander kommunizieren würden: V. Das medizinische Feld 170 Oberarztvisite bei Frau Minker (die Tochter steht am Bett) Oberarzt (zur Tochter): Wir werden Ihre Mutter dann wieder ins “Haus Morgensonne” verlegen ... Sie hat sich jetzt wund gelegen, das werden wir uns nun anschauen ... möchten Sie das auch sehen (zur Tochter) ... Möchten Sie es sehen, brauchen Sie nicht? (Die Tochter stellt sich so, dass sie den Dekubitus sehen kann). Tochter: Sieht ja schlimm aus (größere teils schwarze Dekubitusgeschwüre sind zu sehen). Oberarzt: Das müssen wir pflegen ... [...] Tochter: Die Wunde geht nie wieder zu ... . Oberarzt: Jetzt muss man da pflegen ... weich polstern und umbetten ... Ihre Mutter kann auch wieder hier herkommen, wenn es ihr nicht so gut geht. Tochter: Danke. (Auf dem Gang) Oberarzt (zur Schwester Martina, die gerade vorbeikommt): Warum sind die Schwestern nicht dabei? Schwester Martina: Wir sind heute nur zu dritt ... . Dr. Boller: Sonst kommunizieren wir ja jetzt nur noch über die Zettel miteinander ... . Oberarzt: Bei so einem Fall wäre es jetzt doch wichtig, dass jemand von euch dabei ist. Ärztliche und pflegerische Aufgaben sind nicht immer so trennscharf auseinander zu halten. Ein Dekubitus stellt ein Problem beider Sphären dar und insbesondere vor dem kritischen Blick der Angehörigen ist hier Geschick und gemeinsamer Sachverstand gefordert, allein schon, um peinliche Situationen zu vermeiden, in denen allzu deutlich wird, dass die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Ärzte schauen nur ausnahmsweise in die Pflegedokumentation hinein, und umgekehrt interessiert sich kaum eine Schwester für die Details der ärztlichen Verlaufskurve. Nur eigens adressierte - durch farbige Reiter markierte32 - ärztliche Anordnungen bzw. Fragen der Pflege an den Arzt werden in der Regel wahrgenommen. Alle übrigen schriftlichen Aussagen referieren auf Kommunikations- und Legitimationsprozesse innerhalb der jeweils eigenen Domäne. Gemeinsame Visiten finden auf Stationsarztebene gar nicht mehr statt. Krankenpflegebegleitung einer Oberarztvisite ist eher die Ausnahme33 und auch bei der Chefarztvisite nicht mehr unbedingt üblich. Der Hinweis auf die schlechte Personalsituation erklärt dabei wenig die Tatsache, dass die Kommunikationen zwischen den beiden Sphären generell stark eingeschränkt ist. Der wesentliche Grund der Trennung scheint hier eher in der pflegerischen Professionalisierung selbst zu liegen. Kraft der Trennung der Domänen sind die Pflegekräfte nicht mehr der unmittelbaren ärztlichen Willkür und Demütigung ausgesetzt. Wenn man weniger kommuniziert, droht auch weniger, dass Ärzte das, was Pflegekräfte sagen, nicht ernst nehmen. Der Autonomiegewinn, welcher durch die Abgrenzung des Pflegebereichs von den Ärzten errungen wurde, führt jedoch als nicht intendierter Nebeneffekt zu Folgeproblemen im Hinblick auf die interprofessionelle Kommunikation relevanter Patientenbelange. Verwischung der professionellen Grenzen: “Er wirft mir pflegerische Schlampigkeit vor” Eine Schwester aus der psychosomatischen Station wendet sich entsetzt an den Stationsarzt. Der Chefarzt habe ihr pflegerische Schlampigkeit vorgeworfen, weil sie einem Privatpatienten abends Schlafmittel verabreicht hätte. Der Stationsarzt bemerkt zunächst, dass der Konsil-Psychiater ganz gerne Schlafmittel verschreiben würde. Die Schwester klagt daraufhin, dass der Vorwurf 2. Pflegebereich 171 des Professors an sie ungerecht sei. Es sei jedoch besser, die Sache ihm gegenüber nicht anzusprechen, da sie in Zukunft noch auf der Station arbeiten wolle. Daraufhin schaut der Stationsarzt in die Patientenkurven und stellt fest, dass bei einer Reihe von Patienten das Schlafmittel als Bedarfsmedikation vermerkt ist: 16:10 Stationszimmer Schwester Michaela (entsetzt, zu Stationsarzt Völler): Er wirft mir pflegerische Schlampigkeit vor, weil ich dem Herrn Meier das Schlafmittel Chloraldurat gegeben habe ... ein dicker Anschiss, der will noch nicht mal mit dir, Martin, sprechen ... . Stationsarzt Völler: Und Herr Dr. Langenbach ordnet das ja auch ganz gerne an ... . Schwester Michaela: Das ist einfach ungerecht ... . Stationsarzt Völler: Da war bestimmt was auf seiner Dienstreise .... und nun will er das jetzt loswerden und Du bist nun die erste, die er erwischt hat ... . Schwester Michaela: Ist einfach ungerecht, aber wenn ich was sage, dann bringt das ja auch nichts, besser sage ich dann nichts und sage nur ja, ja .... wenn ich das dann jetzt nochmals bei ihm anspreche, das bringt ja auch nichts, ich möchte ja auch in Zukunft noch hier arbeiten ... . Stationsarzt Völler: (Schaut noch mal die Kurven aller Patienten an und streicht bei einer Reihe das Chlorazim durch.) Die bekommt und die bekommt ... das gibt jetzt bestimmt noch ein weiteres Nachspiel ... . Stationsarzt Völler (Auf Nachfrage des Beobachters): Es gibt auf der zweiten Seite der Kurve ein Feld ”Bedarfsmedikation”, da wird dann eingetragen, was bei Bedarf gegeben werden kann ...). Hier durchdringen sich die Domänen des ärztlichen und pflegerischen Bereichs. Die in den vorangegangenen Beispielen errichtete strukturelle Barriere ist hier durchlässiger. Die Schwester erscheint hier trianguliert zwischen unterschiedlichen therapeutischen Vorstellungen: Während der Chefarzt die therapeutische Ideologie vertritt, dass psychosomatische Patienten keine Schlafmittel bekommen sollten, verschreibt der Konsil-Psychiater diese Präparate durchaus gerne. Auch wenn die Schwester hier formal korrekt gehandelt, nämlich das umstrittene Mittel im Sinne einer schriftlich gegebenen ärztlichen Anordnung verabreicht hat, sieht sie hier keine Möglichkeit, den an sie gerichteten Vorwurf zurückzuweisen: Sie fürchtet um ihre Arbeitsstelle. Die pflegerischen und ärztlichen Domänen scheinen hier nicht so scharf getrennt zu sein wie auf den anderen Stationen. Die Aufgabenbereiche und Verantwortlichkeiten auf der psychosomatischen Station scheinen nicht so klar getrennt zu sein, verschwimmen ineinander, so dass verdeckte Machtkämpfe hinsichtlich richtiger therapeutischer Ideologien auf dem Kopf der machtlosen Akteure ausgetragen werden können. Der Stationsarzt – Arzt im Praktikum und erst seit drei Monaten auf der Station – ist strukturell ebenfalls nicht in der Lage, den Konflikt zur Sprache zu bringen. Ihm bleibt letztlich kaum mehr übrig, als im vorauseilenden Gehorsam die Spuren der “Tat”, die auch er nicht begangen hat, zu verwischen und zu hoffen, dass er nicht den Schwarzen Peter zugeschrieben bekommt. In der auf dieser Station üblichen Personalunion von medizinischer, psychologischer und pädagogischer Macht verwischen sich die Grenzen zwischen den Professionen34. Eine stabile Domäne pflegerischer Identität scheint hier nicht so leicht abgrenzbar zu sein. Das spezielle Setting der psychosomatischen Station mit seinen regelmäßigen professionsübergreifenden Teamsitzungen und Visiten erlaubt zwar einerseits die Entstehung interprofessioneller Räume, gestattet aber auch - bei fehlender Reflexion der Machtverhältnisse - ärztliche Willkür. Anders als in den vorangegangenen Beispielen scheinen die Möglichkeiten der Pflegekräfte, sich diesen Zumutungen zu widersetzen, eingeschränkt zu sein35. 172 V. Das medizinische Feld Die Diffussion der Arbeitsbereiche Pflege und Medizin muss im Hinblick auf die Beobachtungen auf den anderen Stationen eher als eine Ausnahme gesehen werden, die den besonderen Bedingungen einer universitären Psychosomatik geschuldet ist. Der Regelfall scheint eher zu sein, dass die Pflege die Zumutungen (chef-)ärztlicherseits recht gut zurückweisen kann. Innerhalb des medizinischen Feldes ist sie kein Teil der ärztlichen Hierarchie, sondern steht parallel zu dieser. Das Verhältnis zum ärztlichen Bereich ist durch Trennung der jeweiligen Stäbe, arbeitsrechlichen Vorgaben und Arbeitsbeschreibungen bestimmt, nicht jedoch durch den unmittelbaren Durchgriff ärztlicher Macht36. In diesem Sinne haben die Ärzte zwar ideell die Führungsrolle innerhalb des medizinischen Feldes inne, nicht jedoch in struktureller Hinsicht. (c) Rolle der Pflege in medizinischen Entscheidungen Ebenso wie der Patient in Fragen von Diagnose und Therapie aus ärztlicher Sicht “eigentlich” nichts zu entscheiden hat, spielt auch der Pflegebereich in den ärztlichen Entscheidungsprozessen eine untergeordnete Rolle. Formulierungen wie “die Schwestern haben in medizinisch-therapeutischen Fragen keine Ahnung” oder “es kommt eigentlich nie vor, dass wir eine Schwester zu einer Entscheidung hinzuziehen” sind übliche Aussagen der Ärzte in den Interviews. Pflegekräfte sind mit Ausnahme der psychosomatischen Station37 an den formellen Entscheidungsprozessen nicht beteiligt. Die funktionelle Autonomie des Pflegebereichs geht einher mit der weitgehenden Machtlosigkeit im Hinblick auf die ärztlichen Handlungsbereiche. Wenngleich Pflegekräfte sich oftmals als der eigentliche Anwalt ihrer Patienten empfinden, so bleiben sie dennoch in Bezug auf die entscheidenden medizinischen Abläufe eher außen vor. Insbesondere auch die Entscheidungen darüber, was im Falle medizinisch hoffnungsloser Fälle noch zu tun ist, und inwieweit man einen Patienten aufzuklären habe, bleiben fest in ärztlicher Hand. Die oft zu hörende Kritik der Pflegekräfte, dass hier seitens der Ärzte technokratisch oder “unmenschlich” gehandelt werde, verpufft in der Regel an dem kaum zu widerlegenden Argument, dass eben die Ärzte die Verantwortung für diesbezügliche Entscheidungen zu tragen haben. Entsprechend können Pfleger - falls sie das Bedürfnis verspüren, dies zu tun - ihre Einflüsse nur indirekt bzw. über inoffizielle Wege zur Geltung bringen: Verantwortungslast: “Wenn ich jetzt was entscheide, dann kann ich meinen Beruf später vergessen” Frau Hof, eine demente alte Frau, liegt mit einem schwer entgleisten Stoffwechsel auf der Station. Die Ärzte der chirurgischen Station haben sich entschieden, die Frau nicht mehr auf die Intensivstation zu legen. Eine Schwester wendet sich an einen angehenden Arzt und bittet diesen, der Patientin Morphium zu verschreiben, da die Patientin seit langem über starke Schmerzen klage und man sie nun auch mal sterben lassen solle. Der Arzt weist dieses Anliegen mit der Begründung zurück, dass er seine Laufbahn vergessen könne, wenn er diesbezüglich eine Entscheidung treffen würde. Außerdem könne sich ja der Gesundheitszustand der Patientin wider Erwarten auch wieder verbessern. Im Anschluss an diese kurze Gesprächssequenz bemerkt die Schwester einer Kollegin gegenüber, dass hier auf der Station niemand an Alterschwäche sterben würde: 2. Pflegebereich 173 12:20 Stationszimmer Schwester Karin (zum Arzt im Praktikum): Die Frau Hof hat Schmerzen. ... Es geht auch darum, die Leute auch mal sterben zu lassen ... die braucht ein starkes Schmerzmittel. ... kannst du nicht ein bisschen Morphium aufschreiben ... . Arzt im Praktikum: Ich bin hier nur AiP und wenn ich jetzt was entscheide, dann kann ich meinen Beruf später vergessen ... ich möchte auch in Zukunft noch Arzt sein ... und außerdem, ich habe Fälle gesehen, die haben sich auch wider Erwarten noch anders entwickelt. Schwester Karin (zu Schwester Margot): An Altersschwäche stirbt hier keine. Die Entscheidung Morphium zu geben bedeutet hier auch, die Patientin sterben zu lassen, denn dieses Schmerzmittel hat die Eigenschaft, die Verdauungsfunktionen zu verlangsamen und damit den Stoffwechsel noch weiter zu destabilisieren. Der junge Arzt kann dem an ihn seitens der Pflege herangetragenen Wunsch nicht nachkommen, denn dies würde bedeuten, über Leben und Tod zu entscheiden. So wünschenswert ein schmerzfreies Ableben auch sein mag - wobei zu fragen wäre: warum? -, das „ethische“ Argument des humanen Sterbens zählt hier nur bedingt, denn der Arzt kann für diese Entscheidung die Verantwortung nicht übernehmen. Zum einen ist aus ärztlicher Perspektive nie mit hundertprozentiger Gewissheit auszuschließen, ob ein Patient nicht doch noch überlebt. Zum anderen müsste sich das ärztliche Team zwischen den Fallstricken legitimatorischer Absicherung durchhangeln. Der Versuch der Schwestern, über das schwächste Glied der ärztlichen Hierarchie Einfluss zu nehmen, muss hier scheitern, da der junge Arzt den Zwang zur legitimatorischen Absicherung seines Handelns schon längst verinnerlicht hat und letztlich er - nicht die Schwestern - die Verantwortung zu tragen hat. Laienfreiheit vs. professionelle Norm: “Der sagt mir, ich solle nichts sagen, damit er nach Hause könne” Ein Zivildienstleistender spricht dem Beobachter gegenüber an, dass er nun auch in eine Entscheidungssituation gekommen sei. Ein Patient habe ihn nach dem Fiebermessen angesprochen und gebeten, die Ärzte nicht darüber zu informieren, dass er Fieber habe, denn er wolle jetzt schnell nach Hause. Der Zivildienstleistende bittet den Beobachter darum, seinen Entscheidungskonflikt keinem weiterzusagen, da er die Sache für sich alleine zu entscheiden habe: 12:30 Stationszimmer Zivildienstleistender (zum Beobachter): Das ist jetzt auch so eine Situation ... ich bin beim Fiebermessen gewesen ... ein Privatpatient ... wegen erhöhter Temperatur musste der noch ein paar Tage bleiben ... und jetzt hat der wieder erhöhte Temperatur ... und jetzt sagt der zu mir ... ich solle nichts sagen, damit er nach Hause kann ... ist jetzt auch so eine Situation ... bitte nichts sagen, das muss ich jetzt ganz alleine mit mir ausmachen ... . Diese Episode lässt deutlich werden, dass prinzipiell auch das letzte Glied innerhalb der Hierarchie des Krankenhauses Anteil an einem medizinisch-therapeutischen Entscheidungsprozess haben kann. Als medizinischer Laie wird dem Zivildienstleistenden die Allianz mit dem Patienten vermutlich besonders leicht fallen. Die Dinge zu verschweigen, um die Ärzte ein wenig zu hintergehen, wird für ihn hier vermutlich eine legitime Handlungsoption darstellen. Entsprechend wird er die Sache nun mit sich ganz allein abmachen. Demgegenüber dürfte es den Pflegekräften - im medizinischen Feld sozialisiert - schon schwerer fallen, ein solches Problem als Domäne ihrer 174 V. Das medizinische Feld freien Entscheidung zu empfinden, denn die Unterschlagung der richtigen Fieberwerte würde zugleich die Vernachlässigung ihrer Kontrollaufgabe bedeuten. Die allzu offensichtliche Kumpanei mit dem Patienten würde schnell der professionellen pflegerischen Identität widersprechen. Es ist eher deshalb fraglich, ob ein Pfleger eine solche Situation überhaupt als Entscheidungssituation erleben oder sich nicht unreflektiert im Sinne der professionellen Norm verhalten wird38. Illegitime Verantwortungsübernahme: “Da muss ich mich schuldig fühlen, weil ich das mache und weil ich nicht sogleich Alarm schlage” Frau Ibis arbeitet in einer Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik. Von ihrer Ausbildung her ist sie Psychiatriekrankenschwester. Ihre Funktion in der Klinik besteht jedoch zu einem nicht geringen Teil in der psychotherapeutischen Begleitung von Patienten. Sie erlebt, dass sich viele ihrer Patienten aus Angst, in die ‚Geschlosseneʻ überwiesen zu werden, nicht mehr trauen, offen über ihre Selbstmordgedanken zu reden. Sie beobachtet, dass die Patienten ganz genau abtasten, mit wem man offen über die eigenen Zustände reden kann, welcher Therapeut die Suizidalität akzeptiert und wer nicht. Wichtig ist für sie dabei, eine akzeptierende Haltung einzunehmen, ohne gleich das Gegenüber als potenziellen Selbstmordkandidaten zu stigmatisieren. Sie persönlich kennt die Phantasie, sich umbringen zu wollen, und hält diese Gedanken für normal und verstehbar. Sie glaubt sogar, wenn die Handlungsalternative Selbstmord bewusst gestellt würde, es dazu beitragen könnte, dass wieder neuer Mut geschöpft werden könnte. Dennoch könnte sie es sich selbst gegenüber nicht verantworten, wenn einem ihrer Patienten etwas geschehen würde. Sie achtet am Ende eines Gespräches ganz genau darauf, ob dieses in ihrem Sinne gelaufen ist. Wenn sie den Eindruck hat, dass eine akute Selbstmordgefährdung vorliegt, muss sie sich entscheiden, diesbezüglich die Ärzte zu informieren, die dann ihrerseits die Überweisung in eine geschlossene psychiatrische Station veranlassen können. Immer wenn Frau Ibis die Entscheidung trifft, die Ärzte nicht über die Selbstmordgedanken eines ihrer Patienten zu informieren, fühlt sie sich ein wenig schuldig, nicht gleich Alarm geschlagen zu haben und findet sich dann in einer Situation wieder, praktisch ganz allein die Verantwortung tragen zu müssen: Frau Ibis: Ja, ich sehe jetzt, dass viele Patienten Angst davor haben, vor der Psychiatrie, auch die nicht geschädigten, dass das immer noch so’n bisschen von früher, da war’s ja jetzt wirklich auch in der Psychiatrie, dass da noch die Angst herkommt, dass die nicht wissen, was Psychiatrie ist, ‘ne ganz falsche Vorstellung haben, wo sie doch positiv sein kann, ja, und aus dieser Angst heraus trauen sich viele nicht zu sagen, wann sie suizidal sind; bei uns ist es auch in der Klinik so, wenn Patienten suizidal sind, werden sie aufgefordert, das uns Schwestern zu sagen, also sich in Verbindung zu setzen, aber viele haben Angst, was zu sagen, weil wenn man merkt, sie sind suizidal, kommen sie auch von uns aus in die Psychiatrie oder werden dazu überredet, das zu unterschreiben; man kann sie nicht einfach da hinschicken, aber sie werden dazu überredet, dass es einfach möglich ist; ja, viele haben da Angst und verschweigen das, denn wenn sie suizidal sind, und die gucken dann, wer da arbeitet und mit wem, wer das akzeptiert die Suizidalität. [...] Und meistens fühlen sie sich dann nicht so wohl, dass sie da nicht darüber reden können, oder es wird ihnen gesagt, Sie quälen mich damit oder so - und da fehlt den Menschen, glaube ich, der Platz überhaupt in der Gesellschaft Psychiatrie oder Psychotherapie, da fehlt den Menschen der Platz, so sehe ich das, darüber zu reden [....] und wenn ich das mache und ich mach das ganz gerne, da muss ich mich schuldig fühlen, weil ich das mache, weil ich nicht dann so gleich so Alarm schlage und so denn praktisch trag ich allein die Verantwortung auch so ein bisschen, und ich mach das manchmal. [...] Ich bin dann nicht total sicher, ich geh nicht total sicher nach Hause, das nicht – aber ich übergebe das dann auch meinen Kollegen, und die haben dann die Verantwortung. Nur ist es dann schwer, wenn ich 2. Pflegebereich 175 dann mal ein bisschen anders gearbeitet habe, dann denke ich mehr dran, ist klar, aber meistens wollen die Menschen dann auch nicht mich enttäuschen, ich lege denen dann auch nahe, das jetzt nicht irgendwie, ein bisschen rücksichtsvoll, ein bisschen Rücksicht zu nehmen, das nicht jetzt zu tun, das kann man immer noch (Lachen), also die machen das schon, wenn eine Sympathie besteht, das funktioniert, dass sie dann abwartend sind, so ein bisschen Hoffnung haben, ja, die Sympathie muss da sein, sonst funktioniert so ein Gespräch auch nicht. Wenngleich Frau Ibis hier auf der funktionellen Ebene die Aufgabe einer Therapeutin übernimmt, so ist diese Rolle hier jedoch strukturell nicht abgesichert. Die therapeutische Allianz zu einer »Therapie unter Risiko« (Vogd 2001c) ist hier nicht formell in den institutionellen Rahmen eingebettet. Während etwa ein Konsil-Psychiater allein schon Kraft seiner ärztlichen Autorität auf den Konsilschein schreiben kann, dass der Patient zur Zeit nicht suizidal sei, und hierdurch den weiteren Verbleib des Patienten auf der offenen Station symbolisch absichern kann, so bleibt das Risiko in diesem Fall das Privatvergnügen der Krankenschwester. Wenngleich Empathie und auch Vertrauen eine zentrale Bedeutung in der psychotherapeutischen Arbeit spielt und im Sinne einer starken therapeutischen Identität nicht nur legitim, sondern gar Voraussetzung einer erfolgreichen therapeutischen Beziehung darstellen (s.a. Vogd 2001b), so bleibt Frau Ibis hier in ihrer Entscheidung absolut allein. Ihre spezielle Art therapeutisch zu arbeiten ist nicht durch das Team abgesichert, sondern verbleibt in ihrer persönlichen Verantwortung. Das therapeutische Gespräch wird zu einem Beziehungstanz auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite wartet der Abgrund des drohenden Selbstmordes, auf der anderen Seite der Beziehungsabbruch. Im Spannungsfeld dieser beiden Gefahren gewinnt die Überprüfung der Beziehung eine zentrale Bedeutung. Die emotionale Belastung bleibt jedoch hoch und droht immer, im Falle eines wirklichen Selbstmordes ins Unerträgliche umzukippen. Frau Ibis übernimmt hier zwar Entsc heidungsverantwortung, diese bleibt jedoch individualisiert - denn entsprechend ihrer Position im medizinischen Feld darf sie diese Rolle gar nicht einnehmen. In diesem Sinne stellt dieses Beispiel keine Ausnahme von der Regel dar: Pflegekräfte haben im Hinblick auf therapeutischdiagnostische Belange nichts zu entscheiden. Wenn sie dennoch diesbezügliche Ansprüche hegen, können diese nur verdeckt zur Geltung gebracht werden. (d) Zusammenfassung Pflegebereich − Innerhalb der arbeitsteiligen Prozesse im Krankenhaus kommen der Pflege insbesondere die Aufgaben der physischen Pflege, der unterstützenden emotionalen Versorgung, der Patientenerziehung, der kommunikativen Vermittlung zwischen medizinischer und Laienwelt sowie als weiterer zentraler Aspekt der pflegerischen Arbeit die Kontrolle der Lebensfunktionen und des Patientenverhaltens zu. - Die emotionale Patientenversorgung als die ureigene pflegerische Domäne bietet das systemische Komplement zu der Tatsache, dass Freundlichkeit und Empathie nicht zur ärztlichen Rollenbeschreibung gehören. Insbesondere in der Frage, wie sterbende Patienten angemessen zu versorgen seien, klaffen die Wertvorstellungen und Handlungsperspektiven der Ärzte und Pfleger in der Regel stark auseinander. - Die Pfleger sehen sich eher in der Rolle des Anwalts des Patienten, seiner subjektiven Wünsche und Bedürfnisse. Demgegenüber müssen die Ärzte neben der “kalten” objektivierenden medizinischen Rationalität oftmals auch den Ansprüchen der rechtlich-legitimatorischen Absicherung gerecht werden. 176 V. Das medizinische Feld - Mit der Professionalisierung hat sich das historische Pflegeideal vom mütterlichen Dienen in Richtung eines “Krankenmanagements” gewandelt. Nicht mehr die “wahren” Motive und Gefühle der Pflegenden im Sinne einer Gesinnungsethik stehen im Vordergrund, sondern sein professionelles Verhalten. Authentizität und der offene Umgang mit den eigenen Gefühlen werden in den privaten Bereich verwiesen, denn sie würden innerhalb der funktionalen Abläufe des Krankenhauses nur einen Störfaktor darstellen. Darüber hinaus hinterlässt eine zunehmende Rationalisierung auch bei den Pflegern dass Gefühl, immer weniger Zeit mit dem einzelnen Patienten verbringen zu können. - Die Rolle der Pflege im medizinischen Feld lässt sich vielleicht am ehesten dadurch charakterisieren, dass diese zwar eine relativ autonome Stellung im Krankenhaus gewonnen hat, dies jedoch zum Preis einer weit gehenden Machtlosigkeit im Hinblick auf die medizinischen Belange. Ebenso wie der Patient in Fragen von Diagnose und Therapie “eigentlich” nichts zu entscheiden hat, spielt der Pflegebereich in den ärztlichen Entscheidungsprozessen eine untergeordnete Rolle. Begründete oder unbegründete Ansprüche der Pflegekräfte, in therapeutischen oder diagnostischen Fragen mit zu entscheiden, können in der Regel nur verdeckt zur Geltung gebracht werden. - Pflegekräfte können ihre Domäne gegen Übergriffe der Ärzte verteidigen, da kein unmittelbarer Durchgriff ärztlicher Macht auf das pflegerische Feld mehr möglich ist. Ärzte erleben hier oftmals eine Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild als legitime Führungspersonen des Krankenhauses und der interprofessionellen Realität getrennter Stäbe und Arbeitsbereiche. 3. Ökonomisch-administrativer Bereich Während alle anderen Berufs- bzw. Funktionsgruppen des Krankenhauses direkt oder zumindest mittelbar an der medizinischen Versorgung von Patienten beteiligt sind, stehen die Akteure des ökonomisch-administrativen Bereichs außerhalb der eigentlichen diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Funktionsvollzüge. Wohl wissend, dass nicht jede administrative Handlung als ökonomisch motiviert zu sehen ist, werden entsprechend dieser gemeinsamen Position im medizinischen Feld die ökonomischen und administrativen Aspekte im Folgenden gemeinsam behandelt. Im Sinne meiner Untersuchungsfragestellung sind hier nur die ökonomischen und administrativen Einflüsse von Interesse, welche die Stationsarbeit und damit auch die ärztlichen Entscheidungsprozesse mehr oder weniger unmittelbar tangieren. Zunächst werden kurz einige grundlegende Aspekte des bürokratischen Alltags im Krankenhaus dargestellt. Im Anschluss wird die Beziehung der Ärzte zu den Krankenkassen etwas eingehender beleuchtet. Mit der “sozialen Indikation” und den Eingriffen in die ärztliche Therapiefreiheit werden zwei Problemfelder thematisiert, in denen die Konflikte zwischen Ökonomie und ärztlicher Domäne besonders deutlich zum Tragen kommen. Wenn die Akteure des ökonomisch administrativen Bereiches in den folgenden Darstellungen weitest gehend anonym bleiben, so entspricht dies gleichzeitig ihrer Stellung im medizinischen Feld: Fern vom Ort des medizinischen Geschehens entfalten sie als kaum zu greifende unpersönliche Macht mittels bürokratischer Routinen, schriftlicher Forderungen und Anordnungen ihre Wirkung im Krankenhaus. Die Kraft ist spürbar, ihr Autor bleibt jedoch in der Regel unsichtbar. 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 177 (a) bürokratischer Alltag im Krankenhaus Kleinere und größere ”Bürotätigkeiten” machen einen nicht unerheblichen Teil der ärztlichen und pflegerischen Arbeit im Krankenhaus aus (in bundesdeutschen Krankenhäusern sind Stationssekretäre eher selten anzutreffen). Im Fallverlauf eines Patienten - etwa auf der chirurgischen Station - entsteht nicht selten eine Patientenakte im Umfang eines kleinen Buches: Es enthät u. a. das Patientenstammblatt, das Krankenblatt und die Kurve, den Pflegebögen, den körperlichem Status, eine ausführlichen Anamnese, die Laboranforderungen, einen vorläufigen und einen endgültigen OP-Bericht, das Narkoseprotokoll, die Dokumentation der erhaltenen Blutprodukte, den ärztlichen und pflegerischen Bericht der Intensivstation, den Entlassungsbrief, den vorläufigen und dem endgültigem Arztbrief, die konsiliarischen Anforderungen, sowie die Bögen, auf denen Komplikationen dokumentiert werden. Auch ist bei den in den vermehrt üblichen Kontrollanfragen seitens der Krankenkassen jeder Behandlungs- und Diagnoseschritt ordentlich zu verschriften. Schließlich muss das ganze Material für das Archiv zu einer Akte zusammengefasst werden, wobei in Deutschland nur den Ärzten obliegt, diese zu erstellen und zu pflegen39. Der Patientenakte wohnt dabei selbst eine inhärente Logik inne, die das ärztliche Handeln strukturiert und an die auf den jeweiligen Stationen üblichen Routinen anpasst. Wie Berg (1992) am Beispiel empirischer Rekonstruktionen aufzeigt, gestalten Formularoptionen und die der bürokratischen Form inhärenten Darstellungszwänge aktiv die Sphäre medizinischen Wirkens. Ärzte müssen sich in ihrem Handeln dieser Logik mehr oder weniger anpassen bzw. ihr Handeln zumindest schriftlich so reformulieren, dass es nach außen einer kohärenten Behandlungslogik entspricht40. Die Ärzte müssen dabei Wege finden, diese oftmals widersprüchlichen Primate einer normativen administrativen Logik und dem praktischen Sinn medizinischen Handelns geschickt balancieren zu können. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich ein Doppelleben der Ärzte. Einerseits muss den administrativen und legitimatorischen Ansprüchen Genüge geleistet werden, andererseits praxisgerecht entschieden und gehandelt werden. Es gehört gleichsam zum entwickelten ärztlichen Habitus, die Diskrepanz zwischen konkreter ärztlicher Handlungspraxis und formalen Vorschriften nicht allzu ernst zu nehmen. Was für einen Verwaltungsbeamten ein Vergehen darstellt, ist innerhalb des praktischen Sinns unmittelbaren ärztlichen Handlungsdrucks bestenfalls eine Lappalie. Insbesondere in der Chirurgie stellt der immense Druck der Praxis sowieso alle medizinexternen Regeln außer Kraft. In Anbetracht chronischen Zeitmangels und akuten Handlungsbedarfs bei lebensbedrohlichem Patientenzustand gelten weder Arbeitszeitregelungen, noch andere Formalia: Was zählt ist, die Sache irgendwie anpacken zu können41. Ähnliches, wenngleich in etwas abgemilderter Form, gilt auch für die anderen medizinischen Disziplinen. Arbeitszeitgesetze werden generell nur in Ausnahmefällen eingehalten. Auszubildende können - und müssen bei entsprechendem Arbeitskräftemangel Dienste übernehmen, für die sie erst in der unmittelbaren Handlungspraxis die Qualifikation erwerben. Ebenso können die für den Umgang mit Medizintechnik und Arzneimittelprodukten geltenden Vorschriften nicht immer eingehalten werden42. V. Das medizinische Feld 178 (b) Soziale Indikation Wenn ein Patient in die Notaufnahme kommt, weder eine Einweisung durch einen ambulanten Arzt noch eine medizinische Indikation der Unabweisbarkeit vorliegt, ist das Krankenhaus veranlasst, die Patienten zunächst wieder zurück an die Hausärzte zu verweisen. Die Krankenkassen können die Missachtung dieser Vorschrift bestrafen, indem sie sich weigern, die Behandlung zu finanzieren. Die Rigidität der Indikationsstellung führt bei vielen Ärzten zu moralischen Konflikten, denn es wird als unethisch empfunden, bedürftige Patienten unbehandelt wieder fort zu schicken. Entsprechend zeigt sich oftmals die inoffizielle Praxis, solche Patienten auch ohne Notfallindikation aufzunehmen: Verdeckte soziale Indikation: “Hatte Mitleid gehabt, wo der gesagt hat, »wie soll ich denn jetzt nach Hause kommen«” Ein Altassistent erklärt in diesem Sinne bei der Dienstübergabe, dass er einen Herrn mit einer Leistenhernie aus Mitleid aufgenommen habe: 15.30 Dienstübergabe Stationsarzt Altvetter: ... Ich habe noch einen Mann aufgenommen, der hatte eine faustgroße Leistenhernie und früher einen Schlaganfall. Ich hatte Mitleid gehabt, wo der gesagt hat‚ ‚wie soll ich jetzt nach Hause kommen‘. ... Den konnte ich doch nicht wegschicken. Die offizielle Form muss jedoch in der Außendarstellung gewahrt bleiben. Auf den Formularen müssen deshalb medizinische Gründe angegeben werden43. Die Organisation einer Entscheidung zur vorgetäuschten Unabweisbarkeit kann sich im Einzelfall als komplexer sozialer Prozess erweisen, etwa in dem Sinne, dass der Chefarzt unter Strafe anordnet, diese zu unterlassen, der Stationsarzt trotzdem eine Unabweisbarkeit formuliert, diese jedoch nicht selbst unterschreibt, sondern dem Oberarzt ins Fach legt. Letzterer unterschreibt, was wiederum vom Chef wohlwollend übersehen wird44. Patientenirritation aufgrund von Rahmenmodulation: “Meine Mutter hat gar nicht verstanden, was der Arzt gesagt hat” In der Regel werden die Patienten nicht darin eingeweiht, dass medizinisch-diagnostische Sachverhalte zur Absicherung der medizinischen Indikation vorgetäuscht werden. Dies kann Verwirrungen schaffen. Beispielsweise wurden einer 45 Jahre alten Frau aus Bosnien die Gründe für ihren etwas länger dauernden Krankenhausaufenthalt nicht mitgeteilt. Dies führte bei ihr merklich zur zunehmenden Beunruhigung über ihren Gesundheitszustand: 10:25 Chefvisite Dr. Boller (erklärt den Fall): Frau Madek kommt überwiegend aus sozialen Gründen .... schwer traumatisiert im bosnischen Krieg ... schreckliche Dinge erlebt ... soll sich hier erholen ... hatte 6 Brüder, die im Krieg verstorben sind ... soll jetzt vor Ostern noch entlassen werden ... [...] 16:10 vor dem Stationszimmer Tochter der Patientin (spricht den Beobachter an): Meine Mutter hat heute gar nicht verstanden, was der Arzt gesagt hat .... macht sich jetzt Sorgen mit der Lunge. 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 179 (Der Beobachter verweist die Tochter an den Stationsarzt.) Tochter: Jetzt macht meine Mutter sich aber Sorgen mit der Lunge. Dr. Boller (schaut in der Akte nach): Die Lunge ist in Ordnung. Hier und auch in anderen beobachteten Fällen wird die soziale Dimension des ärztlichen Handelns dem Patienten gegenüber nicht direkt kommuniziert, denn dies würde die Mediziner angreifbar und erpressbar machen. Äußerlich muss der vorgetäuschte biomedizinische Rahmen weiterhin aufrechterhalten werden. Die Fixierung auf biologische Prozesse begünstigt jedoch, dass die vermuteten psychologischen und sozialen Probleme weiterhin unthematisiert bleiben. Wenngleich die verdeckte soziale Indikation einerseits partielle Lösungen angesichts von Versorgungslücken innerhalb der modernen Gesellschaft anbietet45, so untergräbt sie doch zugleich die Suche und Etablierung anderer - vielleicht befriedigenderer - professioneller Lösungen. Dies gilt insbesondere auch für die verdeckte soziale Indikation “Sterben im Krankenhaus” (s. hierzu Kapitel VII.2.). Während diesbezügliche Täuschungsmanöver den Ärzten der Chirurgie und in der Inneren Medizin keine Probleme bereiten, ergeben sich hier für die Psychosomatiker Differenzierungs probleme, die durchaus die eigene ärztliche Identität berühren. Denn für die Legitimation ihrer therapeutischen Programme ist es notwendig, die Krankheitsursache als innerpsychisch bedingt zu konstruieren, um entsprechende therapeutische Bemühungen anschließen zu können. Soziale Zustände müssen zwar mit verhandelt werden - denn offensichtlich sind sie als Problemfaktor da -; sie sind aber innerhalb der originären Funktionsbezüge der Krankenbehandlung nicht anschlussfähig. “Nur” aus sozialen Gründen oder gar aus Gefälligkeit sollte deshalb schon allein im Sinne des eigenen professionellen Pathos kein Patient auf die psychosomatische Station aufgenommen werden. (c) Beziehung zu den Krankenkassen Das Verhältnis zwischen Krankenhausärzten und den Krankenkassen ähnelt vielfach einem Spiel mit verdeckten Karten. Auf der oberflächlichen Ebene scheint eine komplementäre Beziehung zu bestehen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine konflikthafte machtpolitische Dimension: Beide Akteure kämpfen um den Erhalt bzw. dem Ausbau ihrer Position im medizinischen Feld. Letztlich geht es dabei um die Macht, zu definieren, wie die Gesundheitsversorgung im Allgemeinen und im Speziellen - im Fall eines konkreten Krankenhauses - auszusehen hat46. Dieser Kampf wird in der Regel nicht offen ausgetragen, sondern kann nur in Form verdeckter Züge gespielt werden. Verborgenes Täuschungsmanöver: “Montags schicke ich keinen nach Hause, sonst gibt es eine Systemanfrage” Ein einfaches Manöver, das auf allen Stationen beobachtet wurde, ist die Wahl des geeigneten Entlassungstermins. Dies geschieht immer auch im Hinblick auf die Gefahr vor unangenehmen Regelanfragen seitens der Krankenversicherungen: Stationsarzt Scholz (zum Arzt im Praktikum): Montags schicke ich keinen nach Hause sonst gibt es eine Systemanfrage. 180 V. Das medizinische Feld Die Ärzte versuchen, ‚ungefährlicheʻ Entlassungstage herauszusuchen, die nicht den Verdacht nähren, den Patienten nur des Geldes wegen länger auf der Station halten zu wollen. So wird lieber mittwochs als montags entlassen, da das untersuchungsarme Wochenende per se verdächtig erscheint und deshalb die Krankenkassen hier besonders gerne die Finanzierung des Aufenthaltes in Frage stellen. Der Rahmen der Entscheidung liegt hier in der Beziehungsgestaltung zur Krankenversicherung, d. h. im Abtasten diesbezüglicher Erwartungen und Erwartungserwartungen. In der Regel werden die Patienten in die eigentlichen Gründe für die Wahl des Entlassungstermins nicht eingeweiht. Stattdessen werden medizinische oder sonstige Gründe vorgetäuscht. Auf vielen Stationen ist es durchaus üblich, Patienten für ein bis zwei Tage von der Station zu beurlauben, wenngleich dies seitens der Krankenkasse in dieser Form nicht gestattet ist: Allianz mit dem Patienten gegen die Kasse: “Für den Fall, dass was passiert, datieren wir die Entlassung ein paar Tage zurück” Wie ein onkologischer Stationsarzt dem Beobachter schildert, hat sich diesbezüglich auf der Station ein praktikabler Modus operandi gefunden, sowohl den Patientenwünschen dienen zu können, als auch ohne größeren Verwaltungsaufwand formal den Anforderungen der Krankenkasse gerecht zu werden: Stationsarzt Kringe (erklärt dem Beobachter): ... für viele Patienten ist ja Urlaub sehr gut ... für die Kassen gibt es jetzt aber keinen Urlaub ... müssten wir Sie entlassen und wieder aufnehmen, was dann wieder ein unheimlich hoher Aufwand wäre ... müssten dann die Akte wieder komplett neu anlegen ... machen wir jetzt so, dass wir die Patienten unterschreiben lassen, dass sie ”gegen ärztlichen Rat” gehen, aber die bleiben dann im Computer drin. ... Für den Fall, dass was passiert, datieren wir die Entlassung dann ein paar Tage zurück und vernichten den Zettel. Könnte ja sein, dass ein Patient zum Zahnarzt muss und dann bekommt die Kasse zwei Rechnungen, eine von außerhalb und eine von uns ... normalerweise gibt das keine Probleme ... war dann nur einmal ein privater Patient ... bei den Privaten laufen die Rechnungen dann alle über die Patienten persönlich ... der wollte dann nicht zahlen ... ”war im Urlaub” ... Der Konflikt zwischen den auch aus ärztlicher Sicht legitimen Patientenbedürfnissen und administrativ Erlaubtem kann hier in der Allianz von Ärzten und Patienten geschickt unterlaufen werden. Probleme bereitet hier nur der Privatpatient, da dieser nicht nur als Patient, sondern zugleich als Rechnungsprüfer fungiert. IM Hinblick auf die Beziehung zwischen Krankenhaus und Krankenkassen könnte der Eindruck entstehen - wie seitens der Politik manchmal behauptet -, dass nur die Ärzte den anderen Partner in die Irre leiten würden, während die Kassen sich im Spiel der Interessen “anständig” verhalten würden. Dieser Eindruck täuscht, wie das folgende Beispiel demonstriert. Demonstration bürokratischer Macht: „Den Arzt vom MDK kann man grundsätzlich nicht erreichen” Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) verlangt von der jungen Ärztin eine ausführliche Falldokumentation eines Therapiefalls. Eine junge Ärztin scheitert bei dem Versuch, einen Arzt des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen ans Telefon zu bekommen: 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 181 9:25 Arztzimmer (Onkologische Station) Die Ärztin im Praktikum erklärt einem Stationsarzt, dass sie auf Anfrage einer Krankenkasse den Therapieverlauf eines ihrer Patienten in einem Kurzbrief dokumentiert hätte. Dort sei unter anderem geschrieben: »Immunsuppressive Therapie ... Antibiotikatherapie ... Blutprodukt ... weitere Chemotherapie« (die Namen der Zytostatika werden benannt). Allein diese wenigen Begriffe würden doch anzeigen, dass es sich hier wirklich um einen schweren Fall gehandelt hätte. Nun sei der Brief unkommentiert zurückgekommen mit der Anforderung, eine ausführliche Falldokumentation zuzusenden. Die Stationsärztin ruft daraufhin bei der Krankenkasse an und versucht einen Arzt des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) ans Telefon zu bekommen. Dies gelingt ihr nicht. Enttäuscht wendet sich die junge Ärztin an den Stationsarzt und erklärt, dass sie den Arzt vom MDK nicht erreichen könne und dass man ihr erklärt habe, dass man diesen grundsätzlich nicht erreichen könne. Sie fühle Ärger, da es sich bei dem Patienten ja schließlich um einen schwer kranken Manne handele, der vollkommen berechtigt auf der Station gelegen habe und sie dies dann gerne direkt mit der Krankenkasse besprochen hätte. Nun wüsste sie nicht mehr, wie sie ihrem Ärger angemessen Lauf lassen könne. Hierauf empfiehlt ihr der Assistenzarzt, doch mal einen der von ihm schon vorgefertigten Antwortbriefe zu versuchen. Hier wäre alles angesprochen und die Sache würde so nicht mehr so viel Arbeit machen. Wie jede Kommunikation lässt sich die Regelanfrage einer Krankenkasse unter einem konstativen und einem performativen Blickwinkel betrachteten47. Für die angehende Ärztin erscheint die Szene gerade deshalb als Problem, weil sie die Anfrage des MDK in einem wörtlichen Sinne versteht, nämlich als Versuch, unter Ärzten fachlich abzuklären, was denn wirklich mit dem Patienten los sei. Im Sinne dieser Lesart ist ihr Versuch, mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen persönlich kommunizieren zu wollen, folgerichtig, denn sie geht davon aus, dass auch hier ein kollegiales Gespräch unter Ärzten möglich sei. Die institutionelle Weigerung der Kasse, dieses Gespräch zu ermöglichen, offenbart jedoch eine andere Sinnstruktur: Es geht hier nicht um die inhaltliche Klärung dessen, was denn in einem konkreten Krankheitsfall zu tun (und zu finanzieren) sei, sondern um den performativen Akt der Demonstration bürokratischer Macht. Die Ärztin muss erst noch lernen, dass man solche Vorgänge nicht ärztlich, sondern nur bürokratisch bekämpfen kann - etwa entsprechend dem Vorschlag des Stationsarztes durch ein Gegenformular. Regelmäßige schriftliche Kontrollanfragen der Krankenkassen entfalten einen starken Druck, Patienten möglichst schnell aus dem Krankenhaus zu entlassen, denn die Kasse kann für medizinisch unbegründete Krankenhaustage die Bezahlung verweigern. Entsprechend bleibt den Ärzten kaum etwas anderes übrig, als die Kontrollanfragen gewissenhaft zu beantworten, denn letztlich steht die Finanzierung der eigenen Arbeit zur Disposition. Da die Bearbeitung der Kassenanfragen merklich Zeit in Anspruch nimmt und Ärzte in ihrem Alltag kaum über zeitliche “Reserven” verfügen, wird die Regelanfrage selbst zum impliziten Druckmittel der Kassen auf das ärztliche Handeln48: Angesichts des knappen Zeitbudgets stellt sich die Frage, ob man den bürokratischen Kampf aufnimmt, oder lieber stillschweigend in voraus eilendem Gehorsam das tut, was die Kassen verlangen49. Krankenhaus und Krankenkasse sind eigenständige Systeme mit unterschiedlichen Funktionsbezügen. Wie ein Arzt aus systemischer Perspektive durchaus treffend ausdrückt, sind Patienten für den einen Kunden, für den anderen nur ein Schadensfall50. Zumindest im Sinne einer starken professionellen ärztlichen Identität ist jedoch das Feld nicht kampflos den Krankenkassen zu überlassen. 182 V. Das medizinische Feld Ökonomische Überlebensstrategien: “Ist dann wie beim Schachspiel, der MDK macht einen Zug und wir machen einen Zug - man muss dann immer einen Zug voraus sein” Ein wichtiges formales Kriterium der Kassen für die weitere Finanzierung eines Krankenhausaufenthaltes besteht darin, dass nachweislich diagnostisch oder therapeutisch etwas geschehen ist. Entsprechend sind die Ärzte gut beraten, wenn sie das Zeitmanagement der Krankenbehandlung so gestalten, dass auch am letzten Tag noch Untersuchungen laufen: Dr. Boller (zum Beobachter): Das sind dann so Dinge, die will keiner sehen ... hatten wir dann auf der Station schon einmal besprochen ... dann muss man die Untersuchungen am letzten Tag ... dann ist zwar das Problem, wenn da wirklich noch was ist und dann haben die Patienten schon gepackt, aber anders geht es nicht, das Röntgen und die Blutuntersuchung dann immer am letzten Tag ... ist dann wie bei einem Schachspiel, der MDK macht einen Zug und wir machen einen Zug, man muss dann immer einen Zug voraus sein ... Der optimale medizinische Behandlungsablauf - nämlich dass die notwendigen Untersuchungsergebnisse rechtzeitig vor dem Entlassungstermin vorliegen und mit dem Patienten rechtzeitig besprochen werden können - muss hier entsprechend der von den Kassen gestellten Rahmenbedingungen abgewandelt werden. Da im Zeitalter der Privatisierung von städtischen Krankenhäusern tendenziell jede Finanzierungslücke den Bestand des eigenen Hauses bedrohen kann, empfiehlt es sich, in diesem Spiel einiges an Geschick zu entwickeln und auch die Pflegekräfte diesbezüglich mit ins Boot zu holen51. Wenn ökonomische Fragen unmittelbar in ärztliche Entscheidungsprozesse hineinspielen, um ein weiteres Thema aufzugreifen, stellt sich die Frage, wie und ob den Patienten gegenüber der Zielkonflikt zwischen angemessener medizinischer Behandlung und Wirtschaftlichkeitsinteressen der behandelnden Institution in angemessener Form kommuniziert werden kann. Verdecktes ökonomisches Kalkül: “Das ist jetzt auch so ein Fall, wo wir mit den Fallpauschalen in Konflikt kommen” Herr Kolbe, ein ca. 50-jähriger Patient aus Hamburg, liegt wegen einer Gallenkolik auf einer chirurgischen Station in Berlin. Zunächst wurde mittels einer ERPT (endoskopische retrograde Papillotomie) ein Stein aus dem Gallengang entfernt. Aufgrund weiterer Steine in der Gallenblase ist im Anschluss deren operative Entfernung indiziert. Für das Krankenhaus stellt sich nun das Problem, dass aufgrund der Fallpauschalenregelung der Krankenkassen jedoch nur ein Eingriff vergütet wird. Um die zweite Operation bezahlt zu bekommen, müsste der Patient zunächst entlassen und dann erneut durch einen Hausarzt eingewiesen werden. Für die Ärzte stellt sich nun die Aufgabe, dieses Dilemma handlungspraktisch geschickt zu lösen. Die Ärzte entscheiden sich auch hier, ihre Motive dem Patienten gegenüber nicht zu offenbaren: Stationsärztin Dr. Schneider: Es sieht ja ganz gut aus ... Sie können morgen gehen ... Herr Kolbe: Kann man das mit der Gallenblase nicht auch noch hier mitmachen, ich kenne jetzt das Krankenhaus, habe hier Vertrauen und dann wäre es gemacht ... und mein Sohn ist ja hier in Berlin, das wäre kein Problem. Oberärztin Dr. Puls: In München gibt es auch gute Krankenhäuser ... da kann das dann genauso gut gemacht werden. 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 183 Herr Kolbe: Dann müssen die Untersuchungen alle nochmals gemacht werden ... . Oberärztin: ... Nein, wir geben Ihnen alles mit, die gesamte Akte ... höchstens noch mal Blutabnahme am Anfang und vielleicht nochmals eine Sonographie ... Sie könnten dass natürlich auch hier machen ... aber Sie können dann doch erst mal jetzt rausgehen und sich dass ganze nochmals überlegen ... wie gesagt, Sie können dann auch gerne wiederkommen ... Patient: ... Ich denke ... Oberärztin: Auf jeden Fall, bevor Sie dann wieder ins Krankenhaus gehen, hier oder in München, dann müssen Sie sich vom Hausarzt nochmals eine Einweisung besorgen und dann einen Stempel von der Kasse ... Oberärztin (auf dem Gang, zum Beobachter): Das ist auch so ein Fall, wo wir mit den Fallpauschalen in Konflikt kommen ... der ist jetzt schon zu lange hier, wenn wir die Gallenblase jetzt noch mit machen, wird uns das zu teuer .... eigentlich sollte man ihm das sagen. Stationsärztin: Nein bei dem nicht ... das ist so ein Halbprivater ... Während dem Patienten durch die Blume die Anweisung, das Krankenhaus erst einmal verlassen zu sollen, vermittelt wird, lassen die Ärzte ihre eigentlichen Motive versteckt hinter einem Schleier von Diffusität. Die Deutung, ob ihr Wunsch dem akuten Bettenmangel oder anderen Gründen geschuldet ist, obliegt der Phantasie des Patienten. Hierdurch gelingt es, das ökonomische Kalkül als dem für die Entscheidung primären Rahmen verborgen zu halten, zumal dem Patienten in diesem Fall noch die Handlungsfreiheit suggeriert wird, jederzeit zur Operation in dieses Krankenhaus wiederkommen zu können. Der medizinische Rahmen scheint nach außen gewahrt zu bleiben und die Kostenneutralität für das Krankenhaus bleibt gewährleistet, denn falls der Patient wiederkommt, wird er mit einer erneuten Einweisung kommen müssen52. Offene Spannungen im Feld: “Die Patienten müssen mitkriegen, was hier im Krankenhaus abgeht” Im Folgenden ein kontrastierendes Beispiel aus der Inneren Medizin: Hier wird der ökonomischmedizinische Zielkonflikt offen und direkt vor dem Patienten ausgetragen. Herr Traue, 53 Jahre alt, hat eine lange und schwer wiegende Patientenkarriere hinter sich. Nach einer Operation eines Aortenaneurysma entstand aufgrund einer Komplikation eine Darmnekrose. Daraufhin wurde ein Stück Darm entfernt, und ein künstlicher Darmausgang musste angelegt werden. Als Konsequenz der Schwächung der Immunabwehr im Anschluss an die schweren Operationen kam es zur Verpilzung der Bronchien sowie einer Reihe weiterer Komplikationen, in deren Folge der Patient summa summarum nochmals ein halbes Jahr im Krankenhaus verbracht hatte. Nach einer längeren Phase gesundheitlicher Stabilität wurde Herr Traue wegen eines HepatitisC-Verdachtes erneut ins Krankenhaus eingewiesen, denn der Hausarzt hatte nach einer RoutineBlutuntersuchung schlechte Leberwerte (hohe Transaminasen) festgestellt. Da jedoch keine spezifischen Antikörper auf Hepatitis-C im Blut nachweisbar waren, entschieden sich die Ärzte zu dem teuren RNA-Nachweis. Nun stellt sich jedoch das Problem, dass die Ergebnisse dieser aufwändigen Untersuchung erst in knapp einer Woche zu erwarten sind, eine so lange Liegezeit aber seitens der Krankenkasse jedoch nicht mehr ohne finanzielle Abzüge toleriert werden wird, ohne dass jetzt etwas zusätzliches Medizinisches geschehe. In der Oberarztvisite spitzt sich der Zielkonflikt zu und wird vor dem Patienten ausgetragen: 184 V. Das medizinische Feld 10:30 Oberarztvisite, im Patientenzimmer Dr. Boller: Herr Traue ... ich habe dann die Blutwerte abgenommen ... die Leberwerte marginal rückläufig. Oberarzt: Wie fühlen Sie sich jetzt ... ? Herr Traue: Ja, eigentlich ganz gut ... . Oberarzt: Mit der Operation ist es ja jetzt schon fast ein Jahr her ... jetzt müssen wir überlegen, ob wir die Leber punktieren ... aber da sollten wir jetzt noch die Laborwerte abwarten ... ist jetzt bloß auch die Frage, warum Sie jetzt im Krankenhaus sind? Dr. Boller: Das ist jetzt aber eine grundsätzliche Frage, da müssen wir überlegen, wie wir damit umgehen, ob wir dann mit den Liegezeiten ... oder wie wir den Patienten dienen. Oberarzt: Wenn das Krankenhaus geschlossen ist, dann haben die Patienten gar nichts mehr davon ... . Dr. Boller: Dann können wir in so einem Fall nichts mehr machen. Oberarzt: Wenn Sie in der Aufnahme gewesen wären, dann hätten Sie den gar nicht aufnehmen dürfen. Dr. Boller: Ja, so was müssen wir jetzt mal grundsätzlich regeln. Oberarzt: Aber jetzt nicht vor dem Patienten. Dr. Boller: Sollte man gerade vor dem Patienten. Oberarzt: Aber nicht jetzt, das ist jetzt ein kranker Mann. Dr. Boller: Die Patienten müssen auch mitkriegen, was hier im Krankenhaus abgeht ... . Oberarzt: Wann ist denn jetzt mit den Ergebnissen der Laboruntersuchung zu rechnen? Dr. Boller: Das dauert dann mindestens eine Woche. Oberarzt: Wie ist das mit der Kostenübernahme? Dr. Boller: Der ist mit einem AOK-Zettel ohne Stempel gekommen ... Oberarzt (zum Patienten): Haben die das genehmigt? Herr Traue: Ja, die haben den Aufenthalt genehmigt. Oberarzt: ... Okay, ist vorhanden, aber wir entlassen Sie dann am Samstag ... . Auf dem Gang Dr. Boller (zum Beobachter): Ist jetzt gerade richtig, dass die Patienten hier mitkriegen, was hier abgeht. ... Sonst heißt es wie bei der Rentenkasse wieder ”wir haben gar nicht gewusst, wie schlimm das ist”. Der primäre Rahmen des Problems ist auch hier wieder ökonomischer Natur. Die Organisationsund allgemeinpolitischen Dimensionen dieser Entscheidung werden hier zwar vor dem Patienten ausgetragen, ohne ihn jedoch wirklich in diesen Diskussionsprozess zu involvieren. Der Patient bleibt kommunikativ draußen und wird zum Zuschauer eines gesundheitspolitischen Konfliktes degradiert. Die scheinbare, gegenüber dem Patienten vorherrschende Offenheit wird hier gleichsam zur Farce, da seine eigentlichen Interessen, der Grund für seinen Krankenhausaufenthalt, nicht mehr verhandelt werden. Innerhalb dieser - sich auch mikropolitisch innerhalb der ärztlichen Hierarchie53 als Spannung ausdrückenden - Machtspiele bleibt der Patient hier außen vor. Insbesondere in der Frage der “Verzahnung” von Therapie und Pflege lassen sich die Konflikte zwischen den ökonomischen Eigeninteressen der behandelnden Institution Krankenhaus und dem Anspruch nach einer wünschenswerten Patientenversorgung manchmal nicht mehr integrieren. 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 185 Grenzen des Behandlungssystems: “Jetzt wirklich zwischen Krankenkassen, Angehörigeninteressen und Patientenbedürfnissen trianguliert” Der Stationsarzt berichtet dem Oberarzt von einer Patientin, die aufgrund des Krankheitsverlaufes zu einem Pflegefall geworden ist. Nun würde sich aber eine Betreuungslücke ergeben, denn der Medizinische Dienst der Krankenkassen würde erst in zwei Wochen kommen, um die Pflegestufe festzustellen. Man könne die Patientin eigentlich nicht so lange da behalten. Der Oberarzt plädiert dafür, die Patientin im Zweifelsfalle erst einmal rauszuschmeißen, denn das Allgemeinkrankenhaus könne in der Triangulierung zwischen Krankenkassen, Angehörigen und Patienten nicht immer “alle Übel der Welt heilen”: Dienstag, 6.4. 13:00 Dienstbesprechung Dr. Boller: Aber jetzt haben wir oft das Problem ... das ist ein Pflegefall und wenn dann der MDK nicht am 15. kommt, sondern erst am 20. ... Oberarzt Dr. Heimbach: Dann einfach beim MDK Druck machen. Dann müssen wir bei der Krankenkasse anrufen und uns darüber beschweren, dass die vom MDK noch nicht gekommen sind. Dr. Boller: Nein, das geht doch dann auch nicht so ... dann sagen die doch „entlasst den erst mal“ und wenn es ein Pflegefall ist, dann kann man den doch nicht so ohne Pflegestufe entlassen. ... Ohne Pflegestufe kriegt der doch nichts und dann müssen die Angehörigen bezahlen. Oberarzt Dr. Heimbach: Im Zweifelsfall rausschmeißen. Ein Akutkrankenhaus kann jetzt nicht alle Übel der Welt heilen. ... Wir sind jetzt wirklich zwischen Krankenkassen, Angehörigeninteressen und Patientenbedürfnissen trianguliert ... ist dann wirklich die Frage, ob wir als Allgemeinkrankenhaus den schwarzen Peter annehmen müssen. Der hier seitens der Angehörigen implizit angetragene Wunsch, den Patienten weiter zu betreuen, bis die Pflegestufe eingerichtet ist, widerspricht sowohl den formellen als auch informellen Aufträgen des Krankenhauses. Entsprechend erlebt sich der Oberarzt zwar einerseits trianguliert zwischen ökonomischen, Patienten- und Angehörigeninteressen, kann aber die an ihn gestellten Ansprüche ohne größere Probleme zurückweisen, da hier nicht die ureigenen ärztlichen Interessen und Funktionsbezüge berührt werden. Das Behandlungssystem zeigt hier insbesondere auch unter dem Druck ökonomischer und institutioneller Sachzwänge deutliche Grenzen, denn angesichts der Gefahr, längere Krankenhausaufenthalte von der Krankenkasse nicht mehr finanziert zu bekommen, verringert sich die Motivation der Krankenhäuser, die Lücken in der pflegerischen Versorgung von Patienten zu übernehmen. Jeder nicht bezahlte Behandlungstag geht zunächst zugunsten der Krankenkassenbilanz, allerdings zu Lasten der Patienten und Angehörigen54. Die Ärzte stehen hier gleichsam zwischen den Stühlen, da sie letztlich die Entscheidung treffen müssen, ob und wann ein Patient entlassen bzw. verlegt werden soll. Eine allzu schnelle Entlassung kann leicht zu einem Drehtüreffekt führen, denn ohne gesicherte Weiterversorgung besteht die Gefahr, dass der Patient erneut kollabiert und entsprechend in der Aufnahme vorstellig wird. Während die wiederholte Einweisung für das Krankenhaus ökonomisch Sinn macht - denn nun besteht ja wieder eine abrechenbare medizinische Indikation zur Aufnahme -, ist dieses Vorgehen ethisch im Sinne guter ärztlicher Praxis problematisch, aus strukturellen Gründen jedoch manchmal unvermeidbar. Positionsspezifisch sind bei solchen Entscheidungen jedoch Unterschiede zwischen Stationsarzt- und Leitungsebene zu erwarten. Während der erstere im persönlichen Kontakt mit Patienten und Angehörigen diesbezügliche Begehren wohl schwerer ablehnen kann, können aus den anonymeren Leitungspositionen heraus solche sozial schmerzhaften Entscheidungen leichter getroffen werden (s. hierzu Kap. VII.2.). V. Das medizinische Feld 186 Manchmal ergeben sich jedoch für die Ärzte auch handlungspraktische Probleme, einen Patienten - bei dem dies ökonomisch geboten erscheint - in ein anderes Haus zu verlegen. Besonders wenn die pflegerische Versorgung mit überdurchschnittlichen Kosten verbunden ist, ist es manchmal nicht so einfach, eine Einrichtung zu finden, die den behandlungsbedürftigen Patienten übernehmen will. Den schwarzen Peter weitergeben: “Die nehmen sie nicht, ist denen zu teuer” Frau Deichmann, eine 90-jährige Dame, soll von der onkologischen Station in eine gerontologische Station verlegt werden, da die therapeutischen und diagnostischen Fragen mittlerweile abgeklärt sind. Der Stationsarzt erklärt dem Beobachter, dass das angefragte Haus die Patientin nicht übernehmen werde, da die Versorgung mit den teuren Blutprodukten für es nicht zu bezahlen sei. Der Stationsarzt telefoniert daraufhin mit einer anderen Einrichtung und erklärt den Ärzten den Fall in beschönigender Form: 10:30 Arztzimmer (der Stationsarzt bekommt von einer Schwester das Stationshandy gereicht) Dr. Merkel (erklärt dem Beobachter): Die nehmen sie nicht ... Thrombozytenkonzentrat ist denen zu teuer ... wollten die ja jetzt in ein kleines Haus verlegen ... aber das können die nicht bezahlen ... jetzt liegt die auf einer hochspezialisierten Station eines Universitätsklinikums und braucht eigentlich nur Thrombozytenkonzentrate ... wenn dann die DRG‘s kommen, wird es eine Katastrophe geben ... . 10:45 Arztzimmer Dr. Merkel (telefoniert mit einem geriatrischen Krankenhaus): Frau Deichmann ... 88 Jahre ... aplastische Anämie ... nimmt man an, dass es eine Autoimmunreaktion ist ... braucht Blutprodukte ... TK - aber auch Erythrozyten ... Cyclosporin ... braucht aber 4 bis 6 Monate ... kam jetzt zu uns in einem sehr schlechten Allgemeinzustand [...] nach der Untersuchung wollen wir jetzt so schnell wie möglich verlegen ... bei ihr haben wir durchaus noch Hoffnung, dass sich ihr Zustand bessert. (nach dem Auflegen) Dr. Merkel (zur Ärztin im Praktikum): Das ist jetzt glatt gelogen, dass ich denke, dass sich ihr Zustand jetzt noch mehr bessert. Da Krankenhäuser im Zuge ihrer “Privatisierung” zunehmend als autonome ökonomische Einheiten agieren müssen, stellt sich bei jedem neu aufzunehmenden Patienten auch die Frage des mit dem pflegerischen und medizinischen Betreuungsaufwand verbundenen finanziellen Risikos. Insbesondere die “teuren” Patienten erscheinen nun gleichsam als schwarzer Peter, den man nicht allzu oft zugeschoben bekommen möchte. Wenngleich städtische Krankenhäuser prinzipiell jeden Patienten aufnehmen müssen, so lassen sich insbesondere angesichts reduzierter Bettenzahlen immer auch Gründe finden, einen Patienten nicht aufnehmen zu können. Entsprechend ist bei kritischen Patienten auch die Überredungskunst der Ärzte gefragt, denn in jedem Einzelfall muss erneut ausgehandelt werden, ob die Systemrationalität, der ärztliche Ethos oder einfach nur Mitgefühl den primären - manchmal auch nur vorgetäuschten - Entscheidungsrahmen liefert. In Zukunft sollen mit den diagnose related groups seitens des Krankenhauses nur noch fallbezogene „Kopfgelder“ abgerechnet werden können. Unter Umständen stellen nun einzelne multimorbide Patienten für das Krankenhaus einen nur noch schwer vertretbaren Kostenfaktor dar. Insbesondere über die mittlerweile auch in den Arztzimmern der Krankenhäuser verbreiteten EDV-Systeme können ökonomische Verfahren des Controlling tief in den medizinischen Alltag eindringen. Programme wie KODIP präsentieren dem Arzt auf die Fallpauschale bezogen und altersgewichtet die durchschnittlichen Belegungstage. Entsprechend der bundesweit ermittelten 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 187 Daten kann nun der Arzt auf einen Blick sehen, ob er mit seinem Patienten in der Gewinn- oder in der Verlustzone liegt. Das neue Abrechungssystem wird hierdurch den Druck zur Rationalisierung ärztlichen Handelns erheblich erhöhen55. Onkologie: “Wenn die DRGʼs kommen, wird sie kein Krankenhaus mehr nehmen” Herr Müller, ein 48-jähriger Patient, wird aufgrund einer akuten myeloischen Leukämie auf der onkologischen Station behandelt. Der Stationsarzt erklärt während der Chefvisite, dass der Mann auch unter Morbus Wegener leide und deshalb vor 10 Jahren eine Nierentransplantation bekommen habe. Anfang des Jahres habe er außerdem noch eine Aspergillus-Pneumonie bekommen und schließlich noch eine Urosepsis. Jetzt hätten sie allerdings mit der Antikörpertherapie angefangen. Der Chefarzt fragt den Patienten, wie es ihm gehe, und spricht mit ihm über seine berufliche und gesundheitliche Situation. Zwischendurch unterhält er sich kurz mit dem Stationsarzt über die Blutwerte. Abschließend bemerkt der Professor dem Patienten gegenüber, dass man ihn jetzt noch behandeln könne. In Zukunft aber, wenn die diagnose related groups eingeführt worden seien, würde ihn kein Krankenhaus mehr aufnehmen, da allein die Antikörper 30.000 Mark kosten würden: 9:30 Chefvisite Chefarzt Prof. Wieners (zum Patienten): Wie geht es Ihnen jetzt? Patient: Jetzt wieder relativ gut ... . Chefarzt: Wie alt sind Sie? Patient: ... achtundvierzig Chefarzt: Und was haben Sie gemacht? Patient: Bin immer noch im Beruf, bin Elektriker. Chefarzt: Alle Achtung ... . Patient: Bloß jetzt mit dem Pilz ... . Chefarzt: Die Behandlung ist ja jetzt soweit okay. Stationsarzt Dr. Merkel: Hat jetzt auch 50.000 Leukozyten ... . Chefarzt: Dann ist das Mark jetzt relativ produktiv ... wie sind die Thrombozyten? Stationsarzt: Sind jetzt relativ niedrig ... . Chefarzt: Das ist jetzt das Problem ... . Stationsarzt: Braucht TK [Thrombozytenkonzentrat] Chefarzt: (zum Patienten): Da haben Sie es ja nicht leicht mit Ihrer Krankheit. Patient: Ja, aber irgendwie muss es gehen. Chefarzt: Noch können wir Sie ja gut behandeln ... aber wenn dann die DRG’s kommen, dann wird Sie kein Krankenhaus mehr nehmen wollen ... allein die Antikörper kosten jetzt 30.000 DM ... das wird sich dann alles ändern ... wir wollen das nicht ... aber von der Politik ist das gewollt ... wenn dann nicht doch eine Revolution kommt ... deshalb müssen die Patienten auch begreifen, was hier passiert ... . Ein multimorbider Patient kann nicht nach dem kostengünstigen Standardtherapieschema behandelt werden, denn die Transplantatniere erlaubt keine der üblichen Chemotherapieprotokolle. Stattdessen bleibt als letzter Versuch nur übrig, eine Therapie mit den neuen molekularbiologischen Präparaten zu versuchen. Molekularbiologisch maßgeschneiderte Medikamente schieben die Grenze des Für-den-Patienten-nichts-mehr-tun-Könnens wieder ein kleines Stück weiter ins V. Das medizinische Feld 188 Machbare hinaus. Gleichzeitig zeigt sich jedoch eine immer deutlicher werdende ökonomische Grenze. Denn es ist zu erwarten, dass die Kostenträger auch in solchen Fällen nur die üblichen Abrechnungspauschalen bezahlen wollen. Das alte Rational bundesdeutscher Gesundversorgung - prinzipiell wird alles gemacht, was dem Patienten therapeutisch dienen kann - kommt hier ins Wanken. Der Chefarzt spürt, dass dieser Strukturwandel auch vor einem Universitätsklinikum nicht Halt machen wird. Viel mehr noch: Der ärztliche Ethos selbst scheint bedroht, denn ein 48jähriger Mann, der trotz seiner langen Krankheitsgeschichte immer noch in seinem Beruf arbeitet und einen starken Lebenswillen zeigt, verdient den maximalen Einsatz ärztlicher Kompetenz und medizinischer Ressourcen. Kein Arzt einer Universitätsklinik kann dies wollen – denn hier steht die eigene professionelle Identität auf dem Spiel - die medizinische Exzellenz selbst scheint bedroht. Hier bahnt sich ein massiver professionsethischer Konflikt an. Es wundert deshalb kaum, dass der Chefarzt hier den Aufstand fordert und den Patienten anruft, sich dem Kampf wider die ökonomische Rationierung anzuschließen. (d) Ökonomie und ärztliche Freiheit Dem traditionellen Verständnis der professionellen Autonomie folgend hat der Mediziner - natürlich im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht und unter Berücksichtigung des state of the art seines Fachs - die Freiheit, selbst über die angemessene Therapie des ihm anvertrauten Patienten zu entscheiden. Als einem freien Beruf obliegt es dabei der ärztlichen Profession selber, die Regeln und Normen guter ärztlicher Praxis zu definieren56. Über den Umweg der Formalisierung medizinischer Kunst in „wissenschaftlich“ basierte Leitlinien, der Verrechtlichung medizinischer Verfahren und der Einflussnahme ökonomischer Interessengruppen auf politische Steuerungsmechanismen kann die ärztliche Therapiefreiheit gleichsam von hinten herum ausgehebelt werden57. Insbesondere über das Sozialrecht wird es entsprechend der im HealthTechnology-Assessment ausgewiesenen ökonomischen Kosten/Nutzen-Abwägung möglich, therapeutische und diagnostische Maßnahmen aus der solidargemeinschaftlichen Finanzierung auszuschließen58. Die Entscheidung darüber, was denn nun hinreichende evidence und efficiency sei, damit ein Therapie- oder Diagnoseverfahren in den Finanzierungskatalog aufgenommen werden könne, obliegt dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (BÄK). In diesem vermeintlich unpolitischen, jedoch außerordentlich machtvollen Gremium werden im „stillen Kämmerlein“ und fernab des öffentlichen Diskurses weit reichende Entscheidungen zur Rationierung von Gesundheitsleistungen getroffen59. Im Sinne der neuen sozialrechtlichen Möglichkeiten können Krankenkassen sich weigern, Therapiemaßnahmen zu finanzieren, welche etwa nicht den in der Roten Liste benannten Indikationen entsprechen. Die Beschränkung der Auswahl medizinischer Therapieangebote auf übliche Standards berührt insbesondere - aber nicht nur - die Identität der universitären Medizin, denn gerade hier werden die neuen, noch nicht standardisierten Verfahren erprobt und entwickelt. Da sich gerade in den medizinischen Hochschulen die Autonomie ärztlicher Professionen rekonstituiert, treten dort die mit den veränderten politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen verbundenen Konflikte besonders deutlich hervor. Gegenstrategien als Antwort auf strukturelle Veränderungen im medizinischen Feld werden hier besonders selbstbewusst formuliert: 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 189 Hochschulmedizinischer Ethos: “Dann sind wir wieder beim Aldi-Einkauf” Der onkologischen Abteilung eines Universitätsklinikums drohen bei Verordnung und Durchführung von Therapien, die in Deutschland noch nicht etabliert sind, Regressforderungen in Millionenhöhe. Auf einer Abteilungsbesprechung wird die Problematik ausführlicher diskutiert. Um die Gefahr der Regressverantwortung abzuwehren, ordnet der Chefarzt an, die Patienten über die diesbezügliche Versorgungslage aufzuklären und dann mit vorgefertigten Formularen zur Krankenkasse zu schicken. Dort sollen sie dann persönlich die Bewilligung ihrer Therapie einfordern und bestätigen lassen. Dieses Vorgehen sei ja auch schließlich ganz im Sinne des „mündigen Patienten“. Eine Ärztin, fragt daraufhin, was denn mit den Patienten geschehen solle, die diese Eigenleistung nicht mehr vollbringen könnten. Der Chefarzt antwortet, dass in solchen Fällen die Ärzte jetzt nichts mehr machen könnten. Hier allzu idealistisch heranzugehen wäre einfach naiv, denn letztlich würden dann die Kassen die ganze ökonomische Last den Ärzten übertragen. Nach einem Hinweis des leitendenden Oberarztes, dass es sich hier um ein wirklich ernstes Problem handele, das durchaus die ökonomische Existenz von ganzen Einrichtungen bedrohen könne, konkretisiert der Chefarzt die Problematik am Beispiel des kleinzelligen Lungenkarzinoms. Die derzeit beste Therapieform für diese Krankheit würde eben nicht in dem Katalog drin stehen. Hierauf schlägt eine Assistenzärztin vor, doch zunächst nur die „erlaubten” Therapieformen zu verschreiben. Der Chefarzt weist diesen pragmatischen Vorschlag sofort zurück, denn man würde sich mit solch einer Argumentation auf das Niveau eines Aldi-Einkaufs begeben. Der leitende Oberarzt ergänzt, dass die eigentliche Aufgabe darin bestehe, die Qualitätssicherung in der Onkologie zu gewährleisten und nicht einfach nur ein Medikament zu verschreiben, weil seine Indikation zugelassen ist: Chefarzt: Jetzt eine weitere wichtige Sache ... die Mittelprobleme für die Bereitstellung von Medikamenten für die Versorgung von Tumorpatienten ... jetzt kommen schon die Regressforderungen der Krankenkassen ... nur Medikamente mit Zulassungsdiagnose werden jetzt erstattet ... wenn jetzt Medikament X bei Krankheit Y zugelassen und es bei Krankheit Z gegeben und dann haben wir Regressforderungen in horrenden Ausmaßen auf dem Tisch ... ist jetzt schon ein Urteil gefallen, da haben wir jetzt Widerspruch eingelegt ... haben dann ja oft teure Zytostatika verabreicht und nur um die Stationskosten niedrig zu halten, die dann ambulant gegeben ... die Medikamente sollen zwar wirken, aber jetzt auch die wirtschaftliche Dimension ... das medizinisch Notwendige müssen wir jetzt beweisen ... das geht jetzt nur mit dem Patienten ... ihn müssen wir dann über die Versorgungslage informieren ... den Patienten dann aufklären und dann zur Krankenkasse schicken und sich von denen die Behandlung bestätigen lassen ... ist dann auch im Sinne der Patientenrechte ... bleibt jetzt nichts anderes übrig, als die Patienten wohl informiert zur Krankenkasse zu schicken [...]. Oberarzt Prof. Kandinski: Gibt jetzt auch schon ein Merkblatt für den Patienten ... und dann auch ein vorgefertigtes Schreiben mit der Bitte zur Kostenübernahme ... dann eine Anlage für eine Begründung [...] sind dann etwa auch die Studien der Phase 1 zu nennen [...] die Argumentation lautet dann immer „wegen fortlaufender Therapienotwendigkeit“ ... wenn die Krankenkasse zustimmt ist es okay [...]. Assistenzärztin: Was ist jetzt, wenn die das liegen lassen? Chefarzt: Dann muss der Patient ... der ist es jetzt, der gefordert ist ... will die Politik ja auch, den mündigen Patienten, deswegen ist der gefordert. Assistenzärztin: Was ist jetzt, wenn der Patient keine Angehörigen hat und nicht mehr laufen kann? Chefarzt: Da können wir jetzt nichts mehr machen ... ist jetzt einfach so, die Kasse legt dann die ganze Verantwortung auf den Arzt ... der bekommt mit der Ausstellung des Rezeptes die Verantwortung, weil 190 V. Das medizinische Feld er regresspflichtig ist ... können wir jetzt nicht machen ... haben wir ja anfangs drüber gesprochen ... geht nur über den Patienten, so ist die Situation ... wer das jetzt nicht versteht, ist vielleicht Idealist ... naiv ... aber die Kasse argumentiert jetzt: „Die Patienten sind Versuchskaninchen, und wir sollen es bezahlen“. Ärztin: Die Einwilligung muss jetzt nur vorliegen, wenn die Indikation außerhalb der Roten Liste ... Chefarzt: Ja [...]. Chefarzt: Haben ja jetzt die Onkologen verhandelt ... ein paar Zuschläge ... [...] die Senatorin hat ja dann auch gesagt, dass die Hälfte aller Therapien im onkologischen Bereich nicht im festgelegten Anwendungsbereich sind ... Leitender Oberarzt Prof. Selling: Jetzt um die Dramatik noch mal zu unterstreichen: der Fall in Klinik [X] ... der Gerichtsvollzieher wollte pfänden ... 5 Mio DM ... Chefarzt: ... Jetzt ist die Sache ... dass viele Medikamente, die wir verschreiben, sind unverschämt teuer [...]. Chefarzt: ... Ist ja dann etwa so ... das Beste was wir für das Kleinzellige haben ... ist nach einer Studie aus Japan das (nennt die Medikamentennamen) ... und das steht da nicht drin. Wenn Sie das jetzt beim Patienten verordnen, dann müssen Sie ihn auch zur Krankenkasse hinschicken .... Assistenzärztin: Die ... (liest die Namen einiger Medikamente ab) sind jetzt zugelassen ... die anderen nicht ... könnte man doch sagen, nehmen wir erst mal die? Chefarzt: Dann sind wir ja wieder beim Aldi-Einkauf. Leitender Oberarzt: Die primäre Intention ist jetzt die Qualitätssicherung in der Onkologie ... nicht der Sinn, dass die Leute sagen: Carboplatin ist zugelassen, also unbedenklich, das wollen wir jetzt gerade nicht. Insbesondere die letzten Gesprächssequenzen verdeutlichen die starke professionelle Identität der universitären Mediziner. Mit der Aldi-Metapher wird hier der Negativhorizont zu einer Vulgärmedizin aufgebaut, die nur noch Standardprodukte zu günstigen Preisen liefern kann. Medizinische Exzellenz kann und darf jedoch niemals nur entsprechend formalisierter RoutineSchemata operieren. Denn das würde bedeuten, unreflektiert vorgegebene Therapiestandards zu übernehmen. Die Identität der modernen Hochschulmedizin besteht jedoch nicht - das wird hier deutlich - in der Versorgung der hilfsbedürftigen Massen - hierfür wäre dann die „AldiMedizin“ wohl besser geeignet -, sondern konstituiert sich gerade in der alle ökonomischen Grenzen überschreitenden Entwicklung des noch Besseren. Die junge Assistenzärztin versteht die Essenz dieses elitären medizinischen Ethos noch nicht - deshalb wird sie auch von den leitenden Ärzten mit dem Hinweis auf „falschen“ Idealismus zurechtgewiesen. Entscheidend ist hier, am medizinischen Fortschritt teilzuhaben, ihn voranzutreiben - deshalb sind die Ärzte schließlich an einem Universitätsklinikum zusammengekommen60. Diesem Zweck hat auch der Patient zu dienen; und wenn es der Sache dient, muss der Patient aktiviert werden, gegenüber der Krankenkasse die Finanzierung dieser Fortschritte einzufordern. Dieses Empowerment, was hier seitens der Ärzte forciert wird, ist jedoch nicht dadurch motiviert zu sehen, nun endlich demokratische Verhältnisse im Gesundheitswesen schaffen zu wollen. Vielmehr ist das eigentliche Motiv ärztlichen Handelns dasselbe geblieben - nämlich forschend den medizinischen Fortschritt voranzutreiben. Der Patient bleibt in diesem Prozess weiterhin Objekt des medizinischen Handelns. Früher war es am dienlichsten, wenn dieser in einer rundherum passiven Rolle einfach das mitgemacht hat, was von ihm verlangt wurde. Heute wird von ihm gefordert, als ein Verbündeter der Ärzte weitere Ressourcen für Entwicklung der Medizin zu erstreiten61. Im Vorgriff auf die Strukturveränderungen der westeuropäischen Gesundheitssysteme wird es für den mündigen Patienten vor allem bedeuten, an diesem Prozess mit seinem privaten Vermögen - sei es mit seinem ökonomischen oder sozialen Kapital - teilhaben zu dürfen. Als Protagonist 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 191 des medizinischen Fortschrittes muss er sich nun selbst vermehrt mit den an ihm durchgeführten Therapien identifizieren, für sie kämpfen, notfalls diese gar selbst finanzieren. Für all die anderen Patienten, die dies - aus welchen Gründen auch immer - nicht leisten können, werden im Rahmen der vermutlich unvermeidbaren Rationierung der Medizin wohldurchdachte Medizinprodukte angeboten werden62. Aldi- und High-Tech-Medizin stellen in diesem Sinne zwei innermedizinische Bewegungen dar, die sich nicht ausschließen, sondern in ihren Funktionsbezügen und Problemreferenzen jeweils komplementär ergänzen können. Auf der einen Seite findet eine Deprofessionalisierung63 des ärztlichen Berufes statt - hier verstanden in dem Sinne, dass die Autonomie ärztlicher Praxis zugunsten einer durch Leitlinien abgesicherten Kochbuchmedizin zurückgedrängt wird64. Auf der anderen Seite werden Inseln ärztlicher Exzellenz aufrechterhalten. In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit der jungen Ärztin auch als eine klare Standortbestimmung universitärer medizinischer Identität zu verstehen. Ärzte agieren in der Regel als Mediziner und nicht als Ökonomen65. Institutionelle und auch persönliche ökonomische Interessen mögen zwar auch verfolgt werden, aber der primäre Funktionsbezug des Handelns besteht in der Behandlung kranker Menschen, in einem Universitätsklinikum darüber hinaus in der experimentellen Weiterentwicklung der Krankenbehandlung66. Letzteres heißt immer auch, die Grenzen des bisher Machbaren zu überschreiten. Um in systemtheoretischen Begriffen zu sprechen: Krankenkassen, Industrie und andere Geldgeber stellen aus medizinischer Perspektive nur eine Umwelt dar, die mehr oder weniger geschickt zu assimilieren ist. Störungen von außen müssen bewältigt und als Potenziale für den Aufbau eigener Strukturen genutzt werden. Die wechselseitige Durchdringung („Interpenetration“) von Medizin und Ökonomie erscheint strukturell sowohl als Kampf wie auch als Symbiose. Wenngleich die medizinischen Funktionsbezüge zumindest in dem Sinne autonom bleiben, dass sie letztlich niemals vollständig durch die Ökonomie determiniert werden können, so muss ärztliches Handeln die spezifischen Konditionen dieses Feldes dennoch immer auch mit verhandeln. In diesem Sinne wird der ökonomisch-adminstrative Bereich zu einem gewichtigen Faktor in der Ausgestaltung ärztlicher Entscheidungsprozesse: Allianzen mit der Wirtschaft: “Von der Firma gestellt, sonst wäre es ökonomisch der Supergau” Herr Müller soll für einen Tag auf die onkologische Station aufgenommen werden, um dort im Rahmen einer experimentellen Krebstherapie ein Medikament verabreicht zu bekommen. Der Oberarzt schaut sich die Patientenakte an und bemerkt, dass die Therapie ökonomisch nicht vertretbar sei. Der Stationsarzt ergänzt daraufhin, dass eine pharmazeutische Firma das Medikament stellen würde. Der Oberarzt telefoniert mit Professor Selling, dem Leiter der Studie, der ihm dies bestätigt. Der Oberarzt bemerkt, dass sich ohne Fremdfinanzierung eine ökonomische Katastrophe ergeben hätte, die man nur dadurch hätte auffangen können, wenn man den Patienten für mindestens eine Woche auf der Station belassen hätte. Nach dem Telefonat sprechen Stations- und Oberarzt noch kurz über das Patientenmanagement im Hinblick auf eine geschickte Außendarstellung für die Krankenkassen: 9:30 im Arztzimmer Oberarzt Prof. Krause: ... Herr Müller soll jetzt einen Tag zwischendurch kommen ... soll dann das Medikament [Name des Medikaments wird benannt] bekommen? ... geht nicht ökonomisch ... können wir nicht machen? V. Das medizinische Feld 192 Stationsarzt Dr. Merkel: Wird das Medikament nicht von der Firma bezahlt? Oberarzt (telefoniert): ... Kann ich mit Hermann sprechen? ... ja, wir sollen jetzt einen Patienten für einen Tag aufnehmen, der ist in deiner [...]-Studie .... der ist jetzt für das Medikament X nur einen Tag hier ... ah ... von der Firma gestellt ... ah ...sonst wäre es ökonomisch der Supergau ... müssten wir ihn wenigstens eine Woche hier behalten ... gut, ist dann ein Vorrat da für 16 Patienten ... (legt auf) Oberarzt (zum Stationsarzt): Es gibt einen begrenzten Vorrat ... ist jetzt trotzdem gefährlich, den nur einen Tag aufzunehmen ... kommt dann gleich der MDK ... Stationsarzt: ... Lassen wir dann einen Tag länger im Computer ... Oberarzt: Müssen wir aufpassen ... es gibt eigentlich keinen medizinischen Grund, jemanden nur einen Tag im Krankenhaus zu lassen ... mindestens zwei Tage, besser drei Tage. An einem Universitätsklinikum ergeben sich weitere Möglichkeiten die »Zweckspannungen« (Rohde 1974:323) zwischen Geschäft und Medizin so zu balancieren, dass die kostenintensive High-Tech-Medizin weiterhin vorangetrieben werden kann. Üblich und weit verbreitet sind Kooperationen mit der pharmazeutischen Industrie. Diese stellt dann etwa großzügig Medikamente für den „compassionate use“ zur Verfügung - in Erwartung, dass ihre Produkte wissenschaftlich evaluiert und über diesen Weg populär gemacht werden. Wenngleich diese Allianzen durchaus ihre eigene Problematik bergen67, eröffnen sich hier strategische Partnerschaften, innerhalb derer originär medizinisches Denken und Handeln nicht nur trotz, sondern gerade auch wegen der Beziehung zu ökonomisch starken Partnern verwirklicht werden kann. Auch wenn die vom Arzt durchgeführten diagnostischen Prozeduren und Behandlungen für den Patienten keine therapeutischen Konsequenzen mit sich bringen, so können diese Untersuchungen medizinisch dennoch Sinn machen - nämlich als Chance, an diesem Fall etwas lernen zu können. Im Sinne des traditionellen medizinischen Ethos ist das Fallverständnis entscheidend für die Entwicklung und Qualitätssicherung in der Medizin68. Der Arzt muss die Sache selbst gesehen haben, um sich abschließend ein Urteil bilden zu können. Selbst der hoffnungslose Fall - gar der tote Patient - kann diesbezüglich interessant sein und die ärztliche Neugierde wecken69: Neugierde als medizinische Kardinaltugend: “Ist aber auch so, dass wir jetzt mit dem Medikament Erfahrungen sammeln wollen” Herr Nohl, ein 65-jähriger herzkranker Patient, liegt auf der onkologischen Station zur Behandlung eines Lymphoms. Während der Chefvisite erklärt die Ärztin im Praktikum, dass keine Chemotherapie mehr durchgeführt werden könne und stattdessen nun eine Therapie mit einem speziellen Antikörper versucht würde. Der Chefarzt unterbricht die Fallschilderung und bemerkt, dass man an den Fingern des Patienten sehen könne, dass dieser rauche. Er wendet sich zu dem Mann und fragt ihn, ob er es überhaupt wert sei, eine solch teure Therapie zu bekommen. Auf dem Gang erläutert der Chefarzt seine Intervention: Die neuen Therapien seien immens teuer und wenn da ein herzkranker Patient auch noch rauche, dann würde der sowieso nur noch ein halbes Jahr leben. Der Oberarzt wendet hierauf ein, dass man auf der Station erst einmal Erfahrungen sammeln wolle, wie das Medikament überhaupt wirke: 3. Ökonomisch-administrativer Bereich 193 Freitag, 13.10.02 Chefvisite Ärztin im Praktikum: ... Herr Nohl ... Mantelzelllymphom ... kardiovaskulärer Patient ... Chemo können wir jetzt nicht machen ... Chefarzt Prof. Wieners: Und dann raucht er ... (zum PJ) sehen Sie an den Fingern ... das ist wichtig ... Patient: Jetzt aber nur noch 5 bis 6 am Tag ... habe ich eine ganze Menge reduziert ... Ärztin im Praktikum: Chemo können wir bei ihm jetzt nicht mehr machen ... Camphert ... Chefarzt: Ist ja jetzt ... haben Sie ja auch in der Presse gelesen ... das kostet jetzt jedes Mal 30.000 Mark ... und dann raucht der ... könnten die Kassen sagen “kardiovaskulärer Patient, der raucht und dann 30.000 Mark” ... (zum Patienten) “sind Sie es wert?” ... das müssen Sie jetzt überlegen ... (draußen) Chefarzt: ... Immer neuere Therapien aber dann immens teuer ... die Frage, wo das dann auf die Dauer hinführt ... müssen wir ihm jetzt sagen ... ist ja hart ... wenn er jetzt eine kardiologische Krankheit hat ... und raucht und eine AML, dann wird er noch ein halbes Jahr leben ... Oberarzt Professor Krause: Ist aber auch so, dass wir jetzt mit dem Medikament Erfahrungen sammeln wollen ... Es scheint unter den Ärzten nicht umstritten, dass die Indikation für die teure Antikörpertherapie bei diesem Patienten eher fraglich ist. Die Herzkrankheit und die Weigerung, das Rauchen aufzugeben, lassen einen zusätzlichen Gewinn an Lebenszeit eher ungewiss erscheinen. Für die Mediziner macht die Entscheidung für die Therapie dennoch Sinn, denn es gilt, Erfahrungen mit der neuen Therapieform zu sammeln. Im Hinblick auf das eigene Erkenntnisinteresse tritt das ökonomische Kriterium, teure Therapien oder Diagnosen nur anzuwenden, wenn auch mit einem Therapieerfolg zu rechnen ist, in den Hintergrund. (e) Zusammenfassung ökonomisch-administrativer Bereich - Der ökonomisch-administrative Bereich steht außerhalb der eigentlichen diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Funktionsvollzüge. Fernab vom Ort des medizinischen Geschehens kann er als unpersönliche Macht mittels bürokratischer Routinen, schriftlicher Forderungen und Anordnungen seine Wirkung im Krankenhaus entfalten. - Krankenhaus und Krankenkasse sind eigenständige Systeme mit unterschiedlichen Systemreferenzen. Angesichts des knappen Zeitbudgets der Ärzte stellt sich immer auch die Frage, ob man den bürokratischen Kampf aufnimmt, oder lieber stillschweigend in vorauseilendem Gehorsam das tut, was die Kassen verlangen. Zumindest im Sinne einer starken professionellen ärztlichen Identität ist jedoch das Feld nicht kampflos den Krankenkassen zu überlassen. - Es gehört gleichsam zum entwickelten Habitus, sich mittels kleinerer Täuschungsmanöver Freiräume gegenüber den administrativen Vorgaben zu verschaffen. Insbesondere „soziale Indikationen“ werden von ärztlicher Seite oft verdeckt zur Geltung gebracht, in dem dann formell medizinische Gründe vorgetäuscht werden. V. Das medizinische Feld 194 - Angesichts der Gefahr, zu lange Krankenhausaufenthalte von der Krankenkasse nicht finanziert zu bekommen, verringert sich die Motivation der Krankenhäuser, die Lücken in der pflegerischen Versorgung von Patienten zu übernehmen. Während die wiederholte Einweisung für das Krankenhaus ökonomisch Sinn macht - denn nun besteht ja wieder eine medizinische Indikation zur Aufnahme -, ist dieses Vorgehen ethisch im Sinne guter ärztlicher Praxis problematisch, scheint jedoch aus strukturellen Gründen zunehmend unvermeidbar. - Die Beschränkung kassenärztlich finanzierter Therapieangebote auf übliche Standards berührt insbesondere die Identität der universitären Medizin, wo neue, noch nicht standardisierte Verfahren erprobt und entwickelt werden. Eine Form der Mediziner, ihre professionelle Autonomie gegenüber den Übergriffen der Kassen zu wahren, besteht darin, die Verantwortung für die Sicherstellung der Therapiefinanzierung dem Patienten aufzubürden. Ebenso können Allianzen mit der Industrie eingegangen werden, um dann im Einzelfall die Grenzen des solidarrechtlichen Finanzierungssystems überwinden zu können. - Die wechselseitige Durchdringung von Medizin und Ökonomie erscheint strukturell gleichzeitig als Kampf und als Symbiose. In diesem Sinne bekommt der ökonomisch-administrative Bereich eine gewichtige Bedeutung für die Ausgestaltung ärztlicher Entscheidungsprozesse. Ärzte und Pfleger erleben diese „Fremdeinflüsse“ in der Regel als „feindliche“ Übergriffe. Wenngleich die medizinischen Funktionsbezüge zumindest in dem Sinne autonom bleiben, dass hier Medizinisches von primärem Interesse ist und dass das, was man tun will, vielfach einfach stillschweigend bzw. verdeckt zur Geltung gebracht wird, so muss dennoch ärztliches Handeln die spezifischen Konditionen des ökonomisch-administrativen Bereichs immer auch mit behandeln. 4. Exkurs: Wissenschaft Die Analyse der Beziehung von wissenschaftlichem und medizinischem Feld würde den Rahmen dieser Studie sprengen. An dieser Stelle muss jedoch deutlich gemacht werden, dass es sich hier um zwei getrennte Felder mit jeweils eigenen Gesetzen handelt, die nicht einfach eins zu eins ineinander übergeführt werden können. Vielfach ist bei den Ärzten gar ein mehr oder weniger starker Zweifel gegenüber der Qualität und klinischen Verwertbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse anzutreffen: Doppelleben: „Immer sehr interessant, dann die Ergebnisse zu lesen oder zu hören, aber das reicht eben nicht aus, weil die halt massivst gefälscht sind” In zwei Interviewgesprächen formulieren die chirurgischen Oberärzte ihr Misstrauen gegenüber der medizinischen Wissenschaft. Beide gehen davon aus, dass veröffentlichte Studienergebnisse nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen müssen und deshalb der kritische klinische Blick unabdingbar ist. Wichtiger als die offiziellen Studien sei es, die Zwischentöne der Diskussion mit kritischem Ohr wahrzunehmen: Oberärztin: [...] Und für mich ist das schon immer sehr interessant, dann die Ergebnisse zu lesen oder zu hören, aber das reicht eben nicht aus, weil die halt massivst gefälscht sind, und es ist halt, es wäre schon wichtig, [...] das wirklich zu kontrollieren, wie’s wirklich ist [...] ich hab ja Doktorarbeiten 4. Exkurs: Wissenschaft 195 laufen gehabt und hab auch zwei laufen und ich weiß, meine sind jetzt noch nicht abgeschlossen, aber ich weiß ja, die ehemaligen, ja klar, die ich betreut habe, ich weiß doch wie das gemacht wird, das ist so nicht echt [...] ich weiß, ich kenne die echten Zahlen. [Jetzt auf den Kongressen] also wichtig sind auch immer die Diskussionen nach den Vorträgen, da hört man unheimlich viel raus; die Vorträge sind halt gemacht und die Zahlen sind auch gemacht, aber die Diskussionen anschließend, die sind enorm wichtig. Leitender Oberarzt: [...] Man weiß ja zum Teil auch wie solche Studien entstehen, die Ergebnisse von solchen Studien; also ich bin da schon sehr skeptisch im Glauben an die Wissenschaft, weil bestimmte Dinge im Prinzip so als These und Provokation hingestellt werden, und dann quatschen das alle Kliniken erst mal nach und komischerweise ist es sehr häufig, dass die gleichen Ergebnisse, die eine Pilotstudie erzielt hat, im Prinzip ja in den Folgestudien nie wieder erreicht werden, und das gibt mir schon zu denken; Stichwort Datenmanipulation, gibt es ja auch ne ganze Reihe von Beispielen. Aus ärztlicher Sicht bestehen gute Gründe, sich weiterhin anhand des innermedizinischen Orientierungskriteriums des konkreten Einzelfallverständnisses zu orientieren und wissenschaftliche Studienergebnisse mit gebotener Distanz zu rezipieren. Analog der Beziehung zum ökonomisch administrativen Bereich führen Ärzte auch in dieser Hinsicht ein Doppelleben. Entsprechend den Anforderungen nach Reputation präsentieren sie im wissenschaftlichen Feld ihre Ergebnisse, um dann dieselben auf Kongressen mit vorgehaltener Hand unter dem Blickwinkel der klinischen Arbeit wieder kritisch relativieren zu können und auch mal zwischen den Zeilen zu lesen. Besonders für einen Mediziner, der eine Leitungsposition anstrebt, ist die Inszenierung wissenschaftlicher Kompetenz und Performanz unabdingbar70. Verstöße gegen die Regeln wissenschaftlicher Lauterkeit führen zwar vereinzelt zu Bemühungen vermehrter Selbstkontrolle der Wissenschaft71; strukturell bleibt das Problem jedoch bestehen, da insbesondere Mediziner, die Leitungspositionen anstreben, weiterhin gezwungen sind, je nach der Hochzeit, auf der gerade zu tanzen ist, die Kleider zu wechseln72. Jedoch selbst wenn man die größeren Betrügereien eher als Ausnahme denn als Regel betrachten würde, gestaltet sich die Beziehung zwischen Wissenschaft und Medizin keinesfalls trivial. Dies ergibt sich allein schon aus der innermedizinischen Aufspaltung der Gesamtprofession in eine »akademisch-szientifische Elite« und eine »praktizierende Elite«, und einer nochmaligen internen Aufspaltung des Gesamtfachs in eine Vielfalt medizinischer Einzeldisziplinen. Die ‚Expertenʼ der akademischen Disziplinen generieren dabei Wissen eines »eines relativ esoterischen Typs«, da sie ihre Wissensbasis unter kontrollierten (Labor-)Bedingungen generieren. Es hat zwar oft »wissenschaftlichen Status«, ist jedoch »dennoch in entscheidender Sicht insuffizient«, denn: »der Tendenz nach gibt es eine Überkomplexität der Situation im Verhältnis zum verfügbaren Wissen, eine Relation, die es ausschließt, das Handeln des Professionellen als problemlose Applikation vorhandenen Wissens mit erwartbarem und daher leicht evaluierbarem Ausgang zu verstehen« (Stichweh 1987: 22873). Dabei erscheint aus systemtheoretischer Perspektive nicht nur das Verhältnis von Anwendungswissenschaft und Praxis, sondern auch der wissenschaftliche Fortschritt selber prekär, da die immens wachsende Differenzierung der Wissensbestände ihrerseits immer mehr Fragen und Unsicherheiten aufwirft. Für den Kliniker besteht ein »wesentliches Moment der Problemsituation« in der »Ungewissheit hinsichtlich der Dynamik der Situation, hinsichtlich der zu wählenden Handlungsstrategie und schließlich dem mutmaßlichen Ausgang, und eben diese Struktur lässt auf der Seite des Professionellen die Relevanz subjektiver Komponenten wie Intuition, Urteilsfähigkeit, Risikofreudigkeit und Verantwortungsübernahme hervortreten, die zugleich mit dem Vertrauen des Klienten als seiner komplementären und möglicherweise er- V. Das medizinische Feld 196 folgsrelevanten Investition interagieren« (Stichweh 1987: 228). Klinische Professionalität besteht nun im Gegensatz zur wissenschaftlichen Professionalität gerade auch darin, dass man »nicht auf demonstrative Offenlegung, das Mitkommunizieren des noch unsicheren Status des Wissens setzen kann. Eine solche Option, die gerade in der Relativität der Wahrheit die Unbegrenztheit des eigenen Fortschreitens erfährt, ist für die Professionen durch das Faktum oft existentieller Betroffenheit des Klienten ausgeschlossen, welches eher dazu zwingt, Ungewissheit zu verdecken, sie in Formen abzuarbeiten, die das Vertrauen des Klienten nicht erschüttern« (Stichweh 1987: 228). Handlungspraktisch kann die Unsicherheit im Hinblick auf die richtige Praxis nur durch die Entscheidung für eine Praxis geschlossen werden. Professionslogisch gesehen muss die Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis deshalb unscharf bleiben. Diese Diffusität, die Grauzone zwischen diesen beiden Sphären, gestaltet gleichsam die ärztliche Autonomie gegenüber dem Zugriff der anderen Mitspieler im medizinischen Feld74. Anmerkungen 1 So beobachtet auf einer Inneren Station, laut Berichten von Ärzten in anderen Bereichen, insbesondere natürlich in der Chirurgie, weit verbreitet. 2 Die medizinrechtlichen Vorgaben sind hier recht eindeutig, s. hierzu Hart (1999). 3 Während meines 3-monatigen Beobachtungszeitraums waren beide Stationsärzte sowie einer der beiden Einzeltherapeuten als auszubildende Ärzte (AiP) erst seit 4 Wochen mit der Stationsarbeit vertraut. In diesem Zeitraum fand kein einziges Mal eine Chefvisite statt und auch die Oberarztvisiten fielen aufgrund von Krankheit sowie anderweitigen Verpflichtungen mehrmals aus. 4 In den Krankenhäusern liegen in der Regel für jeden therapeutischen und diagnostischen Eingriff Aufklärungsbögen bereit, in denen auf 2 bis 3 Seiten über das Krankheitsbild, den Eingriff und die möglichen Komplikationen informiert wird. Auf der Rückseite des Bogens ist ein Feld freigelassen, in dem der Patient unterschreiben kann, dass er über den Eingriff aufgeklärt worden und mit diesem einverstanden sei. 5 Im Hinblick auf den immensen und unüberschaubaren medizinischen Wissensstand ist hier Rohde zuzustimmen, dass die »Selbstsicherheit in der laienhaften Diagnose« (Rohde 1974: 53) nicht mehr wiederzugewinnen ist. 6 Da bei psychosomatischen ebenso wie bei psychiatrischen Patienten (s. a. Vogd 2001a, b) oftmals gerade das “Bewusstsein” bzw. der Wille des Patienten einen wesentlichen Anteil am Therapieprozess haben, entfalten sich gerade hier in besonders markanter Form die Autonomie- und Zurechnungsparadoxien der Form “du hast zu wollen” und “die Therapie hätte Erfolg gehabt, wenn der Patient nur gewollt hätte”. Das Spannungsfeld von ärztlicher Macht, Heteronomie bei gleichzeitig erwünschter Patientenautonomie prägt wesentlich den strukturellen Raum der Therapie. Faktisch zeigt sich, dass das (psycho-)therapeutische setting für den Patienten kaum oder nur bedingt aushandelbar ist. Die Teilnahme an den Therapiegruppen (Musik-, Kunst-, Gruppen-, Einzel- und Entspannungstherapie, sowie Ess- und Ernährungsgruppe) wird durch Anwesenheitslisten überwacht. Regelbrüche, (wie zu spät zu den Gruppen zu kommen, oder zu unerlaubten Zeiten eine Zigarette zu rauchen) gelten als Vertragsbruch und im wiederholten Falle droht gar die Entlassung. In der therapeutischen Kommunikation muss demgegenüber jedoch vermittelt werden, dass die Dinge alle freiwillig zu geschehen haben, der Patient also trotz geschädigter Autonomie letztlich selbst entscheide, was geschehe. 7 »Krankheiten oder Verletzungen, die sich als Schmerzen anzeigen, haben [...] eine durchschlagende, nicht terminierte Priorität. Diese liegt nicht an einer sozialen Hierarchie oder an einer Ordnung von Wertpräferenzen, sondern schlicht an der alarmierenden Gleichzeitigkeit des Körpers. Die elaborierte Zeitordnung kollabiert, wenn der Schmerz sich aufdrängt, und die sonst geltende Priorität des timing der statushöheren Personen zerbricht. Der Arzt hat Vortritt, wenn der Körper aktuelle Hilfe verlangt« (Luhmann 1990: 189). 8 In den Fällen, wo das Kommunikationsproblem seitens der Ärzte vermehrt behandelt wird - etwa in Teilbereichen der Patientenaufklärung - ist jedoch nicht davon auszugehen, dass nun der ethische Wert einer demokratischen Arzt-PatientBeziehung im Vordergrund steht. Vielmehr ist dies eher eine Antwort auf relevantere Funktionsbezüge, wie fehlender compliance oder legitimatorischer Absicherung: Braddock et al. (1999) stellen beispielsweise fest, dass Chirurgen gegenüber Internisten ihren Patienten weitaus mehr Zeit zur Aufklärung widmen, schlussfolgern aber am Ende ihrer Analyse, dass diese Präferenz nicht ethischen Motiven geschuldet sei, sondern der juristischen Anforderung, von vornherein über mögliche Komplikationen aufgeklärt zu haben. 9 In der freien Praxis stellt sich diese Dynamik anders dar. Hier ist der Patient zugleich auch als Kunde anzusehen, der entsprechend seiner Präferenzen einen Arzt auch einmal wechseln kann. Anmerkungen 10 197 Was nicht ausschließt, dass Patienten im Laufe langer Krankheitskarrieren durchaus Experten ihrer Krankheit werden können, doch auch hier bleiben im Fall der akuten Krankheit die realen Machtverhältnisse von dem Wissen des Patienten unberührt. 11 Interviews mit Ärzten (Vogd 2000) zeigen auf, dass sowohl die harte Schulmedizin als auch weiche alternative Verfahren Orientierungsmuster ärztlichen Handelns darstellen, die gleichzeitig bzw. nebeneinander bestehen können: Eine Chirurgin, 43 Jahre alt, Stationsärztin in einem städtischen Krankenhaus, antwortet in diesem Sinne auf die Frage, welche Erfahrungen sie mit alternativen bzw. komplementärmedizinischen Verfahren gemacht habe, folgendermaßen: »Da fallen mir erst mal zwei Dinge dazu ein; erst mal die Erfahrung im Sinne wie reagiert ein Patient darauf, wenn ich das anbiete, also wenn man über diese Richtung der Medizin mit dem Patienten spricht, das ist die eine Seite der Erfahrung und dann eben auch die Erfahrung, ich selbst, oder auch in meiner Familie, die sicherlich dann dazu geführt hat, sich auch ein bisschen mehr damit zu beschäftigen und das dann auch den Patienten nicht vorzuenthalten, weil man eben so eine positive Erfahrung gemacht hat« (Vogd 2000: 23). 12 Es empfiehlt sich seitens der Ärzte, ihren medizinischen Einsatz für den Patienten auch in formal ausreichender Weise zu dokumentieren. Wie die folgende Gesprächssequenz aufzeigt, kann sonst die moralische Empörung über die Abschiebung auch in einen rechtlichen Zugriff auf das Krankenhaus umschlagen: Stationsärztin Dr. Reif (zum Beobachter): [...] Der Hintergrund ist jetzt der, dass Herr Heimbach einen ausführlichen Arztbrief von mir an den MDK geschickt hat ... das war ein sehr komplizierter Fall, die Patientin ist dann auch verstorben, nachdem wir sie verlegt haben, und mit den Angehörigen gab es Schwierigkeiten, die wollten ein Regressverfahren anleiern und jetzt hatte ich den Fall sehr gut in dem Arztbrief dokumentiert ... und dann meinte Heimbach “schicken wir gleich den ganzen Arztbrief” [...]. 13 Hier das homologe Beispiel aus der Onkologie: Herr Zadek ist ein Patient, der trotz einer Knochenmarktransplantation durch einen Fremdspender unter einem Rezidiv einer akuten lymphatischen Leukämie leidet. Wenngleich eine weitere Hochdosis-Chemotherapie bei einem zweiten Transplantationsversuch geplant ist, steht jedoch die Wahrscheinlichkeit eines baldigen Todes deutlich im Raum. Zudem baut der Patient zunehmend ab und weigert sich zu essen. Vormittags spricht eine Schwester die Ärztin daraufhin an, dass sich Frau Zadek ziemlich darüber aufrege, dass ihr Mann noch keinen zentralvenösen Katheter bekommen habe, durch den dann schließlich auch künstlich ernährt werden könne. Die Ärztin bedankt sich für die Information. Kurze Zeit später wird sie jedoch nochmals von der Schwester angesprochen. Der Patient würde 20 Stunden am Tag schlafen, nichts essen und die Frau würde immer mehr nerven. Die Ärztin, die an diesem Tag alleine die Stationsarbeit zu leisten hat, antwortet daraufhin, dass sie es heute nicht mehr schaffe, den Katheter zu legen. Kurze Zeit später findet sich dann doch noch ein Arzt, der den zentralvenösen Zugang legt. Die Ehefrau scheint hier zu spüren, dass ihr der Mann - wie wenige Tage später auch geschehen - in den Tod entgleitet. Die Weigerung, Nahrung zu sich zu nehmen, und nur kurze Zeiten des Wachbewusstseins stellen bei der Grunderkrankung einer fortgeschrittenen Leukämie, die durch die stärksten Therapieoptionen nicht besiegt werden konnten, kaum zu übersehende Zeichen dar. Die Frau beginnt hier über den Weg der Schwester, Druck zu entfalten, dass nun doch noch was geschehe. Die Ärztin agiert demgegenüber schon in der Semantik der verhaltenen Gangart. Die klinische Versorgung dieses Patienten hat nicht mehr erste, sondern nur noch zweite Priorität. Die Frau - intuitiv dies wohl begreifend - bemüht sich hier, diese Gewichtung umzukehren, indem sie versucht, ihren sozialen Einfluss gegenüber der medizinischen Wertigkeit zur Geltung zu bringen. Angehörige werden so zu Agenten maximaler Therapie, oft gar gegen die “ärztliche Weisheit” des maßvollen Handelns. 14 Die Wortschöpfung “Prosument” ist eine Verbindung der Worte Produktion und Konsument und bezeichnet den Sachverhalt, dass hier der Konsument aktiv einen Teil des Produktions- oder Dienstleistungsprozesses mit übernehmen muss, d.h. ökonomisch gesprochen in die Wertschöpfungskette involviert wird. 15 Die Kontrollfunktion der Pflege, bei Rohde und in vielen anderen medizinsoziologischen Betrachtungen vernachlässigt, wurde insbesondere durch die qualitativen Krankenhausstudien von Glaser und Strauss herausgearbeitet. 16 Anders verhält es sich bei bestimmten Formen des Zuhörens, etwa in der Psychotherapie und in der Seelsorge. Hier ist das Für-den-anderen-Zeit-Haben ein Teil des professionellen Arbeitskontextes und wird entsprechend teuer bezahlt. Der hohe Wert dieses Zuhörens wird in der Regel legitimiert durch Sonderleistungen, die ihrerseits nur durch qualifizierte Spezialisten zu erbringen sind, etwa der Analyse von Gegenübertragung durch den Psychoanalytiker, oder der spirituellen Betreuung durch den allein schon vom Charisma des Amtes her autorisierten Pfarrer. 17 Unterschiede bestehen vor allem im Grad der Professionalisierung und im Bereich der Befugnisse (z.B. inwieweit der Krankenpfleger auch ohne unmittelbaren ärztlichen Beistand kleinere medizinische Eingriffe wie etwa Blutabnehmen durchführen darf). 18 Hierzu eine Beobachtungssequenz von der onkologischen Station: Schwester Merle (zum Oberarzt): Brauche jetzt noch eine Unterschrift für das Tavor (an den Oberarzt gerichtet) Oberarzt Krause: Ja das brauchen wir hier, eins der wichtigsten Medikamente. Beobachter: Was ist Tavor? Oberarzt: Ein Antidepressivum. 198 V. Das medizinische Feld Beobachter: Was für eine Klasse, ein Fluxin ...? (Keiner der Ärzte gibt eine Antwort) Ärztin im Praktikum (schlägt im Handbuch nach): Benzo - diaze - pam Bemerkenswert scheint mir hier die Selbstverständlichkeit, wie seitens der Ärzte auf Psychopharmaka zurückgegriffen wird, ohne die Frage der psychiatrischen Indikation auf der Ebene fachlicher Kompetenz zu stellen, etwa zu entscheiden, ob es angemessener sei, ein Antidepressivum oder wie hier ein Beruhigungsmittel zu geben. Hier scheint es weniger um eine psychiatrische Behandlung zu gehen, als vielmehr nur ein Hausmittel zur Verfügung zu haben, um gleichsam rituell den unliebsamen emotionalen Zuständen im Angesicht einer existenziell bedrohlichen Krankheit etwas entgegensetzen zu können. 19 Vieles, was seitens der Pflegekräfte gegenüber den Patienten auf den psychosomatischen Stationen - und wohl auch in der Psychiatrie - an Druck in Richtung auf “positive” Verhaltensänderungen entfaltet wird, ist eher unter einem pädagogischen, denn unter einem therapeutischen Blickwinkel zu verstehen. Der Patient soll erzogen werden, sich vernünftig zu benehmen, und falls er dies nicht verstehe, sei er selber schuld, solle entweder nach Hause gehen oder durch härtere “therapeutische” Maßnahmen bestraft werden – , lautet hier die Devise der Pfleger, die dann vielfach auch von den Ärzten übernommen wird. 20 In den Untersuchungen von Strauss zur sozialen Organisation der medizinischen Arbeit würde die Aufgabe der Kontrollfunktion der »safety work« entsprechen (s. hierzu Strauss et al. 1997). 21 Auch Ärzte können im Einzelfall durchaus in der Lage sein, ihre professionelle Haltung situativ zugunsten einer seelsorgerischen Präsenz zu verändern (vgl. hierzu auch Huber 1992: 127). Wenngleich diese Rahmenwechsel möglich sind, so sind sie deshalb keinesfalls wahrscheinlich und dementsprechend empirisch im Krankenhaus eher selten anzutreffen. In Ausnahmefällen kann sich ein “cross-over” zu einem erweiterten professionellen Potenzial entfalten (s. hierzu auch die Fallrekonstruktionen von Vogd (1998) sowie auch Wettrecks Rekonstruktion des ärztlichen Blicks bei einem anthroposophischen Klinikarzt (Wettreck 1998: 310 ff.). 22 Aus einer soziologischen Perspektive stellt sich hier die Frage, ob die Ärzte - wie ihnen in einer psychologischen Deutung oft unterstellt - den Tod verdrängen, oder ob sie im Sinne ihrer funktionalen Spezifität einfach mit dem Sterben nichts anfangen können. Der Tod selbst ist für sie ja wieder anschlussfähig. Sie können und müssen ihn amtlich feststellen und unter Umständen durch eine Obduktion seine Ursachen herausfinden. 23 Zur Illustration folgt ein Ausschnitt aus einem Gespräch mit einer routinierten Schwester der chirurgischen Abteilung: Beobachter: Sie sind schon lange hier? Schwester Bärbel: Ja 10 Jahre, die Zeit vergeht so schnell, das glaubt man kaum ... ich erinnere mich noch daran, als ich hier angefangen habe ... Beobachter: Wird es leichter, wenn man länger dabei ist? Schwester Bärbel: ... Ja, irgendwann wird das auch Routine ... die medizinischen Abläufe sind dann immer dieselben ... ist schade, dass man heute nicht mehr wechseln kann ... mal auf die Innere, wieder andere Dinge mitbekommen, ... aber das ist jetzt heute nicht mehr drin, mit der Stellensituation ... da ist ja auch bei uns jetzt Stellenstop ... werden wir jetzt Fachidioten ... aber anders geht das nicht mehr heute ... Beobachter: Wie ist das mit dem Umgang mit dem Leiden, wird das leichter mit den Jahren? Schwester Bärbel: Nein ... viele Leute kommen ja dann immer wieder ... die werden dann hier operiert und dann kommen die nach 1 bis 2 Jahren wieder und wir kennen die, kennen die Angehörigen, das nimmt einen dann schon sehr mit ... gut bei den alten Leuten ist das was anderes, da denkt man eher: ‚muss die jetzt wirklich noch operiert werdenʼ, aber wir sind hier ja auf der Chirurgischen ... aber wenn das so junge Leute sind, da nimmt das einen ja doch mit ... . Beobachter: So wie bei Frau Schnittke? (Frau Schnittke ist eine 32 jährige Mutter, bei der ein hochmalignes Magenkarzinom festgestellt worden ist.) Schwester Bärbel: Gut bei der ... die hat ja auch ne schlimme Diagnose, die ist ja noch sehr gefasst ... ja das lasse ich jetzt noch einfach nicht an mich ran, dass ist dann zu schrecklich ... aber oft ist es, dass dann schon so manchmal, dass ich dann ganz fertig nach Hause gehe ... und sogar dann manchmal die Tränen nicht unterdrücken kann ... bin ja dann doch auch nur ein Mensch ... nein auch wenn man lange dabei ist, ändert sich dass nicht ... . 24 Generell ist zu beobachten, dass Ärzte sich wenig darum kümmern, welche außerhalb der medizinischen Funktionsvollzüge vorhandenen Dienstleistungen im Krankenhaus angeboten werden. Auf den internistischen und chirurgischen Stationen ist nicht davon auszugehen, dass Ärzte wissen, was ein Logopäde ist. Ebenso ist zu beobachten, dass die Berufe des Psychologen, des Psychiaters und des Psychosomatikers regelmäßig verwechselt werden. 25 »Für den Medizinstudenten ist die Anatomie der Ort seiner „Transsubstantiation”. Nach dem Präparierkurs ist er ein anderer. Das beginnt beim Tragen des weißen Kittels, dem Gebrauch des Präparierbestecks, der Verwendung von Handschuhen und endet bei Distanzierung und Differenz. Die Wasch- und Reinigungsrituale dienen zwar auch dem Schutz vor Infektion, darunterliegend der Abwehr von Ekel, vor allem aber der Abwehr von jeglicher sinnlicher Empfindung. Der seiner Biographie, seines Schicksals beraubte, gehäutete und gewissermaßen abstrakte Leichnam ist das Medium, Anmerkungen 199 an dem der Student sein „stirb und werde” erfährt, dem Ruf des mittelalterlichen memento mori und dem des modernen memento vivere gleichzeitig folgt« (Heim/Schuller 1992: 59). 26 »In der traditionellen Schwesternrolle wird die Krankenschwester in einer von „Mütterlichkeit” geprägten Haltung gesehen, in der sie durch „emotionale Neutralität” ihre eigenen gefühlsmäßigen Anteile zurückstellt und so jeden Patienten in gleicher Weise pflegen kann. Diese „Mütterlichkeit” kommt bei der Pflege Schwer- und Todkranker insbesondere zum Tragen, da sehr viel regressive Anteile bei der Pflege Sterbender geweckt werden« (Klitzing-Naujoks 1992: 49). 27 Entsprechend dem amerikanischen Verständnis der Pflege-Professionalisierung ist auch hier in der Regel davon auszugehen, dass in der Pflegeausbildung nicht die Person oder Persönlichkeit des Pflegers, sondern sein Verhalten zum Thema der psychologischen Ausbildungsinhalte wird: »Ein besonders in der amerikanischen Literatur verbreitetes Rollenbild einer Schwer- und Todkranke pflegenden Krankenschwester ähnelt dem einer „Kranken-Managerin”. In den Lehrprogrammen und Curricula, die die Schwestern auf den pflegerischen Umgang mit Schwer- und Todkranken vorbereiten sollen, wird weniger verständnisorientiert auf die inter- und intrapsychischen Prozesse in der KrankenschwesterPatient-Beziehung eingegangen, sondern parallel zur Technisierung der Medizin eine Pflege-Beziehungs-Technik gelehrt. (...) Die Betonung solcher Techniken kann als Bewältigung der in der Pflege dieser schwer belastenden Patientengruppe unvermeidlich aufkommenden Ängste interpretiert werden« (Klitzing-Naujoks 1992: 49). 28 Eine ältere Schwester der internistischen Station empfindet diesbezüglich einen deutlichen Wandel in der Zeit: Schwester Sabine: ... Früher mussten wir noch selbst die Spritzen sterilisieren .... und dann wieder zusammensetzen ... doch trotzdem hatten wir viel mehr Zeit für die Patienten .... heute ist die Hälfte der Zeit Büroarbeit ... . 29 Ein Krankenpflegeschüler einer Uniklinik beschreibt seine diesbezüglichen Erfahrungen folgendermaßen: »Es ist einmal das Gefühl, denk ich, also du hast - für mich also auf der Station also mit ganz ganz massiven menschlichen Leiden irgendwie konfrontiert zu sein, also dieses - und letztendlich keine wirkliche Möglichkeit haben, zu haben, das zu ändern. Also sicherlich es zu mildern, in einer gewissen Weise - und im Heim die Menschen zu pflegen oder seine Umgebung so zu gestalten, dass es äh schön ist auch in der Krankheit. Aber letztendlich so einfach zu wissen, da bin ich sehr limitiert. Also ich kann mir also nicht helfen, also den Anspruch, den ich vielleicht gehabt habe damals, also wirklich sehr so, äh letztendlich wirklich eine Heilung herbeizuführen oder so was, weil, ich musste einfach einsehen das geht nicht. [...] dann war es sicherlich auch diese, diese Hochdruckarbeit die gemacht wird, also da sind relativ wenig Pflegekräfte dort gewesen, und dann jeden Morgen einige Menschen zu waschen, das war sehr viel der Eindrücke, so, wo ich damals letztendlich noch keine Ideen hatte wie ich das kompensieren kann oder irgendwie umleiten kann« (Vogd 1998: 62). 30 Ein onkologischer Oberarzt hat gar den Eindruck, dass die Ärzte heute nur noch das letzte Glied in der Hierarchie seien und die Schwestern sich weitestgehend vom alten Helfermythos verabschiedet hätten: 9:50 Stationszimmer Oberarzt Dr. Krause (zum Beobachter): Die Ärzte sind die Letzten in der Hierarchie ... müssen dann das tun, was die Verwaltung will und das, was die Schwestern wollen ... die haben sich von dem alten Helfermythos verabschiedet und eine eigene Identität entwickelt ... heißt es heute: wenn unser starker Arm es will, dann läuft gar nichts mehr. 31 Im Hinblick auf die Fragen der informellen Kooperation zwischen Ärzten und Pflegekräften sind deutliche kulturelle Unterschiede zwischen den jeweiligen Stationen zu finden. Dies drückt sich etwa auch darin aus, wer wen duzt oder siezt. Entsprechend meiner Beobachtungen ist hier Rohde (1974: 372) zuzustimmen, dass in der Chirurgie aufgrund der fachlich klar verteilten Aufgaben das informelle Verhältnis sich lockerer und entspannter gestalten kann als in den internistischen Stationen, wo die Abgrenzung der jeweiligen Aufgaben, die ein Pfleger und ein Arzt zu erfüllen haben, leichter zum Thema von Auseinandersetzungen werden kann. Eine erfahrene internistische Schwester weiß unter Umständen “intuitiv” besser über einzelnen Krankheitsbilder und deren Behandlung Bescheid als der junge Stationsarzt. Eine chirurgische Schwester wird demgegenüber niemals operieren können. Am spannungsreichsten erscheint die Konstitution einer klaren professionellen Identität in der Psychosomatik, denn hier muss permanent neu verhandelt bzw. rituell rekonstituiert werden, wer die therapeutische Autorität verkörpert. Nicht nur die Erfahrung und der gesunde Menschenverstand der Pfleger, auch die unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen (Psychoanalyse vs. Verhaltenstherapie) bzw. medizinischen Schulen (Psychotherapie vs. Psychiatrie) konkurrieren darum, wer die Situation definieren darf. 32 Auf allen beobachteten Stationen wurde ein Patientendokumentationssystem verwendet, in denen in den Akten verschiedenfarbige Schieber integriert sind, die im Falle besonderer Pflege- oder Therapieansprüche bzw. bei speziellen Fragen an die andere Berufsgruppe gezogen werden können. 33 Die Ausnahme stellt hier wieder die psychosomatische Station dar. Die Patientenüberwachung und –erziehung ist hier Teil des (psycho-)diagnostischen und therapeutischen Prozesses und muss deshalb auch vermehrt in die ärztlichen Kommunikationsprozesse integriert werden. 34 Der leitende Oberarzt führt in regelmäßiger Vertretung der eigentlichen Leitung die Chefvisite durch, leitet die Pfl egesupervisionsgruppe, die Teamsitzung, die Einzeltherapeutensupervision und betreut zudem noch die Stationsärzte – supervidiert also in Personalunion alle therapeutisch und pflegerisch relevanten Funktionsgruppen. 35 Zur weiteren Illustration das weitere Beispiel einer psychosomatischen Schwester, die in ihrer Begegnung mit dem Chefarzt ihre Macht und Hilflosigkeit zu spüren bekommt: 200 V. Das medizinische Feld Schwester Miriam (zu dem Stationsarzt): Hat der Chef mich angeschrien, dass ich den BZA (Blutzucker) nicht weiter bestimmt habe, wenn ein hoher Wert und dann ein niedriger Wert, dann müsse man doch weiter ... dann ein Tagesprofil ... dann habe ich gesagt: Gut, dann machen wir das heute weiter ... Schreit er zurück: Nein, das hätte ich dann angeordnet ... Und dann habe ich gefragt: Soll ich dann routinemäßig? ... Da schreit er wieder: Nein, hier wird nichts nach Schema gemacht. Da habe ich mich vielleicht geärgert ... . Die Schwester scheint hier den chefärztlichen Übergriff nicht zurückweisen zu können. Der Ausweg aus dem durch die Chefkommunikation formulierten double bind besteht hier wohl nur darin, die Spannung als Ärger zu erleben, diese Emotion dann jedoch mit sich selbst auszumachen und gegebenenfalls mit den anderen Untergebenen darüber zu reden, was einem widerfahren ist. 36 Dies bedeutet nicht, dass im Einzelfall die klare Trennung der Domänen wieder durchbrochen werden kann. Insbesondere wenn dies in „illegaler” Form geschieht, etwa wenn Pflegekräfte Dinge tun, die sie rechtlich gar nicht tun dürfen, entstehen Konfusionen, die erpressbar machen. Hierdurch können sich dann inoffizielle Machtverhältnisse etablieren, in denen die Pflegekräfte wieder vermehrt von ärztlicher Autorität abhängig sind. Besonders die psychosomatische Station hat sich für diesbezügliche Konfusionen anfällig gezeigt: Schwester Michaela: Ich bin ja früher im Osten ausgebildet worden, da durften wir dann viel mehr entscheiden ... wir haben dann des Medikament gesagt bekommen und mussten dann selbst auf Kg-Körpergewicht umrechnen, konnten dann auch entscheiden, ob wir Zäpfchen oder Tabletten .... hier darf ich das ja nicht ... ist ja auch im Prinzip richtig so, denn die Verantwortung tragen die Ärzte, aber dann gibt es immer wieder den Grenzfall, wo ich dann nachts den Arzt anrufe und Frage, welches Medikament jetzt, aber im Prinzip könnte ich dem Patienten das jetzt gar nicht geben, weil das dann nicht auf der Kurve abgezeichnet ist ... aber dann ist es mein Risiko, wenn was passiert. Auch zum ersten Mal ein Antibiotika setzen, auf anderen Stationen machen das die Ärzte, das dürfen wir ja auch nicht, die Infusion müsste dann ein Arzt machen, aber dann, klar, die Ärzte haben nicht so viel Zeit und dann machen wir das, aber das ist dann auch wieder unser Risiko, wenn was passiert, sind wir dran ... . 37 Auf der psychosomatischen Station wird das Urteil der Pflegekräfte durchaus erwartet. Dies zeigt sich auch formell an ihrer Beteiligung an den beiden Entscheidungsgremien „Oberarztvisite” und „Teambesprechung”. 38 Das folgende, von Ummel (2002) geschilderte Beobachtungsbeispiel kontrastiert nochmals die vorangegangenen Beispiele. Wenngleich hier in der Begegnung zwischen Pfleger und Patient eine Domäne professioneller Autonomie erscheint, so wird jedoch die professionelle Verantwortung, die sich aus der pflegerischen Beziehung ergibt, mit dem Verlassen des Patientenzimmers zugleich wieder an den Arzt übergeben: »Frau E. muss zu Testzwecken Blut entnommen werden, weil sie 1987 Blut bekommen hat, das vielleicht HIV-verseucht war. Die Patientin sagt: “Wenn ich AIDS habe, dann springe ich von der Westviertelbrücke.” Krankenschwester Erika Rutschi ‚hört sie abʼ und sagt dann: “Das verstehe ich, solche Gedanken kommen einem, da muss man sich mit auseinandersetzen.” Später im Korridor sagt Erika Rutschi, sie werde das dem Arzt berichten, der müsse dann entscheiden, wieviel und was man ihr allenfalls sagen solle. Auskünfte über Diagnosen seien Sache des Arztes. Die Krankenschwester spreche dann wiederholt mit dem Patienten, um herauszufinden, wie er die Diagnose in seine Sprache übersetzt (“der Tumor”, “das Ding”). Die Krankenschwester kommuniziere mit ihm auf dieser Ebene und versuche, ihn an den umumgänglichen Befund zu gewöhnen.« Ummel deutet diese Beobachtung folgendermaßen: »Wenn die Mitteilung der Diagnose Sache des Arztes sei, dann schreibt die Krankenschwester ihm zu, dass er allein Subjekt des Arbeitsbündnisses sein kann. Ist sie im diffusen Handlungsmodus tendenziell Hermeneutin des Patientenleidens, so bestimmt sie jetzt, im Flur des Krankenhauses, ihre Aufgabe als eine sekundäre: die wissenschaftliche Diagnose muss im Sprachgebrauch der Patientin verankert werden. Sie ist also die Hermeneutin des Arztes. Und zwar mobilisiert sie die ganze Kunst ihrer empathischen Gefühlsarbeit dafür, den Patienten an sein Schicksal zu gewöhnen. Damit wendet sie sich um 180 Grad: weg von der Suche nach Potentialen für die Bewältigung des Krisenzustandes, hin zu Überlegungen, wie ein potentielles psychisches Ungleichgewicht an die Erfordernisse der Krankenhaus-Normalität angepasst werden kann. Damit schützt sie den Arzt vor Auseinandersetzungen, ebenso aber die Organisation, die beeinträchtigt oder gar außer Betrieb gesetzt werden könnte. Die Szene verdeutlicht mithin die historisch gewachsene spannungsgeladene Situation, in welche die moderne Krankenschwester durch den heteronomen Verberuflichungsprozess, die Einbettung in die Institution der medizinischen Versorgung und in die Großorganisation Krankenhaus geraten ist: Einerseits ist sie Funktionsträgerin innerhalb von Organisation, gleichzeitig soll sie qua informeller Erwartungszuschreibungen kompensatorisch die emotional stützende Beziehung als Gegenwelt schaffen.« 39 Das Fertigstellen der Akten kann den Ärzten im Einzelfall erhebliche Arbeit bereiten, insbesondere wenn ein Patient auf verschiedenen Stationen gelegen hat, die Laborbefunde noch sortiert werden müssen oder Innenmappen für EKGʼs etc. angelegt werden müssen. Nicht selten kommen die Akten aus dem Archiv an die Ärzte mit dem Hinweis auf Unvollständigkeit zur erneuten Bearbeitung zurück. 40 Berg rekonstruiert hier zwei parallel verlaufende Logiken: In der Patientenakte erscheint alles, was an Diagnostik und Therapie geschehen ist, als ein kohärentes Muster, das logisch geschlossen auf ein Ziel hinläuft. In realen medizinischen Entscheidungsprozessen verläuft die Behandlung demgegenüber oftmals eher im Sinne einer chaotischen - wenngleich nicht zufälligen – Suchbewegung, innerhalb der verschiedene Dinge ausprobiert und wieder verworfen, Anmerkungen 201 Untersuchungsergebnisse auch mal als Artefakt negiert werden, und sich erst im Nachhinein eine klare Hypothese darüber herauskristallisiert, was denn nun mit dem Patienten eigentlich wirklich los gewesen ist (Berg 1992). 41 Insbesondere die Vorschriften zur Qualitätssicherung ärztlichen Handelns können unter den Bedingungen des geschäftigen Stationsalltags nicht immer eingehalten werden. Ob etwa Ärzte, die chirurgische Notfalleinsätze begleiten, die vorgeschriebenen Fortbildungen absolviert haben, bleibt von untergeordneter Bedeutung: 7:55 Gespräch vor der Frühbesprechung. Ein Altassistent erklärt einem jungem Kollegen: Dr. Mainzer: ... Es gibt H-Ärzte und D-Ärzte. Die H-Ärzte dürfen die Bagatellfälle, die D-Ärzte hingegen aber auch die schweren Notfälle betreuen. „Da kümmert sich jedoch sowieso keine Sau drum ... .” 42 So sind etwa nach dem Blutproduktegesetz die Blutkonserven durch entsprechende Spezialgeräte aufzuwärmen. Demgegenüber ist die verbreitete Praxis, das eingefrorene Blut einfach unter warmes Wasser zu halten, nicht gestattet. Um jedoch alle Stationen mit den teuren Geräten auszustatten, fehlt auch in der onkologischen Abteilung das Geld: Mittwoch, 14:30, während der Dienstbesprechung Dr. Braun: In der Aufnahme wird jetzt ein Gerät zum Blutprodukte Aufwärmen getestet ... wird dann auf 38 °C ... Infrarotsensor, um die Temperatur im Inneren zu bestimmen ... auch dass dann keine Eiskristalle mehr vorhanden sind ... kostet dann 8.000 Mark ... ein etwas schlechteres Gerät, wie es dann bei den Chirurgen steht, kostet dann 7.000 Mark ... brauchen wir dann in Bereichen, wo so was viel gemacht wird ... z.B. auf der Intensiv ... eigentlich darf dann ja auch nicht mit Hilfsmethoden, wie Warmwasser aufgewärmt werden ... steht dann auch in der Anleitung ... Ärztin (erstaunt): Ich habe das jetzt immer mit Warmwasser gemacht. Chefarzt Prof. Wieners: Ist jetzt so eine Sache mit der safety ... natürlich kann es mal sein, dass ein Produkt dann überhitzt ... oder verunreinigt ... aber andererseits macht das Transfusionsgesetz die Sache dann unheimlich teuer ... jetzt in Bereichen, wo viele Fusionen gemacht werden ... Die Spannung zwischen „Sein und Sollen” ist nicht normativ, sondern nur handlungspraktisch zu lösen. In Anbetracht des Primats, dass die Stationsarbeit - wie auch immer - weiterlaufen muss, bleibt die Sicherheit eben immer nur „so eine Sache”. 43 Ein chirurgischer Stationsarzt erklärt sein Verhältnis zu den diesbezüglichen Anfragen seitens der Krankenkasse: Stationsarzt Malek: »Also, wenn die was wissen wollen und ich denke, wenn der Patient nur aus sozialer Indikation einfach länger bleiben muss, weil er nicht versorgt ist oder weil er einfach nicht kann oder wenn er zu alt ist, das gebe ich ganz offen zu, ich lüge dort ungedruckt auf diesen Zetteln. Ich schreibe denen irgendwas hin, was ich denke, halbwegs vertreten zu können. Nur damit ich also meine Kostenübernahme für drei, vier Tage mehr kriege. Also ich denke bei jedem älteren Patienten kannste irgendwas erfinden«. 44 Im Gegensatz hierzu konnte ich in der Psychosomatik keine ethisch-moralische Rahmung diesbezüglicher Entscheidungsprozesse finden. Die Aufnahmeindikation findet hier in einem medizinischen, genauer in einem psychopathologischen, Rahmen statt. Im Sinne der Aufrechterhaltung der eigenen medizinischen Identität erscheint es eher wichtig, die richtige Indikation wie etwa „akute Belastungsstörung” oder „Suizidalität” zu bestimmen. Die medizinische Professionalität erscheint hier gerade darin, eine psychosomatische Erkrankung von psychosozialer Bedürftigkeit unterscheiden zu können. In der genauen Definition dieses Rahmens liegt das grundsätzliche Legitimationsproblem psychosomatischer Arbeit. 45 Schon Rohde zeigt die Fiktion auf, die in der Forderung besteht, dass ein anständiger Mensch eine Familie zu haben habe, die ihn pflegen müsse: »Der „Kassenbetrug” durch Indikationsmodifikation, zu dem der eine [der Hausarzt] sich veranlasst sieht, wird denn im allgemeinen vom Krankenhaus her unterstützt. Beide sind sich im Grunde einig, daß man eine Mutter mit mehreren Kindern bei beengten Wohnverhältnissen nicht einmal dann zu Hause liegen lassen kann, wenn der Glücksfall einer noch vorhandenen „greifbaren” Großmutter gegeben ist, so daß Haushaltsführung und Krankenpflege von dieser übernommen werden können« (s. Rohde 1974: 451). 46 Mit der Entwicklung der Gesundheitswissenschaften (Public Health) in den 80er Jahren konkurrieren nun zwei akademische Professionen um die Position der Experten, welche über Belange der Gesundheitsversorgung entscheiden dürfen. Dies führt zwangsläufig zu Konflikten, da die einen auf individuelle Diagnose und Behandlungsprozeduren, die anderen auf die gesellschaftlichen, insbesondere auch ökonomischen Dimensionen der Gesundheitsversorgung fokussieren (Hafferty/Light 1995: 138). Auch wenn sich die neuen Funktionseliten oftmals selbst aus der Ärzteschaft rekrutieren, heben sich diese in der Regel relativ schnell von dem gemeinen Klinikarzt ab, deprofessionalisieren gewissermaßen und verfolgen ihre neuen Gruppeninteressen, wie die Untersuchungen von Montgomery (1990) aufzeigen. Ganz im Sinne von Bourdieus Feldtheorie agieren sie als Positionsinhaber und nicht entsprechend ihrer früheren ärztlichen Identität. Da aus dieser Position die Politik näher liegt als die Medizin, wird vieles, was unter dem Namen Qualitätssicherung läuft, äußerst anfällig für ökonomische und politische Interessen (Hafferty/Light 1995: 143). 47 Der Widerspruch zwischen der Selektivität der Information und der Selektivität der Mitteilung ist an sich in jeder Kommunikation angelegt (s. hierzu auch Luhmann 1993: 195 ff.). 48 Viele Stationsärzte empfinden sich angesichts der zusätzlichen Arbeitsanforderungen deutlich in der Defensive. So auch ein chirurgischer Stationsarzt: 202 V. Das medizinische Feld Stationsarzt Scholz (zum Beobachter): Wir werden mit den gelben Kontrollfragebögen bombardiert ... die [Krankenkasse X.] ist Pleite ... umso mehr gelbe Zettel bekommen wir. ... Beim Dickdarm ist die mittlere Liegezeit 12-14 Tage. .... Da war eine 80-jährige Frau, die am Dickdarm operiert wurde, die hatte dann noch eine Pneumonie, was allein normalerweise schon 14 Tage dauert und da kam dann nach 12 Tagen schon die Anfrage von der Krankenkasse. Die Gelben Zettel machen Arbeit, und kommen insbesondere von der BKK und AOK, diese werden quasi prophylaktisch von diesen Kassen verschickt. Die Ärzte müssen dann eine schriftliche Begründung formulieren, warum die Behandlung länger als vorgesehen dauerte, dies ist eine zusätzliche Arbeitsbelastung für die Ärzte, die es zu vermeiden gilt. ... die anderen Krankenkassen behalten wir dann länger, obwohl das auch nicht okay ist. 49 Die erzieherische Wirkung der Regelanfragen manifestiert sich durchaus auch im Bewusstsein der betroffenen Akteure: Stationsärztin Dr. Kitung: (zu Oberarzt Dr. Heimbach, beim Mittagessen) Ich merke dann auch schon, dass ich die Patienten viel schneller entlasse, seit dem ich die Zettel ausfüllen muss [...]. 50 Hierzu die Überlegungen eines internistischen Stationsarztes: Dr. Boller: Für uns sind die Patienten Kunden, für die Krankenkassen ein Schadensfall ... ist dann klar, dass die dann denken: Wenn der draußen stirbt, dann ist es für uns günstiger, als wenn er ständig behandelt wird ... gut der bezahlt dann keine Krankenversicherung mehr, wenn er tot ist ... aber die Kosten wären dann für die bei den kritischen Fällen sowieso nicht mehr rein gekommen .... und wenn sie dann die Beitragssätze erhöhen, kriegen sie Ärger mit der Politik ... . 51 Inkohärenzen zwischen pflegerischer und ärztlicher Dokumentation können zu Fallstricken werden und müssen deshalb im Sinne der Institutsinteressen unterbunden werden: 13:10 (Dienstbesprechung der internistischen Station) Dr. Boller: Da muss dann einfach jeden Tag eine Untersuchung laufen..... sage ich doch immer. Oberarzt Dr. Heimbach: Und dann sollte man den Schwestern unter Androhung von Gehaltsabzug sagen, dass sie nicht mehr in die Akte schreiben sollen ʻdem Patient geht es gutʼ. Dr. Martin: Ist ja dann auch nicht so, wenn der Patient sich gut fühlt, dass es dem aus ärztlicher Sicht gut geht ... der Pflegebericht kann doch jetzt kein Kriterium sein. Oberarzt Dr. Heimbach: Die haben dann wohl von der Pflegedienstleitung die Anordnung, zweimal am Tag Pflegeprotokolle zu schreiben ... gut, muss man mit der Pflegedienstleitung sprechen ... ist dann so, das ist dann auch auf der Direktorenkonferenz besprochen worden, dass wenn die Kassen dann 5% der Liegezeiten streichen, dass die dann vom Gesamtbudget auch verlangen, dass wir 5% der Betten streichen, was dann hieße, eben auch 5% weniger Stellen zu bekommen. 52 Je nach Finanzierungsmodus kann auch die umgekehrte Logik der Fall sein, wie die folgende Beobachtungssequenz verdeutlicht: (Visite bei einer 60-jährigen Dialysepatientin, der erfolgreich ein Shunt angelegt wurde.) Stationsärztin Dr. Schneider: Falls es Ihnen recht ist, werden Sie noch einen Tag bleiben ... nach der Dialyse kommen Sie dann noch mal wieder und übermorgen können Sie dann gehen .... Sie sind ja auch allein zu Hause. Stationsärztin (auf dem Gang, zum Beobachter): Das machen wir manchmal so ... die kostet uns jetzt nichts und die Operation ist recht teuer, dann müssen die Kosten wieder reingespielt werden ... . 53 In einer komparativen Analyse könnte die Frage thematisiert werden, unter welchen Bedingungen der für Krankenhausverhältnisse recht ungewöhnliche Fall auftreten kann, dass dieser Konflikt, wie im letzten Beispiel, zum einen direkt vor dem Patienten und zum anderen unter Missachtung der üblichen Hierarchie gegen den expliziten Wunsch des Oberarztes ausgetragen wird. Aufschluss für diese Frage könnte dann die nähere Analyse der strukturellen Besonderheiten dieser Station für Innere Medizin geben: Diese wird überwiegend von Altassistenten geführt, die keine Aufstiegschancen mehr zu erwarten haben. Darüber hinaus befindet sich das untersuchte Krankenhaus zur Zeit in einer Phase der fremd bestimmten Umstrukturierung, die bei den Ärzten großen Unmut auslöst. Im Kontrast hierzu lassen die größeren Abhängigkeitsverhältnisse der unter befristeten Verträgen arbeitenden jungen Stationsärzte in der Chirurgie, wie vermutlich auch im weiteren Kontrast des Universitätsklinikums, ein offensichtliches Ausscheren aus der hierarchischen Ordnung unwahrscheinlicher erscheinen. 54 Ob sich diese Strategie auch in mittel- und langfristiger Sicht für die Kassen rentiert, bleibt eine umstrittene Frage. Während aus Sicht der Prävention argumentiert werden kann, dass eine bessere Patientenversorgung Rückfälle und damit auch Kosten vermeiden kann, lassen sich durchaus plausible Argumente anführen, dass das Gegenteil der Fall sein könnte. Ökonomische Rationalisierungspotenziale ergeben sich einerseits bei Patienten mit hohem sozialen Support oder guten finanziellen Ressourcen, denn diese können die Versorgungslücken „privat” bewältigen. Andererseits könnte bei Patienten mit niedrigem sozialen Support die Reduktion von Betreuungsangeboten indirekt das Ableben fördern. 55 Das medizinische Leitungsteam der internistischen Abteilung diskutiert am Mittagstisch die medizinisch-ökonomischen Zwänge des neuen Abrechungssystems. Die Ärzte vermuten, dass mit der Einführung der diagnose related groups Anmerkungen 203 die “Drehtürmedizin” zum gängigen Merkmal bundesdeutscher Krankenhäuser wird, da nur mit Hilfe wiederholter Indikationsstellung die Kosten für die besonders problematischen Fälle eingespielt werden könnten: 13:30 Mittagessen in der Krankenhauskantine (der Chefarzt und drei Oberärzte sitzen mit am Tisch) Oberarzt Dr. Maasen: ... Diagnose related groups ... war doch gedacht als ein System, was sehr nahe an der Fallcharakteristik abrechnet ... erst Diagnose ... dann Aufnahmediagnose ... und dann die Hauptdiagnose .... Oberarzt Dr. Heimbach: Ist ja dann, dass wir die dann erst aufnehmen und dann wieder entlassen müssen ... um sie mit einer neuen Diagnose wieder aufnehmen zu können. Chefarzt Prof. Marek (zum Beobachter): Jetzt wird ja noch nicht danach abgerechnet, aber Sie können sich vorstellen, was los ist, wenn dann wirklich danach abgerechnet wird ... . Im Hinblick auf eine kritische gesundheitswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem neuen Abrechnungssystem (DRG) stellt Simon fest: »Bei der Verwirklichung des Vorhabens würde es sich um ein international einmaliges Experiment handeln, das mit erheblichen Risiken für die bedarfsgerechte Krankenversorgung verbunden wäre. […] Auch wenn ein verstärkter Abbau von Kapazitäten angesichts des Fortbestands der staatlichen Krankenhausplanung nicht wahrscheinlich ist, so besitzt die geplante Umstellung doch das Potenzial für tief greifende Veränderungen im Krankenhausbereich. Neben internen Verteilungskonflikten in den Krankenhäusern und einer primär an Rentabilitätsge sichtspunkten orientierten Reorganisation von Abteilungen und Leistungsspektren ist vor allem der massive Anreiz zur ökonomisch motivierten Patientenselektion zu nennen« (Simon 2000: 2). 56 Die Überwachung der Einhaltung der jeweiligen berufsständischen Normen freier Berufe unterliegt natürlich der staatlichen Kontrolle. Hierzu auch der Medizinrechtler Hart: »Professionelle Normsetzung als Selbstregulierungskompetenz resultiert aus der Anerkennung der besonderen Sach- und Fachkunde des freien Berufs: ärztliche Therapiefreiheit als berufliche Handlungsfreiheit (Art. 12 I GG). Die Anerkennung der Therapiefreiheit wiederum basiert auf der Allgemeinund Individualwohlverpflichtung des Berufshandelns. Deren Erfüllung unterliegt staatlicher Kontrolle. Medizinische Standards sind also prinzipiell selbstgesetzte Normen guter ärztlicher Behandlung« (Hart 2000: 1f.). 57 Insbesondere die evidence based medicine (EBM), eine zunächst innermedizinische Initiative der “Medizinrationalisi erung” erscheint sowohl für die Politik wie auch für die Kostenträger als ein willkommener Partner, um Interessen nach gesundheitspolitischer Steuerung durchsetzen zu können. Aus wirtschaftlicher Perspektive dient sie als Legitimation für Rationierungsmaßnahmen, wenngleich durchaus verdeckte Kosten zu erwarten sind. Die Bestrebungen der “externen” Verwissenschaftlichung der Medizin verpufft jedoch zu einem Teil an den Gegenstrategien professioneller Fachverbände. Zur ausführlichen Diskussion dieser Dynamik s. Vogd (2002). 58 Mit dem Gesetzlichen-Krankenversicherungs-Gesundheitsreformgesetz 2000 wurde die sogenannte evidence based medicine zum zentralen Maßstab für die qualitäts- (sicherheits-) und wirtschaftlichkeitsbezogene Bewertung von Leistungen des Versorgungssystems. Dieses Gesetz bereitet die Basis für ein Health-Technology-Assessment (HTA) (Hart 2001: 1). Es kombiniert EBM mit einer ökonomischen Kosten/Nutzen-Abwägung und ermöglicht über das Sozialrecht die umfassende ökonomische Steuerung des Gesundheitssystems, indem etwa therapeutische und diagnostische Maßnahmen, denen EBM nur fragliche Wirksamkeit zuweist, aus der solidargemeinschaftlichen Finanzierung ausgeschlossen werden. Die Kombination von Recht und Politik lässt vereinzelt Kritik laut werden, dass hier die Ärzteschaft letztlich selbst das Feigenblatt »für Rationierungsmaßnahmen liefert, für die weder Kostenträger noch Politik die Verantwortung übernehmen wollen« (Hoffmann 1999: 8). Der Medizinrechtler Ulsenheimer vermutet im gleichem Sinne, dass es »vor dem Hintergrund der Ressourcenknappheit« überwiegend »um “Strategien” im Umgang mit der Knappheit« gehe. Im Vordergrund ständen eigentlich ökonomische Zielsetzungen, wofür jedoch »das überlieferte Ethos der Ärzte keine Kriterien« bereithalten würde. Die »Leitlinien-Inflation« habe ihren Ausgangspunkt »ganz eindeutig« bei den Gesundheitspolitikern und sei nicht eine Forderung der Mediziner gewesen. Wenngleich auch Ulsenheimer Leitlinien als nützliche Orientierungshilfe für den Juristen ansieht, überwiegen seines Erachtens die negativen Aspekte (Ulsenheimer 1998: 1). »Eigenverantwortung«, »die ärztliche Intuition«, »der Wagemut, neue Wege zu gehen« würden »gebremst« und demgegenüber »ein Handeln nach “Vorschrift” oder “Schema” gefördert. Das Tor zur Defensivmedizin« sei »aufgestoßen!« (Ulsenheimer 1998: 5). Dies führe dazu, dass der »Freiraum ärztlichen Ermessens« zunehmend eingeengt würde und das »ohnehin beträchtliche forensische Risiko des Arztes weiter« gesteigert würde. »Denn je höher die medizinische Wissenschaft die Meßlatte lege, um so größer ist die Gefahr, dass der einzelne Arzt “nicht hoch genug springt”« (Ulsenheimer 1998: 5). Im gleichen Sinne befürchtet Hoffmann, dass »Leitlinien mit dem bisher bekannt gewordenen Verbindlichkeitsgrad« die Medizin »zementieren« und »die Freiheit ärztlichen Handelns« sowie »die ärztliche Kunst« beseitigen und hierdurch letztlich zu einer »Entakademisierung der Medizin« führen würden (Hoffmann 1999: 14). 59 Zur Rolle, Funktion und Problematik des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen s. Urban (2001). 60 In diesem Sinne ist auch die kurze Ansprache des Chefarztes der onkologischen Abteilung vor Weihnachten zu verstehen: Chefarzt Prof. Wieners: Ich möchte mich dann nochmals bei den Mitarbeitern bedanken ... waren ja jetzt nicht alle bei der Weihnachtsfeier dabei ... habe dann von den Patienten nur Positives gehört und das ist ja jetzt das Entscheidende ... wir werden gelobt und sind die höchst belegteste Station ... ist jetzt auch Ihr Verdienst ... wir bekommen dann ja auch was dazu ... mehr Personalmittel und jetzt die erweiterte Station ... jetzt ist ja die Situation an der Uni ... es gibt da sicher Mehrarbeit ... hat aber jetzt auch den Vorzug, die rasanten Fortschritte der Biotechnologie mitzubekommen ... und auch 204 V. Das medizinische Feld die positiven Effekte der Lehre sind nicht zu unterschätzen ... wenn dann da noch die Forschung dazukommt ... die Sie dann auch noch leisten ... aber jetzt ist es dann doch was Besonderes, aus erster Hand die Dinge mitzubekommen, da mit beteiligt zu sein.« 61 Wie schon Luhmann feststellt, gibt es in der Medizin keine inneren Grenzen des Wachstums und damit des ökonomischen Ressourcenverbrauchs. Tendenziell kann die Diagnostik immer noch aufwendiger betrieben werden und noch komplexere Therapien veranstaltet werden (s. a. Luhmann 1983b). 62 Die knappen Ressourcen des Gesundheitssystems sind zugunsten von standardisierten und technisch sowie ökonomisch gut durchdachten Medizinprodukten zu verteilen, deren Evidenz durch aufwendige Studien hinreichend bewiesen wurde. Von ihrem Grundgedanken stellt die am Gesetz der großen Zahlen ausgerichtete Epidemiologie den Gegenpol zur ärztlichen Ethik der Einzelfallorientierung dar. In diesem Sinne können auch die Disease Management-Programme verstanden werden, wie die folgende Glosse aus dem Deutschen Ärzteblatt aufzeigt: »Schweißnass schrecke ich auf. Messergleich brennt sich ein höllischer Schmerz durch meinen Brustkorb. [...] Nach wiederholtem Insistieren wird mir ein Disease Manager vorgestellt. Der klärt mich darüber auf, dass bereits während meiner Antworten die Vortestwahrscheinlichkeiten der in Frage kommenden Diagnosen errechnet wurden und die für mich in Frage kommenden diagnostischen und therapeutischen Schritte entsprechend meiner bisherigen Krankenkasse neinzahlungen, meinem Alter, meinem Risikoprofil ermittelt wurden. Ich soll 100 mg ASS nehmen und in zwei Wochen wiederkommen. Ich will ein EKG! Beharrlich und unnachgiebig klärt mich mein Gegenüber darüber auf, dass ich nach den Verträgen mit der Krankenkasse keinerlei Anspruch darauf hätte. Ich möchte wenigstens ein Schmerzmittel. In prospektiv randomisierten Studien sei aber nicht belegt, dass die Gabe eines Analgetikums mit einem prognostischen Gewinn einhergeht, werde ich belehrt. Das steigert meine Angriffslust: „Wenn ich jetzt tatsächlich einen Herzinfarkt habe und diverse Komplikationen erleide, mache ich Sie dafür haftbar.” Auch dieser Einwand lässt mein Gegenüber völlig ungerührt. Diagnostische und therapeutische Maßnahmen, die außerhalb evidenzbasierter Richtlinien lägen, sind nicht einklagbar. Ich gebe auf, o.k., o.k., ich will ein EKG, ich will einen Herzkatheter, ich werde alles selbst bezahlen. Ein großes Leuchten geht auf dem Gesicht meines bisher so verschlossenen Gegenübers auf, und er reicht mir freudestrahlend einen Behandlungsvertrag über den Tisch« (Böhmke 2002: A 1217). 63 In dem hier verstandenen Sinne zeichnet sich der Professionelle dadurch aus, im Sinne eines freien Berufes autonom zu sein, ist also nicht unbedingt mit dem Experten gleichzusetzen. Innerhalb medizinsoziologischer Diskurse wird der Begriff der Deprofessionalisierung vielfach auch in einem anderen, emanzipatorischen Sinne verwendet, nämlich als eine Gegenbewegung aufgeklärter Patienten, die der ärztlichen Expertise eigenes Wissen über Körper und Gesundheit entgegensetzen und so die diesbezügliche Deutungsmacht der Medizin etwas aushebeln können (allgemein zur Professionalisierung s. Abbott 1988). 64 Dörner etwa stellt in diesem Sinne fest, dass »Sachzwänge der Büro- und Expertokratie immer mehr Handlungsbereiche in das Befolgen von Ratschlägen, das Ausführen von Aufträgen, das Umsetzen von Leitlinien und das Ausüben von Funktionen« verwandeln würden, »wodurch die reflexive Kraft des Gewissens in ihr Gegenteil, in die gewissenlose Gewissenhaftigkeit der präzisen Leistungsperformance umzuschlagen« drohe (Dörner 2001: 295). 65 Der Funktionsbezug - oder aus der Akteursperspektive formuliert - die Motivation zum medizinischem Handeln liegt dabei weder im Geld noch wie fälschlicherweise oft vermutet im Mitgefühl für die Patienten, sondern einfach im konkreten Vollzug der Krankenbehandlung selber: »Ein Chirurg, der während einer komplizierten Operation sich zu den notwendigen, höchste Aufmerksamkeit erfordernden Handlungen von der bedrückenden Tatsache motivieren ließe, daß das Leben des Patienten X. auf dem Spiele steht, oder einer, der dabei das nach Paragraph sowieso der ADGO fällige Honorar von soundsoviel Mark samt der dafür erhältlichen Verbrauchsgüter vor Augen hätte, würde vermutlich – gelinde gesagt – recht schlecht operieren. Die eigentliche Motivation zur Handlungsfolge liegt hier typisch in dem kranken Organ, das operiert werden muß, und nicht im Patienten, der (während der Operation!) als Orientierungsobjekt nur mit seinen sachrelevanten Eigenschaften (Kreislauf, Atmung etc.) in Betracht kommt. Von daher ist in erster Linie die vielbeklagte „Operationssucht” der Chirurgen zu erklären, und nicht von der vielberufenen „Geldgier” her oder was man ihnen auch immer von außen her als Motive unterschieben mag. Eine Gallenblasenentzündung ist für den Chirurgen per se ein Objekt, das bestimmte spezialisierte Handlungsfolgen auslöst. Der Antrieb ist in den Gegenstand verlagert, d.h. aber, die Motivation vom Handeln kommt vom Gegenstand her« (Rohde 1974: 110 f.). 66 »Eine standardisierte, an Leitlinien orientierte Medizin steht in diesem Sinne keineswegs im Widerspruch zu einer experimentellen Medizin. Dies sieht auch der Gesetzgeber so: »Zusammenfassend kann man sagen, dass das Qualitätsrangverhältnis für Evidenzen als Prinzip früh durch den Gesetzgeber in das Arzneimittelrecht eingeführt wurde, aber auch in anderen Rechtsgebieten gilt bzw. auf dem Wege der Rezeption ist. Die Prinzipien von EBM [evidence based medicine] sind also als Rechtsprinzipien nicht neu. Allerdings heißt das nicht, dass andere Arten der Evidenz immer ausgeschlossen wären. Beispielsweise unter dem Aspekt der Wissenschaftsfreiheit sind z.B. für die besonderen Therapierichtungen im AMG und auch im SGB V andere Arten der Evidenz („Intuition”, ärztliche Erfahrung) rechtlich unter bestimmten Voraussetzungen zu akzeptieren. Pointiert gesprochen: EBM gilt in den genannten rechtlichen Zusammenhängen als Vorrangprinzip für wissenschaftliche Evidenz, nicht aber als Ausschlussprinzip für Anmerkungen 205 andere Evidenzen zu akzeptieren. Pointiert gesprochen: EBM gilt in den genannten rechtlichen Zusammenhängen als Vorrangprinzip für wissenschaftliche Evidenz, nicht aber als Ausschlussprinzip für andere Evidenzen« (Hart 2000: 3). 67 Dies gilt besonders dann, wenn wissenschaftliche, medizinische, wirtschaftliche und gesundheitspolitische Interessen in Personalunion vertreten werden. Dies ist besonders in den sogenannten Konsensuskonferenzen der Fall, in denen paradigmatische Entscheidungen mit weitreichenden gesundheitspolitischen Konsequenzen getroffen werden. Choudhry et. al. (2002) haben in diesem Sinne mittlerweile nachgewiesen, dass unmittelbare ökonomische Beziehungen zwischen Leitlinien-Autoren und den an den spezifischen Therapieformen arbeitenden pharmazeutischen Industriebereichen eher die Regel als die Ausnahme darstellen. 68 Mit der Bewegung der evidence based medicine verschiebt der Schwerpunkt der innermedizinischen Qualitätssicherung vom Einzelfall zum Kollektiv. Den Anspruch der Epidemologie die Leitwissenschaft medizinischer Forschung darzustellen möchte Bock, wie viele andere klinisch arbeitenden Mediziner jedoch relativiert wissen. Bock, denn die meisten der oftmals lebensrettenden Therapien würden ihre Relevanz und Wirksamkeit eher innerhalb einer sauberen klinischen Kasuistik zeigen und die sinnvollen Interventionen erschlössen sich in rationalen Überlegungen. Eine kontrollierte randomisierte Studie mit einer unbehandelten Kontrollgruppe wäre in diesen Fällen auch »ethisch nicht zu rechtfertigen«. Die eigentliche Leistung und Aufgabe der Biometrie läge demgegenüber vielmehr bei den fragwürdigen Interventionswirkungen, welche »vom einzelnen Arzt« nicht mehr »von Placeboeffekten abgegrenzt werden« könnten, etwa bei den Befindlichkeitsstörungen, etwa »bei der Festlegung von Schwere oder Dauer eines Heuschnupfens oder einer Bronchitis« und bei »Pharmaka mit schwacher Wirkung« (Bock 2001: 301). Zur ausführlichen Diskussion dieser Problematik siehe Vogd (2002). 69 Eine positive Einstellung zur Obduktion und zur experimentellen Medizin gehört gleichsam zur Grundhaltung der ärztlichen Excellenz, wie auch in der folgenden Schilderung einer internistischen Ärztin deutlich wird: 9:30 Frühstückstisch Dr. Reif.: Bei meinem ersten Chef .... da wurde dann fast jeder Patient noch seinem Tode sektioniert .... da musste dann jeder Kollege dabei sein .... und dann wurde die Patientenakte dazu verlesen .... wie viele Patienten dann auch an Lungenembolie verstorben sind, obwohl man es nicht gemerkt hat .... heute gibt es ja MRT, CT ... früher war man ja ganz auf die Sektion angewiesen [...] unser Chef war da sehr offen für [die Endoskopie] und die jungen Patienten wollten das nicht mit sich machen lassen und die Alten waren bereit, oder konnten sich auch nicht wehren ... die Endoskopie ist ja eine unheimlich wichtige Technik .... und der hatte das dann entwickelt .... waren große, starre und unbiegsame Apparate ... die Endoskopie hat ja dann ihren Siegeszug in der Medizin gestartet .... gut Experimente .... aber wir haben dann unseren Patienten nicht geschadet ... waren dann zwar Experimente, aber nicht zum Nachteil der Patienten ... . 70 Der Fall der Arbeitsgruppe des Hämatologen Friedhelm Herrmann macht deutlich, dass diesbezüglich im Einzelfall sogar mit einem Wissenschaftsbetrug gravierenden Ausmaßes zu rechnen ist, dessen Aufdeckung zur Inkriminierung von um die hundert hochrangigen Fachpublikationen sowie der Infragestellung mehrerer Habilitationen führte. S. hierzu ausführlich den DFG-Abschlussbericht der Task Force F. H.« (http://www.dfg.de/aktuell/download/abschlussbericht_fh.pdf) » . 71 S. hierzu die Empfehlungen der DFG-Kommission “Selbstkontrolle in der Wissenschaft” (http://www.dfg.de/aktuell/ download/empf_selbstkontr.htm). 72 Es verwundert deshalb kaum, dass sogar die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie bekennen, dass unter der gängigen Praxis der Eigenselektion medizinischer Führungspositionen die Motivation zu kleineren und größeren Täuschungen durchaus nachzuvollziehen sei, zumal die Mediziner angesichts ihrer oftmals unheilbaren Patienten sowieso hinsichtlich eines pragmatischen Umgangs mit Exaktheit und Wahrhaftigkeit geübt seien. Im DGHOMitglieder-Rundschreiben 03/2000 heißt es diesbezüglich: »Die wichtigste Ursache für diese Motivation liegt in der zentralen Bedeutung, die die Veröffentlichungen für das berufliche Fortkommen in der Medizin haben. Im Gegensatz zu Disziplinen wie etwa den Rechts-, Wirtschafts- oder Ingenieurwissenschaften ist eine eindrucksvolle Publikationsliste für Ernennungen in klinische Chefarztpositionen mindestens genauso wichtig wie Erfahrung, genuin individuelle Kreativität und besonderes Engagement in der täglichen Berufspraxis.[...] Hinzu kommt die allgemeine Gefahr des Integritätsverlustes der Persönlichkeit des unter kontinuierlichem Produktionsdruck stehenden jungen Wissenschaftlers (“publish or perish!”), da an hochkarätigen klinischen Institutionen oft ein übertriebener Leistungsdruck eines ehrgeizigen Chefs von oben zu einem Klima der Angst und ungesunder Selbstüberforderung unter den Mitarbeitern führt. [...] Wie Blum et al. weiter ausführen, bietet die Medizin weitere Rahmenbedingungen, welche diese Tendenz noch verstärken können: Der Umgang mit Patienten, etwa bei der Erörterung der Prognose unheilbar Kranker, kann zu einem eher laxen und verschwommenen Umgang mit der Wahrheit und noch mehr mit der Wahrhaftigkeit führen, da man aus vermeintlich gerechtfertigter ärztlicher Sicht dem Patienten sowieso nicht immer die Wahrheit sagen könne. [...] Die Neigung zu “ärztlichen Kavaliersdelikten” auch in wissenschaftlichen Belangen, etwa im Sinne des “Grantsmanship”, wird hierdurch gefördert.« 73 Stichweh, Rudolf (1987) Professionen und Disziplinen – Formen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften. Verlag Peter Lang, Frankfurt/M. 74 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang ein Rekurs auf die jüngere Geschichte der Entwicklung des professionellen Selbstverständnisses innerhalb der Ärzteschaft. S. hierzu Berg (1995). Zur Wissensinszenierung in der Medizin s. auch Vogd (2002). 207 VI. Ärztliches Feld In einer Analyse ärztlicher Entscheidungsprozesse kommt man nicht umhin, sich die Ausdifferenzierung des ärztlichen Feldes etwas genauer anzuschauen. Während es für meine Zwecke durchaus ausreicht, die Pflegekräfte stereotyp als eine Einheit zu betrachten und innerprofessionelle Unterschiede in Status, Kompetenz und Stellung außer Acht zu lassen, muss das ärztliche Feld im Folgenden differenzierter betrachtet werden, denn die jeweiligen Positionen und ihre Verhältnisse zueinander prägen nicht unerheblich den Ablauf ärztlicher Entscheidungsprozesse. Zunächst folgen jedoch einige allgemeine Bemerkungen zur »Arbeit im ärztlichen Feld (1)«. Im Anschluss daran werden die Eigenarten der »ärztlichen Hierarchie (2)« etwas ausführlicher beleuchtet. Unabhängig von der unterschiedlichen strukturellen Distanz zum Patienten stellen die Stations- und leitenden Ärzte ein gemeinsames Team dar, welches - wenngleich mit unterschiedlicher Verteilung der Lasten - den Patienten durch den Behandlungsprozess zu führen hat. Demgegenüber stehen die konsiliarischen Ärzte wie auch die Ärzte aus dem ambulanten Bereich als »externe Ärzte (3)« außerhalb der unmittelbaren Entscheidungslinie. Neben der Frage der Positionierung der Ärzte im Feld lohnt es sich, die »formellen Entscheidungsgremien (4)« etwas genauer anzuschauen. Hierzu sind institutionalisierte Veranstaltungen wie Visiten, Dienstübergaben, Abteilungsbesprechungen und Fallkonferenzen zu zählen. Nicht zuletzt wird der Ablauf ärztlicher Entscheidungen auch durch die »zeitliche und räumliche Koordination medizinischer Prozesse (5)« nicht unwesentlich beeinflusst. 1. Spielregeln des ärztlichen Feldes Die Regeln und Bedingungen des ärztlichen Feldes unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht grundlegend von den meisten anderen Berufsfeldern innerhalb und außerhalb des Krankenhauses. Die sonst für den öffentlichen Dienst üblichen arbeitsrechtlichen Vorgaben - etwa in Bezug auf Bereitschaftsdienste und Vergütung von Überstunden - sind vielerorts de facto außer Kraft gesetzt1. Insbesondere für die Ärzte an einem Universitätsklinikum, die neben ihrer klinischen Tätigkeit noch Forschung betreiben, sind Wochenarbeitszeiten von 60 bis 80 Stunden nicht selten anzutreffen. Stationsärzte müssen sich dabei unter steilen Hierarchien und chronischem Personalmangel einer Situation der permanenten Überforderung stellen. Wenngleich gelernt werden kann (und muss), den permanenten Stress zur Routine werden zu lassen (»routinization of emergency«), stellt sich das Problem ein, dass die Arbeitsanforderungen weiter anzuwachsen scheinen: Über das übliche Arbeitspensum hinaus werden von außen vermehrt Forderungen nach mehr Kundenorientierung, mehr ärztlicher Fortbildung, mehr evidenz-basiertem Arbeiten, mehr ganzheitlicher Sichtweise, etc. an die Ärzte herangetragen. Während meines Beobachtungszeitraums zeigte sich zudem bei den Krankenhausverwaltungen zunehmend die Tendenz, die Anstellungsverträge mit den Weiterbildungsassistenten zu befristen, oftmals für nur wenige Monate. Darüber hinaus sind die jungen Ärzte nicht selten von dem Wohlwollen der leitenden Ärzte abhängig, die für ihre Weiterbildung benötigten 208 VI. Ärztliches Feld Leistungsnachweise aus Gefälligkeit bestätigt zu bekommen - denn realiter sind die hohen Anforderungen der Weiterbildungsordnungen oftmals kaum zu bewältigen. Insbesondere die Assistenzärzte werden hierdurch mehr oder weniger erpressbar, ihre Arbeitsbedingungen weitgehend kritiklos anzunehmen. An dieser Stelle würde es leicht fallen, sich in die mittlerweile auch in den standesärztlichen Organen zu hörenden Klagelieder über die Zustände im Krankenhaus einzureihen2. Dies wäre jedoch aus soziologischer Perspektive wenig erhellend, denn so leicht es fällt, der politisch korrekten Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen für Ärzte im Krankenhaus zuzustimmen, so wenig ist damit erklärt, warum die Mehrzahl der ärztlichen Akteure, selbst dann, wenn sie es „objektiv“ gar nicht nötig hätte, die Verhältnisse nicht nur duldet, sondern aktiv trägt und nicht selten gar ideell begrüßt. Es macht hier deshalb wenig Sinn, die Ärzte einfach nur als Opfer der Verhältnisse zu betrachten, sondern stattdessen sollte versucht werden, die inneren Gesetzlichkeiten des ärztlichen Feldes zu rekonstruieren, um hieraus dann verstehen zu können, wie sich trotz - oder gerade auch wegen - der permanenten Überforderung eine starke ärztliche Identität konstituieren kann. Für die Akteure des ärztlichen Feldes bestehen spezifische Gewinnmöglichkeiten. Zunächst ist es deshalb notwendig, einige grundlegende Spielregeln des ärztlichen Feldes aufzuzeigen. Man kann in dem Spiel verlieren, denn als Kehrseite der harten Dynamik einer ärztlichen Karriere erscheint immer auch der Abgrund des Scheiterns. Die extrinsische Motivation, dass es einem irgendwann in der Zukunft einmal besser gehen werde, wenn man jetzt die Zähne zusammen beißt und alle Überforderungen annimmt, reicht jedoch nicht aus, um die hohe Leistungsbereitschaft der Ärzte zu erklären. Vielmehr scheint es nötig, auch die intrinsischen Aspekte zu beleuchten, denn die Bereitschaft ein immenses Pensum zu leisten, kann nur im Hinblick auf den verinnerlichten ärztlichen Ethos, in dem persönlich oftmals als sehr befriedigend erlebten Aufgehen im ärztlichen Handeln verstanden werden. (a) Grundlegende Regeln und ärztlicher Arbeitsethos Krankenhäuser sind in Abteilungen unterschiedlicher medizinischer Disziplinen aufgeteilt (Innere 1, Innere 2, Unfallchirurgie etc.), die jeweils von einem Chefarzt geführt werden. Eine Abteilung wiederum gliedert sich in verschiedene Stationen bzw. Funktionsabteilungen, denen jeweils ein Oberarzt vorsteht. Unter den Oberärzten lässt sich nochmals eine Binnenhierarchie feststellen. Vorne steht der leitende Oberarzt, der auch den Chefarzt vertreten kann. Weiter hinten stehen die sogenannten „Funktionsoberärzte“, die zwar eine Station leiten, formal aber nur eine der schlechter bezahlten Stationsarztstellen besitzen. In den Allgemeinkrankenhäusern sitzen die leitenden Ärzte auf Dauerstellen. In den Universitätsklinika können Oberarztstellen zeitlich befristet sein, haben in der Regel jedoch eine Dauer, die es den Ärzten erlaubt, ihre Karriere in Ruhe zu planen. Für Stationsärzte werden unbefristete Arbeitsverträge jedoch zur Zeit nur noch spärlich vergeben. Weiterbildungsassistenten hangeln sich nicht selten von einem Jahres- bzw. Halbjahresvertrag zum nächsten. Auch ausgebildete Fachärzte stehen heute oftmals vor der Situation, ihrer näheren Zukunft mit Ungewissheit begegnen zu müssen. Das Feld der Stationsärzte splittet sich auf in Ärzte unterschiedlichen Alters und Weiterbildungsstands und - wie schon erwähnt - in Ärzte, die eine Daueranstellung besitzen und solche, die auf Zeitverträgen arbeiten. Insbesondere für die jungen Ärzte, die noch in höhere Positionen aufstreben wollen, und den so genannten Altassistenten, dem der Aufstieg nicht geglückt ist, und die bis zum Rentenalter noch Nachtdienste leisten müssen, ergeben sich deutliche 1. Grundlegende Regeln 209 Unterschiede hinsichtlich der Handlungslogik im Hinblick auf die ärztliche Hierarchie. Für die letzteren stellt sich die Beziehung zu den leitenden Ärzten eher als „klassische“ Beziehung zwischen Herrschern und Untergebenen dar. Mehr oder weniger offen wird Unmut über die „Verhältnisse“ artikuliert. Den Dienstanordnungen wird in der Regel jedoch brav gefolgt, wenngleich nicht wesentlich mehr als nötig getan wird. Für die jungen Ärzte stellt sich das Verhältnis anders dar: Gleichsam in Identifikation mit den Vorgesetzten wird nicht nur das getan, was verlangt wird, sondern in vorauseilendem Gehorsam darüber hinaus versucht, auch den unausgesprochenen Anforderungen perfekt Folge zu leisten. Die permanente Überforderung wird aktiv angenommen und mehr oder weniger zum eigenen Handlungsethos stilisiert. Im Hinblick auf die Identifikation der Leistungseliten mit diesen Anforderungen stellen für die jungen Ärzte nicht die hohen Anforderung das Problem dar, sondern die zu niedrige Bezahlung. Fehlende externe Gratifikation: „Ist ja gerade das Blöde, dass die nicht aufgeschrieben werden können” Ein Stationsarzt der onkologischen Abteilung bemerkt einem Kollegen gegenüber, der letzte Nacht Dienst gehabt hat, dass dieser ja immer noch auf der Station sei und dies den Arbeitsgesetzen widersprechen würde. Der Kollege antwortet daraufhin, dass dies ja immer das Chefargument sei: Wenn man das Gesetz dann gebrochen habe, würde es auch nichts machen, wenn man noch weiter arbeiten würde. Der Beobachter fragt nach der Bezahlung der Stunden. Hierauf erklärt der Stationsarzt, dass das eigentliche Problem darin bestehe, dass die Überstunden nicht dokumentiert und abgerechnet werden könnten: 10:50 auf dem Gang Dr. Körper (zu einem Kollegen von der Nachbarstation): Viertel vor elf und immer noch hier ... das ist ungesetzlich ... Dr. Spiegel: Ist ja immer das Chefargument „wenn Sie sowieso schon hier sind, können Sie auch noch länger bleiben“ ... Beobachter: Das wird jetzt nicht bezahlt? Dr. Spiegel: Ungesetzliche Überstunden werden nie bezahlt ... ist ja dann gerade das Blöde, dass die nicht aufgeschrieben werden können ... Die Bemerkung des Stationsarztes darf hier nicht als Kritik verstanden werden, denn dieser leistet selbstverständlich genau wie seine anderen Kollegen die ungesetzlichen Überstunden. Vielmehr drückt sich hier ein gemeinsames Grundgefühl aus. Man versteht, was vor sich geht. Das pragmatische Argument des Chefs, den Gesetzesverstoß nicht allzu päpstlich zu nehmen, setzt einerseits den internen Standard und lässt ihn andererseits zum Komplizen von „kleinen“ Rechtsbrüchen gegen die Gesetze der Außenwelt werden. Im Sinne der Reziprozitätsregel „eine Hand wäscht die andere“ ist von den Stationsärzten zu erwarten, dass der Chef sich revanchiert, etwa in dem Sinne, dass im Zweifelsfall der Assistent auch in anderen Fragen gegenüber der Außenwelt in Schutz genommen wird, oder bei der Ausstellung von Weiterbildungszertifikaten nicht allzu genau geschaut wird, ob die dokumentierten Leistungen wirklich der Realität entsprechen. Die Tatsache, dass hier die Arbeitszeitgesetze verletzt werden, stellt für die meisten Ärzte kein Problem dar. Die Kränkung besteht hier vielmehr in der fehlenden externen Anerkennung der Leistung. Die ökonomische Bilanz stimmt nicht, da aufgrund der Diskrepanz die Regeln des ärztlichen Feldes und die Regeln des Arbeitsrechts nicht in Deckung gebracht werden können. 210 VI. Ärztliches Feld Narrative Reformulierung des universitären Arbeitsethos: „In Amerika würde sich dann ein Arzt nicht einmal trauen, so eine Abrechnung vorzulegen” Ein Stationsarzt erzählt den Fall eines Kollegen, der sich extra rechtzeitig im November zwei Wochen Urlaub genommen habe, damit nicht alle Ärzte ihren Resturlaub zur gleichen Zeit zum letztmöglichen Termin im Frühjahr nehmen müssten. Kurz nach dem Urlaub hätte der Arzt jedoch aufgrund einer Blinddarmentzündung operiert werden müssen und wäre deshalb weitere zehn Tage von der Arbeit ferngeblieben. Auf dem monatlichen Abrechnungsbogen habe der Chefarzt den Vorfall mit einer schriftlichen Bemerkung kommentiert, dass man es sich in Amerika nicht getraut hätte, einem Chef so eine Abrechnung vorzulegen: Mittwoch, 18.12. 13:00 Arztzimmer Dr. Kringe (zum Beobachter und einer Praktikantin): Es ist ja bei uns üblich, dass eben eine Menge Resturlaub anfällt, der sich dann im Frühjahr stauen würde ... im April wären die Stationen dann wie leer gefegt ... viel schlimmer als jetzt um Weihnachten ... im April sind dann auch immer interessante Kongresse ... jetzt hätte ein Kollege zwei Wochen Urlaub für den November beantragt ... eben damit der Urlaub sich nicht im Frühjahr staut ... dann hat er jedoch noch eine Appendizitis bekommen und ist dann schließlich nach zehn Tagen wieder zur Arbeit gekommen, obwohl er noch nicht ganz fit von der OP war ... da hat ihm dann der Prof. W. groß auf den Abrechnungsbogen für den Monat November geschrieben: „In Amerika würde sich ein Arzt nicht einmal trauen, so eine Abrechung vorzulegen“. Beobachter: Hat der Chef die Abrechnung dann unterschrieben? Dr. Kringe: Ja, unterschrieben hat er sie. Diese kleine Fallgeschichte hat sich auf der Station scheinbar zu einer kleinen Erzählung entwickelt, die von Kollege zu Kollege weitergetragen wird. Das „Narrativ“ beschreibt kurz und bündig, was von den Ärzten verlangt wird: „Man hat nicht krank zu sein“ und: „Wenn man schon krank ist, gehört es sich nicht, gleichzeitig noch Urlaub zu nehmen“. Der hier benannte Kollege verletzt mit seinen fast vier Wochen Auszeit den üblichen ärztlichen Arbeitsethos. Das Bemühen, den Resturlaub rechtzeitig vor dem Verfallsdatum einzufordern, steht in Widerspruch zu den impliziten Regeln eines Universitätsklinikums. Der Chef unterschreibt zwar den Abrechnungsbogen. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade die moralische Missbilligung den eigentlichen Standard deutlich werden lässt: Eine längere Abwesenheit vom Klinikumsbetrieb ist nicht zu billigen. Mögliche Gründe zählen nicht und werden auch nicht gefragt3. In Bezug auf Krankheit heißt dies: Ärzte, die Karriere machen wollen, werden nicht krank, beziehungsweise wenn sie krank sind, haben sie trotzdem zur Arbeit zu gehen. In allen Einrichtungen kann in diesem Sinne beobachtet werden, dass insbesondere die Weit erbildungsassistenten auch bei Krankheit und merklich hoher Erschöpfung auf den Stationen anzutreffen sind4: Heroisches Überwinden physischer Bedürfnisse: “Warum hat er den NEF Piper5, wenn er Enteritis hat” Ein chirurgischer Stationsarzt besteht trotz einer akuten Darmentzündung weiterhin darauf, nach Plan die Rufbereitschaft für den Notarzteinsatz zu übernehmen: 11:50 auf dem Gang Oberärztin Dr. Puls: Warum hat er [der Stationsarzt] den NEF Piper, wenn er Enteritis hat? Stationsärztin Dr. Schneider: ... Aber der wollte ... 1. Grundlegende Regeln 211 Dr. Puls: ... Da kann man nichts machen, da ist jedermann seines eigenen Glückes Schmied. Auch wenn die heroische Haltung des Stationsarztes hier seitens der Oberärztin etwas spöttisch kommentiert wird, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der junge Arzt letztlich nichts anderes tut, als das, was die impliziten Regeln des ärztlichen Feldes verlangen: nämlich ständig die eigenen Grenzen zu überschreiten. Eine gewisse asketische Grundhaltung, innerhalb der die eigenen psychischen und körperlichen Bedürfnisse Stück für Stück überwunden werden, ist Voraussetzung, um das ärztliche Glück schmieden zu können. Die im ärztlichen Feld üblichen habituellen Dispositionen weichen massiv von der alltagsweltlichen Norm ab, nach der man bei Krankheit gut für sich zu sorgen habe. Der ironische Kommentar der Oberärztin bringt diese Dissonanz zum Ausdruck, was jedoch nicht bedeutet, dass dieselbe Ärztin - etwa im Falle einer Notfalloperation - ihre körperlichen Grenzen nicht in homologer Weise überschreiten würde. Die Bereitschaft und Fähigkeit der medizinischen Eliten, Extremes zu leisten, schafft nicht selten eine habituelle Distanz zu den älteren Kollegen, die auf die Einhaltung geregelter Arbeitszeiten bestehen. Disqualifizierung der weniger Leistungsbereiten: „Der kann dann noch nicht mal um 10:30 einen kleinen Jungen verarzten” Eine Stationsärztin der Nachbarstation kommt aufgeregt ins Arztzimmer und beklagt sich, dass Dr. Altvetter schon um 10:15 gegangen sei und einen kleinen Jungen unbehandelt dagelassen habe. Außerdem hätte er noch nicht mal Bescheid gesagt. Die Ärztin erwähnt, dass sie noch Berge an Akten zu erledigen habe. Der Stationsarzt zeigt auf seinen Stapel unerledigter Patientenakten, bietet der Ärztin allerdings an, ihr bei der Aufnahme zu helfen. Nachdem beide den Raum verlassen haben, bemerkt der Stationspfleger, dass Herr Altvetter nach einem Nachtdienst schließlich um 10 Uhr nach Hause gehen könne: Montag, 11:50 11:50 Arztzimmer (Frau Dr. Fallaki, eine Stationsärztin von der Nachbarstation, kommt aufgeregt in das Zimmer herein) Dr. Fallaki: Die Erste Hilfe .... da ist jetzt keiner da ... der Altvetter ist um 10:15 gegangen, der kann dann noch nicht mal um 10:30 einen kleinen Jungen verarzten ... der sagt dann noch nicht mal tschüs, wenn er geht ... ist ja okay, wenn der früher geht .... aber Bescheid sagen sollte der zumindest ... war auch Samstag so ... ich muss Akten ordnen bis Manhattan ... Stationsarzt Scholz: ... muss ich auch (zeigt auf einen Berg von Akten) habe auch ein kleines Manhattan ... komm gehen wir zusammen in die Erste Hilfe ... (die beiden Ärzte verlassen den Raum) Stationspfleger Martin (zum Beobachter): Altvetter, der hat ja Sonntag Dienst gehabt, 10 Uhr ist dann Schluss. Wenn sich ein Altassistent nach einem 36-Stunden-Dienst entscheidet, das Krankenhaus zu verlassen, obgleich noch Patienten warten, so scheint dies aus der Perspektive der beiden Weiterbildungsassistenten eher kritisierungswürdig, denn als verständliche Reaktion nachvollziehbar. Die arbeitsrechtlichen Vorgaben, spätestens um 10:00 morgens nach einer Nachtschicht den Dienst zu beenden, gilt nicht in der „Lebenswelt“ der Jungassistenten. Nicht selten sind diese auch nach einem Dienst bis in den späten Nachmittag auf der Station anzutreffen. Die Perspektiveninkongruenz zwischen den aufstrebenden Jungassistenten und dem 60-jährigen Altassistenten, der sich zudem aktiv im Marburger Bund für die Einhaltung der Arbeitszeitgesetze einsetzt und dies auch offen in der Abteilung vertritt, kann hier nicht durch Perspektivenübernahme integriert werden. Die Haltung, den Dienst nur nach Vorschrift zu tun, kann hier nicht als legi- VI. Ärztliches Feld 212 time Entscheidung eines erfahrenen Arztes am Ende seiner beruflichen Laufbahn gesehen werden, sondern mündet in eine kurze Bemerkung, die ihn als Arzt disqualifiziert („der kann noch nicht mal um 10:30 einen kleinen Jungen verarzten“). Solche Abwertungen der Person können in Form von moralisierender Bewertung6 bzw. in Form von Pathologisierungen7 geschehen. Demgegenüber kann der Stationspfleger das Verhalten des Arztes einfach als das verstehen, als was es wohl gemeint war: nämlich als performativer Ausdruck der Entscheidung, dass um 10 Uhr Schluss ist. Die moralischen und psychopathologischen Attributionen der anderen Ärzte dekonstruieren jedoch den Versuch des betroffenen Akteurs, seine diesbezügliche Haltung in seinem Feld performativ zu kommunizieren. Indem nämlich die Entscheidungsalternative des „Im-Rahmen-des-Gesetzes-nach-Hause-gehen-können“ in den Bereich des Ungehörigen bzw. des Pathologischen gestellt wird, wird die Kontingenz einer solchen Handlungsentscheidung prinzipiell könnten sich ja auch andere Ärzte für zivile Arbeitsbedingungen entscheiden - sofort wieder geschlossen8. Arbeitszeitgesetze gelten im ärztlichen Feld nicht - heißt hier die implizite Regel, die unausgesprochen reformuliert wird. Task vs. relationship: „Da vorne ist das Ziel” Frau Preisberg, eine 79-jährige Dame, wurde am Dickdarm operiert (Sigmaresektion). Als sie von der Wache wieder auf die Station kommt, informiert man sie, dass ihr Mann zu Hause gestorben sei, während sie operiert wurde. Während der Verbandsvisite spricht die arme Frau den Arzt im Praktikum an, ob er schon wüsste, dass ihr Mann gestorben sei. Sie fängt an zu weinen. Der Arzt setzt sich zu ihr und schickt die Praktikanten und den Beobachter hinaus. Eine Viertelstunde später kommt der Stationsarzt zu den draußen Wartenden hinzu und fragt den Beobachter, wo der junge Arzt sei. Als dieser kurze Zeit später aus dem Zimmer kommt, wird er vom Stationsarzt darauf hingewiesen, dass er nicht vergessen solle, die Visite zu beenden. Im Sinne eines reibungslosen Ablaufs hätte man der Patientin schließlich auch sagen können, dass man später noch mal wiederkomme. Der junge Arzt beklagt sich daraufhin beim Beobachter, dass er von seinem Vorgesetzten nicht einmal gefragt worden sei, warum er denn solange im Zimmer gewesen wäre: 9:30 Verbandsvisite (im Patientenzimmer) Frau Preisberg: Sie wissen Bescheid, dass mein Mann einfach eingeschafen ist? ... der ist einfach eingeschlafen ... (Die Patientin fängt an zu weinen. Der Arzt schickt den Beobachter und die Famulantin aus dem Zimmer). 9:45 auf dem Gang (der Stationsarzt trifft vor dem Verbandswagen auf die Famulantin und den Beobachter) Stationsarzt Scholz (zum Beobachter): Wo ist der Feldmann? Beobachter: Der führt noch ein Gespräch da drin (zeigt auf das Patientenzimmer). (Kurze Zeit später kommt Herr Feldmann aus dem Raum) Stationsarzt Scholz: Da vorne ist das Ziel (zeigt auf das Ende der Station) ... heute wird ständig Sand ins Getriebe gestreut (zum Beobachter). Da kann man ja auch sagen, ich komme nachher noch mal wieder. Herr Feldmann (zum Beobachter): Der fragt gar nicht, was ich gemacht habe. Der wohl nur selten verschwindende Berg unerledigter Aufgaben lässt den Ärzten wenig Raum, um mit den Patienten anderes als die Sachfragen zu bereden. So verschiebt sich in den meisten ärztlichen Disziplinen die Beziehung von task und relationship eindeutig zur Objektseite. Die 1. Grundlegende Regeln 213 emotionalen Aspekte der medizinischen Versorgung („sentimental work“) werden in der Regel arbeitsteilig den Pflegekräften überlassen. In diesem Sinne beherrschen erfahrene Ärzte die Kunst, nicht mehr Zeit als nötig mit Patientengesprächen verbringen zu müssen. Die Fähigkeit, Patienten entsprechend zu führen und sich diesbezüglich rechtzeitig abgrenzen zu können, ist jedoch keinesfalls selbstverständlich. Da sie gegen die alltagsweltlichen Kommunikationsgepf logenheiten verstößt, muss sie in der Regel in der ärztlichen Sozialisation erst erlernt werden9. Entsprechend wird der junge Arzt hier von seinem Kollegen erzieherisch darauf hingewiesen, dass die üblichen Stationsaufgaben Vorrang haben. Darüber hinausgehende Gespräche sind eine Arbeit, die - falls für nötig gehalten - entsprechend außerhalb der üblichen Arbeitsperioden zu führen sind. Wenngleich die Psychosomatik mit der Fokussierung auf die Arzt-Patient-Beziehung hier eine Ausnahme von der Regel darstellt, so ist auch hier die ärztliche Zeit, die mit sprechender Medizin vollbracht werden kann, deutlich begrenzt10. Anatomiekurs: „Mit der Freilegung der Muskelschichten das Empfinden, an einem Menschen herumzuschnipseln, mit dem ich mich bisweilen identifiziert habe, wie weggeblasen” Das ärztliche Training, Mitleid und eigene emotionale Beteiligung zurückzustellen, beginnt schon früh im Medizinstudium. Paradigmatisch für diesen Prozess steht der Anatomiekurs. Mit der Präparation einer Leiche beginnt der angehende Mediziner zwangsläufig, einen neuen Umgang mit dem Körper, seinen Grenzen und seinen Emotionen zu erlernen. Nicht zuletzt die permanente Prüfungssituation erzeugt dabei den typischen ärztlichen Raum: »An der rechten Bauchseite soll ich etwa einen Viertelquadratmeter von Fett befreien, und in der Konzentration auf diesen Ausschnitt und die richtige Handhabung von Pinzette und Skalpell ist innerhalb kurzer Zeit von meinen anfänglichen Gefühlen nicht mehr zu spüren. [...] Die folgenden Stunden sind bestimmt vom Entfernen der Haut und des Fettgewebes. Zu meinem eigenen Erstaunen ist mit der Freilegung der Muskelschichten das Empfinden, an einem Menschen herumzuschnipseln, mit dem ich mich bisweilen identifiziert habe, wie weggeblasen. Ich kann in diesem Körper hantieren wie an einem defekten Motor, und instrumentelle Probleme sind es nun, die in den Vordergrund treten: Lokalisierung und Identifizierung der in der Präparieranleitung aufgeführten Nerven, Gefäße, Muskeln; wie bekommt man mit, was die anderen an einer ganz anderen Körperstelle präparieren und worüber man in gleicher Weise fürs Testat Bescheid wissen muss; wie täuscht man Arbeitshaltung vor, wenn man gerade nichts macht, aber von allgegenwärtigen Assistenten und Professoren nicht ertappt und als schwach angeredet werden will; wie übersteht man die zufälligen Ausfragesituationen, die meist sehr schnell ans Tageslicht bringen, daß man von Anatomie gleich überhaupt keine Ahnung hat; vermeide ich das Deklinieren der lateinischen Ausdrücke, damit nicht auffällt, daß meine Lateinkenntnisse auch nicht mehr die besten sind; und nicht zuletzt die große Frage, wie übersteht man die Testate, von denen das erste bereits nach vier Wochen fällig ist?« (Schwaiger/Bollinger 1981: 25-27). Wenn ein Arzt nicht lernt, den Patienten als Körper zu objektivieren, auch einmal aggressiv in das Körperinnere einzudringen und dabei die üblichen Scham- und Ekelgrenzen zu überwinden, dann wird er kein Arzt werden. Im »ärztlichen Blick« (Foucault 1988) muss er seine alltagsweltlichen Empfindungsmuster überwinden, um etwas zu tun, was andere nicht können: Nämlich zu heilen, indem man tief in den Körper des Patienten eindringt, ihn verletzt und ihm auch einmal weh tut. Auch das tief sitzende kulturelle Tabu, keine Toten zu „schänden“, muss von dem angehenden Mediziner überwunden werden, wenn er sein Können perfektionieren will. Die Medizin erschafft sich hierdurch eine eigene innere Sphäre, die in radikaler Differenz zu dem Empfinden VI. Ärztliches Feld 214 und der kulturellen Logik der Außenwelt steht. Insbesondere die Nähe zwischen Tod und Leben, die vielen Interventionen der High-Tech-Medizin11 innewohnt, schafft einen konjunktiven Erfahrungsraum der Ärzte, dessen Eigengesetzlichkeiten von den meisten Laien oft nicht einmal erahnt werden kann12. (b) Ärztlicher Auf- und Abstieg Die meisten Positionen im ärztlichen Feld sind keineswegs so sicher, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Es fordert ständigen Einsatz und Engagement, einem immer möglichen sozialen Abstieg entgegenwirken zu können13. Der mögliche Statusverlust kann sich in vielfältigen Formen zeigen, etwa dadurch, dass den betroffenen Ärzten zunehmend die weniger attraktiven Aufgaben angetragen werden. Ein auf der chirurgischen Station anzutreffender Selektionsmechanismus sind die Einteilungen der Ärzte in der Operationsplanung. Projizierte Sanktionen: „Hast Du OP-Verbot?” Am Vormittag spricht der Chefarzt während der Visite eine Oberärztin auf die Ergebnisse einer von ihr durchgeführten Operation an. In Anbetracht des großen Hämatoms, das im Wundbereich zu sehen sei, wäre hier beim Operateur auch mal Selbstkritik angebracht. Am späten Nachmittag erwähnt die Ärztin einer Kollegin gegenüber, dass der Chefarzt sie heute wegen des Hämatoms angemacht habe. Diese fragt daraufhin, ob sie jetzt Operationsverbot habe. Die Ärztin antwortet, dass dies anscheinend so sei: Mittwoch 17.3. 9:30 Chefarztvisite, auf dem Gang (zuvor wurde die Wunde einer Patientin begutachtet, die vor kurzem von Dr. Kindl operiert wurde). Prof. Strauss (zur Oberärztin Dr. Kindel): Große Operation, großes Hämatom, so stimmt das auch nicht ... da muss der Operateur schon auch selbstkritisch sein. 16:05 (auf dem Gang) Oberärztin Frau Dr. Kindel: Der hat mich dann angemacht mit dem Hämatom ... Oberarzt Dr. Puls: Hast Du OP-Verbot? Dr. Kindl: Anscheinend ja. Die beiden Oberärzte scheinen hier das Faktum, dass Frau Dr. Kindl nicht auf dem Operationsplan für den nächsten Tag eingetragen ist, als eine absichtsvolle Bestrafung zu verstehen, die durchgeführt worden sei, um die Ärztin für ein Fehlverhalten zu bestrafen. Das Gefühl der Ärzte, dass Fehler sanktioniert werden, ist hier möglicherweise so tief in die habituelle Struktur der Ärzte eingewoben, dass selbst eine Oberärztin, die seit 25 Jahren im Beruf und anerkannte Spezialistin auf ihrem Gebiet ist, weiterhin jede Kommunikation seitens der Leitungsebene daraufhin abtastet, ob diese nicht als Sanktion für ein persönliches Fehlverhalten zu verstehen ist. Für die beiden Kollegen scheint der Gedanke nicht abwegig zu sein, dass der Chefarzt den OP-Plan auch daraufhin konzipiert, welcher Kollege wieder mal eine Bestrafung verdient habe. Gründe, um schuldig zu werden, gibt es in der Chirurgie zur Genüge: Das immense Leistungspensum ist faktisch nie vollständig zu bewältigen, die letztlich nicht berechenbare „Biologie“ der Patienten wird immer wieder dazu führen, dass die Dinge nicht so gut laufen, wie sie sollen, und nicht zuletzt kann auch der Chirurg einmal einen „schlechten Tag“ haben. Ob der OP-Plan wirklich 1. Grundlegende Regeln 215 als Bestrafung gemeint war oder andere Zufälligkeiten bedingt haben, dass die Ärztin dort nicht erscheint, scheint hier keine Rolle zu spielen. In diesem Sinne wird hier das Schuldgefühl der Ärztin innersystemisch in die Figur des strafenden Chefarztes projiziert. Anlässe hierfür gibt es viele, denn jede Chefentscheidung kann auch dahingehend interpretiert werden, eine persönlich gemeinte Botschaft an den einzelnen Arzt zu enthalten. Strafende Willkür vs. fachliche Gründe: „Also da ist schon ein gesunder Wettbewerb im Gange” Der leitende Oberarzt erklärt im Interview gegenüber dem Beobachter, dass es auf der Station das Gerücht gebe, dass die OP-Pläne genutzt würden, um die Kollegen zu disziplinieren. Seinerseits könne er aber sagen, dass dies faktisch nicht geschehe. Vielmehr würde es eine Rolle spielen, wer gerade Dienst hätte, wie viele Operationssäle zur Verfügung ständen und wer die entsprechenden Kompetenzen habe, die jeweilige Operation am besten durchführen zu können. Natürlich könne es passieren, dass durch Zufall der eine oder andere Name nicht auftauche, aber dies würde sich dann statistisch wieder ausgleichen. Dennoch könne auch er persönlich nachvollziehen, dass der OP-Plan als persönliche Bewertung genommen würde, zumal er die Dinge früher ebenso empfunden habe. Letztlich habe diese Lesart aber nichts mit der Realität der Operationsplanung zu tun: Leitender Oberarzt Dr. Peters: Na ja gut, es gibt ja das Gerücht, dass der OP-Plan gelesen werden kann wie ein Sybillinisches Buch oder wie ein Kaffeesatz, also wenn Se mal hier so in der Abteilung gucken, dann schauen die Kollegen doch in den Plan und gucken, bin ich jetzt eingeteilt, bin ich jetzt nicht eingeteilt; mag der Chef mich nicht oder was hab ich ausgefressen, dass ich jetzt nicht operieren darf und so weiter; und also aus meiner Sicht kann ich sagen, der OP-Plan wird von mir nicht benutzt, um Kollegen zu disziplinieren. Beobachter: Und das machen Sie oder der Chef, den OP-Plan [...]? Dr. Peters: Wir machen ihn manchmal auch zusammen; aber ich kann nur aus meiner Warte sagen, ich würde das für mich schon in Anspruch nehmen, dass ich den nicht zur Disziplinierung nehme, wenngleich wenn sozusagen so’n Repertoire’n Namen hat und die Eingriffe, die für den nächsten Tag geplant sind, die Anzahl der Säle die zur Verfügung stehen, die Zeit, die zur Verfügung steht, das sind alles so Richtgrößen, die man irgendwie unter einen Hut bringen muss, und da kann es halt schon sein, dass äh weiß ich, wenn ein Name einem gerade nicht im Gedächtnis ist, der praktisch völlig unter’n Tisch fällt und man andere überrepräsentiert; aber da das sozusagen umschichtig ist mit Urlaub oder Zustand nach Dienst und so weiter, denke ich, gleicht sich das einigermaßen aus [...] aber das ist sicherlich so, dass also ich hab das ja früher auch gemacht, dass ich immer dachte, der Chef hat sozusagen einen Hintergedanken dabei, wenn er einen Kollegen einteilt und einen Kollegen nicht einteilt [...], oder die Kollegen vergleichen auch schon so ihre eigenen Kataloge mit entsprechend mit Bewerbern, die so ungefähr gleich alt sind, da ist also schon ein gesunder Wettbewerb im Gange; aber im Prinzip wird eigentlich in erster Linie getestet, welchen Schwierigkeitsgrad hat der Eingriff und welche Personaldecke ist für den nächsten Tag da und wie viele Säle müssen parallel bestückt werden, das sind so die wichtigsten Entscheidungskriterien und nicht so sehr, ich mag den Kollegen XY mehr oder der zeigt mehr Engagement als der andere. Aus der Perspektive der Leitungsebene bestimmen fachliche und organisatorische Bedingungen und nicht zuletzt auch eine Portion Zufall die OP-Planung. Die sachliche Rationalität der hier gegebenen Antwort steht jedoch in keinem Verhältnis zum Erleben der betroffenen Ärzte. Zumindest scheint der Oberarzt um diese Ebene ganz genau zu wissen, wenn er betont, dass da ein „gesunder“ Wettbewerb im Gange ist. Die Einteilung der Ärzte scheint hier nach Sachlage und nicht aus persönlichen Gründen zu erfolgen, aber der Verdacht, dass dies anders sein könnte, dass dann möglicherweise doch auch einmal nach Wohlgefallen entschieden wird, lässt sich nie ganz ausräumen. 216 VI. Ärztliches Feld Existenzielle Abhängigkeiten: „Wir sind alle erpressbar, das ist ganz klar” Ein Stationsarzt, der seit 14 Jahren in der Abteilung arbeitet, schildert die Sache aus seiner Perspektive: Jeder Arzt sei erpressbar, insbesondere aber, wenn man sich in der Facharztausbildung befinde und den Operationskatalog voll bekommen müsse. Der Operationsplan sei dann schon eine Macht, die man ausspielen könne. Dies gebe zwar keiner zu und manchmal spiele auch einfach nur Gedankenlosigkeit bei der Erstellung der Pläne mit rein, aber irgendwie sei das dann doch ein Sanktionsinstrument. Zumindest werde das so empfunden, auch wenn dies albern sei: Stationsarzt Dr. Dölling: Wir sind alle erpressbar das ist ganz klar, allein von diesem hierarchischen System her und man ist immer deutlich mehr erpressbar auf dem Weg zum Facharzt. [...] Na ja, zum Facharzt brauch man ne gewisse Zahl von Operationen, das heißt also, man muss irgendwie rankommen und man muss nicht dumm auffallen und hinterher ist es eigenlich egal, ob man die Galle mehr operiert hat oder nicht, entweder man kann’s oder man kann’s nicht! [...] Beobachter: Na gut, das ist so quasi das Sanktionsmittel, der OP-Plan? Dr. Dölling: Das wird keiner Ihnen so aussprechen. Das ist aber so. [...] Zumindest, es wird kein Mensch sagen „du hast OP-Verbot“, das wird kein Mensch sagen [...], wie soll ich sagen, äh das ist, das ist ne ganz subtile Art und Weise, so ne Abteilung von seinem Personal her zu steuern, [...] also man kann mit einem kleinen Namen auf dem OP-Plan viel anrichten. Ich denke oft, ist da eine gewisse Gedankenlosigkeit dabei. Ich denke aber schon, dass es gelegentlich mal also Druckmittel angewendet wird. Wenn man hinterfragt: „nein, nein, um Gottes willen, natürlich nicht.“ Aber ist ja klar: Das ist eine Macht, die man ausspielen kann. [...] Das ist tatsächlich: Wenn ein Kollege zwei oder drei Tage nicht auf dem OP-Plan erscheint, dann kommt schon eine Bemerkung „na, ich hab wohl OP-Verbot, was hab ich’n eigentlich angestellt?“ oder so. Obwohl es irgendwo albern ist, ne? Aber es wird so empfunden. Im Hinblick auf die Gestaltung der OP-Pläne zeigt sich eine starke Diskrepanz zwischen der Logik innerhalb der Leitungsebene und den Bedeutungen, welche die Betroffenen den Entscheidungen zumessen. Insbesondere die kleinen Stationsärzte erleben sich als erpressbar, abhängig und der Gunst der Chefärzte ausgeliefert. Für einen Weiterbildungsassistenten ist es existenziell, den langen OP-Katalog voll zu bekommen und an komplexen Operationen beteiligt zu werden. Insbesondere die selteneren Krankheitsbilder sind ein knappes Gut. Da die Ressourcen hier tendenziell immer begrenzt sind, stellt es für die Akteure - unabhängig davon, ob dies von der Leitungsebene wirklich als solche intendiert ist - immer eine Auszeichnung dar, an diesen Operationen teilnehmen zu dürfen, bzw. eine Abwertung, hiervon ausgeschlossen zu bleiben. Die Glücklichen, die vermehrt partizipieren und dann vielleicht zur ersten Assistenz oder gar zum leitenden Operateur aufsteigen, werden zwangsläufig zu Auserwählten, denn wer etwas kann, kann vermehrt damit rechnen, erneut in die Pläne eingetragen zu werden. In diesem selbstreferenziellen Zusammenhang von Können und Ermächtigung entsteht zwangsläufig eine Binnendifferenzierung unter den Assistenten. Für die einen vermehren sich kontinuierlich die Aufstiegschancen zum gefragten Spezialisten, die anderen müssen sich mehr oder weniger mit einer Karriere zum „Wald-und-Wiesen-Chirurgen“ zufrieden geben, dem dann die Standardoperationen vorbehalten bleiben. In diesem Sinne stellt der OP-Plan in der Tat ein „Sybillinisches Buch“ dar, in dem das Schicksal des Assistenten eingeschrieben steht. Im Sinne der Orakel-Metapher sitzt hier immer auch der Zufall mit am Tisch. Die Kontingenz des Geschehens ist aus der Perspektive der existenziell betroffenen Akteure - denn schließlich geht es um die eigene Karriere - kaum tragbar. Entsprechend wird der Zufall in Sinn umgewandelt. Dies geschieht hier, indem in der Sinndeutung des Geschehens durch die Akteure die Willkür der Entscheidung einem autoritären Chefarzt zugerechnet wird. Indem zufällige administrative Entscheidungen (aber vielleicht ist es dann öfters doch mehr als Zufall) als Sanktion bzw. Belohnung bewertet werden, bekommen die Akteure vermeintliche Kontrolle über das Geschehen, denn nun können sie ihr Handeln danach ausrichten, den antizipierten Erwartungen Genüge zu tun. Sinnstrukturell institutionalisiert die 1. Grundlegende Regeln 217 Akteursfiktion „der Schmied des eigenen Glückes zu sein“ die Bereitschaft, Immenses zu leisten und sich freiwillig mehr als nötig den hierarchischen Zwängen zu unterwerfen. Wenn der Chefarzt gleichsam als ein allmächtiger Gott konstruiert wird, der tendenziell jedes Vergehen sieht und sühnt, rekonstituiert sich das Gefühl der Abhängigkeit und Unvollkommenheit permanent und wird als eine habituelle Disposition zum Motor des ärztlichen Feldes. Dieser Disposition scheint es so schwer zu entkommen, dass nicht nur Stationsärzte, sondern auch erfahrene Oberärzte wieder in das infantile Muster fallen, dem symbolischen Vater ihre Pannen verbergen zu wollen14. Je mehr Aufstieg und Anerkennung angestrebt wird, desto tiefer schreiben sich die impliziten Gesetze des ärztlichen Feldes in das Erleben der Akteure hinein. Die Differenzen der hier zu Wort kommenden Akteure lassen sich in diesem Sinne durchaus in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Position im medizinischen Feld deuten: Dem Altassistenten, der sich schon lange damit abgefunden hat, in der Karriereleiter nicht weitergekommen zu sein, fällt es leichter, das Geschehen im Krankenhaus mit ironischer Distanz zu beleuchten. Den Oberärzten demgegenüber fällt die Distanzierung von ihrer Rolle schwerer, da sie die impliziten Regeln im langen Streben ihres Aufstiegs tiefer verinnerlichen mussten. Der leitende Oberarzt kennt nun als Eingeweihter die andere Seite einer Macht, die sich nicht durch chefärztliches Charisma, sondern durch administrative Pragmatik auszeichnet: Entscheidungen scheinen hier weniger im Hinblick auf Personen gefällt zu werden, sondern aufgrund von Sachzwängen - aber so genau weiß man dann eben doch nicht, ob auch etwas anderes mit in die Entscheidungen hineinspielt. Die paradigmatisch am Beispiel des „OP-Verbots“ in chirurgischen Abteilung rekonstruierte Dynamik findet ihre homologe Entsprechung auch in den anderen untersuchten medizinischen Abteilungen, stellt in diesem Sinne also keine Spezialität der Chirurgie oder Kultur einer speziellen Station dar, sondern ist vielmehr strukturelles Merkmal des medizinischen Feldes. Natürlich manifestiert sich diese Dynamik in den anderen medizinischen Disziplinen an jeweils eigenen inhaltlichen Fokussierungen: Wer darf oder muss in die Notaufnahme15? Wem werden die interessanten Fälle zugeteilt16? Wer darf (oder muss) dem Chefarzt als Privatassistent zur Seite stehen? Wer darf in eine Funktionsabteilung rotieren, in der Sonderfertigkeiten erlernt werden können17. Wer bekommt die mehr oder weniger lästigen Zusatzaufgaben zugeteilt?18/19 In welchem Maße werden Assistenten einer Uniklinik an den wissenschaftlichen Reputationsmöglichkeiten beteiligt? Inwieweit werden ihnen Freiräume für die Forschungstätigkeit gelassen20? Die Chancen, im ärztlichen Feld aufzusteigen, stellen immer eine limitierte Ressource dar. Zwischen den organisatorischen Zwängen einer medizinischen Abteilung, die eine Vielzahl oftmals wenig angenehmer Routinearbeiten mit sich bringen, und den Aspirationen der Akteure, einmal eine gute Position einzunehmen, klafft eine große Lücke. Binnendifferenzierung im ärztlichen Feld bei wachsender Ungleichheit der Ärzte ist hier zwangsläufig die Folge. Auserwählt zu sein hängt dabei nicht selten auch von „Zufälligkeiten“ ab, von Dingen, die nicht unmittelbar mit der Leistung oder der Person des jeweiligen Akteurs zu tun haben. Im Hinblick auf Kontingenzbewältigung bekommen diese Prozesse jedoch einen anderen Sinn. Indem abstrakte Entscheidungen, die über den Kopf der Betroffenen fallen, von diesen als Belohnung oder Bestrafung erlebt und attribuiert werden, wird das „Ich“ wieder zum Kapitän des Selbst - die Kontrollillusion21 wird wiederhergestellt. Man ist es nun selbst, der über seine Zukunft entscheidet. Die Dinge erscheinen unter eigener Macht - und wenn dies im Nachhinein möglicherweise nur heißt, dass man sich nicht vollkommen der Hierarchie hat unterwerfen wollen und deswegen keine Karriere gemacht habe. In der Organisation Krankenhaus überlagern sich hier zwei Sinnsysteme. Aus der Perspektive der Betroffenen erscheint eine soziale Interaktionsordnung, in der das eigene Verhalten, insbesondere aber die Leistungsbereitschaft und mögliche Verfehlungen, 218 VI. Ärztliches Feld ständig von der Hierarchie oben beobachtet und geachtet wird. Auf der anderen Seite stehen die überpersönlichen Sachzwänge und Kontingenzen einer medizinischen Einrichtung, in der vieles, was den einzelnen Akteur auszeichnet, nur noch peripher in Rechnung gestellt wird. Die Zunahme der neuen flexiblen Arbeitsverhältnisse führt nicht selten dazu, dass Ärzte - wenngleich sie fachlich und biographisch in der Mitte ihres Lebens stehen - immer noch Schwierigkeiten haben, ihr Leben in angemessener Form sozial verankern zu können: Leistungselite ohne soziale Sicherheit: „Sechs Jahre studiert, sechs Jahre gearbeitet und dann Sozialfall” Die 34-jährige Fachärztin Dr. Schneider berichtet, dass sie sich mit ihrem Partner, der auch Arzt ist, auf eine Wohnung beworben habe. Sie hätten jedoch die Zusage nicht bekommen, da beide keinen festen Arbeitsvertrag vorzuweisen hätten: 8:20 (vor dem Stationszimmer) Stationsärztin Dr. Schneider: Bekomme die Wohnung nicht. Brauche für den Mietvertrag eine Unkünd barkeitsbescheinigung. Der Zeitvertrag läuft jedoch jetzt Ende Dezember aus. Stationsarzt Scholz: Sechs Jahre studiert, sechs Jahre gearbeitet und dann Sozialfall … Ärzte sehen sich nicht selten einer starken Diskrepanz zwischen einerseits ihrer professionellen Stellung und der gesellschaftlichen Anerkennung und andererseits ihrer realen sozio-ökonomischen Bedingungen ausgesetzt. Eine chirurgische Spezialistin kann in sozialer und ökonomischer Hinsicht weitaus tiefer stehen, als es ihrem gesellschaftlichen Status formell zu entsprechen scheint22. Die Spannungslage zwischen dem, was eigentlich biographisch angesagt wäre, praktisch aber (noch) nicht möglich ist, trifft besonders Frauen, die als Ärztinnen die Frage des Kinderwunsches weit zurückstellen müssen: Gebrochene Lebensplanung: „Kinder hätte ich gerne und heiraten wollen wir sicher auch, aber das hängt da so an solchen Sachen“ Frau Schneider beschreibt im Interview diesbezüglich ihre Sehnsucht nach Sicherheit, vielleicht sogar endlich einmal sesshaft zu werden und dann vielleicht auch Kinder bekommen zu können. Dies sei aber im Moment angesichts der unsicheren Situation, in der sie und ihr Partner stecken würden, nicht realisierbar: Dr. Schneider: Irgendwann ist man ja bemüht, einen gesicherten Lebenslauf irgendwie zu bekommen oder zumindest weiß, wo so ein bisschen geordnete Bahnen sind und das haben wir halt nicht, weil wir dauernd von einem Zeitvertrag zum nächsten Zeitvertrag arbeiten, und solange man 30 ist oder 35 ist es egal, weil man denkt „fang ich halt irgendwo wieder was Neues an”, aber irgendwann will man dann auch so was wie sesshaft werden oder bei mir ist das sehr stark ausgeprägt, ich will halt irgendwann sesshaft werden, will mir halt irgendwann ein Häuschen oder irgendwie so was [...]. Von mir aus würde ich auch Kinder kriegen [...], ich bin da halt auch jemand, der sich nicht gerne auf andere verlässt, sondern ich selber mich auf mich selbst verlasse, und einfach mal blauäugig ein Kind in die Welt setzen und das andere wird schon kommen, wäre nicht so richtig was für mich [...], denn ich hab ja auch keine Eltern hier in Berlin, also es gibt auch niemand der, das muss man alles aus eigener Kraft alles organisieren, und das wäre, also das muss man schon irgendwie so’n bisschen hinkriegen, das ist aus unserer beider beruflicher Situation schwierig, im Moment weiß ich ja auch nicht so genau, sonst Kinder hätte ich gerne und heiraten wollen wir sicher auch, aber das hängt da so an solchen Sachen. 1. Grundlegende Regeln 219 Die Opfer an Lebenszeit und Kraft, welche die Ärzte in ihrer Ausbildung zum medizinischen Spezialisten bringen, finden nicht mehr selbstverständlich eine Antwort in der gesicherten Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen. Im medizinischen Mikrokosmos gefangen, sind die ärztlichen Akteure nicht selten arm an sozialem und ökonomischem Support. Beziehungen zu Personen außerhalb des Krankenhauses können allein aus Zeitgründen oft nur noch wenig gepflegt werden. Wohnortwechsel aufgrund des erhofften Karrieresprungs lassen das soziale Netzwerk noch fragiler werden. Das Krankenhaus stellt für viele Ärzte zwar den wesentlichen sozialen Schwerpunkt dar; wenn aber die Mitgliedschaft in Organisationen nur noch auf befristete Dauer angelegt ist, droht auch diese soziale und ökonomische Basis zu zerbrechen. Die Welt der Spezialisten ist hochgradig fragil. Wenn die Hoffnung auf ein Weiterkommen getäuscht wird und auch die wenigen letzten Beziehungen zerbrechen, bleibt nur noch Einsamkeit übrig. Aufstrebende Ärzte stehen in einer permanenten Spannung, der Gefahr ihrer endgültigen sozialen Degradierung zu entkommen. Letztlich geht es hier ums Überleben - denn nach 10 bis 15 Jahren Spezialisierung kann man nur noch im medizinischen Feld überleben und der Ausschluss aus dem Feld bedeutet gleichsam den sozialen Tod23. Der Stress im Überlebenskampf lässt hier wenig Raum, dem möglicherweise ebenfalls vorhandenen Kinderwunsch nachzugeben. Biografie ist unter solchen Bedingungen kaum mehr planbar24. Kurze Verträge, zwischenzeitlich durch Arbeitslosigkeit unterbrochen, verlangen von den Ärzten „Flexibilität“ im Hinblick auf die zumutbaren Arbeitsangebote und Mobilität im Hinblick auf den Arbeitsort. Nicht jedem klinischen Arzt gelingt es, sich in freier Praxis erfolgreich niederzulassen, und auch die Positionen für Ärzte mit leitenden Funktionen sind begrenzt. Besonders die Altassistenten, die den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit längst überschritten haben, leiden oftmals unter den Folgen des Karriereknicks. Wenngleich sie in der Regel noch auf unkündbaren Daueranstellungen sitzen und sich nicht mehr den existenziellen Unsicherheiten stellen müssen, so zeigt sich auch in ihrer Lebenspraxis ein Leid, das sich oft in Arbeitsunlust ausdrückt: Position des Verlierers: „Gedanken eines alternden Assistenten der sich danach sehnt hier aufzuhören” Der 59 Jahre alte chirurgische Assistent wird kaum noch im Operationssaal eingesetzt. Stattdessen liegt seine ärztliche Tätigkeit in den letzten Jahren überwiegend in der chirurgischen Notaufnahme. Im Interview beschreibt der Arzt zunächst, wie einfach es damals gewesen sei, eine Stelle im Krankenhaus zu bekommen. Er habe nie Angst haben müssen und das habe ihm das Gefühl gegeben, immer aus einer freien Haltung heraus an die Arbeit herangehen zu können. Das Streben nach fachlicher Vervollkommnung würde in seinem Alter keine Rolle mehr spielen. Mittlerweile könne er jedoch den ganzen täglichen Unsinn im Krankenhaus nicht mehr ertragen und sehne sich, in den Ruhestand zu kommen: Dr. Altvetter: Halt hier dann die ganze Assistentenzeit [gemacht, hab] also schon so’n bisschen Überblick über das, was sich hier getan hat - und vieles zum Schlechteren ja? Muss man ganz einfach mal sagen. Vieles zum Schlechteren, organisatorisch sicher zum Schlechteren - anders- ja, aber wie gesagt, ich wollte hier anfangen, hab pro forma, weil das gehörte sich ja, so musste man eine Bewerbung schreiben, nicht? Hab ich dann von Hand eine Bewerbung geschrieben, damit das in die Akte kommt, ja? Das müssen sie heute mal jemandem erzählen und Sie wissen es auch in welcher Form, welchem Aufwand man Bewerbungen schreibt, und ich wüsste auch gar nicht, wie ich damit fertig würde, wenn mir zwei- dreimal eine Absage [...], und dann muss ich sagen - gehör ich zu einer glücklichen Generation, die hatte das Problem nicht, aber das hat sich sicher ausgewirkt, muss ich sagen, in meiner Arbeit! Ja man ist sicher, wenn man frei arbeiten kann. Das befreit einen von Lasten und das kommt letztendlich dem Patienten zugute, würde ich meine Arbeit rückschauend auch sehen. [...] [Fachliches 220 VI. Ärztliches Feld und wissenschaftliches Interesse ist jetzt] also weniger muss ich sagen, sicher, wenn ich jünger wäre, in einer gewissen Aufbauphase, nur da muss man sagen: Jetzt ist man ja in einer Phase wo man, wo man ja Richtung Ruhestand geht und dann hat seine Erfahrungen und handelt danach und beschäftigt sich mit Wissenschaft zum Beispiel nicht mehr so sehr viel. Das heißt nicht Desinteresse, aber das hat sicher nicht mehr den Stellenwert, sondern man lebt praktisch von seinen Erfahrungen und handelt so ärztlich. [Das sind jetzt die] Gedanken eines alternden Assistenten, der sich sehnend sehnt danach hier aufzuhören, einfach weil ich diesen täglichen Unsinn eigentlich wenig ertragen kann und mich eigentlich in meinem ärztlichen Denken und Handeln beeinträchtigt fühle. [...] Ich überleg mir, wie ich jetzt ausgleite, ob äh unbezahlter Urlaub! Und dann Frührente usw., hat ein bisschen was damit zu tun, wie jetzt die Strukturen sind. Der Rückblick in die eigene Geschichte offenbart ein starkes Leiden an der aktuellen Lebenssituation. Früher muss dieser Arzt mal gerne gearbeitet haben, hat sich frei gefühlt und muss wohl auch ein gutes Verhältnis zu den Patienten gewonnen haben. Nun erscheint für ihn die Arbeit zunehmend unerträglich. Unbezahlten Urlaub zu nehmen erscheint für ihn als bedenkenswerte Variante, möglichst schnell endgültig das Krankenhaus verlassen zu können. Die Berufsbiografie findet hier ein trauriges Ende. Es klingt zwar Erfahrung und durchaus noch Interesse an der Arbeit an. Dieses wird jedoch dadurch getrübt, dass sich die Dinge für ihn zum Schlechteren gewandelt haben. Wie die meisten anderen Ärzte, muss auch dieser Assistent das Krankenhaus mal als seine Heimat, seinen Platz erlebt haben. Nun ist er seit einigen Jahren auf die Notaufnahme abgeschoben und ist kaum noch im Operationssaal anzutreffen. Die chirurgische Karriere hat sich für ihn schon lange in eine Abstiegskurve verwandelt. Als biografische Klammer bleibt noch die Erinnerung, das Gefühl, dass es ihm mal gut gegangen ist und dass es eigentlich auch anders sein könnte - wenn nur die Strukturen anders wären. Die strukturellen Bedingungen lassen es nicht zu, dass die langjährige Berufserfahrung hier in ein entspanntes alterssouveränes Handeln mündet. Belastende Bereitschaftsdienste, die Zumutungen der Arbeit auf der Notaufnahme und die Erfahrung, von den Kollegen im Hinblick auf das gewerkschaftliche Engagement nicht ernst genommen zu werden, bilden ein Konglomerat aus Demütigungen und Degradierungen, unter denen kaum etwas anderes übrig bleibt, als die Flügel hängen zu lassen. Anders als bei den jungen Kollegen ist bei ihm die Rente zwar schon sicher. Langsam jedoch nagt der soziale Tod an ihm, und dieser Schmerz muss erst einmal ausgehalten werden. Die Anerkennung im Krankenhaus scheint immer mehr zu schwinden. Junge Kollegen stehen mit dem Bewusstsein in den Startlöchern, es besser zu machen als ein frustrierter Altassistent. Das ärztliche Feld hat auch die Position des Verlierers zu bieten. Der Altassistent ist zwar noch im Feld, verspürt aber schon längst den Impuls, verschwinden zu wollen. Im Zuge der Privatisierung von Krankenhäusern und den damit verbundenen Abteilungsschließungen sind selbst die schon längst etablierten Spezialisten aus den Leitungspositionen nicht mehr davor gefeit, eine negative berufsbiographische Verlaufskurve erleiden zu müssen. Auch sie können in die Arbeitslosigkeit entlassen25 bzw. in niedrigere Positionen zurückgestuft werden: Diskrepanzen zwischen Habitus und Feld: „»Sie werden nicht mehr gebraucht« ... die Wunde ist immer noch da” Frau Dr. Reif hatte ehemals die Leitung einer eigenen Abteilung inne. Als ihr Bereich im Rahmen der Krankenhausumstrukturierung geschlossen wurde, ließ sie sich freiwillig zur Stationsärztin zurückstufen, um die Frühberentung zu umgehen. Im Interview berichtet sie von dem Schmerz, den ihr diese Degradierung bereitet hat: 1. Grundlegende Regeln 221 Dr. Reif: Das war dann auch mit dem Krankenhaus, als das mit der Umstrukturierung ja auch andere Chefärzte mussten, da ihre Abteilungen abgeben, aber bei den meisten hat man dann ja auch versucht, einen Weg zu finden, für die Ärzte das Gesicht zu wahren [...], verstehen Sie, ich war dann 25 Jahre da, das war wie meine Familie, und ich habe das mit aufgebaut und meine eigene Familie, die Kinder, die mussten da ein Opfer bringen, ich habe da mein ganzes Leben mit reingebracht und dann auf einmal sagt man mir: „Sie werden nicht mehr gebraucht!“. [...] Ja jetzt macht mir das nicht mehr so viel aus, aber die Wunde ist immer noch da, das hätte ich nie gedacht, dass mir das so weh getan hat, körperlich, ja, das ist ja das Erstaunliche, dass das im Körper so weh tut, das hätte ich niemals so gedacht. Erfolgreiche Ärzte gehen in der Regel mit Leib und Seele in ihrem Beruf auf. Die Konsequenz, aus dem Spiel ausgeschlossen zu werden, nicht mehr dazuzugehören, bedeutet gerade für diese Leistungseliten tiefstes seelisches Leiden. Der Ausschluss aus dem ärztlichen Feld stellt ein solch unerträgliches Leiden dar, dass lieber der Schmerz der Degradierung zu einer Position des niedrigeren Status ausgehalten wird, denn die tiefere Wunde heißt „nicht mehr gebraucht zu werden“. Der Sinn der eigenen Existenz, des lebenslänglichen Engagements steht hier in Frage26. Dies tut im wahrsten Sinne des Wortes weh; wobei die Ärzte in der Regel nicht einmal mehr ahnen, wie tief ihre Lebensform in ihren Körper eingedrungen ist. Erst wenn Habitus und Feld - die ärztliche Seinsform und die Möglichkeit, seinen Beruf zu leben - auseinanderdriften, wird dies als Schmerz spürbar. Kontingenz medizinischer Karieren: „Ich wollte mal Neurochirurg werden” Einer jungen Patientin auf der onkologischen Station wird ein zentralvenöser Zugang gelegt. Dr. Merkel beendet die kleine Operation, indem er den Port am Hals festnäht. Während er die feinen Stiche ausführt, bemerkt er, dass er gut nähen könne, schließlich habe er früher einmal Neurochirurg werden wollen. Ein Praktikant fragt, warum er denn kein Neurochirurg geworden sei. Der Arzt antwortet, dass das daran gelegen habe, dass die dort alle „so doof“ gewesen wären: 16:00 Behandlungszimmer Dr. Merkel (näht gerade den Katheter am Hals fest): Nähen kann ich gut. Ich wollte früher Neurochirurg werden. Praktikant: Und warum bist du das nicht? Dr. Merkel: Weil die alle doof sind. Aus soziologischer Perspektive stellt sich das Verhältnis von Beruf und Berufung als ein soziales Wechselspiel dar. Die Stimme, die einen dazu bringt, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, sitzt - wenngleich es im Einzellfall auch mal anders sein kann - nicht innen, sondern außen. Die rekursive Bestätigung durch die anderen und die Aufnahme in den „Club der Exklusiven“ stellt die Bedingung sine qua non dar, um berufen zu sein. Entsprechend ist auch der Weg zur Leistungselite weitaus mehr durch Zufälligkeiten bestimmt, als es die üblichen retrospektiven Idealisierungen der Akteure vermuten lassen. Der Neurochirurg bzw. der Onkologe wird erst zu dem, was er ist, wenn er von den anderen Neurochirurgen bzw. Onkologen zu dem gemacht worden ist, was er ist27. Wer Karriere machen will, ist gut beraten, nicht allzu fest an seinen Vorstellungen und Wünschen festzuhalten, sondern dynamisch die Chancen zu ergreifen, die sich im medizinischen Feld ergeben. Die hier noch spürbare Kränkung des Stationsarztes, seinen Traumberuf aufgrund von Ablehnungen nicht weiter verfolgen zu können, muss nicht zum Karrierebruch führen. Der Facharzt an der Uniklinik lässt eine ärztliche Karriere weiterhin wahrscheinlich erscheinen, 222 VI. Ärztliches Feld zudem dann auch noch wissenschaftlich gearbeitet werden kann. Dennoch klingt hier auch ein internes Ranking der medizinischen Disziplinen an. Die Modefächer der Neurowissenschaften stehen statusmäßig höher im Kurs als die Onkologie. (c) Glücklich sein - Aufgehen im ärztlichen Handeln Um ärztliches Sein und Handeln verstehen zu können, kann es keinesfalls ausreichen, die Ärzte nur als Opfer der Verhältnisse zu beschreiben. Sie sind zugleich auch aktive Akteure, die nicht nur selbst ihr Schicksal wählen und mitgestalten, sondern oftmals höchste Befriedigung, wenn nicht gar Glück, in ihrer Arbeit erleben. Bekanntermaßen hat der Arztberuf - um es lakonisch zu sagen - ein erhebliches Suchtpotenzial. Die hohe Bereitschaft der Ärzte, Extremes zu leisten, verlangt auch nach einer intrinsischen Motivation. Um diese Bedingungsfaktoren zu verstehen, hilft es jedoch wenig, auf psychodynamische Theorien zu rekurrieren. Eine soziologische Analyse kann sich nicht damit zufrieden geben, die Macht- und Glücksgefühle, die ein Arzt erleben mag, auf ein narzisstisches Persönlichkeitsdefizit zurückzuführen. Vielmehr wären soziale Konstellationen eingehender zu rekonstruieren, die es ermöglichen, dass ärztliches Handeln als eine hoch befriedigende Tätigkeit erfahren werden kann, die von den jeweiligen Akteuren als machtvolles und zentriertes Handeln erlebt wird. Im Folgenden wird ein auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich erscheinender Versuch unternommen, die intrinsische Motivation zu ärztlicher Arbeit aus einer soziologischen Perspektive zu beschreiben. Insbesondere auch in der chirurgischen Abteilung ist nicht selten zu beobachten, dass die Ärzte energiegeladen nach einem 8-stündigen Operationsprogramm aus dem OP-Saal herauskommen, um dann bereitwillig zu erklären, noch eine weitere Notfalloperation durchführen zu wollen. Die existenzielle Bedeutsamkeit der Arbeit - es geht schließlich nicht selten um Leben und Tod -, die Handhabbarkeit und Kontrollierbarkeit des Geschehens - Handeln kann gleichsam ritualisiert auf bewährte Routinen zurückgreifen - und der kreative Akt, in jedem Moment die angemessene Routine auswählen zu können - also selbst entscheiden zu können, was zu tun ist - lassen die Arbeit bedeutsam und befriedigend erscheinen. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Paradoxon, dass erfahrene Ärzte sich einerseits in der Situation empfinden, selbst entscheiden zu können, anderseits ihre alltagspraktische Handlungslogik so klar und eindeutig empfinden, dass es da für sie eigentlich nichts mehr zu entscheiden gebe28. Feld und Habitus werden eins. Ihr Handeln erscheint für sie als Gefühl der Freiheit in der Notwendigkeit. Der Zweifel und damit die Entscheidungskonflikte bleiben den jüngeren Kollegen vorbehalten, die die Einsicht in die Notwendigkeiten des ärztlichen Feldes habituell noch nicht verkörpern. Die routinization of emergency (Rohde 1974: 347) vermittelt Zentrierung und konzentrative Fokussierung des Handelns bei gleichzeitig hoher Sinnhaftigkeit und Intensität des Erlebens29. Csikszentmihalyi (1985) beschreibt im Rahmen seiner Forschung über Glückszustände solche Erfahrungen hoher Kohärenz und Konzentration als flow-Erlebnisse. Der flow stellt eine Form der Selbstvergessenheit dar, die mit intensivem Glückserleben einhergehen kann. In einer Untersuchung zur Arbeitsmotivation von Chirurgen stellt Csikszentmihalyi entsprechend fest, dass hier überwiegend intrinsische Gründe motivieren. Für die meisten ist es der Prozess des Operierens selber, der die berufliche Befriedigung verschafft, während extrinsische Faktoren etwa einem Patienten helfen zu wollen - eher in den Hintergrund treten30. Langeweile und Routine ist dem flow eher hinderlich, während eine entsprechende Herausforderung - eben ein interessanter bzw. schwieriger Fall - wieder den entsprechenden „kick“ geben kann31. Hilfreich für den 1. Grundlegende Regeln 223 Prozess des Hinübergleitens in den selbstvergessenen Glückszustand ist auch die Ritualisierung der Übergänge zwischen Alltag und der medizinischen Welt32. Wie auch Hirschauer anhand von Feldbeobachtungen aus dem OP-Saal aufzeigt, verschmelzen hier leicht die Grenzen zwischen Individuum und Feld zu einem einzigen Körper medizinischen Handelns: OP-Saal: „So verhält sich das Operationsteam als ein ‚chirurgischer Körperʼ, dessen Glieder ... in ‚organischer Solidaritätʼ absorbiert sind” »Im Operationsgebiet halten sich bisweilen bis zu acht Hände auf, die sich dort auf engstem Raum über-, unter- und nebeneinander abwechseln und ergänzen, indem sie etwas dehnen, halten, schneiden und absaugen. Die Hände des Operateurs sind dabei die Führhände, die manuell geschickter, weil in bestimmten Griffen erfahrener als die anderen Hände sind. Diese ergänzen den Chirurgenkörper um ‚rechteʼ und ‚linkeʼ Hände. Hinzu kommen die Instrumente, die wie Personen ‚zur Hand seinʼ müssen: Eine Hand hält eine Pinzette ins Wundgebiet, eine andere hält für die Blutstillung Strom an ihr Ende. Instrumente nehmen am Hantieren teil, wenn sie aus der Wunde hängen, wo sie etwas halten und spreizen, abklemmen und beiseite ziehen. Wird eine zusätzliche Hand gebraucht, werden manche Anweisungen nicht spezifisch adressiert, und es heißt dann nur „Kann mal jemand hier festhalten!“. Mußten unter dem Aspekt der Sterilität gewaschene und ungewaschene Hände unterschieden werden, so gibt es also für das Funktionieren einer operativen Einheit vier Arten von Händen: leitende, assistierende, instrumentierende und laufende. Der Chirurgenkörper erscheint im Gegensatz zur optischen Reduktion seiner individuellen Glieder genau wie der Patientenkörper funktionell ausgedehnt. So wie eine Körperschaft als eine ‚juristische Personʼ behandelt wird, so verhält sich das Operationsteam als ein ‚chirurgischer Körperʼ, dessen Glieder - gewissermaßen Durkheim beim Wort nehmend - in ‚organischer Solidaritätʼ absorbiert sind. Da der chirurgische Körper mehreren Personen gehört, müssen seine Augen gestisch und verbal koordiniert werden. Die strenge Hierarchie vereinfacht dies. Träumende oder gelangweilt schweifende Augen werden mit Anschnauzen wieder auf das Operationsgeschehen ausgerichtet. „Sie dürfen erst loslassen, wenn ich das Ding habe“; „Doktor! Jetzt ist die gute Zeit vorbei. Nein. SO! - Sonst isser futsch!“ - Tönt bei einem Stocken des Patientenatems das Alarmsignal, so tönen also auch Warnsignale, wenn ein Rädchen des Operationsteams nicht mehr greift und den Apparat ins Stocken bringt. Normalerweise arbeitet der Chirurgenkörper jedoch wie eine Maschine, mit gleichzeitig rhythmischen Abläufen, in denen wortlos Instrumente in zuschnappende Hände gleiten« (Hirschauer 1996: 102-103). Ärztliches Handeln scheint hier - wenn man den Beobachtungen von Hirschauer folgt - zu einem überindividuellen Sein zu verschmelzen. Um in den Begriffen der Ritualtheorie von Turner zu sprechen: Hier entsteht »Communitas«, als »Gemeinschaft Gleicher, die sich gemeinsam der allgemeinen Autorität des rituellen Ältesten unterwerfen« (Turner 1989: 96). Im Operationssaal müssen die Chirurgen ihr Selbst, ihre persönlichen Kränkbarkeiten vergessen, um gemeinsam der höheren Sache zu dienen. Der Übergang von “draußen” zu “drinnen” verläuft dabei über die Schwellenphasen der Operationsvorbereitung. In der angespannten Arbeitsatmosphäre entsteht ein emotionaler Raum, der einen gemeinsamen Körper, die Bedingungen der Communitas möglich werden lässt. Nun erst kann die Erfahrung der Selbstvergessenheit erlebt werden und persönlich als hohe Befriedigung empfunden werden. Der Chirurg kann in seiner Arbeit ein Glück VI. Ärztliches Feld 224 erfahren, was in Sinnhaftigkeit und Kohärenz durchaus gelebter religiöser Praxis zu entsprechen scheint. Entsprechend wundert es kaum, dass viele Chirurgen geradezu „operationssüchtig“ werden33, ihren Beruf eher als Berufung denn als Arbeit erleben und sich in berufspolitischen Fragen eher gegen als für die Einhaltung von Arbeitszeitgesetzen einsetzen34 - kein Wunder, dass das OP-Verbot die höchste Strafe für einen Chirurgen darstellt. Wenngleich sich in der Chirurgie der „Kick“ ärztlicher Arbeit besonders gut aufzeigen lässt, lassen sich entsprechende Erfahrungsdimensionen durchaus auch in den anderen Abteilungen finden. Insbesondere die Verbindung von existenzieller Dimension der eigenen Arbeit, der intellektuellen Herausforderung bei schwierigen Fällen und dem Gefühl, in den medizinischen Routinen sowohl Handlungsfreiheit als auch Handlungssicherheit zu haben, lässt auch in den internistischen Disziplinen nicht selten das Gefühl hoher Befriedigung, wenn nicht gar Erhabenheit aufkommen. Arbeitsmarathon auf einer onkologischen Station Frau Berger, seit einem Dreivierteljahr als Arzt im Praktikum auf der onkologischen Station, ist während der Weihnachtswoche zum ersten Mal alleine auf der Station, denn die anderen beiden Stationsärzte nehmen ihre Urlaubstage. Mindestens einmal am Tag kommt jedoch der Oberarzt auf die Station, um nach dem Rechten zu schauen. Dennoch ist das Arbeitspensum, was die junge Ärztin zu leisten hat, immens. Patienten, teilweise in hochkritischem Zustand, müssen stabilisiert werden. Chemotherapien werden verabreicht und diagnostische Prozeduren müssen durchgeführt bzw. veranlasst werden. Angehörige äußern Wünsche und Beschwerden. Darüber hinaus müssen die neuen Patienten aufgenommen und untersucht werden und nicht zuletzt sind auch noch die Akten in Ordnung zu halten. Da sich sonst mindestens zwei Ärzte die Stationsarbeit teilen, ist Frau Berger seit gut einer Woche, in der sie allein auf der Station ist, rund um die Uhr ausgelastet. Keine Minute wird verschwendet. Gespräche werden konzentriert und zielgerichtet geführt. Telefonisch werden Untersuchungstermine koordiniert und daneben wird noch versucht, ein Minimum an seelischer Patientenbetreuung zu leisten, wenngleich dies oftmals nur in den Abendstunden möglich ist. Frau Berger wirkt vollkommen absorbiert von ihren Aufgaben, dabei gleichzeitig jedoch hellwach. Der prekäre Gesundheitszustand einiger ihrer Patienten scheint sie dabei nicht zu belasten, sondern nur noch mehr anzuspornen, weitere Untersuchungen anzuordnen, die Laborwerte noch öfters zu kontrollieren und mit den Oberärzten die Medikation wiederholt durchzusprechen. Prioritäten werden gesetzt: Was muss sofort getan werden und was kann noch bis morgen liegen bleiben. Die Ärztin scheint in jedem Moment zentriert zu sein und zu wissen, was zu tun ist. Die Intensität der Arbeit scheint hier die Konzentration und Wachheit zu fördern. Hochselektiv wird ausgewählt, was wichtig ist und was vorrangig zu tun ist. Am Ende ihres Dienstes wirkt die Ärztin keinesfalls erschöpft oder ausgelaugt, sondern zeigt die Bereitschaft weiterzuarbeiten. Ein Patient, der trotz einer Fremdtransplantation die Rückkehr seiner Leukämie erleiden musste, wird von der jungen Ärztin besonders aufmerksam beachtet. Bevor sie die Station an ihre Kollegen übergibt, spricht sie mit dem Oberarzt das weitere Vorgehen im Hinblick auf diesen kritischen Fall noch einmal durch. Sie erklärt, dass es dem Mann im Hinblick auf seine schwerwiegenden Entzündungen jetzt schon wieder etwas besser gehen würde. Der Oberarzt würdigt darauf ihre Leistung („das ist jetzt Ihre Leistung“). Daraufhin sprechen beide über die geplante zweite Knochenmarkzelltransplantation. Die junge Ärztin setzt sich nach dem Gespräch an den Computer und erstellt den Transplantationsplan. Sie erklärt dem 2. Ärztliche Hierarchie 225 Beobachter, dass die Erstellung dieses Therapieplans eine hohe Verantwortung sei. Der Oberarzt setzt sich ein paar Minuten später zu der Ärztin und bemerkt, dass die Frage der Zellmerkmale von den Spendern durchaus interessant sei. In der Beobachtung dieser und ähnlicher Situationen entsteht jedoch der Eindruck, dass Ärzte dieses Arbeitspensum nicht nur (mehr oder weniger) gut aushalten können, sondern eine erhebliche persönliche Befriedigung hieraus ziehen können, die durchaus rauschhafte Dimensionen annehmen kann. Der prekäre Gesundheitszustand einiger Patienten stellt keine Bedrohung für das Handeln der jungen Ärztin dar, sondern wird im Gegenteil zu einem hilfreichen Fokus der Aufmerksamkeit, durch den die überarbeitete Ärztin wieder konzentriert in ihre Arbeit gezogen werden kann. Die verantwortungsvolle Aufgabe, den Therapiezyklus für die Transplantation zu erstellen, fokussiert ebenfalls die Aufmerksamkeit, denn hier einen Fehler zu machen, kann zu lebensbedrohlichen Folgen führen. Zudem bringt die Arbeit auch noch einige intellektuelle Reize mit sich, wie das Gespräch mit dem Oberarzt deutlich macht. Die intensive Dienstperiode - so überfordernd sie zu sein scheint - wird hier auch als Initiation in eine faszinierende ärztliche Welt erlebt. An ihr teilhaben und ihre Intensität aushalten zu können, muss nicht als Last empfunden, sondern kann auch als Lust erlebt werden. Abschließend: Die Chancen, an der professionellen Autonomie ärztlichen Seins teilhaben zu können, sind unter den Ärzten ungleich verteilt. Nicht jedem gelingt es, in einem center of excellence in die Position des gefragten Spezialisten zu gelangen, und nicht jedem gelingt es, seine Nische zu finden, in der er das Gefühl haben kann, als autonom und professionell entwickelt handeln und entscheiden zu können. Angesichts der extremen Bedingungen, unter denen viele Ärzte leisten und arbeiten müssen, liegen Himmel und Hölle, Glück und Unglück nahe beieinander. Wenn die intrinsische Motivation versiegt und das Gefühl der Fremdbestimmung überhand nimmt, ist das Leiden für manche kaum noch auszuhalten35. Im Sinne der vorangehenden Ausführungen kann es nicht ausreichen, die Befriedigung, die ein Arzt in seinem Beruf empfindet, allein seiner Persönlichkeit zuzurechnen. Sowohl die Herstellung der communitas als auch die Chancen, an den befriedigenderen Aspekten der ärztlichen Tätigkeit teilhaben zu können, sind sozial bestimmt, liegen also nicht in der Kontrolle der jeweiligen Akteure. Die für einen äußeren Beobachter offensichtliche Differenz zwischen der „Aura“ eines Altassistenten und der eines Oberarztes darf in diesem Sinne nur bedingt „Persönlichkeitsmerkmalen“ zugerechnet werden. Vielmehr sollte die soziale Genese der Bedingungen individuellen ärztlichen Glücks wahrgenommen werden: denn „Berufung“ heißt auch immer, von den anderen berufen worden zu sein. 2. Ärztliche Hierarchie Eine Analyse ärztlicher Entscheidungsprozesse kommt nicht umhin, sich die Positionen und Differenzierungen im ärztlichen Feld genauer anzuschauen, denn die Verhältnisse der jeweiligen Positionen zueinander sind eine wichtige Determinante des ärztlichen Entscheidungsver haltens36. Die Analyseeinheit dieser Studie stellt jeweils eine konkrete Station dar. Auf dieser finden sich innerhalb der ärztlichen Hierarchie unterschiedliche Positionen, angefangen bei 226 VI. Ärztliches Feld den Praktikanten (PJ, Arzt im Praktikum), den Assistenzärzten in der Facharztausbildung, Stationsärzten mit einem Facharzttitel, dem Oberarzt, gegebenenfalls einem leitenden Oberarzt und schließlich dem Chefarzt. Innerhalb eines konkreten Behandlungsprozesses tragen alle in den Fall involvierte Ärzte formell die Mitverantwortung für das, was mit dem Patienten geschieht. Der Form nach drückt sich dies auch darin aus, dass der abschließende Arztbrief in der Regel von einem Stationsarzt, einem Oberarzt und dem Chefarzt unterschrieben wird. Der Oberarzt sollte dabei zumindest rudimentär in das Fallgeschehen involviert sein, während es dem Chefarzt als dem „Letztverantwortlichen“ der Hierarchie obliegt, den Gesamtprozess zu supervidieren und situativ bei entsprechenden Qualitätsmängeln einzugreifen37. Dieser ist mit Ausnahme der Privatpatienten38 mit Chefbehandlung nicht mehr in die Patientenführung involviert. Ausführlicher informiert über das Fallgeschehen sind in der Regel nur der betreuende Stationsarzt sowie der Oberarzt. Ausnahmen bestehen bei den ungewöhnlicheren Fällen oder bei speziellen Erkrankungen, die von wissenschaftlichem Interesse sind. In Bezug auf die strukturelle Analyse der Stationshierarchie lohnt es sich zunächst, zwischen der Ebene der Stationsärzte und der Ebene der leitenden Ärzte zu unterscheiden. Die ersteren - unabhängig davon, ob sie Ärzte im Praktikum sind oder gar schon seit Jahrzehnten den Facharzttitel besitzen - stehen in unmittelbarem Patientenkontakt, müssen sich den Fragen und Erwartungen der Patienten und ihrer Angehörigen aussetzen, sind für das Fallmanagement verantwortlich und haben einen erheblichen Teil der bürokratischen und organisatorischen Arbeit zu leisten. Darüber hinaus müssen sie regelmäßig Nacht- und Wochenenddienste erbringen. Die Oberärzte demgegenüber sind von den meisten der arbeitsintensiven Anforderungen der Station entlastet. Der unmittelbare Patientenkontakt reduziert sich auf ausgewählte, in der Regel fachlich motivierte Kontakte. Die Oberarztvisiten lassen aufgrund des rituellen Settings als Gruppenvisite ein eher distanziertes Verhältnis zum Patienten entstehen. Die Macht und Entscheidungsgewalt wird durch die jeweilige Position im Feld bestimmt, jedoch nicht unbedingt durch die Fachkompetenz des entsprechenden Akteurs. Fallbezogener Sachverstand und Entscheidungsmacht müssen nicht unbedingt übereinstimmen. Insbesondere in Allgemeinkrankenhäusern können in speziellen Methoden geschulte Oberärzte, ebenso aber auch erfahrene Assistenten, gegenüber den älteren Chefärzten einen klaren Wissensvorsprung besitzen. Umgekehrt sehen sich an den Universitätsklinika junge Ärzte oftmals gezwungen, fachärztliche Positionen einnehmen zu müssen, für die sie entsprechend ihrer Ausbildung noch gar nicht qualifiziert sind - wenn etwa die Station überwiegend durch Ärzte im Praktikum betreut wird. Sowohl die „Machtlinien“ im ärztlichen Feld als auch die Verteilung ärztlicher Kompetenzen gestalten einen spezifischen Beziehungsraum, der zwar je nach medizinischer Disziplin und Kommunikationskultur unterschiedlich ausgeprägt sein kann, dennoch einige gemeinsame Merkmale aufweist, die im Folgenden empirienah aufgezeigt werden. Zunächst wird das oftmals prekäre Verhältnis der untergeordneten Ärzte zu ihrem Chef behandelt (a). Im Anschluss daran werden die zentralen Aspekte der Chefarztrolle am Beispiel der Chefvisite konkretisiert (b), um dann schließlich die Rolle der Oberärzte etwas ausführlicher zu beleuchten (c). 2. Ärztliche Hierarchie 227 (a) Verhältnis der Stationsärzte zum Chefarzt Der Chefarzt steht in der Rolle des „Meta-Entscheiders“. Er entscheidet, ob er entscheidet. Wer den Chef aus einer unteren Position von sich aus zu einer Stellungnahme auffordert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf der Inkompetenz bestraft zu werden: ‚Double Bindʼder Chefkommunikation: „Was machen Sie wieder für eine Hektik?” Herr Stange leidet unter Morbus Crohn, einer chronischen Darmkrankheit. Während der Oberarztvisite schauen die Ärzte den aktuellen Sonografiebefund an. Es sind ausgeprägte Fistelsysteme sichtbar. Der Oberarzt betont, dass hier möglicherweise eine Indikation für einen chirurgischen Eingriff vorläge. Entsprechend solle der Stationsarzt den Patienten möglichst bald den Chirurgen vorzustellen. Da es sich bei diesem Mann jedoch um einen Privatpatienten handele, der formal vom Chefarzt betreut werde, sei dieser zuvor jedoch in die Entscheidung zu involvieren: Freitag, 27.10. Oberarztvisite Oberarzt Dr. Jonas: Herr Stange, Morbus Crohn-Patient mit Fistelsystem im Darm ... (schaut den Sonografiebefund an) Das sieht ja gar nicht gut aus... müssen wir prophylaktisch mit Professor Waldung, dem Chirurgen, sprechen, dass die zumindest schon mal vorbereitet sind und den Patienten gesehen haben ... dann müssen Sie unbedingt noch mit dem Chef sprechen ... Der Stationsarzt lässt sich dem Rat des Oberarztes folgend einen Gesprächstermin beim Chefarzt geben und stellt ihm den Fall vor. Daraufhin beklagt sich dieser über die Hektik, die der Stationsarzt veranstalte. Er verweist auf seine vielfältigen Aufgaben und betont, dass es unsinnig sei, jetzt die Chirurgen einzuschalten, denn schließlich sei das Problem von Herrn Stange nicht akut: 11:15 (im Büro des Chefarztes) Stationsarzt Völler (mit der Akte von Herrn Stange in der Hand): Hier der Befund von der Sonografie, ob wir ihn nicht dem Herrn Professor Waldung vorstellen sollen … und dann Immunorek .... und dann eine Center-MRT .... Chef: Erst mal heißt der Herr Wildung, Herr Wildung mit dem Namen, ist wichtig, sich den richtigen Namen zu merken ... was machen Sie wieder für eine Hektik ... sehen Sie, ich habe jetzt hier drei Patienten, die jetzt noch auf mich warten, die ich irgendwie abfertigen muss und dann bin ich auf einem Kongress, wo ich jetzt auch sein sollte (schaut sich genervt den Sonografiebefund an und fängt sofort an zu reden) ach was, lassen Sie das, ist ja eine chronische Krankheit und deswegen ist der doch jetzt gar nicht hier bei uns ... und da brauchen wir doch gar nicht so schnell schießen und außerdem was für Geschosse ... Immunorek und Chirurgie ... erst mal ruhig und dann vor allem nicht Freitagmittag ... die MRT können Sie machen ... Diagnostik ist immer angesagt ... aber sonst keine Panik und in Ruhe beobachten ... die Krankheit ist jetzt seit zehn Jahren vorhanden, da wissen wir doch gar nicht, was akut ist ... ist jetzt immer mit den jungen Kollegen, wenn sie neu sind, dann machen sie viel zu viel, überschlagen sich und kommen gar nicht mehr zur Ruhe und dann die Jahre danach, wenn sie genug Fälle gesehen haben und Sicherheit gewonnen haben, dann nehmen sie es zu leicht und übersehen vieles ... das sind so die beiden Krisen in der Entwicklung eines Arztes und viele bleiben leider in der zweiten Phase stecken, einige lernen dann wieder zu differenzieren und darauf kommt es dann an ... Stationsarzt: Soll ich den Professor Wildung ... ? Chefarzt: Nein, der Patient ist doch jetzt wegen was ganz anderem hier, habe den ja gestern Abend noch kurz gesehen ... der hat überhaupt keinen Körperbezug ... und Sie wissen ja, das wird dann ganz bestimmt nicht minimalinvasiv sein und wenn die Chirurgen dann einmal eine Indikation gestellt haben, dann kommt man nicht mehr wieder runter ... 228 VI. Ärztliches Feld Stationsarzt: Dann mit dem Entzündungsparameter CAP der ist ja auf vier ... sollten wir jetzt Immorek geben ... Chefarzt: Jetzt denken Sie doch einmal an das Einfachste. Das kann doch jetzt auch von seiner dicken Backe herkommen ... müssen wir jetzt erst mal eine Zahnbehandlung durchführen lassen ... auch unsereins kriegt dann einen CAP von 4, wenn er eine dicke Backe hat ... da können wir dann auch nicht konservativ rangehen ... müssen wir ihn zur Zahnklinik, auch wenn die das jetzt aufgrund der Stellensituation nicht machen wollen, aber da sollten wir jetzt Druck machen Stationsarzt: Und dann noch mit der MRT ... ? Chefarzt: Ja, das sollte dann auch sofort ... da sollten Sie dann auch Druck machen, dass das sofort abgeklärt wird ... diagnostisch sind wir bei dem ja auch noch nicht am Ende ... erst mal eine ordentliche Diagnostik und nicht gleich mit den Hämmern Chirurgie und Immunorek kommen ... natürlich könnte jetzt auch am Wochenende was passieren, aber so weit sind wir jetzt nicht, jetzt haben wir Freitag, und es sind noch keine Beschwerden ... Stationsarzt: Der Stuhl ist sehr breiig ... Chefarzt: Aber wir sind jetzt nicht in der Situation, dass es akut ist. Stationsarzt Völler, als Arzt im Praktikum noch nicht mal ein approbierter Arzt, steht hier in der paradoxen Situation, einerseits die Verantwortung für einen Chef-Patienten übernehmen zu müssen, das heißt, den Chefarzt nicht zu sehr zu involvieren, und sich andererseits aufgrund des prekären Sonografiebefundes im Hinblick auf das weitere Vorgehen bei seinem Vorgesetzen abzusichern. Zumal auch ein diesbezügliches Votum des Oberarztes gefallen ist, besteht für den Stationsarzt hier keine Alternative dazu, sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Den Kopf einzuziehen und nichts zu tun kommt hier ebensowenig in Frage, wie eigenständig ein chirurgisches Konsil anzufordern, denn diese Entscheidung über den Kopf des Chefs zu treffen, würde Sanktionen erwarten lassen. Für den jungen Arzt bleibt also nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen, den Chef aufzusuchen und sich von diesem Inkompetenz vorwerfen zu lassen. Der Oberarzt scheint dies intuitiv zu wissen und hat es mittlerweile wohl selbst habituell verinnerlicht, diesbezügliche Konflikte zu vermeiden: Weder trifft er alleine die Entscheidung, noch übernimmt er die entsprechend der hierarchischen Linie nahe liegende Aufgabe, selbst seinen Vorgesetzten über den Fall zu informieren. Stattdessen bekommt der junge Arzt den schwarzen Peter zugespielt, die hier unausweichliche Auseinandersetzung mit dem Chef zu führen. Für den Arzt im Praktikum - in der ärztlichen Hierarchie sowieso schon ganz unten stehend - ist die symbolische Degradierung hier gleichsam schon vorprogrammiert. Der Chefarzt inszeniert hier ungeniert seine Macht. Wenngleich er kundtut, keine Zeit zu haben - denn er muss ja auf einen Kongress und noch seine Patienten „abfertigen“ -, hat er Zeit dafür, den jungen Arzt ausführlich darüber zu belehren, wie denn eine erfolgreiche Arztsozialisation abzulaufen habe. Diese Belehrung lässt keinen Zweifel darüber, dass er erfolgreich die dritte Phase erreicht habe, während sein Untergebener noch in der ersten Phase herumdümpele - eben einfach zu viel Hektik mache. Der Arzt im Praktikum kommt hier nicht umhin, sich dem „double bind“ zu stellen, den Chef zu informieren und gleichzeitig in Ruhe lassen zu müssen. Dieses Dilemma aushaltend lernt der angehende Arzt eine wesentliche habituelle Disposition seines Berufs zu verinnerlichen, nämlich die Eigenarten der hierarchischen Ordnung im Krankenhaus: Selbst wenn der Chef Unrecht hat (so hat etwa Herr Völler den Namen des Chirurgen richtig genannt, wie sich später herausgestellt hat) oder diesem gar offensichtliche Fehler unterlaufen, so obliegt es den untergeordneten Ärzten nicht, dem Chef diesbezüglich in Diskussionen zu verwickeln oder gar eigenständig eine Entscheidung zu treffen39. Für den jungen Arzt besteht hier kein Ausweg, dem Dilemma zu entgehen, denn die Betreuung eines Privatpatienten erlaubt es nicht, der prekären Kommunikation mit dem Chef auszuweichen. Darüber hinaus lernt der junge Arzt in dieser kleinen Sequenz noch andere Dinge, die in seinem Feld zu beachten sind: etwa dass im medizinischen System 2. Ärztliche Hierarchie 229 Konkurrenzen zwischen den einzelnen Fachdisziplinen - hier den Chirurgen und den Internisten - bestehen und dass es für Internisten angebrachter ist, etwas länger abzuwarten, noch ein wenig Diagnostik zu treiben und dann erst den Fall an den Chirurgen abzugeben. »Legitimation durch Verfahren«: „Dafür gibt es eine Hierarchie, dass nicht sozusagen der kleine Dödel zum Chef rennt” Der Stationsarzt der chirurgischen Station schildert im Interview seine Schwierigkeit in Bezug auf einen Patienten, eine Entscheidung auf der Leitungsebene treffen zu lassen. Als kleiner Arzt könne er nicht einfach zum Chefarzt rennen. Eigentlich wäre es am vernünftigsten, wenn das Problem einfach den formalen Gesetzen der Hierarchie folgend nach oben getragen würde. Der Stationsarzt würde den Oberarzt informieren und dieser würde die Frage an den Chef weiterleiten. In der Praxis geschehe dies aber nicht so. Stattdessen würde das Problem in die Breite gestreut werden. Andere Experten, die gar nichts zu entscheiden haben, würden gefragt werden, und das eigentliche Problem bliebe dann ungelöst, während er dann auf der Station Tag für Tag mit den Konsequenzen der ungelösten Fragen konfrontiert werden würde: Stationsarzt Scholz: »Also trägt man’s ne Schicht nach oben und teilweise merkt man leider, dass auch diese Schicht nicht entscheiden wird und diese Schicht dann auch nicht weitergeht; also ich meine, man kann ja sagen, also wenn der Oberarzt sagt, er will et nicht entscheiden, dann kann der Oberarzt, denke ich, zum Chef gehen, dafür gibt’s ne Hierarchie, dass nicht sozusagen der kleine Dödel zum Chef rennt und sagt, ich will mal was wissen, sondern das ist ja irgendwo denn eine Entscheidung, die muss, wenn sie nicht auf Oberarzt-Ebene getroffen wird, dann auf Chefarzt-Ebene getroffen werden, aber die muss der Oberarzt denn auch mit tragen und vertreten und deshalb denke ich, dass der Weg so sein soll, dass man diese Entscheidung zum Oberarzt trägt, der Oberarzt eins nach oben geht und sich die möglicherweise vom Chef abnicken lässt, wenn er der Meinung ist, er kann die selber nicht vertreten oder mag sie nicht treffen; aber ehe dieser Stand erreicht ist, vergeht so immer, nicht immer, aber in diesem konkreten Fall Schmidt-Bauer vergehen fünf Tage und der Patient ist mittlerweile, weiß nicht, fast dreieinhalb Wochen hier und da werden a) Kosten produziert, b) bin ich unzufrieden, weil Entscheidungen, die ich nicht treffen kann, ja mit denen werde ich permanent konfrontiert und soll sie treffen, kann sie nicht treffen, und an der Herbeiführung der Entscheidung bin ich gänzlich unbeteiligt; und denn sind wieder Wege, sozusagen die von meiner Kollegin beschritten werden, die ich auch nicht mittragen kann, ja sozusagen denn wird dieses Problem an Orte gebracht, wo es gar nicht hingehört [...] dann wird, weiß ich nicht, der Herr Sennet [Oberarzt einer anderen chirurgischen Station] gefragt und dies sind so Sachen, [...] und man wird dieses Problem nicht lösen, indem man es einfach in mehrere Ecken flaggt und von mehreren Leuten Entscheidungen hören will, sondern da gibt es knallharte Richtlinien, und das ist für uns die Oberärztin, und wenn die sie nicht treffen will, muss sie zum Chef gehen und nicht ich, ja, und so ist der Entscheidungsweg, und das hilft gar nicht weiter und da geht einfach nur viel Zeit verloren, und ich weiß nicht ob du das mitkriegst, dass diese Probleme breit getragen werden und breit gestreut werden, aber das zur Lösung überhaupt nicht beihilft; [...] ich meine, ich bin hier nicht der Oberverantwortliche, weil ich nicht Facharzt bin, aber das sind so Sachen, die können einfach abnerven irgendwie [...], zum Beispiel um bei diesem Schmidt-Bauer-Problem zu bleiben, gab’s ja sozusagen von Seiten des leitenden Oberarztes die Meinung, er würde ihn eher ERCpieren und schon alleine an diesem Ausdruck merkt man ja wieder, er würde! [...] also haben wir das Problem also seitens von Dr. Schneider zu ihm getragen und zur Lösung ist nichts beigekommen, außer “er würde“«. Der junge Stationsarzt erkennt, dass der Oberarzt sich vor der Konfrontation mit dem Chefarzt drückt und ist entsprechend verärgert, dass der Konflikt auf seinem Rücken ausgetragen wird. Wie im vorangegangen Beispiel aus der psychosomatischen Station ist ein Chefarzt nicht einfach ansprechbar und zu einer Entscheidung herauszufordern, sondern dieser entscheidet selbst, ob er entscheidet. Ihn herauszufordern bleibt gefährlich und ist von „kleinen“ Ärzten nur unter der Gefahr von Demütigung, wenn nicht gar noch schlimmerer „Bestrafung“ zu haben. Aber auch für die höher gestellten Ärzte scheint hier die unmittelbare Konfrontation mit dem Chef prekär 230 VI. Ärztliches Feld zu sein - sei es aus Gründen der emotionalen bzw. habituellen Verankerung längst vergangener Erfahrungen mit aktuellen Cheferfahrungen. Man vermeidet es eher, den Chef direkt zu fragen und wartet auf Gelegenheiten, bei denen der Chef von alleine auf das Problem anspringt, vielleicht auf der Chefvisite oder während der Abteilungsbesprechung. Bemerkenswerterweise erscheint es hier für den Stationsarzt irrelevant, bei den anderen Kollegen Fachkompetenz einzuholen. Nicht die fachlich-inhaltliche Ebene - das, was medizinisch am besten angebracht sei - scheint ihn hier zu interessieren, sondern die Verfahrensseite: Es geht darum, die Sache zu einem Abschluss zu bringen. Habituell hat der junge Arzt den systemischen Sinn der Krankenhaushierarchie - die formale Lösung von Entscheidungskonflikten – bereits verinnerlicht. Es gelingt ihm jedoch (noch) nicht, zwischen den administrativen und organisatorischen Aspekten seiner Arbeit – hier manifestiert in den Strukturen der Krankenhaushierarchie - und dem ärztlichen Auftrag dem Patienten zu dienen – hier als Forderung, möglichst schnell eine Behandlungsentscheidung zu finden - eine Balance zu finden. Der Rückzug auf die formalen Aspekte bzw. die institutionellbürokratisch vorgegebene Entscheidungslinie zeigt, dass seine professionelle Autonomie noch nicht entwickelt ist. Chefarzt als »Meta-Entscheider«: „Dann ist das Gesetz” Auch der Stationsarzt der onkologischen Abteilung berichtet im Interview, dass man den Chefarzt praktisch nicht direkt ansprechen würde. In den Abteilungsbesprechungen würde der Chefarzt dann allerdings öfters eine Stellungnahme zu einem Fall geben. Demgegenüber habe die Chefvisite eher eine Kontroll- und weniger eine Entscheidungsfunktion. Wenn dann aber eine Chefentscheidung getroffen würde, habe sie den Charakter eines absoluten Gesetzes: Dr. Kringe: Das ist so ne Sache, die ist eher selten, dass man ihn praktisch direkt anspricht, ähm was häufiger ist, dass praktisch Patienten verhandelt werden in dieser Abteilungsbesprechung, was ja auch ne gute Einrichtung ist, äh wo dann auch noch mal praktisch, es muss ja nicht praktisch nur von ihm dann die Marschroute vorgegeben werden, sondern es sitzen ja einfach alle da und jeder kann sich äußern, äh klar, dass er natürlich gerne den letzten und klügsten Abschluss selber machen möchte, aber das ist, ansonsten ist das ne gute Einrichtung, und ansonsten gibt es praktisch nur äh noch die Chefarztvisite, wo er in der Regel aber nicht sehr entscheidungsfreudig ist, da ist es halt mehr eben diese Kontrollfunktion halt, ob auch alles richtig läuft, äh [...] Beobachter: Also Wieners ist jetzt auch nicht einer, der jetzt unbedingt drauf besteht, jetzt entscheide ich [...] Dr. Kringe: Nee also, wenn äh also, wenn eine Chefentscheidung ist, dann ist das Gesetz. Ja? Beobachter: Dann ist das Gesetz. Dr. Kringe: Gottes Wort ja? [...] Das ist halt eben zum Glück nicht so häufig. Wenn du’s dann doch mal anders machst irgendwie, darfst du dich nicht erwischen lassen. Auch hier wird der Chefarzt zum Meta-Entscheider, der zugleich entscheidet, ob er entscheidet. Es ist nicht üblich ihn direkt anzusprechen. Entsprechend gilt auch unter den Ärzten die implizite Regel, darauf zu warten, ob und wann der Chef sich von sich aus einschaltet. Die Gelegenheiten hierfür sind institutionalisiert, insbesondere in den Abteilungsbesprechungen und Chefvisiten. Im Sinne der vorangehenden Beispiele hat der Chefarzt innerhalb der Entscheidungshierarchie eine quasi gottähnliche Position inne: Sein Handeln und Entscheiden ist weder berechenbar noch einzufordern. An den institutionalisierten Berührungspunkten der Visiten und Besprechungen ist es jedoch mehr oder weniger wahrscheinlich. Die strukturelle Regelmäßigkeit, in der die Chefärzte der unterschiedlichen Abteilungen in die Rolle des Meta-Entscheiders schlüpfen, weist 2. Ärztliche Hierarchie 231 darauf hin, dass es sich hier um ein grundlegendes Motiv innerhalb der Krankenhaushierarchie handelt, das zwar durch Persönlichkeitsmerkmale moduliert werden kann, jedoch als strukturelle Homologie immer wieder auftaucht. Angesichts der hohen Verantwortungslast medizinischer Entscheidungen und der prinzipiell grenzenlosen Zahl prekärer Entscheidungen ist ein Chefarzt gut beraten, nicht allzu viel der komplexen Entscheidungslasten zu übernehmen. Dies würde seine Autorität schnell dekonstruieren, denn letztlich kann auch er nur mit Wasser kochen. Sinnvoller ist es, sich als ein Meta-Entscheider zu konstitutieren, der sich nicht zu schnell Entscheidungen aufzwingen lässt, sondern nur punktuell und nur aus Eigeninitiative heraus eingreift. Um im medizinischen Feld überhaupt aufsteigen zu können, muss es den aufstrebenden Ärzten einerseits gelingen, formell und symbolisch die an sie gestellten permanenten Überforderungen anzunehmen, handlungspraktisch muss dabei jedoch ein Weg gefunden werden, realiter die Überlastungen abzuwehren. Der Habitus der Allmacht kann nur aufrechterhalten werden, wenn gerade die Ärzte, welchen in der Hierarchie die höchste Potenz zugeschrieben wird, eben nicht alles machen und entscheiden, was ihnen von Amts wegen zugemutet wird. Die Kunst, in den höheren Positionen bestehen zu können, liegt auch darin, eine Aura der Distanz aufbauen, die es gewährleistet, dass ein Großteil der Lasten auf den unteren Hierarchieebenen verteilt bleibt. Die regelmäßig zu beobachtende Willkür im Chefverhalten erscheint so gleichsam als zwangsläufige Konsequenz der Rollenzuweisung des potenten „Letzt-Entscheiders“. Systemisch gesprochen erfüllt gerade die Willkür der Chefarzt-Entscheidungen eine wichtige Funktion in der Kontingenzbewältigung: Insbesondere bei prekären Entscheidungen, für die keine Routinen mehr zur Verfügung stehen, zieht man gerne auf den entlastenden Joker der »Königsentscheidung« (Wettreck, 1999: 181), wobei es jedoch mit zum Spiel gehört, dass die entlastende Karte niemals mit Sicherheit erscheint. Auch im Hinblick auf die medizinischen Standards hat der Chefarzt eine Sonderolle inne. Er kann sich über Regeln, die für alle anderen gelten, hinwegsetzen. In der Identifikation mit der Allmacht seiner Rolle wird auch manchmal auf die üblichen Sicherheitsstandards ärztlichen Arbeitens verzichtet. Ohne Netz zu arbeiten, erscheint hier eher als Sport denn als Leichtsinn: Freiheit, sich über Standards hinwegsetzen zu können: “Der Chef kreuzt bei Sigma keine, das löst immer Diskussionen aus” Die Oberärztin fragt die Stationsärztin, wie viele Blutkonserven diese für die Operation des tiefen Rektumkarzinoms kreuzen lassen würde, denn die Transfusionskommission wolle jetzt zuverlässige Daten haben. Die Stationsärztin antwortet, dass sie vier Konserven nehme. Daraufhin bemerkt die Oberärztin, dass der Chef das Sigma-Karzinom operieren würde, ohne vorher eine Blutkonserve kreuzen zu lassen. Dies würde im Team immer Diskussionen auslösen. Ein wenig später unterhalten sich eine Famulantin sowie der Arzt im Praktikum darüber, dass der Chefarzt gestern bei einer Operation keine Blutkonserven habe kreuzen lassen, obwohl dann bei der Operation eine Arterie angeschnitten werden musste: 8:45 Stationszimmer Oberärztin Dr. Puls: ... Die fragen jetzt von der Transfusionskommision ... was nehmt ihr denn für das tiefe Rektum .... Stationsärztin Dr. Schneider: Vier Konserven ... Dr. Puls: Der Chef kreuzt bei Sigma keine, das löst immer Diskussionen aus ... [...] 232 VI. Ärztliches Feld 9:00 (auf dem Gang) Arzt im Praktikum: ... Der hat dann keine Konserven kreuzen lassen, obwohl der eine Arterie anschneiden musste ... Die üblichen Standards im Hinblick auf ein abgesichertes ärztliches Arbeiten gelten nur für die normalen Ärzte. Der Chefarzt kann sich Kraft seiner Autorität über Richtlinien hinwegsetzen und eine Operation beginnen, ohne vorsorglich entsprechende Blutprodukte bestellt zu haben. Als Meister ist er sich selbst Gesetz, entzieht sich der Kontrolle anderer, braucht seine Interventionen weder zu diskutieren noch zu rechtfertigen40. Mögliche Kritik an seinem Verhalten - so ist zu erwarten - würde sofort harsch zurückgewiesen werden. Wer könne sich auch anmaßen, seine Kunst zu kritisieren. Kraft seiner „goldenen Hände“ geschehen bei seinen Operation keine übermäßigen Blutungen. Er operiert schneller und eleganter und wenn es dann doch Komplikationen gibt, können die schließlich immer noch post hoc - etwa auf der Intensivstation - behandelt werden. Wenngleich der Sonderstatus eines Chefarztes in der Chirurgie besonders deutlich wird, so manifestiert sich diese halbgottähnliche Rolle nicht weniger auf den anderen Stationen. Die Gestaltung der Behandlung von Privatpatienten bleibt auch in den internistischen Abteilungen alleiniges Privileg der chefärztlichen Exzellenz. Während etwa in der psychosomatischen Station die therapeutischen Interventionen der Kassenpatienten in Supervisions- und Teambesprechungen verhandelt werden, bleibt die Therapie der privaten Patienten - wenngleich sie an den gemeinsamen Gruppenangeboten (Gesprächtherapie, Musiktherapie etc.) teilnehmen, ein mehr oder weniger gehütetes Geheimnis zwischen Arzt und Patient. Der Chefarzt ist auch hier der Kontrolle durch innerdisziplinäre Regeln und Diskurse enthoben. Er ist sich selbst Gesetz und handelt Kraft seiner eigenen Autorität. Nicht in allen vier beobachteten Abteilungen wird die chefärztliche Macht gleich stark ausgespielt41. Der Sonderstatus ist jedoch strukturell gegeben und manifestiert sich zumindest in latenter Form, denn in seiner Handlungspraxis ist ein Chef nur mit vorgehaltener Hand kritisierbar. Im Hinblick auf die Unmenge der täglich auf der Station zu treffenden Entscheidungen ist die direkte Chefentscheidung (mit Ausnahme natürlich der Privatpatienten) eher von untergeordneter Bedeutung - realiter fallen Chefentscheidungen nicht so häufig. Eine gewichtige Bedeutung hat die Chefautorität jedoch im Hinblick auf die Disziplinierung und Kontrolle der Ärzte. Da seine Unterschrift unter jedem Arztbrief steht, er bei jeder Röntgenbesprechung anwesend sein kann, potenziell während der Chefvisite jeden Patienten zu Gesicht bekommt und sich zudem noch mit den Oberärzten über alle wichtigen Geschehnisse auf den Stationen austauschen könnte, ist er theoretisch über alle wesentlichen Dinge seiner Abteilung informiert. Im Hinblick auf seinen potenziellen „Gottesaugenstandpunkt“ entfaltet der Chefarzt allein schon durch seine Anwesenheit eine erhebliche disziplinierende Kraft. Auch wenn er physisch oftmals kaum noch auf der Station anzutreffen ist, bleibt der Chefarzt in der Abteilung in der Regel außerordentlich präsent42, denn er setzt und kontrolliert die Entscheidungsprämissen seiner Abteilung: Rahmenkonflikte als Konfliktlinien in der Hierarchie: „Wenn eine CT gemacht wird, gibtʼs eins aufs Dach vom Chef. Manchmal kann man die Bilder auch vorher rausnehmen” Die folgende Sequenz lässt die hieraus sich entfaltende Dynamik deutlich werden: Dr. Malek, Stationsarzt und Altassistent, hat bei einem seiner Patienten ein Aortenaneurysma festgestellt. Ab fünf Zentimeter Durchmesser stellt dieser Befund eine dringliche Indikation für eine chir- 2. Ärztliche Hierarchie 233 urgische Intervention dar. Der Stationsarzt ist sich jedoch hinsichtlich des Befundes unsicher und möchte eine Computertomografie durchführen lassen. Die „überflüssige“ Anordnung einer Computertomografie soll jedoch auf Anordnung des Chefarztes unterbleiben: Mittwoch 10:20 Stationszimmer Dr. Malek: Der Patient hat ein Aortenaneurysma. Ein Ultraschall gemacht ... in einem Vierteljahr zur Kontrolle? Oberärztin Dr. Kindl: Unter fünf Zentimeter nur zur Kontrolle. Dr. Malek: Mit schlechtem Gerät ist dies nur schwer abgrenzbar, es könnte auch eine Darmschlinge sein. Es muss noch eine weitere Untersuchung gemacht werden. Dr. Kindl: Es kommt nicht in Frage, hier eine CT zu machen. ... [das Aneurysma] nebenbei festgestellt, eigentlich kam er wegen Polypen. Wenn nur vier Zentimeter Durchmesser, dann kann er draußen bleiben. Aber jetzt ein CT? Was wollte ich noch da machen. Dr. Kindl (zum Beobachter): Wenn eine CT gemacht wird, gibt’s eins aufs Dach vom Chef, wenn der das dann am Morgen bei der Röntgenbesprechung sieht. Manchmal kann man die Bilder auch vorher herausnehmen, aber das kann dann noch mehr Ärger geben. Ein Aortenaneurysma kann sich schnell zu einer lebensbedrohlichen Komplikation entwickeln. Aus diesem Grunde ist der Stationsarzt hier im Konflikt, ob er den unklaren Befund durch eine bessere Diagnostik abklären solle, oder ob er einfach nur die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen verordnen soll. Das ökonomische Rational gebietet das Letztere, zumal der Chef angeordnet hat, dass „überflüssige“ CT-Untersuchungen zu unterbleiben haben und es sich zudem hier um einen Zufallsbefund handelt, für dessen Abklärung seitens der Kassen kein Geld zu erwarten ist. Dennoch bleibt hier beim Arzt eine Restunsicherheit, weshalb er wohl auch die Oberärztin einschaltet. Diese gibt hier drei Erklärungen: eine ökonomische, „der Patient sei deswegen doch gar nicht hergekommen; eine medizinische, „unter vier Zentimetern würde doch die Kontrolle reichen“; und eine soziodynamische, „sonst gibt es eins vom Chef aufs Dach“. Das entscheidende Kontrollmoment scheint hier in der Angst vor möglichen Sanktionen zu liegen. Die „Kosten“, die entstehen, falls man sich der übergeordneten Anordnungen des Chefarztes widersetzt, müssen abgewogen werden mit der Frage, ob im Sinne der ärztlichen Fürsorge noch etwas Wesentliches für den Patienten getan werden sollte. Als Strategie mit solchen Konflikten umgehen zu können, entwickeln sich in der Abteilung subversive Strategien, etwa ein Röntgenbild am Chef vorbeizuschmuggeln, ohne dass dieser es mit bekommt; selbstverständlich immer mit der Gefahr, dass das Manöver auffliegt. Bemerkenswert ist hier, dass der dem Konflikt zugrunde liegende wirtschaftliche Rahmen innersystemisch als Konfliktlinie innerhalb der ärztlichen Hierarchie wiedereingeführt wird. Die Probleme knapper finanzieller Ressourcen werden sozusagen aus der Umwelt ins System transformiert und erscheinen dort zunächst als ethisches Problem individueller ärztlicher Entscheidungsverantwortung, die dann jedoch durch die Entscheidungsprämisse des Chefarztes innersystemisch weiter reduziert wird und nun nicht mehr als fachliches oder ethisches Problem, sondern als Machtfrage behandelt werden kann. (b) „Veranstaltung” Chefvisite Nicht selten warten die Ärzte mehr als eine Stunde auf ihren Vorgesetzen, kaum in der Lage, die Leerzeit konstruktiv zu nutzen. Die Spannung, ob er denn nun kommt oder nicht, macht es schwer, in Ruhe einer anderen Arbeit nachzugehen, zumal vom Chefarzt erwartet wird, dass die Stationsärzte sofort zur Stelle sind, wenn die Visite beginnt: 234 VI. Ärztliches Feld Verbindung zwischen Zeit und Macht: „Dann hat man viel Zeit verloren, weil man hätte dann eigentlich schon um 8:30 mit der Arbeit anfangen können” Die Ärzte der internistischen Station warten auf die Chefvisite. Ein Kollege fragt, ob die Chefvisite überhaupt heute stattfinden würde. Ein Arzt ruft im Chefsekretariat an und erhält die Information, dass der Chef heute doch zur Visite kommen wolle. Eine Ärztin erklärt dem Beobachter, dass es manchmal vorkomme, dass die Visite ausfalle und man dann eine Menge Zeit verloren habe, da man eigentlich schon am frühen Morgen mit seiner Visite hätte anfangen können: 10:00 im Stationszimmer (Die Ärzte warten auf die Chefvisite) Dr. Boller: Findet die heute statt oder nicht? [...] (Dr. Martin ruft im Chefsekretariat an und bekommt von der Sekretärin die Information, dass die Chefarztvisite stattfindet) Dr. Dr. Reif (zum Beobachter): ... Ist dann schon so, dass die dann manchmal ausfällt .... dann hat man viel Zeit verloren, weil man hätte dann eigentlich schon um 8:30 mit der Arbeit anfangen können ... mit der Oberarztvisite ist dann auch so ..... manchmal wird die dann von Donnerstag auf Freitag verlegt, ohne vorher Bescheid zu sagen ... und dann müssen wir die Visite Freitagnachmittag nacharbeiten. Das Motiv „Warten auf den Chefarzt“ bzw. Warten auf den Oberarzt43 zeigt sich durchgängig auf allen beobachteten Stationen. Die Chefvisite kann kurz vorher aufgrund wichtigerer Angelegenheiten oder oft auch einfach ohne Begründung abgesagt werden. Wenn die Visite stattfinden soll, ist in der Regel unklar, wann diese genau beginnt. Nicht selten warten die Ärzte mehr als eine Stunde auf die Ankunft ihres Vorgesetzten. Umgekehrt wird einem Stationsarzt, der nach dem Erscheinen nicht sofort anzutreffen ist, mehr oder weniger explizit deutlich gemacht, dass sich solch ein Verhalten nicht gehöre. Dies kann geschehen, indem mit der Chefvisite ohne den Arzt begonnen wird und sein Fehlen vor seinen Patienten anklagend bloßgestellt wird („leider ist der Doktor jetzt nicht da, so dass wir heute nicht zu Ihnen kommen können“). In der Chirurgie hat ein Chefarzt die Visite gar unter Geschrei ausfallen lassen, da zum Zeitpunkt seines Erscheinens kein Stationsarzt angetroffen wurde. Die immer wiederkehrenden Szenen des „Aufsich-warten-Lassens“ und „Nicht-auf-andereWartens“ demonstrieren, wer wen zu achten hat und mit wessen Zeit verschwenderisch umgegangen werden kann. Um mit Bourdieu zu sprechen: »Das Warten ist eine hervorragende Weise, Macht und die Verbindung zwischen Zeit und Macht zu schmecken« (Bourdieu 2001: 294)44. Inszenierung absoluter Macht: „Ich kriege eine Krise, wenn gleich der Chef kommt und keiner ist da” Die Oberärztin fragt den chirurgischen Chefarzt im Anschluss an die Röntgenbesprechung, ob die Chefvisite heute stattfinden würde. Der Chefarzt bestätigt und ergänzt, dass er zuvor noch einige Verwaltungssachen abzuklären habe. Daraufhin fragt die Ärztin, auf welcher Station er denn anfangen würde. Der Chefarzt antwortet, dass er es noch nicht so genau wisse. Daraufhin gehen die Ärzte auf ihre jeweilige Station und warten auf den Beginn der Chefvisite. Der Stationsarzt will schon mit der Verbandsvisite beginnen. Die andere Stationsärztin bleibt im Zimmer und artikuliert ihre Befürchtung, dass gleich der Chef auf die Station käme und niemand anwesend sei. Die Oberärztin schlägt dem Beobachter vor, mit auf die andere Station zu kommen. Dort stellt sich die Situation ähnlich dar. Die Ärzte warten auf den Chef. Auch dort wird eine Stationsärztin 2. Ärztliche Hierarchie 235 ungeduldig und möchte schon mit der Verbandsvisite anfangen. Ein Kollege versucht sie davon abzuhalten. Als sie dennoch beginnen will, kommt der Chefarzt. Die Visite kann beginnen: 8:10 (nach der Röntgenbesprechung) Oberärztin Dr. Puls: Machen Sie gleich Visite? Chefarzt: Nachher, ich muss vorher noch ein paar Verwaltungssachen abklären. Oberärztin: Wo fangen Sie an? Chefarzt: Weiß ich nicht. ... Vielleicht auf der 23 (schaut Frau Dr. Masur an, die einen Notarztkittel anhat, was bedeutet, dass sie jederzeit über die Rufbereitschaft zum Außendienst gerufen werden kann) Wenn sie mit dabei ist. (auf der Station 21) 8:15 (die Stations- und Oberärzte stehen im Stationszimmer und warten) 8:25 (Stationsarzt Peter Scholz fängt mit der Verbandsvisite an) Frau Dr. Scheider (zum Pfleger Thomas): Ich weiß jetzt auch nicht, wo der Peter [Scholz] ist ... ich kriege ne Krise wenn dann gleich der Chef kommt und keiner ist da ... 8:35 (Die Oberärztin, der Leitende Oberarzt und Stationsarzt Scholz kommen wieder ins Stationszimmer) Oberärztin Dr. Puls (zum Beobachter): Komm, wir gehen hoch [auf die Station 23]. (Auf der Nachbarstation stellt sich dem Beobachter das gleiche Bild dar. Die Ärzte warten auch dort im Stationszimmer) 8:45 Dr. Masur (die den Notarztkittel trägt): Ich mache jetzt Visite... Stationsarzt Meinecke: Nein. Dr. Masur: Doch. Dr. Meinecke: Dann mache aber die Lämpchen brav an. 8:46 (Der Chefarzt kommt gerade in dem Moment auf die Station, als die Verbandsvisite anfängt. Die Visite beginnt). In dieser Sequenz inszeniert sich chefärztliche Macht. Indem der Chefarzt sich hier weigert, die Frage, wann und wo seine Visite beginne, zu beantworten, demonstriert er offensichtlich Willkür und Unberechenbarkeit. Um wieder mit Bourdieu zu sprechen: »Die absolute Macht folgt keiner Regel oder genauer: sie folgt der Regel, keiner zu folgen. Ja, schlimmer noch: die Regel jedes Mal oder nach Belieben und nach Maßgabe ihrer Interessen zu ändern« (Bourdieu 2001: 295). Die Ärzte zweier Stationen fühlen sich im Dilemma dieser Willkür gefangen. Einerseits haben sie einen Berg von Arbeit zu erledigen. Die Patienten müssen verbunden werden. Zudem kann die zweite Stationsärztin jederzeit zu einem Noteinsatz gerufen werden. Andererseits wird befürchtet, sich Sanktionen einzuhandeln, falls man den unbestimmten Moment des Chefauftritts verpasst45. Die auf den Stationen anzutreffende Spannung zeigt, dass die Inszenierung der Machtverhältnisse hier kollektiv von allen Akteuren gefühlt und mit vollzogen wird. Man kann sich diesem Druck hier wohl kaum entziehen. Auch der Versuch der Oberärztin, die Inszenierung der Willkür durch eine harmlos erscheinende Frage zu durchkreuzen, scheitert: Der Chef entscheidet, ob und wann er entscheidet. Die Chefvisite - insbesondere im Hinblick auf die Arzt-Patient-Kommunikation Thema vielfältiger Untersuchungen - kann selbst für erfahrene Ärzte noch ein Stressmoment darstellen, denn potenziell wird die von ihnen geleistete Arbeit der Kritik ausgesetzt: VI. Ärztliches Feld 236 Habitualisierte Angst: „Mittwoch bitte ein großes Pflaster drauf” Ein Tag vor der Chefarztvisite bemerkt die Oberärztin, dass eine Patientin, die von ihr zuvor an der Schilddrüse operiert wurde, am Hals eine hässliche Narbe aufweist. Sie bittet die Stationsärztin, vor der Chefvisite ein großes Pflaster auf die Narbe zu kleben: 9:20 Oberarztvisite (Im Zimmer von Frau Mesmer nach einer Schilddrüsenoperation. Während der Visite zeigt sich an der Operationsstelle noch eine etwas größere Narbe) Dr. Puls: Mittwoch bitte ein großes Pflaster drauf ... Die Chefvisite wird hier selbst von einer erfahrenen Oberärztin, die mehr als 15 Jahre im Beruf steht, immer noch als Instanz der kritischen Kontrolle ihrer Arbeit erlebt. Um „Sanktionen“ etwa in Form eines kleinen „Anschisses“ vor versammelter Mannschaft zu vermeiden, bittet sie darum, das Corpus delicti zu verbergen. Die Angst vor dem Urteil des strengen Chefs scheint hier tief verinnerlicht zu sein. Gleich einem Kind, das Bonbons gestohlen hat und seine Schwester bittet, es vor dem strengen Vater zu unterstützen, wird hier die Bagatelle einer Narbe zum Anlass, die impliziten Autoritätsstrukturen im Krankenhaus zu reproduzieren. Vermutlich liegt die systemische Funktion der Chefvisite weniger in der unmittelbaren Qualitätskontrolle der ärztlichen Arbeit, wie dies von chefärztlicher Seite gerne gesehen wird (s. etwa Degenhardt 2001) denn in der Reproduktion habitueller Formationen im ärztlichen Feld46. Ein Arzt lernt schnell, dass man gut beraten ist, Fehler, die man (möglicherweise) gemacht hat, eher zu verdecken als auf offenem Tablett zu präsentieren. Der Chefarzt kontrolliert in seiner Visite nicht nur seine Mitarbeiter, sondern setzt paradigmatisch den medizinkulturellen Standard seiner Abteilung. Er macht deutlich, welche Entscheidungsprämissen gelten und wie etwas präsentiert und gesagt werden soll: Medizinische Rationalität präsentieren lernen: “Ich bin ja nur hier, um Kontra zu geben” Der Chefarzt der internistischen Station weist die Ärztin im Praktikum während der Visite mehrmals mit etwas harschen Worten zurecht. Im Anschluss an die Chefvisite gibt er ihr eine Erklärung zu seinem ruppigen Verhalten. Er sei ja jetzt nur deswegen hier, um Kontra zu geben und hierfür brauche er von den Ärzten eine entsprechend gute Vorlage. Diese befänden sich dann auch im Vorteil, dass sie den Patienten schon kennen würden. Auf jeden Fall solle die Ärztin ihm eine Diagnose mit Begründung nennen. Zudem solle sie dabei auch nicht so nuscheln: (nach der Chefvisite) Prof. Marek (zur Ärztin im Praktikum): Ich brauche immer die Diagnose und die Erklärung ... ich bin ja jetzt nur hier um Kontra zu geben ... um zu sagen, das stimmt nicht, das kann jetzt auch was anderes sein ... und dafür brauche ich jetzt die Vorlage, klar ausgedrückt ... Sie haben ja dann den Vorteil, dass Sie den Patienten schon kennen und dann können Sie schon eine sichere Diagnose machen und sich auch Begründungen zusammenlegen ... dann, wenn Sie das sagen, geht es schneller und dann sind Sie mich schnell wieder los ... wenn dann genuschelt wird, da kann ich nichts mit anfangen ... Der Chefarzt versucht hier, der angehenden Ärztin die Spielregeln der Chefvisite zu erklären. Seine Belehrung dient auch dazu, eine medizinische Kultur zu etablieren, denn die junge Ärztin scheint das von ihm erwartete Format in Präsentation und Auftreten noch nicht verinnerlicht zu haben. In der Fallvorstellung ist keine Unsicherheit zu zeigen. Das Krankheitsbild muss präg- 2. Ärztliche Hierarchie 237 nant und in Form der Nennung medizinischer Diagnosen einschließlich begründeter Hypothesen geliefert werden. Von der Ärztin ist eine geschlossene Gestalt zu präsentieren, aus der klare Handlungsanweisungen folgen. Entsprechend den Arbeiten von Berg (1996) und Atkinson (1995) ist gerade die Konstitution formalisierter medizinischer Rationals ein wesentliches Moment, die Legitimation des ärztlichen Handelns auch in kritischen Momenten problemlos aufrechterhalten zu können. Die Logik der Herstellung dieser Rationals folgt jedoch dabei, wie Berg beschreibt, alltagspraktisch keinesfalls einem deduktiven wissenschaftlichen Vorgehen. Vielmehr wird in der Logik der Praxis das medizinische Rational erst nach einem längeren - manchmal durchaus „chaotisch erscheinenden - Suchweg ärztlichen Handelns post hoc rekonstruiert. In der ärztlichen Selbstdarstellung - sei es im Arztbrief oder einfach nur in der Fallvorstellung während der Visite - ist jedoch die unvermeidbare Differenz von Handlungslogik und rationalem Begründungsmuster zu tilgen. Die junge Ärztin muss erst lernen, dass Fall-Reflexion nicht heißt, den realen Prozess mit allen Zweifeln und Unsicherheiten zu präsentieren, sondern dass sie selbstbewusst ein geschlossenes medizinisches Rational von Diagnose und Therapie zu präsentieren hat, welches dann allerdings als Ganzes wieder in Frage gestellt werden kann. (c) Oberärzte in der Mittler-Rolle Die Rolle der Oberärzte im medizinischen Feld bestimmt sich nicht nur durch ihre ausgewiesene Fachkompetenz. Wichtiger als ihr medizinisches Wissen ist oftmals ihre Funktion, Mitverantwortung in kritischen Entscheidungen zu übernehmen. Hierdurch spielen die Oberärzte eine wichtige Rolle in der legitimatorischen Absicherung von Entscheidungsprozessen: Partner für die legitimatorische Absicherung: „Auch wenn ich jetzt überzeugt sage, so und so wirdʼs gemacht, bei einem kritischen Fall schalte ich den immer ein” Als der Oberarzt der internistischen Station am Nachmittag auf die Station kommt, wird er von mehreren der diensthabenden Stationsärzte angesprochen, sich doch mal diesen oder jenen Fall genauer anzuschauen. Jeder der anwesenden Ärzte kann für sich auf mehr als 20 Jahre Berufserfahrung zurückblicken. Nachdem der Arzt telefonisch zu einem Einsatz in den Operationssaal gerufen wird, erklärt eine Stationsärztin, dass man den Oberarzt immer einbeziehen würde, wenn er auf der Station sei. Insbesondere bei den kritischen Fällen würde sie ihn immer einschalten, selbst wenn sie sich sicher sei, was zu tun ist: 15:55 im Stationszimmer (Oberarzt Dr. Schwarz ist gerade auf die Station gekommen) Dr. Boller: (berichtet Dr. Schwarz von einem neuen Patienten): ... Hohe Transaminasen ... der Hausarzt hat dann ein paar Werte mitgeschickt ... (die beiden Ärzte schauen sich die Laborbefunde an) Oberarzt: Hepatitis B hat der dann auch mal durchgemacht ... Hepatitis C ist negativ ... da muss man jetzt noch den RNA, den empfindlichsten Test machen ... oder man muss dann noch eine Leberpunktion machen, wenn der die Werte haben will ... (die Ärzte diskutieren den Fall weiter) [...] Oberarzt: Wenn die Werte jetzt runtergehen und das RNA negativ, da machen wir dann nichts, sonst eine Punktion. Bei den Antibiotika, die er bekommen hat, die machen ja auch eine Hepatitis. Auch wenn das jetzt schon ein halbes Jahr her ist, möglicherweise kann das jetzt auch noch damit zusammenhängen. [...] 238 VI. Ärztliches Feld Dr. Reif: (zum Oberarzt): Dann sollten Sie sich Herrn B. auch noch anschauen ... er hat jetzt Valium bekommen und ist ein wenig beruhigt, auch wenn das jetzt sicher nicht das richtige Medikament für ihn ist ... ich habe dann für morgen den Psychiater eingeschaltet, der soll sich ihn dann auch mal anschauen. (Der Oberarzt wird telefonisch in den Operationssaal gerufen, wo er eine Bronchoskopie durchführen soll). [...] Dr. Martin: Wo ist Dr. Schwarz? Dr. Reif: Der ist dann gerade zum OP gerufen worden. Dr. Reif (zum Beobachter): Ist dann auch so, wenn der Oberarzt da ist, dann wird er auch involviert ... auch wenn sonst jeder selbst entscheidet ... ist dann auch richtig so, denn wenn was ist, dann muss der Bescheid wissen, denn viele wenden sich dann doch direkt an die obere Adresse und wenn der dann nichts weiß, sieht der am Ende auch blöde aus ... ein kluger sagt dann nicht, dass er nichts weiß, sondern „Moment mal, ich lass mir die Akte kommen“. Auch wenn ich jetzt überzeugt sage, so und so wird’s gemacht, bei einem kritischen Fall schalte ich den immer ein. Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass klinisch erfahrene Fachärzte immer noch den Oberarzt um Hilfe fragen. Auch die Stationsärztin scheint dies zu spüren und fühlt sich entsprechend herausgefordert, dem Beobachter die Szene zu erklären. Der Grund, warum der Vorgesetze hier eingeschaltet wird, scheint nicht in fachlichen, sondern in legitimatorischen Gründen zu bestehen. Kritische oder gar prekäre Entscheidungen verlangen eine Absicherung im ärztlichen Team. Die Abteilung muss nach außen ein einheitliches Bild abgeben und entsprechend auf mögliche Kontrollanfragen vorbereitet sein. Der Oberarzt wird von den erfahrenen Kollegen auch involviert, um Rückendeckung zu erhalten, weniger um eine Entscheidungshilfe zu bekommen. Die Verantwortung, die nicht selten auch kritische ökonomische Aspekte berührt, muss auf verschiedenen Schultern verteilt werden. Der Oberarzt ist hier zugleich Vorgesetzter und Verbündeter. Im Gegensatz zum Kontrapunkt der oftmals konfligierenden Position des Chefarztes stellt er eher einen Partner dar, der zu Hilfe geholt werden kann und sollte. Oberärzte stehen der ökonomisch-administrativen Handlungslogik näher als die Stationsärzte. Letztere sind jedoch gezwungen, zwischen Patientenbedürfnissen und organisatorischen Interessen eigenständig die Balance zu finden, ansonsten können ihnen Fehler in der Behandlung vorgeworfen werden: Spannungslagen aushalten lernen: „Ja, da muss man den Befund erst einmal abwarten, bevor man entlässt” Eine Ärztin im Praktikum der internistischen Station betreut eine alkoholkranke Patientin, die aufgrund eines Sturzes in das Krankenhaus eingeliefert worden ist. Aufgrund der Anweisung ihrer Vorgesetzten, die Patientin möglichst schnell wieder zu entlassen, entlässt sie die Frau, bevor der Befund des Thorax-Röntgen vorliegt. Als während der Röntgenbesprechung deutlich wird, dass ein größerer Bluterguss vorliegt, mischt sich der Chefarzt ein und bemerkt, dass man die Patientin so nicht hätte entlassen dürfen und dass man jetzt unbedingt den Hausarzt einschalten müsse: 12:40 Röntgenbesprechung Röntgenarzt (stellt das Röntgenbild vom Thorax vor): Frau Müller Ärztin im Praktikum: Alkoholtoxische Leber ... aber die ist jetzt schon längst entlassen ... Röntgenarzt: Bluterguss ..... 2. Ärztliche Hierarchie 239 Chefarzt: Mit dem Bluterguss kann man ja eigentlich nicht entlassen ... muss man jetzt unbedingt den Hausarzt informieren ... Frau Rose, rufen Sie den Hausarzt an. Ärztin im Praktikum: Ja, werde ich machen. Stationsarzt Dr. Boller (leise zur jungen Ärztin): Warum hast du sie denn entlassen? Ärztin im Praktikum: Ja, sollte ja dann ein Thorax und dann entlassen. Stationsarzt Dr. Martin: Ja, aber da muss man den Befund erst einmal abwarten, bevor man entlässt. Dass ein betreuender Arzt, wenngleich verbal nur selten expliziert, die klinische Verantwortung für seinen Fall zu übernehmen hat, ist unausgesprochen immer vorausgesetzt. Entsprechend wird verlangt, dass anders lautende Botschaften seitens höher gestellter Ärzte diesbezüglich auch gegen den Strich gelesen werden müssen, denn die klinische Verantwortung für den betreuten Patienten bleibt beim Stationsarzt. Dieser muss sich dem Dilemma unterschiedlicher Rationalitäten zwangsläufig stellen und dabei die Spannung, dass hier möglicherweise von unterschiedlichen Seiten Sanktionen drohen, aushalten. In diesem Sinne bleibt der Stationsarzt strukturell autonom und darf die Dinge nicht allzu wörtlich nehmen, denn letztlich wird von ihm dann doch erwartet, dass er eigenverantwortlich entscheidet47. Die junge Ärztin hat diese ärzt- liche Disposition noch nicht verwirklicht. Dies wird bei einem anderen Fall von einem Stationsarzt bemerkt. Entsprechend versucht er seine junge Kollegin zu instruieren, wie der Wunsch des Oberarztes nach schneller Entlassung wirklich zu verstehen sei: Nachmittags im Arztzimmer (die junge Ärztin spricht mit dem Stationsarzt den Fall einer Patientin durch) Ärztin im Praktikum: Dann noch eine Frau ... die Patientin mit dem Husten ... sagt ja blutigen Auswurf ... und ich denke ich kann sie nicht entlassen ... jetzt sagt die Patientin aber, der Oberarzt habe ihr gesagt, dass man sie schneller entlassen würde. Stationsarzt: Moment, was würdest du denn machen ... du musst dir einen Plan machen und dann den vortragen und vertreten ... wie würdest du sie denn jetzt weiterbehandeln ... und dann trägst du den Plan vor ... was dann in dem Fall sinnvoll ist, weil du mit der Patientin etwas verwickelt bist ... Die Bedingungen der steilen Hierarchien im Krankenhaus ändern nichts daran, dass der ärztliche Beruf zumindest in dem Sinne autonom bleibt, als dass auch der kleine Arzt die Entscheidungsverantwortung für den konkreten Fall nie vollkommen an die Institution, in der er arbeitet, abgeben kann. Während ein Krankenpfleger im Zweifelsfall immer an den Arzt verweisen kann, bleibt diesem - oftmals alleinig in die Details der Falldynamik des von ihm betreuten Patienten eingeweiht - nichts anderes übrig, als selbst die Fäden in die Hand zu nehmen und zu versuchen, problematische Entscheidungen zu korrigieren, selbst wenn sie von übergeordneten Ärzten gebahnt worden sind. Zum entwickelten ärztlichen Habitus gehört es immer auch, die sich hieraus ergebenden Spannungen zu meistern, die Intra-Rollenkonflikte zu balancieren und die damit verbundenen Gefühle und Unsicherheiten ins Private verlagern zu können. Gerade diese Widersprüchlichkeiten innerhalb der strengen Krankenhaushierarchie bilden paradoxerweise eine Sozialisationsinstanz, die ärztliche Autonomie konstituiert - denn die in der Praxis aufgeworfenen Dilemmata erzwingen, dass die Ärzte sich hierzu verhalten. Auch in medizinischen Fragen können innerhalb des ärztlichen Leitungsteams unterschiedliche Herangehensweisen und Entscheidungspräferenzen bestehen. Diese kulturellen Unterschiede können von den jungen Ärzten genutzt werden, einen eigenen Stil zu entwickeln: 240 VI. Ärztliches Feld Medizinische Kulturen als Spielräume des Entscheidens: „Der eine Oberarzt ist halt ʻn bisschen passiver mit der Diagnostik ... andere Oberärzte sind sehr viel aggressiver” Der Beobachter spricht mit dem Stationsarzt der onkologischen Abteilung über einen Fall, bei dem gegen das Votum des Oberarztes eine invasive diagnostische Untersuchung durchgeführt wurde, um eine Blutungsquelle im Darm genauer lokalisieren zu können. Die Erlaubnis für diesen Eingriff wurde von einem anderen Oberarzt gegeben, der kurzfristig die Vertretung für seinen Kollegen übernommen hatte. Der Arzt erklärt, dass ihm eine aggressive medizinische Herangehensweise sympathischer sei als konservativ abzuwarten und dass der Oberarzt der Nachbarstation leichter zu solch einem Vorgehen zu überreden sei: Interviewer: Wo ich das erlebt hab mit Herrn Altheim. Da war ja auch jetzt hier die Frage mit der Diagnostik? Also der Oberarzt hat ja eher gesagt, dass es eigentlich da keinen Sinn hat, jetzt die Quelle festzustellen. Dr. Merkel: Ja, ja, man wird erst natürlich in dem Moment erst ‘n bisschen mutiger, wo man halt immer, man macht ja so ne Kosten-Nutzen-Rechnung, ja? Was kann man jetzt verlieren, ja? Und dann, der Mann hat geblutet, hat geblutet und das. [Oberarzt] Krause ist mit der Haltung rangegangen nicht reinzuschauen und dann war halt [Oberarzt] Martiensen da, ähm, mit dem man halt einfach leichter drüber reden kann und der meinte: „Machen Sie das zumindest jetzt mal da rein, und dann haben wir’s halt gemacht, ja? [...] Und da muss man halt wieder sagen, wenn man ne Blutungsquelle gefunden hätte und hätte die irgendwie angehen können, man hätte es mindestens mal gewusst! Also da! Mit Diagnostik auch. Da kann man forcierter drangehen, und man kennt zum Beispiel den halt auch oder ist schon erfahren, der eine Oberarzt ist halt ‘n bisschen passiver mit der Diagnostik. Das ist okay oder so, andere Oberärzte sind sehr viel aggressiver. Interviewer: Hm, hm Dr. Merkel: Man lernt ja dann auch so ‘n bisschen selber. Vielleicht ist einem die aggressivere Art etwas sympathischer, halt vehementer und bei so ’nem praktischen Spiel, wo man nix verlieren kann macht man das halt auch einfach, Punkt ja? Oder man macht denn auch einfach mal ’ne Blutentnahme? Ähm, die niemandem weh tut, die halt mal dem Haus Geld kostet, aber weil’s einen interessiert, weil man’s wichtig findet oder so darf man halt doch mal. Interviewer: Hm. Und das sind dann so unterschiedliche Stile, also Martiensen ist eher so ‘n bisschen offensiver vom … Dr. Merkel: Nee, äh ich. Aber er ist in dem Fall leichter zu überreden. Unterschiedliche Ärzte aus dem Leitungsteam repräsentieren verschiedene medizinische Kulturen. Die einen sind eher abwartend, während die anderen eher aggressiver an ein Problem herangehen. Auch in der Frage, ob und wann therapeutische Versuche aufgegeben werden sollen, herrschen unterschiedliche „Stile“ in den verschiedenen Abteilungen48. Erfahrenere Stationsärzte können sich jeweils an einen ankoppeln, der ihren Präferenzen entspricht und so Verbündete für die von ihnen bevorzugte Herangehensweise gewinnen. Die Entscheidungen laufen hier nicht gegen die Autorität des Vorgesetzten, sondern an ihm vorbei, indem wie hier aus organisatorischen Gründen sich ergebende Variationen der Dienstwege geschickt genutzt werden. Stationsärzte können bei solchen Gelegenheiten Freiheiten gewinnen, um ihren individuellen medizinischen Stil zu entwickeln. Gleichsam auf der Hinterbühne einer Organisation mit steilen Hierarchien und einer Vielzahl formalisierter Arbeitsroutinen zeigen sich hier Spielräume des Entscheidens. Differenzen über die richtige Art und Weise der Behandlung unter den leitenden Ärzten können aber auch auf dem Rücken der Stationsärzte ausgetragen werden. Für diese erscheint der Konflikt dann weniger als Freiraum, selbst entscheiden zu können, denn als zusätzliche Last, die es zu bewältigen gilt: 2. Ärztliche Hierarchie 241 Reattribuierung der Entscheidungsverantwortung: „Diese Schusslinie ist irgendwie eine Sache, die spielt eine entscheidende Rolle im Krankenhausalltag” Ein 29-jähriger Weiterbildungsassistent auf einer internistischen Lungenstation berichtet von einer Situation, wo sich Ärzte bei einem Patienten die Frage gestellt haben, ob man noch weitere therapeutische Versuche wagen oder lieber alle weiteren Maßnahmen unterlassen solle. Während der Chefarzt anordnet, die Maßnahmen einzufrieren, ist der Oberarzt der Meinung, dass man dem Patienten noch eine Chance geben solle. Der junge Arzt erlebt sich nun in einem Loyalitätskonflikt zwischen seinen beiden Vorgesetzten. Mittlerweile habe er es aber gelernt, durch eine ausführliche Gesprächsdokumentation in der Patientenakte aus der Schusslinie zu gelangen. Er würde nun in die Patientenakte hineinschreiben, dass während der Visite dieses bzw. jenes besprochen worden sei und dann wäre jeweils der Arzt verantwortlich, der die letzte Anordnung getroffen habe: »Ja, und es kommt der Chefarzt durch und sagt, wir frieren die Maßnahmen ein, hier passiert nichts mehr, kriegt keine kreislaufstützenden Medikamente mehr, die Beatmung wird nicht mehr intensiviert und kriegt keine antibiotische Therapie mehr, nichts Therapeutisches mehr, sondern der kriegt nur noch Flüssigkeit und wird beatmet mit Raumluft und wenn er stirbt, stirbt er und wenn er sich verschlechtert, lassen wir ihn sterben. Das ist eine Sache, die, wo unser Chef zum Beispiel relativ schnell bei der Sache ist, wenn er irgendwo sieht, da passiert nichts mehr, das ist eine Sache, die ich im Grunde auch unterstütze, dann sagt er: „Wir frieren hier die Maßnahmen ein, hier passiert nichts mehr.“ Und der Oberarzt ist aber anderer Meinung. Der sagt: „Dieser Mann hat noch eine Chance, bei dem sollten wir noch mal versuchen, den können wir jetzt nicht so einfach so aufgeben“ und so weiter und man steht als Stationsarzt dazwischen, nicht? Einerseits eine Vorgabe von ganz oben, die du irgendwie verwirklichen willst, aber andererseits jemand, der weisungsbefugt ist und versucht, trotzdem noch von einer anderen Seite das Problem, das du von oben hast, zu umgehen, und wo du dann aber in der Schusslinie bist, wenn der Chef dann noch mal vorbeikommt und sieht: „Ja Mensch, wieso kriegt denn der jetzt wieder dies und dies Medikament. Ich hatte doch das und das gesagt.“ Und dann möchtest du aber auch nicht illoyal jetzt gegenüber dem Oberarzt sein, sondern versuchst vielleicht auf einer gewissen Ebene eine Argumentation [...] das habe ich auch schon erlebt [...]. Wo dann der Oberarzt das irgendwie weitermachen will und ja genau die, was man da macht und heutzutage versuche ich das. Woran ich mich lang hangele ist eine gute Dokumentation. Dass, wenn der Chef kommt, was sagt, dass ich’s aufschreibe und sage: Visite mit Professor soundso, es wurde festgelegt, sämtliche Maßnahmen sollen eingefroren werden aus den und den Gründen, zack, Unterschrift, Datum, und dann ist so was schriftlich fixiert. Dann hat man immer was, auf das man sich berufen kann und wenn dann der Oberarzt eine andere Entscheidung trifft oder das irgendwie machen will, kann man andeuten, dass ähm der Chef das jetzt irgendwie anders gesagt hat. Aber wenn er darauf besteht, muss man’s machen und dann kann man aber ähm, dann ist er ja in der Schusslinie wenn irgendwas passiert. Diese Schusslinie ist irgendwie eine Sache, die spielt ne entscheidende Rolle im Krankenhausalltag, nicht? Wer schießt auf wen? Und sich da rauszuhalten und irgendwie da so zu lavieren, da durchzukommen, ohne viel Federn zu lassen«. Der Entscheidungskonflikt über die Frage, wann der richtige Zeitpunkt ist, die therapeutischen Versuche aufzugeben, wird hier nicht direkt zwischen den Protagonisten der jeweiligen Entsche idungsalternativen ausgetragen, sondern über den Stationsarzt. Dieser kommt zunächst in einen Loyalitätskonflikt, wem er es denn nun recht machen solle. Dem Arzt gelingt es jedoch über den Rekurs auf die Patientenakte, den Konflikt an die Kontrahenten zu reattribuieren. Indem er die Entscheidung personalisiert in der Patientenakte fixiert, wird die Verantwortlichkeit für das medizinische Handeln formal eindeutig zugerechnet. Dem Arzt gelingt es hierdurch, immer nur als das ausführende Organ des jeweils anordnenden Vorgesetzten zu erscheinen. Der Konflikt bleibt außerhalb seiner Person. Weder die emotionale Last der prekären Entscheidung noch die Verantwortung für dieselbe muss von ihm getragen werden. Hierdurch bleibt er sozusagen außerhalb des eigentlichen Spiels. Auch in diesem Entscheidungskonflikt ist der medizinisch- VI. Ärztliches Feld 242 fachliche Diskurs irrelevant. Entscheidend für den jungen Arzt ist nicht die Frage, was denn aus medizinischen oder ethischen Gründen das Richtige zu tun sei, sondern die Frage, wie man am elegantesten aus der Schusslinie kommt. Abschließend: Es stellt sich die Frage, inwieweit und auf welcher Ebene die hier vorgelegten Analysen verallgemeinerbar sind. Selbstverständlich lassen sich immer auch Beispiele finden, in denen die Dinge im Krankenhaus anscheinend anders liegen, die Beziehung zum Chefarzt sich harmonischer gestaltet oder - umgekehrt - die ärztliche Macht noch brutaler zu Tage tritt49. Vom Einzelfall abstrahierend erlaubt die Analyse jedoch einen grundsätzlichen Blick auf die Machtverhältnisse im Krankenhaus. Unabhängig davon, ob und wie sie im Einzelfall ausgespielt werden, stellt Macht in den hier beschriebenen Formen ein zentrales und konstitutives Moment des ärztlichen Feldes dar, das als originär soziale Dimension quer zur medizinischen Wissens- und Kompetenzdimension liegen kann. Ein Stationsarzt kommt nicht umhin, sich in seinen ärztlichen Entscheidungen den spezifischen Bedingungen der ärztlichen Hierarchie stellen zu müssen, sei es aus Gründen der Absicherung, der Vermeidung von Konflikten mit seinen Vorgesetzen oder sei es nur aus diplomatischen Gründen, um in eine gute Ausgangslage für seine weitere Karriere zu erlangen. Die Rollen und Funktionen sind hier in allen Abteilungen klar verteilt. Der Stationsarzt muss den Spagat leisten, einerseits die übergeordneten Hierarchieebenen nicht übermäßig zu belasten, jedoch andererseits sich im Hinblick auf die „Distribution“ von Verantwortung immer wieder die Absicherung von oben zu suchen. Gleichzeitig muss er widersprüchliche Anweisungen balancieren und einen Mittelweg in organisatorischen und ärztlichen Interessenkonflikten finden. Die steile Hierarchie im Krankenhaus steht damit nicht im Widerspruch zur Forderung, dass auch der kleine Arzt autonom zu handeln habe. Chefärztliche Macht inszeniert sich auch als „MetaEntscheider“. Der Chef lässt sich nicht fragen, sondern entscheidet selber, wenn und wann er entscheidet. Im Einzelfall kann der chefärztliche Habitus gleichsam totalitäre Züge purer Willkür annehmen. Systemisch erfüllt dieser Entscheidungsmodus die Funktion einer wichtigen Funktion in der Kontingenzbewältigung: Die Chefentscheidung wird zum Joker in schwer entscheidbaren Fällen. Die Oberärzte haben in der ärztlichen Hierarchie eine Mittler-Rolle inne. Fachlich informiert über die Geschehnisse auf der Station übernehmen sie eine Mitverantwortung in den schwierigen und kritischen Fällen. Im Einzelfall stehen einzelne Oberärzte allerdings auch für Konfliktlinien im Hinblick auf verschiedene Entscheidungsstile und -kulturen. 3. Externe Ärzte Die Frage, welche Ärzte noch als „dazugehörig“ und welche eher als „draußen stehend“ zu betrachten sind, hängt natürlich davon ab, wie ein Beobachter jeweils die Systemgrenzen legt. Wenn das jeweilige Krankenhaus als die Einheit betrachtet wird, müssen alle ambulanten Ärzte, aber auch die Ärzte der anderen Häuser als außerhalb stehend gesehen werden. Unterscheidet man jedoch danach, welche Ärzte in einen konkreten Fall involviert sind, dann stehen in der Regel die anderen Stationsärzte, meistens auch der Chefarzt außerhalb der Betrachtung, während unter Umständen ein Hausarzt mit im Zentrum des Behandlungssystems zu sehen ist. 3. Externe Ärzte 243 Im Sinne meiner Untersuchungsfragestellung macht es jedoch eher Sinn, die Systemgrenzen an den Linien und Schnittstellen der Entscheidungskommunikation festzumachen. Es ist hier also nach der organisatorischen Einheit ärztlicher Entscheidung zu suchen. Unter diesem Blickwinkel stehen etwa die Hausärzte außerhalb des Entscheidungsprozesses, denn, wenngleich sie möglicherweise selbst die Einweisung veranlasst haben, sind sie im weiteren Diskurs über das Fallprozedere - wenn überhaupt - nur rudimentär beteiligt. Der Fall eines Patienten, wenngleich oftmals dokumentiert in Arztbriefen und Befunden, die die vergangene medizinische Karriere beschreiben, wird in jedem Krankenhausaufenthalt neu verhandelt. Die Krankengeschichte muss durch die nun behandelnden Ärzte erneut rekonstruiert werden und nur diesen obliegt es, über das weitere Prozedere des in ihre Obhut gegebenen Patienten zu entscheiden. Die eigentliche organisatorische Einheit der Entscheidung liegt deshalb bei der Station. Nur die behandelnden und supervidierenden Ärzte tragen für diesen Prozess die Verantwortung. Dies drückt sich formell in dem abschließenden Arztbrief aus, der von einem Stationsarzt, einem Oberarzt und dem Chefarzt unterschrieben wird. In diesem Sinne stehen auch die Ärzte der anderen Stationen und Abteilungen, selbst die angeforderten Konsiliarii sind außerhalb der jeweiligen Entscheidungsverantwortung - der Konsiliarius berät die Station, muss aber nicht über das weitere Prozedere entscheiden. Chefund Oberärzte können sich über diagnostische Urteile und Therapieentscheidungen der hinzugezogenen Fachkompetenz hinwegsetzen. Selbst Urteile von Oberärzten einer Nachbarstation aus dem gleichen Haus können „verloren gehen“50. Stationsgrenzen stellen „Schnittstellen“ dar, an denen jeweils selektiv entsprechend der eigenen medizinischen Kultur Informationen gefiltert und rezipiert werden. Die folgenden Beispiele illustrieren die strukturellen Besonderheiten der Organisation Krankenhaus im Hinblick auf die Systemgrenzen (a), insbesondere aber auch im Hinblick auf die Beziehung zu den konsiliarischen Ärzten (b) und den Ärzten des ambulanten Bereichs (c). Die Bedeutung dieser strukturellen bzw. systemischen Bedingungen für die Ausformung der ärztlichen Entscheidungsprozesse wird in Kapitel VII. anhand ausführlicher Fallanalysen herausgearbeitet. (a) Systemgrenzen Für Außenstehende, selbst wenn diese selber Ärzte sind, ist es nicht immer leicht, einen Einblick in die konkreten Arbeitsabläufe einer medizinischen Abteilung gestattet zu bekommen: Ausgrenzung externer Ärzte: „Das nehme ich auf meine Kappe ... Sie haben es mir gesagt, und ich habe es nicht gehört” Die Oberärztin informiert ihren Kollegen, dass ein Gynäkologe eines anderen Krankenhauses den Wunsch geäußert habe, bei der Operation eines seiner Patienten anwesend zu sein. Der Oberarzt antwortet ihr daraufhin, dass er den Mann nicht dabei haben wolle. Deshalb würde er jetzt einfach so tun, als ob er die Anforderung überhört habe: Oberärztin Dr. Puls: Der Gynäkologe vom Krankenhaus Burgtal wollte auch bei der Operation dabei sein. Dr. Peters (leitender Oberarzt): Den Gynäkologen möchte ich aber nicht dabeihaben. Dr. Puls: Er hat es mir gesagt, ich solle ihm Bescheid sagen. Dr. Peters: Das nehme ich auf meine Kappe ... Sie haben es mir gesagt, und ich habe es nicht gehört. 244 VI. Ärztliches Feld In die „Innenwelt“ der ärztlichen Sphäre einer Station können „Externe“, selbst wenn sie selbst vom Fach sind, nur schwer eindringen. Diesbezügliche Anliegen können leicht abgewehrt werden, ohne dem Gegenüber die Ablehnung offen kommunizieren zu müssen. Das, was innen verhandelt wird, braucht in der Außendarstellung nicht kommuniziert zu werden. Kommunikationspannen („ich habe es nicht gehört“) und andere Zufälle können leicht vorgetäuscht werden und genau in diesem Sinne bleibt das jeweilige Subsystem autonom, wahrt sich die eigene Sphäre und die eigenen Gesetze. Auch zwischen den unterschiedlichen Abteilungen eines Krankenhauses bestehen klare Grenzen. Übergriffe des jeweils anderen auf die eigene Arbeitsorganisation werden in der Regel nicht geduldet: Innere: „Hat doch keinen Sinn, die Chirurgen hoch zu holen” Eine Stationsärztin der internistischen Station erzählt einem Kollegen, dass die Chirurgen die Abteilung in schriftlicher Form aufgefordert hätten, ihnen nicht immer die internistischen Patienten in die chirurgische Notaufnahme zu schicken. Der Kollege bemerkt daraufhin, dass es doch keinen Sinn mache, bei chirurgischen Fragen immer einen chirurgischen Konsiliarius auf die Station zu holen: Donnerstag, 29.3.01 9:00 im Stationszimmer Dr. Reif: Jetzt war ja der offizielle Brief, dass wir die (Patienten) nicht mehr runter schicken sollen (in die Erste Hilfe der Chirurgie). Dr. Boller: Das haben wir doch immer so gemacht ... hat doch keinen Sinn, immer einen Chirurgen hoch zu holen. Dr. Martin: Die sind jetzt überfordert. Die auf den ersten Blick unverständliche Anordnung der Chirurgen, ihre Fachkompetenz über den Umweg einer schriftlichen Anforderung einzufordern, macht in einer anderen Hinsicht Sinn: Sie hilft, die Autonomie der eigenen Abteilung gegen Durchgriffe der anderen Abteilung zu sichern, denn im Gegensatz zu dem Verfahren, einfach die Patienten ungefragt runterzuschicken, wird es den Chirurgen nun selbst möglich zu entscheiden, ob, wann und wo sie die von ihnen angefragte Expertise geben können. Selbst wenn dies für die Ärzte zusätzliche Wege bedeutet, so scheint es diese Mühe wert zu sein, wenn dadurch Übergriffe der anderen Abteilungen auf die Organisation der eigenen Arbeit - die dann möglicherweise auch abrechnungstechnische Nachteile mit sich bringen - abgewehrt werden können. Es liegt in der interdisziplinären Natur vieler medizinischer Arbeitsprozesse, dass die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten hinsichtlich einer Reihe medizinischer Fragen aus inhaltlichen Gründen nicht eindeutig zugewiesen werden können. In all diesen Fällen ist es für die Identität der beteiligten Akteursgruppen um so wichtiger, formell die Zuständigkeiten festzulegen, ansonsten droht die Gefahr von Entscheidungsunsicherheit und Konfusion unterschiedlicher medizinischer Rationalitäten51. 3. Externe Ärzte 245 (b) konsiliarische Ärzte Manchmal wird das fachliche Urteil eines medizinischen Experten einer anderen Abteilung benötigt. Dem formellen Weg folgend muss hierzu schriftlich ein Konsil angefordert werden52. Konsiliarische Ärzte werden oft geholt, um sich in prekären Fragen abzusichern. Die andere Meinung kann aber auch verunsichern oder gar im Widerspruch zu den eigenen Absichten stehen, wie die zwei folgenden Beispiele aufzeigen: Ärztlichkeit vs. Medizinalität: „Ist ja ein Arschloch” Herr Minker, ein 80 Jahre alter kardiologischer Patient, kommt aufgrund einer hypertensiven Krise (hoher Blutdruck) in die Notaufnahme des Universitätsklinikums. Die Ärzte vermuten eine Aortenstenose und beschließen, den Patienten stationär aufzunehmen. Schließlich landet der Mann in einem freien Bett auf der onkologisch-hämatologischen Station. Während der Oberarztvisite stellt der Stationsarzt den Fall vor. Der Oberarzt hält aufgrund der klinischen Befunde den Fall für nicht so dramatisch. Anstelle invasiver diagnostischer Maßnahmen, wie z. B. einem Herzkatheter oder gar einem chirurgischen Eingriff, vermutet er, dass ein gut eingestellter Blutdruck ausreichen würde. Da es sich hier jedoch um einen komplexen Fall handele, solle man auf jeden Fall die Kardiologen hinzuziehen. Im Gespräch mit dem Patienten erfahren die Ärzte, dass Herr Minker noch gut Treppen steigen könne und darüber hinaus auch weitere invasive Therapien ablehne. Der Oberarzt begrüßt die Haltung des Patienten („der Mann spricht mir aus der Seele“). Die folgenden Tage versuchen die Ärzte, den Blutdruck medikamentös einzustellen und fordern darüber hinaus noch ein kardiologisches Konsil an. Fünf Tage später untersucht ein Kardiologe den Patienten. Dieser traut sich jedoch noch kein abschließendes Urteil zu und will noch eine transösophagale Echokardiografie (ein „Schluckecho“) durchführen lassen. Als der Oberarzt hiervon erfährt, bemerkt er, dass der Kardiologe ein Arschloch sei. Er beschließt, den Patienten mit dem mittlerweile gut eingestellten Blutdruck zu entlassen und gibt dem Stationsarzt Anweisungen, was im Arztbrief zu stehen habe: Donnerstag, 8.11. 9:40 Oberarzt-Visite Dr. Merkel: Herr Minker ... 80 Jahre alt... kardiologischer Patient von der Aufnahmestation .... dreifach KHK ... dreifacher Bypass ... Aortenstenose ... hatte hypertensive Beschwerden ... (weitere medizinische Details werden benannt) Dr. Merkel: Müssen wir die Kardiologen ... Aortenstenose ist ja eindeutig eine OP-Indikation ... Oberarzt Prof. Krause (blättert die Patientenakte durch): Und die Aortenstenose ist hier festgestellt? Stationsarzt: Ja, erst jetzt. Oberarzt: Jetzt würde ich sagen „die Klinik geht vor“ ... die OP-Indikation bleibt zwar im Raum, würde aber in den Hintergrund treten ... da bin ich altmodisch ... Dr. Merkel: ... braucht ein Langzeit-Blutdruck .. und einen Herzkatheter ... Oberarzt: ... würde jetzt provozieren: der braucht einen gut eingestellten Blutdruck, aber keinen Katheter ... wenn der vier Treppen steigen kann, dann hat der keine Stenose ... (die Ärzte diskutieren noch ein wenig weiter über den Fall) Oberarzt: Machen wir ein Langzeitblutdruck und dann könnte man die Beta-Blocker überlegen ... und dann bekommt er ja auch kein Diurethika, sollte er auch bekommen ... und warum hat der Sortis? ... Fettsenker ... bei einem 80-Jährigen Prophylaxe ... soll der denn 120 werden? ... gut, auf jeden Fall die Kardiologen hinzuziehen ... ist ein komplexer Fall ... 246 VI. Ärztliches Feld (im Patientenzimmer) (Der Patient wird von dem Oberarzt ausführlich untersucht und auf seine Symptomatik hin befragt. Dabei scheint sich herauszustellen, dass die deutlich hörbaren Herzgeräusche schon seit drei Jahren bestehen und der Patient zu Hause noch zu Fuß den vierten Stock erreichen könne.) Oberarzt: Wir versuchen, ihren Blutdruck besser einzustellen und hoffen, dass wir keine weiteren Eingriffe durchführen müssen ... Herr Minker: Das kann ich Ihnen garantieren ... ich lasse nichts mehr mit mir machen ... ich bin jetzt 80 Jahre alt und habe eine liebe Lebensgefährtin, mit der ich sehr viel mache ... dann rausfahren, so weit es geht ... es gibt ja sehr viele schöne Orte hier in der Nähe ... nach der Bypass-Operation, da habe ich ein Jahr gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen ... das will ich nicht mehr ... nicht wieder ein Jahr verlieren, von der wenigen Zeit, die mir noch bleibt ... die Zeit will ich noch leben und wenn ich dann irgendwann umfalle, dann ist auch gut, ich bin ja ein alter Mann. (Auf dem Gang) Oberarzt Krause (zum Beobachter): Der Mann spricht mir aus der Seele ... Dienstag, 13.11. 9:45 Oberarztvisite (Auf dem Gang) Stationsarzt Merkel: Herr Minker ... war dann der Herr Messner [der Kardiologe] da ... wollte dann noch ein TOE [trans-ösophagales-Echo] machen ... Oberarzt Prof. Krause: Äh .... ist ja ein Arschloch ... Oberarzt: (schaut sich die Kurve von Herrn Minker an): ... und der Blutdruck ist ja jetzt gut ... schreiben wir jetzt in den Arztbrief: „Hypertensive Krise“ ... „hier dann eingestellt“ ... „Patient lehnt invasive Maßnahmen ab ... für eine Aortenstenose besteht klinisch kein Hinweis ... kann 4 Treppen steigen ... gegebenenfalls den Blutdruck besser einstellen ... Beta-Blocker“. Der Stationsarzt argumentiert hier im Sinne des üblichen kardiologischen Rationals, nämlich die Sache erst einmal gründlich diagnostisch abzuklären, notfalls gar durch eine Herzkathete runtersuchung53. Dieses Vorgehen würde der an einem Universitätsklinikum üblichen Kultur der Maximierung von Therapie und Diagnose entsprechen54. Diese Strategie wird hier durch den Oberarzt durchkreuzt. Als internistischer Facharzt hat er genug Fachkompetenz, um die klinische Situation des Patienten beurteilen zu können, unterliegt aber als „Fachfremder“ nicht in vollem Maße den Rationalitätszwängen einer universitären Kardiologie. Während derselbe Oberarzt in seinem onkologischen Bereich bei gegebenem medizinischem Rational auch zur Therapiemaximierung tendiert, scheint es ihm hier eher erlaubt, sich mehr vom Gefühl des gesunden Menschenverstandes leiten zu lassen55. Der Patient spricht ihm aus dem Herzen, während der Kardiologe, der nur seine Pflicht der diagnostischen Klärung erfüllen will, gar als Arschloch tituliert wird. Das Handeln des Oberarztes erscheint hier als menschlicher Gegenhorizont zu einer kalten Medizinalität, die jedoch andererseits genau von dem angeforderten Spezialisten verlangt wird – medizinsystemisch erwartet man vom Konsiliarius eine medizinische Expertise und nicht eine ärztliche Entscheidung56. Das Fachurteil eines anderen Spezialisten ist ein Vorschlag, dem – wenn man wie hier aus einer umfassenden Perspektive die Lebensumstände des Patienten berücksichtigt - nicht entsprochen werden muss. Der erfahrene Arzt in Leitungsposition kann sich immer auch im Sinne einer ärztlichen Kunst57 gegen den Strich medizinischer Sachzwänge entscheiden – dies um so leichter, je weiter er von der Disziplin entfernt ist, die diese Sachzwänge formuliert. Formal muss jedoch das medizinale Rational geschlossen werden. Im Arztbrief muss ein geschlossenes Narrativ stehen, indem die Unsicherheiten in Eindeutigkeiten verwandelt 3. Externe Ärzte 247 worden sind. Mit dem Hinweis auf die Patientenentscheidung und die markante Heraushebung der Leistungsfähigkeit des Patienten wird einer möglichen Kritik an dem Verzicht auf weitere Diagnostik der Wind aus den Segeln genommen. Die Stationsärzte werden diesbezüglich wörtlich durch den Oberarzt instruiert, denn er scheint das notwendige Fingerspitzengefühl bei seinen jungen Kollegen noch nicht vorauszusetzen. Perspektivendivergenz: „Immer wenn wir was wollen, heißt es ‚wozu denn das jetztʼ” Am Montag wird ein 46 Jahre alter Mann auf die hämatologisch-onkologische Station eingewiesen. Der Patient leidet unter starkem Lymphombefall der Leber. Am Freitag verschlechtern sich die Laborwerte weiter. Die Niere, ein Transplantat, droht zu kollabieren. Der Stationsarzt telefoniert mit der nephrologischen Abteilung und erklärt die klinische Problematik. Daraufhin kommt kurze Zeit später eine Nephrologin auf die Station. Zwischendurch fragt die Ärztin im Praktikum, ob man dem Patienten Morphium geben solle. Schulter zuckend stimmt der Stationsarzt zu. Einige Minuten später kommt die Nephrologin ins Arztzimmer. Die Ärzte unterhalten sich über den Fall. Die Nephrologin erklärt sich zunächst bereit, den Patienten zur Dialyse aufzunehmen, und schaut sich dann die Patientenakte etwas genauer an. Daraufhin fragt sie den Stationsarzt nach der Prognose. Dieser antwortet, dass nichts mehr zu machen sei. Die Nephrologin fragt, ob denn unter diesen Bedingungen eine Dialyse überhaupt noch Sinn mache, da man dem Patienten jetzt sowieso schon Morphium geben würde. Hierauf antwortet der Stationsarzt lakonisch, ob er den Patienten gleich durch eine Kaliumchloridspritze umbringen solle. Nachdem die Nephrologin den Raum verlassen hat, beklagt sich der Stationsarzt beim Beobachter über die Ärztin. Immer würden die fragen, wozu denn die Maßnahme noch gut sei. Dafür wäre es jetzt aber noch zu früh, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Ebenso würden sich auch die Chirurgen gegenüber der Onkologie nicht als Dienstleister begreifen, sondern immer nur klagen, mit was für Patienten man bei ihnen ankommen würde: Freitag, 9.10.01 8:40 im Arztzimmer Dr. Kringe (telefoniert mit der Dialysestation, Nephrologie) ... Kreisling ... heute indolent ... gestern ging es ihm noch besser ... die Niere versagt ... (nennt die Kreatinin- und Harnstoffwerte) ... ja, ein sehr schlechter Allgemeinzustand .... die Tumormasse in der Leber lysiert ... die Prognose? Bei dem Subtyp der AML ... eher schlecht behandelbar ... dazu kommt, dass wir ihm jetzt mit der transplantierten Niere nicht die volle Dosis Chemotherapie geben können ....ja, er hat ja noch gearbeitet ... mit der Niere lief es bisher ganz gut. [...] Ärztin im Praktikum (kommt rein): Wer war das? Dr. Kringe: die Nephrologin Ärztin im Praktikum: Soll ich ihm jetzt Morphin? Dr. Kringe: (Schulterzucken) Jo Ärztin im Praktikum: 1 mg 8:50 im Arztzimmer) Ärztin (kommt ins Zimmer): Ich bin Frau Brand, eben mit Herrn Kringe telefoniert ... wo ist denn der Patient ... Herr Kreisling Beobachter: (zeigt der Ärztin den Raum) 248 VI. Ärztliches Feld Im Patientenzimmer (Dr. Kringe und die AiP kommen noch mit hinzu) Dr. Brandt: ... (Diskussion) ... der Shunt ist jetzt schon seit vier Jahren zu ... ... braucht er Thrombozyten ... dann jetzt über das Ding, über den Hals die Dialyse ... dann über einen extra Zugang Flüssigkeit ... braucht aber vorher wegen der Blutung noch Erythrozyten ... Dr. Brandt: Das Krea ist jetzt sehr hoch ... ist jetzt nicht von der Ernährung wie ich dachte. AiP: Ich gebe jetzt ein wenig Mo. Spricht da jetzt etwas dagegen Ihrerseits? Dr. Brandt: Könnt ihr machen ... sagt ihr dann Bescheid, wenn er das Erythrozytenkonzentrat hat ... mache ich dann oben schon einen Termin klar. Im Arztzimmer (Dr. Brandt kommt noch mit rein und schaut sich mit Dr. Kringe die Akte von Herrn Kreisling mit Dr. Kringe an) Dr. Kreisling: Kann ich die Akte? (schaut sich die Kurve an) ... der ist ja jetzt total leukopenisch ... hat er eine Infektion? Dr. Kringe: Eine leichte Lungenentzündung ... Dr. Brandt: Wie ist jetzt die Prognose? Dr. Kringe: Infaust Dr. Franke: Ist die Frage, ob die Dialyse jetzt überhaupt etwas bringt, oder eben nur das Wasser raus? Dr. Kringe: Na, ja! Dr. Franke: Aber ihr gebt ihm jetzt schon M., wozu jetzt noch? Dr. Kringe: Soll ich ihm dann gleich eine Kaliumchloridspritze geben? Und das war’s dann! (Dr. Kringe legt die Röntgenbilder vom Thorax von Kreisling auf ...) Dr. Kringe: Ist dann eine deutliche Verschlechterung. (Die Ärzte schauen kurz in die Patientenkurven.) Dr. Kringe: ... die Medikation ... jetzt am Tag 5 ... Dr. Franke: Ich schaue mir dann jetzt oben die Kurven an ... wenn ihr jetzt das TK drin habt, dann sagt ihr Bescheid. (Frau Dr. Franke verlässt den Raum.) Dr. Kringe (zu dem Beobachter): Die Frau Dr. Franke habe ich jetzt gegessen ... immer wenn wir was wollen heißt es „wozu denn das jetzt“ ... gut, er hat jetzt eine schlechte Prognose ... ist aber jetzt zu früh, eine endgültige Entscheidung zu treffen ... und wenn jetzt ein Nierenversagen vorliegt, dann muss eine Dialyse laufen ... ist dann eine Dienstleistung von denen ... ist jetzt auch so bei den Chirurgen. Wenn die dann einen da haben mit Bauchschmerzen, dann machen die den auf und schauen nach, operieren sofort, auch wenn da gar nichts ist ... aber wenn wir Internisten kommen, dann zieren die sich und sagen „was wollt ihr denn wieder, ihr kommt ja sowieso immer mit so ’nem Zeugs. ... (beim Rausgehen) ... die schwierige Frage ist jetzt, ob er noch auf die Intensiv soll oder nicht, dass ist jetzt wirklich eine schwierige Entscheidung. Die zur konsiliarischen Hilfe gerufenen Spezialisten stehen außerhalb der unmittelbaren Verantwortung für die Patientenführung. Als Außenstehende sind sie nicht von der „Klebrigkeit“ der Arzt-Patient-Beziehung berührt. Das Todesurteil kann anonym per Aktenlage festgestellt werden und braucht dem Patienten und den Angehörigen gegenüber nicht verantwortet werden. Entsprechend fällt es aus dieser Position leichter, alle weiteren Therapiemaßnahmen in Frage zu stellen. Für den Stationsarzt demgegenüber bedeutet eine Therapie zu unterlassen auch, sich rechtfertigen und verantworten zu müssen. Es gelten hier zwei unterschiedliche Rationalitäten. Die Frage „wozu denn das jetzt“ kann nur von außen gestellt werden. In der Expertise gilt die 3. Externe Ärzte 249 nüchterne medizinische Rationalität - die Fakten sagen eindeutig, dass weitere Maßnahmen keinen Sinn mehr haben. „Drinnen“, in den Fall involviert, gilt ein anderes Gesetz. In einer dem Patienten verpflichteten Betreuung darf auch ein aussichtsloser Fall nicht so ohne weiteres im Stich gelassen werden. Auf der handlungspraktischen Ebene muss auch hier ein Mittelweg gefunden werden, im Sinne der ärztlichen Identität weiter helfend beistehen zu können. Theoretisch wäre in solchen Fällen zwar auch ein anderer praktischer Beistand möglich, nämlich dass der Arzt aktiv handelnd den erlösenden “guten Tod” bringt (Euthanasie). Für deutsche Ärzte ist vor dem besonderen geschichtlichen Hintergrund eine solche Position kaum denkbar58. Die Giftspritze erscheint hier nur als eine zynische, menschenverachtende Alternative. Die unterschiedlichen Perspektiven der hier auftretenden Akteure scheinen hier – zumindest aus der Perspektive des Stationsarztes - kognitiv nicht vereinbar und finden stattdessen - wie im vorangehenden Beispiel ihren Ausdruck in der moralischen Abwertung des jeweils anderen („die habe ich jetzt gegessen“). Die emotionale Abreaktion ist hier auch im soziologischen Sinne eine durchaus verständliche Reaktion im Hinblick auf die Tatsache, dass es hier um Existenzielles geht, aber die jeweiligen Perspektiven nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Die jeweils eingenommenen Positionen sind innersystemisch bzw. strukturell bedingt zu sehen. Der gleiche Arzt, der in einem Fall dem hinzugerufenen Experten Unmenschlichkeit assistiert, wird in anderen Fällen – selbst als Konsiliarius tätig – eine ähnliche medizinale Position einnehmen. Unter dem Blickwinkel der Unvereinbarkeit der medizinischen, ärztlichen und menschlichen Perspektiven erscheinen einige oftmals auf den ersten Blick erschreckende Verhaltensweisen von Ärzten verständlich, die normalerweise vorschnell als Zynismus oder Unmenschlichkeit attribuiert werden. Wenn etwa – wie beobachtet – ein Stationsarzt der Onkologie einen Kollegen mit lauten, aggressiv klingenden und über den Gang hörbaren Worten von der Station abholt, “Komm, Uwe, das hat doch sowieso keinen Sinn, was du hier machst”, so ist dieses “ungehörige” Verhalten aus soziologischer Perspektive nicht nur durch „den Charakter“ der jeweiligen Ärzte zu erklären, sondern als Phänomen einer oft kaum aushaltbaren Spannung zwischen den divergierenden Perspektiven ärztlicher Arbeit zu verstehen. (c) Ärzte des ambulanten Bereichs Der Regelfall auf allen beobachteten Stationen besteht darin, den Hausarzt wie auch andere ambulante Ärzte während des Klinikaufenthaltes nicht in den therapeutischen und diagnostischen Prozess einzuschalten59. Die behandelnden Ärzte versuchen üblicherweise, sich aus der Aktenlage heraus und den von ihnen veranlassten Untersuchungen ein eigenes Bild zu machen – konstruktivistisch gesprochen: ihre eigene Gestalt zu schließen. Luhmanns Diktum folgend, dass sich Ärzte an dem orientieren, was sie wissen, und nicht danach, was sie nicht wissen60, organisiert sich ärztliches Handeln in medizinischen Organisationen aus sich selbst heraus, entsprechend den organisationseigenen Gesetzen und Routinen. Die Umwelt – auch die medizinische Umwelt – interessiert so lange nicht, insofern man intern handlungs-, das heißt entscheidungsfähig bleibt. Erst wenn dies nicht gelingt, wenn die üblichen Rationals von Diagnose zur Therapie bzw. Diagnose zur weiterführenden Diagnose zu keinem schlüssigen Ergebnis führen, wird im weiteren Umfeld nach Informationen gesucht, und in diesem Zusammenhang werden dann manchmal auch die Hausärzte zu Rate gezogen. Gesundheitspoltisch mag man die mangelnde Verzahnung von ambulantem und stationärem Bereich sowie die mangelnde Kooperation verschiedener Disziplinen bedauern. Systemtheoretisch macht jedoch die beklagte „Selbstreferenz“ Sinn, denn 250 VI. Ärztliches Feld nur über die Orientierung an den eigenen Programmen und Entscheidungen rekonstituieren sich die Organisationen innerhalb ihrer jeweiligen Grenzen als eigene Identität. Ambulante Ärzte ebenso wie andere Krankenhäuser gehören - systemisch gesprochen - zur „Außenwelt“. Die verschiedenen „Welten“ können sich zwar wechselseitig durchdringen, jedoch nur in dem Sinne, dass die eine als Dienstleister der jeweils anderen (und umgekehrt) erscheint. Aus diesem Grunde wird für das Krankenhaus der ambulante Bereich (bzw. andere weiterversorgende Einrichtungen) in den meisten Fällen erst dann relevant, wenn die Entlassung des Patienten ansteht: Übergabe der Verantwortung: „Wir sollten den Hausarzt anrufen, denn über den ist er ja gekommen” Einem 58-jährigen Patienten wurde chirurgisch eine Nebennierenmetastase eines Bronchialkarzinoms entfernt. Vier Tage nach der Operation unterhalten sich Ober- und Stationsarzt über die Weiterbehandlung. Die Oberärztin erklärt, dass man jetzt den Hausarzt anrufen solle. Über diesen sei der Patient ja schließlich auch eingewiesen worden und nicht über die Spezialklinik für Lungenerkrankungen, die ihn zuvor behandelt habe. Jetzt müsse noch die Frage von Knochenmetastasen diagnostisch abgeklärt werden. Des Weiteren sei jetzt eine palliative Chemotherapie angesagt. Der Stationsarzt ergänzt, dass mittlerweile noch eine Nierenmetastase gefunden worden sei. Die Oberärztin spezifiziert den Befund und erklärt, dass der Patient selber entscheiden solle, wo er hin wolle. Der Stationsarzt ergänzt daraufhin, dass Herr Trampert mit der Behandlung in der Lungenklinik sehr unzufrieden sei, da er das Gefühl habe, dass man dort seine Krankheit verschleppt habe. Die Oberärztin wiederholt daraufhin nochmals, dass nun eine palliative Chemotherapie angesagt sei: Donnerstag, 9.3 15:30 Stationszimmer Stationsärztin Dr. Schneider: Bei Herrn Trampert müssen wir jetzt auch gucken, was wir machen ... Oberärztin Dr. Puls: ... wir sollten den Hausarzt anrufen, denn der ist ja über ihn gekommen, nicht über das Krankenhaus Wildpark und deswegen möchte ich den jetzt auch nicht übergehen ... Ein Szintigramm von den Knochen soll jetzt noch gemacht werden .... ne palliative Chemotherapie ist jetzt angesagt ... Stationsarzt Scholz: ... jetzt hat der eine Nierenmetastase Dr. Puls: ... auf der rechten Seite .... Dr. Puls: ... soll er jetzt selber sagen, wo er jetzt hin will ... Stationsarzt: ... mit Wildpark ist der jetzt unzufrieden, weil er das Gefühl hat, dass es dort verschleppt wurde. Dr. Puls: Chemotherapie ist jetzt angesagt. Die Aufgabe der chirurgischen Abteilung ist nun weitestgehend erledigt. Nur die fehlenden diagnostischen Prozeduren müssen noch nachgeholt werden, um das Bild noch zu vervollständigen. Nun, wo absehbar ist, dass der Patient das eigene Behandlungssystem verlässt, stellt sich die Frage der Weiterbetreuung. Erst hier kommen die Ärzte und Einrichtungen aus der „Umwelt“ des Krankenhauses wieder ins Spiel. Üblicherweise wird der Patient an den Arzt oder die Einrichtung zurückverwiesen, die ihn zuvor betreut hat, etwa den Hausarzt oder eine andere Fachklinik. Gegebenenfalls wird aber auch noch ein Sozialarbeiter ins Spiel gebracht, falls sich offensichtliche Lücken in der Weiterbetreuung zeigen61. Der Patient bleibt im medi- 3. Externe Ärzte 251 zinischen System, wechselt von einer spezifischen Organisation oder Einrichtung zur anderen. In den meisten Fällen laufen diese Übergänge stillschweigend und ohne größeres Aufsehen ab. In diesem Beispiel stellt sich die Sachlage etwas komplizierter dar: Das übliche Rational, den Patienten wieder an die Spezialeinrichtung für Lungenkrankheiten zu verweisen, kann nicht mehr vollzogen werden, da der Patient einem Teil des Behandlungssystems nicht mehr vertraut. Im Sinne der eindeutigen Verantwortungsübergabe ist es angesagt, einen Patienten an die Person (oder Einrichtung) im Medizinsystem zurückzugeben, die ihn überwiesen hat. Hierdurch definieren sich in den jeweiligen Behandlungsprozessen klare Grenzen – der Beginn und das Ende der Verantwortlichkeit ist systemisch eindeutig bestimmt. Innerhalb ihrer jeweiligen Institution sind die Ärzte frei und selbst verantwortlich, das zu tun, was ihrer eigenen Handlungslogik entspricht. Außerhalb der Institution ist jemand anderes für den Patienten zuständig, die bisher behandelnden Ärzte können die von ihnen übernommene Verantwortung wieder abgeben. In diesem Fall scheint zunächst eine Lücke hinsichtlich der Verantwortung für die Weiterbetreuung zu bestehen, denn der Hausarzt erscheint nicht unbedingt als die beste Adresse zur Weiterbehandlung der komplexen onkologischen Problematik. Allerdings sollte dieser hier nicht übergangen werden. Die Lücke in der Verantwortungsübernahme wird jedoch durch die Oberärztin geschickt geschlossen, indem dem Patienten die Verantwortung zugewiesen wird. Indem dieser aufgefordert wird, selber zu entscheiden, wo er hin wolle, entledigt sich die chirurgische Station der Aufgabe, auf die nachsorgenden Betreuungs- und Behandlungsalternativen tiefer eingehen zu müssen – dies wäre ja auch gar nicht die Aufgabe der Chirurgen. Im ambulanten und stationären Bereich herrschen jeweils andere Modalitäten im Hinblick auf die Finanzierung von Therapien und Diagnosen. Dies kann im Einzelfall zu Konflikten führen, die dann jedoch in der Regel nur verdeckt ausgetragen werden: Unterschiedliche (ökonomische) Rationalitäten: „Da hatte sich die Hausärztin aufgeregt, dass ich ihr dieses etwas teurere Medikament aufgeschrieben habe” Frau Marx, eine stark adipöse diabetische Patientin, liegt zur medikamentösen Einstellung ihres Blutdrucks auf der internistischen Station. Für die Stationsärztin gestaltet sich die Führung der Patientin schwierig. Zum einen zeigt sie sich wenig einsichtig, die Ernährungsgewohnheiten ihrem Krankheitsbild anzupassen und zum anderen behauptet sie, auf einige Medikamente allergisch zu reagieren. Die Ärztin verschreibt ihr daraufhin ein modernes, jedoch recht teures Hypertonikum. Nach ihrer Entlassung wird die Stationsärztin von der Hausärztin der Patientin angerufen. Diese habe nun Angst um ihr Budget. Später spricht die Stationsärztin den Fall nochmals an und bemerkt, dass man eigentlich vor jede Hausarztpraxis eine psychologische Betreuung schalten sollte: Frau Dr. Reif (auf dem Gang zum Beobachter): Jetzt ruft die Hausärztin von Frau Marx an, weil ich ihr Lorzaar verschrieben habe ... das ist recht teuer und die hat jetzt Angst um ihr Budget ... aber gegen alle anderen hat Frau Marx, wie sie sagt, eine Allergie. [...] Frau Dr. Reif (zum Beobachter): ... ist ja dann auch die Sache mit Frau Marx gewesen, da hatte sich die Hausärztin aufgeregt, dass ich ihr dieses etwas teurere Medikament aufgeschrieben habe ... hätte ich ihr sagen sollen: „Seien Sie doch froh mit ihr“, die ist doch jetzt eine außerordentlich gute Kundin von ihr ... eigentlich sollte man vor die Hausarztpraxis eine psychologische Betreuung vorschalten ... aber das ist zu teuer ... Im ambulanten und stationären Bereich (aber auch zwischen den verschiedenen medizinischen Disziplinen) herrschen jeweils unterschiedliche ökonomische Rationalitäten. Ein gängiger 252 VI. Ärztliches Feld Konflikt besteht in der Frage, was dem Patienten für eine Dauermedikation zu verschreiben ist. Insbesondere unter dem Druck der Budgetierung stehen die ambulanten Ärzte unter dem ökonomischen Zwang, sich genau zu überlegen, welches Medikament für längere Zeit verschrieben werden kann, während im Krankenhaus auch gerne die neueren Präparate eingesetzt werden62. Die Stationsärztin bagatellisiert hier den Konflikt. Eine Dauerpatientin ist nicht unbedingt eine gute Kundin, sondern kann sogar negativ ins Budget schlagen. Der Hinweis auf eine psychologische Betreuung, die eigentlich bei dieser Patientin angemessen wäre, lässt vermuten, dass die Stationsärztin eigentlich um diese Problematik weiß, dann aber doch den Weg des niedrigsten Widerstandes gegangen ist, nämlich der Patientin das gewünschte teure Medikament trotz vermuteter psychologischer Problematik zu verschreiben, die Frau dann im Sinne vernünftiger Liegezeiten rasch wieder nach Hause zu schicken und dann der Hausärztin das Problem zu überlassen. Entsprechend der unterschiedlichen systemischen Bezüge entwickelt sich hier kein gemeinsamer Behandlungsplan im Umgang mit der scheinbar schwer zu führenden Patientin. Im Sinne von Rohde (1974: 438 ff.) muss hier vielmehr von einer Gleichzeitigkeit von Kooperationen und Konkurrenzen ausgegangen werden. Die Ärzte aus Krankenhaus und freier Praxis erscheinen hier vielmehr als Kontrahenten eines Spiels, in dem versucht wird, dem jeweils anderen den schwarzen Peter an Problemen und Kosten zuzuschieben. Wenngleich wechselseitige Vorwürfe an den jeweils anderen unter vorgehaltener Hand oft zu hören sind – wie in der Beziehung der verschiedenen Abteilungen im Krankenhaus wird regelmäßig die Vermutung geäußert, dass die anderen schwierige Patienten abschieben würden - werden diese Konflikte eher selten offen ausgetragen, stattdessen im unmittelbaren Kontakt die übergeordnete Klammer „medizinischer Kooperation“ betont. Der offene Streit würde allzu leicht die Legitimationsbasis der eigenen Arbeit in Frage stellen. Lieber unterstellt man dem anderen stillschweigend einige Tricks und Manöver und richtet sein Verhalten entsprechend diesbezüglicher Erwartungen aus. Offensichtlich unterschiedliche Behandlungsrationalitäten verlangen manchmal nach strategischen Kompromissen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behandlung nur sinnvoll weitergeführt werden kann, falls die Position eines signifikanten externen Akteurs in der Therapieentscheidung berücksichtigt wird: Strategische Einbeziehung relevanter Akteure: „Ist ja auch nicht gut, wenn wir Sie in einen Konflikt mit dem Hausarzt bringen” Frau Masur, eine 50-jährige kardiologische Patientin, liegt mit einer Arrhythmie auf der internistischen Station. Dort versuchen die Ärzte, ihren Blutdruck besser einzustellen. Während der Chefarztvisite erklärt der Stationsarzt, dass man der Patientin bei dem letzten Aufenthalt auch Beta-Blocker verschrieben hätte. Diese habe der Hausarzt jedoch wieder abgesetzt. Frau Masur erklärt daraufhin auf Nachfrage des Chefarztes, dass der Hausarzt dies gemacht habe, weil die Medikamente zu stark gewesen seien. Der Professor erklärt daraufhin, dass es an sich nicht so schlimm sei, wenn der Puls unter dieser Medikation mal bis unter 40 runtergehen würde. Man solle das Medikament wieder ansetzen und eine entsprechende Begründung mitliefern. Allerdings wäre es auch nicht gut, die Patientin in einen Konflikt mit ihrem Hausarzt zu bringen. Deshalb wäre es wohl das Beste, den Beta-Blocker diesmal niedriger zu dosieren. Der Stationsarzt erklärt daraufhin, dass er sich die Dinge in ähnlicher Weise überlegt habe: 10:20 Chefarztvisite (im Patientenzimmer) Dr. Martin: Frau Masur, geboren 1950 ... Arrythmie ... Vorhofflimmern (Der Chefarzt schaut in der Kurve die Medikation durch und stellt hierzu einige Fragen) 4. Formelle Entscheidungsgremien 253 Dr. Martin: Wir hatten ihr jetzt letztes Mal Beta-Blocker verschrieben ... der Hausarzt hat die BetaBlocker dann wieder abgesezt ... Chefarzt Prof. Wieners (zur Patientin): Warum hat der Hausarzt die Beta-Blocker abgesetzt? Frau Masur: Der sagt, das ist zu stark. Chefarzt: Hat der ein Langzeit-EKG gemacht? Frau Masur: Ja, und dann hat er sie abgesetzt. Chefarzt: Ist dann an sich nicht schlimm, wenn der Puls bis unter 40 geht, gut, jetzt können wir in den Arztbrief schreiben, er solle die wieder ansetzen und das begründen ... aber wenn der Angst hat ... machen wir zum Kompromiss jetzt eine niedrigere Dosis des Beta-Blockers ... ist ja auch nicht gut, wenn wir Sie in einen Konflikt mit dem Hausarzt bringen ... ist dann wohl so die beste Lösung. Dr. Martin: Habe ich auch so gedacht. Die wiederholte Krankenhauseinweisung lässt hier zwei unterschiedliche Behandlungsparadigma deutlich werden. Da hier die Differenz manifest wird und der Hausarzt am längeren Hebel sitzt, muss hier versucht werden, seine Perspektive mit einzubeziehen. Handlungspraktisch wird hier versucht, einen Mittelweg zu finden, ihm ein wenig entgegenzukommen, aber auch ein wenig den eigenen Therapieplan durchsetzen. Der Kompromiss scheint hier jedoch nicht in einem übergreifenden „interinstitutionellen“ fachlichen Diskurs ausgehandelt zu werden, sondern eher darin begründet, es dem anderen ein wenig recht machen zu wollen. In diesem Sinne würde diese Ausnahme die Regel bestätigen: Die jeweiligen professionellen und organisatorischen Rationalitäten bleiben unangetastet. Die Therapie der Patientin wird nicht als ein übergreifendes Gemeinschaftsprojekt verstanden, das im Dialog (vielleicht sogar mit der Patientin) entfaltet wird, sondern folgt der Logik der eigenen Institution, die hier jedoch an eine Vermittlungsgrenze stößt, die strategisch berücksichtigt werden muss. Abschließend: Eine Station und ihre Ärzte folgen im Hinblick auf ihre Behandlungsentscheidungen jeweils ihrer eigenen Logik. Diese muss dabei nicht unbedingt der Rationalität der externen Ärzte entsprechen, selbst wenn diese konsiliarisch zum fachlichen Urteil aufgefordert worden sind. Die fremde Perspektive kann jedoch im Sinne der Eigenlogik der jeweiligen organisatorischen Einheit genutzt werden: sei es als Legitimationsbasis für das eigene Handeln, als Möglichkeit, den Patienten in ein anderes System zu überweisen und damit die Verantwortung für diesen wieder abzugeben, oder auch nur als Störung, die strategisch berücksichtigt werden muss. 4. Formelle Entscheidungsgremien Vieles von dem, was ein Arzt in seinem Alltag zu tun hat, wird durch Formalien und organisatorische Routinen gebahnt bzw. geformt. Beginnend mit den Aufnahmeroutinen, der Anlage der Patientenakte, den Routineuntersuchungen, der Aufnahmeanamnese, oft durch einen Praktikanten durchgeführt, dem obligaten Erstkontakt mit dem Stationsarzt, der regelmäßigen Kontrolle der biomedizinischen Daten in der Patientenkurve, der Aufgabe, die Patientenakte nach jeder neuen Untersuchung zu reaktualisieren bis zur Anfertigung der Entlassungsurkunden und dem endgültigen Arztbrief ist das Fallprozedere in hohem Maße vorstrukturiert. Es wundert deshalb kaum, wenn Berg (1996) zu dem Schluss VI. Ärztliches Feld 254 kommt, dass die Krankenakten und die stationsüblichen Formblätter einen wichtigen Anteil an der diagnostischen und therapeutischen Prozessierung des Patienten haben. Darüber hinaus wird ärztliches Handeln und Entscheiden aber auch durch die verschiedenen organisatorischen Zyklen innerhalb des Krankenhauses geprägt. Im täglichen Rhythmus finden morgendliche Frühbesprechungen, Röntgenbesprechungen, die Stationsarztvisiten und Übergaben an die diensthabenden Ärzte statt. Im wöchentlichen Rhythmus finden Oberarztvisiten, Abteilungs- und Teambesprechungen, gegebenenfalls auch Supervisionsgruppen statt. In unregelmäßigen Abständen finden Chefvisiten63, spezielle Fallkonferenzen64 statt. Darüber bestehen in der Regel diverse Weiterbildungsangebote, in denen dann teilweise auch Fälle vorgestellt und diskutiert werden können65. Alle diese Veranstaltungen stellen immer auch ein Gremium dar, in dem sich Ärzte unterschiedlicher Disziplinen oder Hierarchieebenen versammeln und das sich spontan zu einem Entscheidungsgremium für ein konkretes Problem entwickeln kann. Ein Arzt, der einen konkreten Patienten betreut, ist gut beraten, seine Arbeit auf die Eigengesetzlichkeiten dieser Entscheidungsräume auszurichten, denn beispielsweise kann jederzeit der Chefarzt während der Röntgenbesprechung auf einen Fall anspringen und Fragen stellen, auf die der behandelnde Arzt besser vorbereitet sein sollte. Im Folgenden wird auf die Dynamik dieser Entscheidungsgremien ausführlicher eingegangen. Zunächst werden die täglichen Routinebesprechungen (a), dann die Team- bzw. Abteilungsbesprechungen (b) und schließlich die in größeren Abständen einberufenen interdisziplinären Fallkonferenzen (c) thematisiert werden. Das tägliche therapeutisch-diagnostische Regularium der Stationsarztvisite und deren oberärztliche Supervision wird an dieser stelle nicht weiter expliziert, da diese Prozesse in den Fallanalysen ausführlicher thematisiert werden. (a) tägliche Routinebesprechungen Der Tagesablauf der Ärzte wird in der Regel durch kurze, oftmals nur wenige Minuten dauernde Besprechungstermine gerahmt, an denen kurz organisatorische Fragen angesprochen und die Patienten an die Kollegen übergeben werden. In den auf einigen Stationen üblichen Röntgenbesprechungen wird darüber hinaus ein kurzer Rapport erstattet, was im Hinblick auf die medizinischen Problematiken auf der Station der Fall ist: Rapport, Kontrolle und schnelle Information: Röntgenbesprechung, 32 Fälle in 15Minuten Das folgende Beobachtungsprotokoll gibt einen Einblick in die tägliche morgendliche Röntgenbesprechung der chirurgischen Abteilung. Während dieser Veranstaltung werden die Ergebnisse der Röntgendiagnostik vorgestellt, wird das Ärzteteam über die Neuzugänge informiert. Darüber hinaus werden organisatorische Fragen, wie die Bettenplanung, oder terminliche Veränderungen angesprochen. Angesichts der Anzahl der Fallvorstellungen und der entsprechenden Geschwindigkeit (durchschnittlich etwa 20 Sekunden pro Fall) besteht in der Regel nur sehr wenig Raum, medizinisch-inhaltliche Fragen zu diskutieren. Dies heißt jedoch nicht, dass der Chefarzt sich nicht doch vereinzelt einschaltet und fragt, was hier geschehe, warum die 4. Formelle Entscheidungsgremien 255 Diagnostik durchgeführt worden sei und ob das, was man mit dem Patienten vorhabe, überhaupt sinnvoll sei. Die Besprechung ist in der Regel nach 10 bis 15 Minuten beendet: Montag 8:00 Röntgenbesprechung (die Mehrzahl der Ärzte aus der Abteilung sind anwesend, darunter auch der Chefarzt sowie drei Oberärzte) Auf der Röntgenbesprechung werden von den Röntgenärzten zunächst Aufnahmen von insgesamt 32 Patienten vorgestellt: Dabei handelte es sich um Routineaufnahmen von 25 Personen, die nach Stürzen mit Prellungen, Zerrungen oder Knochenbrüchen eingeliefert wurden; 2 Thoraxaufnahmen zur Kontrolle von Herz und Lunge; eine CT von einer Frau mit einem Ösophaguskarzinom; eine CT von einer Patientin mit Aortenaneurysma; eine CT von einer Patientin mit Darmverschluss; eine Angiografie nach einer Bilatation; ein Nierenszintigramm bei einer Patientin, deren linke Niere verzögert ausscheidet. Bei der Aufnahme von der Niere schaltet sich der Chefarzt ein und fragt, was denn diese Diagnostik solle. Ein Stationsarzt erklärt seinem Vorgesetzten den Hintergrund der Untersuchung. Im Anschluss an die Bildervorstellung fragt der Chefarzt nach den Neuaufnahmen. Die Stationsärzte aus den verschiedenen Stationen nennen die Nummer ihrer Station, sowie die Zahl der aufgenommenen Patienten („13 zwei Patienten“, „23 zwei Patienten“, „Wache verlegt eine Frau“). Abschließend bemerkt der Chefarzt, dass sich heute das OP-Programm etwas verändert habe, eine Oberärztin sowie ein Assistent würden zur Zeit schon im OP im Gange sein. Um 8:15 ist die Röntgenbesprechung beendet. Die Röntgenbesprechung erfüllt hier verschiedene Funktionen. Zunächst werden die Ärzte entsprechend dem offiziellen Sinn der Veranstaltung über die Ergebnisse der am Tag zuvor gelaufenen Untersuchungen informiert. Hierdurch wird der Informationsfluss gegenüber dem offiziellen Papierweg beschleunigt, denn die aktenfähige schriftliche Befundung kommt oft erst ein bis zwei Tage später auf die Station. Des Weiteren ist eine Kontrollfunktion zu beobachten. Über die Röntgenbesprechung gewinnen die leitenden Ärzte einen guten Einblick in die medizinischen Geschehnisse der jeweiligen Stationen. Prekäre Fallverläufe zeigen sich den Bildern, und die Durchführung von zu viel teurer Diagnostik kann angemahnt werden. Verdichtet auf wenige Minuten entsteht ein kompaktes Bild von dem, was in der Abteilung der Fall ist. In hoch kondensierter medizinischer Fachsprache werden dabei die Informationen gegeben, ohne viele Worte zu verlieren. Ein kurzer Einwurf des Chefarztes reicht aus, um den jeweiligen Ärzten anzuzeigen, wie der Hase im weiteren Verlauf zu springen hat. Gegebenenfalls kann ein Arzt sich vor oder nach der Röntgenbesprechung persönlich an die Röntgenärzte wenden, um ausführlicher seine Fragen zu besprechen. Nur in organisatorischen Fragen, insbesondere bei Klärung der Bettenfrage, ergeben sich längere Diskussionen. Nicht selten entfalten sich erregte Debatten darüber, wo noch Kapazitäten frei sind und wer noch einen Patienten aufnehmen könne. Während in medizinischen Fragen die Machtverhältnisse in Bezug auf die Deutungs- und Entscheidungsmacht klar und unhinterfragbar verteilt sind, entstehen hier Räume, in denen dann im Einzelfall ausgehandelt wird, wer diesmal den schwarzen Peter zugeschoben bekommt. Im Vergleich mit der internistischen Abteilung des Allgemeinkrankenhauses zeigen sich hier deutliche Parallelen. Auch hier ist der Chefarzt regelmäßig anwesend und schaltet sich gelegentlich „korrigierend“ ein. Wenngleich die Veranstaltung nicht ganz so verdichtet erscheint wie bei den Chirurgen – im Einzelfall kann schon einmal kurz über einen Patienten diskutiert werden –, so werden hier die gleichen Funktionen erfüllt. Auch hier geht es um Rapport, um eine schnelle Information im Hinblick auf die Diagnostik und um die Klärung organisatorischer Fragen. Eine andere Aufgabe scheint demgegenüber die „Röntgenbesprechung“ in der internistischen Abteilung des Universitätsklinikums zu erfüllen, denn hier werden selektiv nur jeweils drei bis vier Fallbeispiele vorgestellt. Die Funktion, vollständig über die gelaufenen diagnostischen Prozeduren zu informieren, kann hier nicht mehr geleistet werden. Die Einheit von Bild, begutachtendem Arzt und Befund kann nicht mehr hergestellt werden. In der Regel bleibt den VI. Ärztliches Feld 256 Ärzten nichts anderes übrig, als auf den schriftlichen Befund zu warten (der oft erst ein paar Tage später kommt) oder telefonisch zu versuchen, den Röntgenarzt ans Telefon zu bekommen, der das Bild zu begutachten hat, denn die Röntgenbesprechung leistet diese Funktion nicht mehr. Ihre Funktion scheint hier eher in der Aufgabe der „Weiterbildung“ zu bestehen. Den jungen Ärzten soll demonstriert werden, was die jeweilige Diagnostik leistet, wie sich die Ergebnisse in die gesamte Fallgeschichte einfügen usw. Darüber hinaus stellt die Besprechung, wie auch in den anderen Abteilungen, ein Forum dar, um zu verhandeln, wohin die Neuaufnahmen kommen. Auf der psychosomatischen Station ist die Veranstaltung der Röntgenbesprechung nicht institutionalisiert, da im Rahmen der täglichen Arbeit nur seltener Röntgenaufnahmen anfallen. Als funktionelles Äquivalent besteht jedoch die morgendliche Frühbesprechung, die in der Regel nur wenige Minuten dauert. In diesem Forum werden die Neuaufnahmen kurz vorgestellt, gegebenenfalls die Dienstaufgaben neu verteilt sowie andere organisatorische Fragen besprochen. Die straffe Zeitführung medizinischer Routinebesprechungen erlaubt es, gleichsam rituell Bekenntnisse über Verfehlungen oder gar Entschuldigungen vorzubringen: Entschuldigungsrituale: „Ins Zwerchfell geschnitten … konnte plötzlich Lunge sehen” Der leitende Oberarzt der chirurgischen Station offenbart vor der versammelten Mannschaft der Tagesabschlussbesprechung einen Kunstfehler, der ihm während einer Operation unterlaufen ist: Freitag, 14:10, Abschlussbesprechung Dr. Peters (leitender Oberarzt): ... habe einer Patientin beim Herauspräparieren der Milz … sehr verwachsen … ins Zwerchfell geschnitten ... konnte plötzlich Lunge sehen, hab dann nicht weiter und schnell wieder zugenäht ... Der Oberarzt vollzieht hier einen »“kleinen Ritus“ zur Exkulpierung«66 (Wettreck 1999: 96). Er benennt hier seinen Fehler, ohne sich jedoch einem Diskurs bzw. einer weitergehenden Verantwortung stellen zu müssen. Jedem kann so etwas passieren. Indem die Sache benannt, aber nicht weiter thematisiert wird, kann man zum business as usual fortschreiten. Man zeigt, dass die Sache zwar bemerkenswert, aber nicht diskussionswürdig ist. Kurze formelle Besprechungstermine erleichtern es, dass dies genau in solcher Form geschehen kann, denn entsprechend der Logik dieser Veranstaltungen ist nicht zu erwarten, dass an die Selbstoffenbarung eine Diskussion anschließt. Grenzprobleme medizinischen Handelns – weder organisatorische Bedingungen noch fachliche Qualifikationen können verhindern, dass Kunstfehler passieren – können so innerhalb medizinischer Organisationen routiniert behandelt werden. Das Tabu, strukturelle Kritik zu üben: „Hier ist Unmut im Team, der gehört hier nicht hin” Ein Einzeltherapeut der psychosomatischen Abteilung spricht auf der Frühbesprechung ein Problem an. In letzter Zeit seien die Termine der Visiten und Teambesprechungen mehrmals kurzfristig verschoben worden und aufgrund dieser chaotischen Situation sei es schwierig, mit 4. Formelle Entscheidungsgremien 257 den Patienten Termine zu vereinbaren. Der Oberarzt antwortet dem Arzt, dass er hinter der Klage Ärger höre. Diese Emotion gehöre jetzt aber nicht in die Frühbesprechung. Stattdessen solle er doch die Sache mit seinem Vorgesetzten persönlich klären: 8:10 Frühbesprechung Einzeltherapeut Dr. Mücke: ... mit der Visite auf der 22 ... dann um 8:30 Teambesprechung, dann ist das wieder verschoben ... und weiß ich gar nicht mehr, wenn Mainzer [Oberarzt der psychosomatischen Nachbarstation] was macht ... Oberarzt Dr. Jonas: Ich höre da auch Ärger ... ich erwarte das, was wir den Patienten auch beibringen, dass der Ärger dort artikuliert wird, wo er hingehört ... dann muss das mit Herrn Mainzer besprochen werden ... und eine Lösung gefunden werden, mit der alle von affektiver Seite her einverstanden sind ... Einzeltherapeut: Mit Ärger hat das jetzt überhaupt nichts zu tun, sondern nur, dass es chaotisch ist ... Oberarzt: Ärger geht ja noch, aber Chaos ist ja noch viel schlimmer ... dann muss was geändert werden ... wir können den Patienten ja nur behandeln, wenn die Struktur in Ordnung ist ... nun, was ist chaotisch? Einzeltherapeut: Seit vier Wochen jede Woche eine andere Regel, andere Termine, ich kann ja keine Termine mehr machen... Oberarzt: Können Sie das mit Herrn Mainzer bereden, dass da wieder eine Struktur entsteht? Das ist jetzt wichtig ... Einzeltherapeut: Ich weiß gar nicht, ob der jetzt da ist. Oberarzt: Der müsste morgen wieder da sein ... reden Sie mit ihm. Hier ist Unmut im Team, und der gehört hier jetzt nicht hin, sonst wird es richtig chaotisch. Auf der gemeinsamen Frühbesprechung der psychosomatischen Abteilung versucht der Einzeltherapeut, ein strukturelles Problem anzusprechen. Der angesprochene Oberarzt versucht zunächst, das „Struktur-Problem“ als ein persönliches Problem des Einzeltherapeuten zu definieren, nämlich als emotionales Problem - als ein „Ärger“ – und entsprechend ist eine „Lösung“ zu finden, mit der alle von „affektiver Seite“ her einverstanden sind. Das eigentliche strukturelle Problem - dass seitens der ärztlichen Leitungsebene Visitentermine ohne Begründung ausfallen oder kurzfristig verschoben werden können67, wird durch diese „psychologisierende“ Intervention in den Hintergrund gedrängt. Der Stationsarzt – dieses Manöver durchschauend – bemerkt, dass es sich hier nicht um persönlichen Ärger handele, sondern dass das Problem in der chaotischen Struktur bestehe. Implizit thematisiert er hiermit erneut die Erfahrung, der Willkür unberechenbarer Entscheidungen ausgeliefert zu sein. Der Oberarzt greift zunächst den Ball auf, indem er nachfragt und bestätigt, dass es sich hier um eine ernste Sache handele, die auch für die Patientenversorgung relevant sei. Anschließend gibt dieser jedoch erneut die Verantwortung an den Einzeltherapeuten zurück, der hierdurch wieder selbst in die Schusslinie kommt. Das strukturelle Problem wird abermals personalisiert: Es obliegt nun wieder dem Stationsarzt, die Sache in einem persönlichen Gespräch mit seinem Vorgesetzten zu klären. Dem Untergebenen wird hierdurch deutlich gemacht, dass das von ihm vorgetragene Anliegen kein Gehör findet und wohl kaum Unterstützung im Hinblick auf die Änderung diesbezüglicher struktureller Probleme zu erwarten ist. Ebensowenig wird er vermutlich angesichts der Machtverhältnisse im Krankenhaus damit rechnen können, im persönlichen Gespräch die chaotische Terminplanung seines Vorgesetzten in eine Richtung ändern zu können, die mehr Planungssicherheit für die Stationsärzte und Einzeltherapeuten bieten würde. Eher ist zu vermuten, dass seinerseits schon längst die Erfahrung gemacht wurde, in Bezug auf dieses legitime Anliegen nicht ernst genommen zu werden. Die hier aus der Latenz hervortretenden Machtverhältnisse stellen auch innerhalb der psychosomatischen Abteilung ein Tabu dar. Sie sind jedoch nicht thematisierbar. Der Dumme ist und bleibt der, der dies im Rahmen der institutionellen Öffentlichkeit expliziert. VI. Ärztliches Feld 258 Die täglichen Routinebesprechungen erscheinen im Sinne der vorangegangen Ausführungen immer auch als ein Ritus zur Reproduktion der Verhältnisse. Sie geben dem organisatorischen Geschehen im Krankenhaus eine Form. Patienten werden ordentlich übergeben, außerordentliche Vorkommnisse können routiniert behandelt werden. Innerhalb der formellen Entscheidungsgremien gelten jedoch implizite Gesetze, die besagen, wer Probleme ansprechen darf und wer über welche Dinge lieber zu schweigen hat. (b) Team- oder Abteilungsbesprechungen Team- oder Abteilungsbesprechungen haben nicht den alltäglichen Charakter der morgendlichen Frühbesprechungen – sie finden in der Regel in ein- bis zweiwöchentlichem Rhythmus statt. Bei diesen Besprechungen wird üblicherweise erwartet, dass alle Ärzte, einschließlich der im Praktikantenstatus (PJ und AiP), anwesend sind68. Je nach Abteilungsgröße können während einer Besprechung mehr als 40 Personen im Raum anwesend sein. Es gilt eine ungeschriebene Sitzordnung: Der Chefarzt ist in der Regel von seinen Oberärzten umgeben. Die Stationsärzte nehmen weiter außen Platz, während sich die Praktikanten eher an den Rand drängen. Wortführer ist der Chefarzt oder sein Vertreter, der leitende Oberarzt. Üblicherweise werden zunächst einige organisatorische und abteilungspolitische Fragen angesprochen, um dann Raum zu geben, über „schwierige“ medizinische Fälle zu sprechen, vielleicht eine zweite, kontroverse Meinung eines Fachkollegen einzuholen oder sich bei einer prekären Entscheidung im Team abzusichern. Im Gegensatz zu den täglichen Routinebesprechungen gibt es normalerweise die Zeit, ins Detail einer Patientengeschichte zu gehen, die Sache von verschiedenen Seiten zu betrachten und auch mal eine kleinere Kontroverse zu entfalten. Als Sprecher treten hier neben den Chefärzten und dem in einen Fall konkret involvierten Stationsarzt überwiegend die Oberärzte in Erscheinung69. Praktikanten (AiP und PJ) schweigen üblicherweise in der Diskussion. Junge Assistenzärzte stellen vereinzelt Fragen zu medizinischen und organisatorischen Details, die dann in der Regel durch die „Oberen“ väterlich beantwortet werden. Gelegentlich bietet die Abteilungsbesprechung den Assistenten auch ein Forum, strukturelle Probleme, beispielsweise die Verteilung der Arbeitsbelastungen, zu besprechen. Diese Diskussionen entfalten sich in der Regel am Ende der Besprechung. Falls der kollektive Unmut allzu großen Raum einzunehmen droht und um eine allzu ausufernde Debatte beenden zu können70, hilft meistens das Argument der leitenden Ärzte, dass man hier Zeit vertrödele und auf der Station die Arbeit und die Patienten warten würden. Systemisch erfüllen Abteilungsbesprechungen neben der Aufgabe, den Informationsfluss innerhalb der Abteilung zu kondensieren und zu kanalisieren71, verschiedene Funktionen. Zum einen können sie als „wirkliches“ Entscheidungsgremium verstanden werden, in dem Probleme vorgetragen werden, zu denen dann im gemeinsamen Diskurs nach einer Lösung gesucht wird. Zum anderen bieten sie einen Raum der rituellen Problembewältigung für Dinge, die - streng genommen - innersystemisch nicht zu lösen sind: Rituelle Bewältigung von Ohnmacht: „Alles sehr schwierige Fälle ... kann dann auch mal die Kraft der Stationsärzte aufzehren” Nach der Klärung einiger organisatorischer Dinge fragt der Chefarzt, ob es letzte Woche Todesfälle oder schwierige Therapieentscheidungen auf den Stationen gegeben habe. Der Professor lässt dabei seinen Blick in die Runde schweifen. Ein Oberarzt erklärt, dass es zur Zeit 4. Formelle Entscheidungsgremien 259 zwei Patienten mit einer Transplantatniere gebe. Bei dem einen habe man eine Antikörpertherapie versucht, die leider nicht angeschlagen habe. Die Ärztin im Praktikum ergänzt zu dem anderen Patienten, dass dieser 42 Jahre alt sei und mittlerweile Lebermetastasen habe. Der Oberarzt ergänzt weitere Details zur Therapie. Daraufhin antwortet der Chefarzt, dass man solche Fälle kaum behandeln könne, schließlich kämen ja noch die Komplikationen durch die Infektionen hinzu. Der Oberarzt schlägt vor, noch ein Medikament zu probieren, das die Gefäßbildung innerhalb des Tumorgewebes blockiert. Der Chefarzt erwidert, dass man dies auch noch probieren könne und spricht daraufhin den Stationsarzt der Nachbarstation an. Der Assistent erzählt, dass er zur Zeit eine Patientin behandele, bei der der Tumor schon das Gesicht und einen Teil der Zunge zerstört habe. Der Chefarzt bemerkt hierzu, dass es sich hier jetzt um wirklich schwierige Fälle handele, die die ganze Kraft der Stationsärzte aufzehren würden. Entsprechend müsse man sich jetzt gegenseitig stützen, denn schließlich würden die Kollegen eine hohe Verantwortung tragen: Mittwoch, 13:20 Abteilungsbesprechung (Seminarraum) Chefarzt Prof. Wieners: Gab es Todesfälle? .... schwierige Therapieentscheidungen? Oberarzt Prof. Krause: ... jetzt zwei Patienten mit einer Nierentransplantation ... jetzt durch die Immunsuppresion .... wollte ich mal ansprechen ... einer hatte jetzt leider eine CD-20-Antikörpertherapie ... ist nicht angesprochen ... war jetzt ambulant bei mir ... jetzt gerade ohne Symptomatik ... dann ... Ärztin im Praktikum: Herr Kreisling ... 42 Jahre ... Lebermetastasen Oberarzt: ... bekommt (Details zur Chemotherapie werden erzählt) ... Tumormasse geht jetzt langsam zurück ... Leber war jetzt zu zwei Dritteln befallen ... ein Ikterus ... Chefarzt Prof. Wieners: ... das sind jetzt so Fälle, die man nur schlecht behandeln kann ... neulich einen Fall mit polyploiden Zellkernen gesehen ... müssen wir jetzt sehen, wie weit wir hier die Behandlung überhaupt noch machen können ... kommen ja dann die ganzen Infektionen noch hinzu ... Oberarzt: ... dann noch Angioneogenesehemmer? Chefarzt: Gute Ideen, das können wir dann auch noch probieren! [...] Chefarzt: Und dann Herr Blacher (schaut den Stationsarzt der zweiten Station an) Stationsarzt Dr. Blacher: ... eine Patientin ... hat der Tumor das Gesicht zerfressen ... Zunge ... stufenweise Resektion ... Notfallbestrahlung des Mundes ... Chefarzt: Alles sehr schwierige Fälle ... kann dann auch mal die Kraft der Stationsärzte aufzehren ... müssen Sie sich jetzt gegenseitig stützen ... ist dann eine hohe Verantwortung, die Sie tragen. Auch die Ärzte einer onkologischen Klinik orientieren sich an der Behandlung von Krankheit und nicht am Scheitern der Behandlung. Erklärtes Ziel der High-Tech-Veranstaltung der Universitätsmedizin bleibt immer der Versuch zu heilen, zumindest jedoch noch ein wenig mehr an Lebenszeit herauszuholen. Die Ärzte müssen jedoch in ihrer Lebenswelt hautnah erfahren, dass man therapeutisch oft nicht weiterkommt und oftmals gezwungen ist, den grausamen Zerfall eigener Patienten hilflos mit anzuschauen. Für den Funktionsvollzug des „Systems Krankenhaus“ stellt diese ernüchternde Realität kein Problem dar, denn man orientiert sich an der Behandlung von Krankheit und nicht an der Erzeugung von Gesundheit72. Quasi konterfaktisch zu den von ihren Akteuren erlebten ernüchternden Realitäten fordert das System Krankenhaus, auch im Angesicht von hoffnungslosen Fällen weiterzumachen und sich dabei nicht durch die eigenen Paradoxien lähmen zu lassen - nämlich zu fragen, ob es überhaupt noch gesund ist, in dieser oder jener Form die Krankenbehandlungen durchzuführen. Für die Akteure des medizinischen Systems muss jedoch angesichts der allzu deutlichen Grenzen mancher Therapieversuche die Systemreferenz ständig reaktualisiert werden, denn der erlebte Widerspruch zwischen den sichtbaren und erlebbaren Grenzen des eigenen Handelns und dem medizinischen Therapieanspruch – der ja schließlich 260 VI. Ärztliches Feld die Legitimation ärztlicher Arbeit darstellt – darf nicht zu lähmenden Zweifeln führen. Um als Organisation handlungsfähig bleiben zu können, müssen diesbezügliche „Depressionen“ innersystemisch neutralisiert werden. In der Abteilungsbesprechung geschieht dies hier, indem das Scheitern rituell thematisiert wird. Die Frage des Chefarztes nach den Todesfällen auf der Station würdigt scheinbar dieses Problem, schließt jedoch gleichzeitig den kritischen Diskurs, indem die Haltung vermittelt wird, die Dinge einfach anzunehmen, ohne weiter nach dem Sinn der Arbeit zu fragen. Die schwierigen Fälle mit der Transplantatniere werden zwar als schwer zu behandelnde Fälle gewürdigt. Die Behandlung selber steht dabei jedoch nicht in Frage73 - sie bleiben innerhalb der Station behandelbar. Selbst der entstellende hässliche Zerfall einer Patienten gibt hier keinesfalls Raum für Verzweiflung, Depression oder Trauer, sondern wird in den Rahmen einer ärztlichen Verantwortung gestellt, die nun sogar besonders hoch erscheint und deshalb auf mehrere Schultern zu verteilen ist. Das hier erscheinende Paradoxon, dass die Verantwortung der Ärzte im Falle der offensichtlichen Machtlosigkeit derselben hier als besonders hoch erscheint, lässt sich nur so deuten, dass nicht mehr das Leben der Patientin verhandelt wird – ihr weiteres Sterben ist unaufhaltbar –, sondern noch viel schlimmer: Die ärztliche Identität selber steht auf dem Spiel, denn es droht die Gefahr, dass im Angesicht solch dramatischer Fälle die Ärzte den Glauben an ihren ureigensten Funktionsvollzug verlieren. Erst unter dieser Voraussetzung bekommt die paradoxe Thematisierung der Verantwortung eine wichtige Funktion, nämlich als Ritus allen Anwesenden zu zeigen, dass, egal was mit den Patienten passiert, die Arbeit im Krankenhaus Sinn hat, und entsprechend dem state of the art der jeweiligen Institution weiter voranzuschreiten ist74. Hierin und nicht in der Verantwortlichkeit für den Patienten liegt die hohe Verantwortung, welche der Chefarzt einfordert. Der Patient selber kommt mit seinen Lebensund Todeswünschen - Vorstellungen, wie entsprechend seiner Bedürfnisse die Sache zu laufen habe - in dieser und anderen beobachteten „Verhandlungen“ in den Abteilungsbesprechungen nicht vor. Verhandelt werden bestenfalls abstrakte Patientenstereotype. Der „wirkliche“ Patient - wer immer das auch sei - bleibt draußen vor, braucht kommunikativ nicht eigens adressiert zu werden, gehört - systemtheoretisch gesprochen - nur zur Umwelt der ihn behandelnden medizinischen Organisation. Reformulierung des professionellen Bewährungsmythos: „Ich habe dann zunehmend Hoffnung” Auf einer Teambesprechung der psychosomatischen Station wird der Fall von Frau Thomas, einer Patientin mit autoaggressivem Verhalten, vorgestellt. Nach fast vier Wochen Klinikaufenthalt sollte die Frau eigentlich in den nächsten Tagen entlassen werden. Wenige Tage vor dem geplanten Termin wird die Patientin jedoch rückfällig und ritzt sich abends mit einem Messer in den Arm. Üblicherweise werde mit den Patienten Vereinbarungen getroffen, dass Selbstverletzungen während der Behandlungszeit zu unterlassen sind. Falls es dann trotzdem geschehe, sei dies als Vertragsbruch zu werten und der jeweilige Patient wäre sofort zu entlassen. In diesem Fall hatte der diensthabende Arzt jedoch der Patientin, nachdem er sie nach dem Vorfall aufgesucht hatte, zunächst versprochen, dass dieses Vergehen noch nicht zu einer Entlassung führen würde, zumal es sich ja auch nur um eine kleine Verletzung handele. Der Oberarzt erfährt von dem Vorfall auf der Frühbesprechung und entscheidet, die Patientin sofort zu entlassen. Während der am gleichen Tag stattfindenden Teambesprechung wird der Fall nochmals diskutiert. Der Oberarzt bleibt bei seiner Entscheidung, gesteht aber ein, dass hier auch ein Fehler seitens des Behandlungsteams gemacht worden sei, denn man habe nicht von vornherein klargestellt, dass das „Schneiden“ auf jeden Fall zur Entlassung führe. Dennoch habe es keinen Sinn, jetzt die Patientin weiter zu 4. Formelle Entscheidungsgremien 261 behandeln, denn ihr Verhalten habe ja auch einen Mitteilungscharakter an das Team. Man würde der Patientin gar nichts Gutes tun, falls man Schuldgefühle bekomme und ihren Wünschen Folge leisten würde. Die Konsequenz auf ihr Verhalten müsse nun folgen. Unter Umständen wäre es auch sinnvoll, die Patientin in die Psychiatrie zu verlegen. Vorausschauende Therapeuten hätten diesbezüglich schon mal mit den entsprechenden Stationen telefoniert. Nach einer kurzen Gesprächspause fragt eine Einzeltherapeutin nach, was aus Frau Dülling geworden sei. Der Fall dieser Patientin ist allen Beteiligten aufgrund eines dramatischen Selbstmordversuchs auf der Station noch tief ins Gedächtnis eingeprägt. Der Oberarzt bemerkt, dass es kein Zufall sei, dass nun der Name dieser Patientin falle, denn auch bei dieser würde sich eine sehr aggressive Gegenübertragung zeigen. Ein Einzeltherapeut bemerkt daraufhin, dass solche Patienten sowieso keine Zukunftsperspektiven hätten. Er habe sich mittlerweile für solche Fälle eine gewisse Gelassenheit angewöhnt, auch wenn das jetzt zynisch klingen würde. Ein anderer Arzt ergänzt, dass da wirklich wenig möglich sei. Daraufhin bemerkt eine andere Einzeltherapeutin, dass der behandelnde Therapeut von Frau Thomas doch den Eindruck gehabt habe, dass in diesem Fall eine positive Entwicklung möglich sei. Hieraufhin fragt der Stationsarzt, ob denn bei dieser Patientin eine weitergehende Perspektive überhaupt intendiert gewesen sei. Wie ein Arbeiter, der am Fließband stehen würde und auch nur noch im Zeithorizont der Gegenwart leben würde, wäre bei Frau Thomas wohl auch keine Fortentwicklung mehr zu erwarten. Der Oberarzt beschließt die Diskussion mit einem Statement, indem er erklärt, dass Patienten sich manchmal in Situationen heilen würden, die man gar nicht mitbekommen würde. Dies geschehe manchmal erst Jahre später. Zwar würde der behandelnde Therapeut den Erfolg nicht als seine Leistung verbuchen können, aber dennoch habe er zunehmend die Hoffnung, dass bei den Patienten, die hier auf der Station gewesen seien, sich irgendwann der Erfolg zeigen würde: Oberarzt Dr. Jonas: Das war ja unser Fehler ... bei einer Ich-strukturellen Störung ist das wichtig, das von vornherein klarzustellen ... gut ist auch, das schriftlich zu machen ... das Schneiden hat ja dann auch immer einen Mitteilungscharakter, sie hat’s ja nicht heimlich gemacht, oder versucht es zu verbergen, sondern gezeigt, „seht mal” ... die Patientin wird alles tun, um ihren Affekt zu externalisieren ... wir tun ihr dann überhaupt nichts Gutes, keinen Gefallen, wenn wir jetzt wieder umfallen oder für sie jetzt Schuldgefühle bekommen ... Einzeltherapeutin Meinhard: Spricht denn irgendwas dagegen, die dann irgendwann wieder aufzunehmen? Einzeltherapeut Dr. Klingsor: Habe ich ihr auch gesagt, sagt sie dann, dass sie doch gleich bleiben könne ... Oberarzt: Ich-strukturelle Patienten können Trennungen nicht auf der psychosozialen Ebene aushalten .... Mittwoch müsste sie nach Hause gehen und das kann sie nicht aushalten, in drei Tagen wäre die normale Entlassung ... natürlich kann die dann auch nicht sagen „ich möchte heute schon gehen”, dafür muss sie sich dann schneiden ... diese Patienten können keine Ambivalenzen aushalten ... Einzeltherapeutin: Eine Verlegung, geht das denn? Oberarzt: Ein vorausschauender Therapeut oder Stationsarzt telefoniert vorher mit einer Station, die sie dann aufnehmen könnte ... [die Psychiatrie in] Nordstadt wäre natürlich elegant, weil wir da einige Ärzte wissen, die unseren Laden kennen ... (Einige Sekunden Schweigen in der Runde) Oberarzt: Okay jetzt ... Dr. Knecht: Was ist jetzt mit Frau Dülling geworden? Einzeltherapeutin Meinhard: Das ist jetzt gemein. Oberarzt: Das ist jetzt kein Wunder, das jetzt der Name Dülling fällt ... da ist man nämlich froh, wenn diese Patienten weg sind, und vorher kann man sie nicht loslassen ... das ist dann eine sehr aggressive Gegenübertragung .... prä-trennungsambivalente Beziehungskonflikte ... die Ich-strukturelle Schwäche erlaubt es nicht, Ambivalenzen auszuhalten, ... oft im Sinne einer self-fulfilling prophecy bringen einen 262 VI. Ärztliches Feld die Patienten dazu, dass man sie zum Teufel jagt, das ist dann für sie die beruhigendere Form ... das kennen die dann schon ... dann brauchen die keine Posttrennungsambivalenzen auszuhalten. Einzeltherapeut Dr. Mücke: Keine Zukunftsperspektiven ... jetzt in die Psychiatrie und dann nach 4 Wochen keine Perspektive und erst recht keine Perspektive in 5 Jahren ... habe mir allerdings für so Fälle eine gewisse Gelassenheit angewöhnt ... ist vielleicht zynisch aber ist so ... Dr. Knecht: Wirklich wenig an Perspektiven ... seit 10 Jahren in der WG ... und so wenig Entwicklung ... die eigene Kraft zu helfen ist so begrenzt, man kann selber so wenig machen ... Einzeltherapeutin Meinhard (zum Einzeltherapeuten Dr. Klingsor): Aber du hattest ja den Eindruck, dass jetzt Entwicklungsmöglichkeiten bestehen ... und dann hätte man sie ja auch jetzt bald im normalen Verlauf gehen lassen müssen ... Stationsarzt Völler: Sind denn bei der Patientin die längeren Perspektiven überhaupt intendiert ... bei Arbeitern, die am Band arbeiten, die leben ja auch oft nur noch im Zeithorizont der Gegenwart, ist in dem Sinne für Frau Thomas dann auch keine Fortentwicklung mehr möglich, sondern nur ein zyklisches „Beziehungen knüpfen und brechen” .... Oberarzt: Viele dieser Patienten heilen sich manchmal in Situationen, die wir gar nicht mitbekommen, das kann vielleicht in einigen Monaten sein ... und irgendwann erinnern die sich dann an etwas, was sie bei uns gelernt haben, eine andere Form der Beziehung ... vielleicht auch erst in einigen Jahren ... und es ist dann für uns oft schwer, das auf unsere Arbeit zuzurechnen, weil wir das dann gar nicht direkt mitkriegen ... vielleicht sind auch wir als Therapeuten zu bedürftig, in dem Sinne, dass wir den Erfolg: „Herr Klingsor hat sie geheilt” spüren wollen ... ich habe aber zunehmend die Hoffnung, dass bei ähnlichen Patienten, die zu uns kommen, die irgendwas zu uns geführt hat ... mit dem, was wir heute für sie anbieten können, dann irgendwann sich Erfolge zeigen werden. Nicht nur die Ärzte einer onkologischen Abteilung werden regelmäßig damit konfrontiert, dass ihre Versuche, eine Heilung herbeizuführen, nicht zum Erfolg führen. Das oftmalige Scheitern der Behandlungsversuche stellt gewissermaßen ein Spezifikum jeglicher medizinischer Arbeit dar und verlangt deshalb nach einer innersystemischen Verarbeitung. In der hier dokumentierten Gesprächssequenz erscheinen unterschiedliche Rahmungen, um die Not in eine Tugend zu verwandeln: (1) Der Oberarzt bietet zunächst eine therapeutische Rahmung des Geschehens an. Das Symptom der Patientin wird hier nicht als Rückfall gedeutet, sondern als Beziehungsphänomen innerhalb der therapeutischen Arbeit gewertet - nämlich als Zeichen für den nahenden Abschied. Unter diesem Blickwinkel erscheint der Rausschmiss aus dem Krankenhaus gar als Therapie, denn man zeigt der Patientin nun, dass dies nicht die richtige Form der Beziehungsgestaltung sei. Das Gesetz „nicht umzufallen“ schiebt sich hier als Orientierungsrahmen einer therapeutischen Ideologie vor den konkreten Fall, in dessen Behandlungsrealität paradoxerweise der therapeutische „Beziehungs“-Vertrag seitens der Therapeuten weder explizit („das von vornherein klarstellen“) noch konsequent („das war unser Fehler“) gegenüber der Patientin vertreten wurde. Ob die Patientin das therapeutische Spiel, was von ihr verlangt wird, wirklich verstanden hat und ob die intendierte „Therapie“ in der Praxis wirklich stattgefunden hat, wird hier weder thematisiert noch verhandelt. Die Intervention des Oberarztes, die Patientin „pädagogisch-bestrafend“ zu entlassen, erfüllt hier seinen Zweck schon in sich selbst. Unabhängig davon, ob die Sache „real“ Erfolg hat, macht es innerhalb der Behandlungsideologie Sinn, so und nicht anders zu handeln. Selbst-immunisierend erscheint hier die Not als Tugend. Die Entlassung erscheint nicht mehr als Behandlungsabbruch, sondern als Therapie. Die Evidenz dieser Handlung liegt in sich selbst und braucht nicht einmal mehr im konkreten Kontakt mit der Patientin evaluiert werden. (2) In der Diskussion der Stationsärzte und Therapeuten entfaltet sich ein zweiter Orientierungsrahmen, um das Scheitern der Behandlung im Hinblick auf den Erhalt der eigenen therapeutischen Identität zu reintegrieren. Indem der Patientin die Möglichkeit der Fortentwicklung per se abgesprochen wird, ist das Behandlungsteam von einer diesbezüglichen Verantwortung freigestellt. Man attribuiert der Patientenpersönlichkeit – hier im bürgerlich abwertenden Blick - eine gewisse Primitivität, die eben nichts anderes zulasse ( „bei Arbeitern, die am Band arbeiten“). Entsprechend ist es 4. Formelle Entscheidungsgremien 263 legitim, sich eine „gewisse Gelassenheit“ anzugewöhnen. Man therapiert eben ein bisschen, braucht sich dabei aber auch nicht zu überschlagen, falls die Sache nicht funktioniert. Ähnlich wie die immer wiederkehrenden Alkoholiker auf den internistischen Stationen75, behandelt man diese Patienten zwar entsprechend den auf der Station üblichen Rationals; eine weitergehende Auseinandersetzung über das, was „wirklich“ helfen könnte, braucht jedoch nicht mehr geführt zu werden. Das Grunddilemma der therapeutischen Behandlung beschädigter Autonomie, nämlich einerseits davon ausgehen zu müssen, dass der Patient nicht mehr Kapitän seiner selbst ist, sondern von der Krankheit gesteuert wird, andererseits aber eine gewisse Restautonomie des Patienten benötigt wird (bzw. gestärkt werden muss), damit Therapie überhaupt stattfinden kann, lässt sich durch dieses Argument geschickt zu Lasten des Patienten und zu Gunsten der behandelnden Organisation wenden. Dies geschieht, indem ‚nicht wollenʼ und ‚nicht könnenʼ miteinander verschmolzen werden. Durch die geschickte Tilgung dieser Differenz der für den therapeutischen Prozess konstitutiven widersprüchlichen Einheit von Autonomie und Heteronomie, werden die Akteure des Behandlungssystems ideell aus ihrer Verantwortlichkeit für den Behandlungsprozess entlassen. (3) Der Oberarzt schließlich entfaltet mit dem Hinweis auf den längerfristigen Zeithorizont, in dem die Behandlung einzubetten sei, einen dritten Orientierungsrahmen. Das Sinndefizit der aktuellen therapeutischen Praxis bekommt in der Fiktion einer gelungen Zukunft neuen Sinn. In Opposition zur zynischen Variante, dem Wesen der Patientin das Scheitern zuzurechnen, formuliert er hier eine Vision, die in ihrer unbegründeten wie auch suggestiven Form („ich habe zunehmend die Hoffnung“) mittels ihres Amtscharismas zur Geltung gebracht werden kann. Der Oberarzt reformuliert hier gleichsam den »Bewährungsmythos« (Oevermann 1995) der psychosomatischen Abteilung: Psychotherapie per se ist hilfreich. Die ideelle Identität der kollektiven Praxis wird nun wiederhergestellt. Dies geschieht hier in der paradoxen Form eines Heilsversprechens, das im Angesicht einer unbekannten Zukunft und dem offensichtlichen Gefühl der Sinnlosigkeit des aktuellen Handelns erneuert wird76. Team- und Abteilungsbesprechungen dienen immer auch der Reformulierung und Restabilisierung der jeweiligen Organisationsidentitäten77. Dies geschieht, indem Zweifel integriert werden und Problemen Faktoren zugerechnet werden, die außerhalb der eigenen Handlungsmöglichkeiten liegen. Funktionell erscheinen diese Besprechungen weniger als Entscheidungsgremium - wenngleich sie diese Funktion auch manchmal erfüllen - denn als Raum, in dem die Leitunterscheidungen der jeweiligen Organisation, ihre Programme - wenn man so will: ihre Fortschritts- und Bewährungsmythen – aktualisiert werden. (c) Interdisziplinäre Fallkonferenzen In den interdisziplinären Fallkonferenzen setzen sich Experten unterschiedlicher Disziplinen, Abteilungen oder Häuser zusammen und diskutieren über aktuelle Fälle. In den internistischen und chirurgischen Abteilungen ist dieses Gremium als Tumorkonferenz institutionalisiert, in der psychosomatischen Abteilung als psychiatrische Fallkonferenz78: Im Gegensatz zu den täglichen Routine- und Abteilungsbesprechungen handelt es sich hier um echte Entscheidungsgremien. Es geht hier weniger um die Kontrolle oder rituelle Absicherung ärztlichen Handelns, sondern auch darum, sich bewusst der Kontingenz interdisziplinärer Sichtweisen auszusetzen, um zusätzliche Anregungen für den Entscheidungsprozess zu bekommen: 264 VI. Ärztliches Feld Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit: „Warum macht man überhaupt etwas, wenn die Situation so ist” Ein Internist einer benachbarten Klinik stellt den Fall einer 55-jährigen Patientin vor. Vor einem Jahr habe die Frau eine Chemotherapie bekommen; jetzt würden sich Metastasen in der Lendenwirbelsäule und in der Speiseröhre zeigen. Darüber hinaus sei noch von einer Lungenembolie auszugehen, da sie Atembeschwerden habe. Die Patientin wünsche sich jetzt keine Bestrahlung mehr, allerdings noch eine Chemotherapie, die ihr das Leben etwas verlängere. Die Hämatologin bemerkt, dass bei dieser Tumormasse kaum zu erwarten sei, dass die Chemotherapie noch etwas bringe. Die Radiologin fragt, ob man nicht doch eine Bestrahlung versuchen solle. Ein internistischer Oberarzt aus dem Haus bemerkt hierzu, dass dies wahrscheinlich nur zu einer Fistel führen würde. Der chirurgische Chefarzt fügt hinzu, dass es sich jetzt sowieso nur noch um palliative Maßnahmen handeln würde. Der Internist fragt in die Runde, warum man denn jetzt überhaupt noch was machen solle. Der Arzt, der den Fall eingebracht hat, bemerkt, dass ihm wohl diese Frage gelte. Eine Onkologin bemerkt, dass dann vielleicht doch noch eine Chemotherapie am sinnvollsten sei. Die Hämatologin stellt diesen Vorschlag mit dem Hinweis auf die große Tumormasse erneut in Frage. Ein Stationsarzt bemerkt, dass die Patientin sowieso irgendwann Sauerstoff bekommen müsste. Die Diskussion geht noch eine Weile weiter. Im Anschluss an die Tumorkonferenz bemerkt eine Stationsärztin ihrem Kollegen gegenüber, dass sie es gut fände, dass der Oberarzt gefragt habe, warum man denn überhaupt noch was machen solle: Ein Internist aus Wildpark, einer kooperierenden Klinik stellt vor: Internistischer Oberarzt (Gast aus der Klinik Wildpark): Frau Rühl ... 55 Jahre alt ... Adenokarzinom ... vor einem Jahr Chemotherapie ... LWS Metastasen ... und auch im Ösophagus ... ist dann gelasert worden, so dass die Passage wieder in Ordnung funktioniert ... erschwerend kommt hinzu: Dispneumie, so dass davon auszugehen ist, dass da eine Lungenembolie ... die Patientin ist durch die Luftnot belastet ... will keine Bestrahlung mehr, sondern eine Chemotherapie, die das Leben etwas verlängert ... Hämatologin: Ich erwarte nicht, dass eine Chemotherapie etwas verbessert, bei der Tumormasse ... Radiologin: Dann doch noch mal versuchen zu bestrahlen. Internistischer Oberarzt (des Krankenhauses, in dem die Tumorkonferenz stattfindet): Ich hätte Zweifel daran, dass Bestrahlung etwas bringt, führt dann sicher zu einer Fistel. Prof. Strauss: Egal, was man macht, ist sowieso nur noch eine palliative Maßnahme ... Internistischer Oberarzt: Warum macht man überhaupt was, wenn die Situation so ist? Internist (von der Klinik Wildpark): Das ist jetzt eine Frage an uns. Ambulante Onkologin: Wenn Strahlentherapie zu einer Fistel führt, dann wäre Chemotherapie sinnvoller. Hämatologin: Aber bei der Tumormasse ist dann Chemotherapie auch nicht sinnvoll ... Stationsarzt: Sie müsste dann sowieso auch Sauerstoff bekommen ... [...] (auf dem Gang, nachdem die Tumorkonferenz beendet ist) Stationsärztin Frau Schneider (zum Stationsarzt Scholz): Ich finde es toll, dass Herr Maaz [internistischer Oberarzt] gesagt hat‚warum soll sie überhaupt eine Bestrahlung bekommen ... Im Gegensatz zu den Riten der Frühbesprechung und der Tendenz zur programmatischen Schließung in den Abteilungsbesprechungen ist es auf der Tumorkonferenz gestattet, einen breiteren Möglichkeitsraum zu öffnen. Unter Einklammerung der stationsüblichen Machtverhältnisse ist solch ein Diskurs nur in besonderen sozialen Räumen möglich, in denen die Reproduktion der Hierarchien und interdisziplinären Grenzen für einige Momente zurücktreten kann79. Die 4. Formelle Entscheidungsgremien 265 hier von den Ärzten eingebrachten, nur schwer zu behandelnden Fälle erlauben und gebieten es, die eingefahrenen, routinierten Bahnen zu verlassen und sich stattdessen auf einen manchmal durchaus etwas chaotisch erscheinenden Suchprozess zu begeben um zu bestimmen, was denn nun am besten zu tun sei. Im Sinne eines interdisziplinären brain stormings werden hier Handlungsperspektiven abgetastet. Aus der Perspektive einer anderen Station oder Disziplin kann der Sinn des weiteren ärztlichen Handelns gar selbst in Frage gestellt werden. Angesichts der Herausforderung, auch bei diesen schwierigen Fälle zu einer Entscheidung kommen zu müssen, sind solche Provokationen ertragbar, zudem sie zum einen in der Regel immer nur von den „Externen“ kommen, zum anderen, weil sie ein Spektrum von Entscheidungsoptionen aufspannen, in dem man sich dann gut positionieren kann. Einen Fall auf der Tumorkonferenz vorzustellen heißt, ihn einer Entscheidung zuzuführen, zu der man – egal wie dann am Ende entschieden wird – leichter stehen kann. Angesichts von unentscheidbaren und unbehandelbaren Fällen kann die Tumorkonferenz zwar einerseits – wie es sicherlich ihrer Selbstbeschreibung entsprechen würde - als ein Gremium qualifizierter Fachkompetenz gesehen werden, das hier zu Rate gezogen wird. Ein soziologischer Beobachter kann jedoch den Eindruck gewinnen, dass es hier nicht nur um das Fachliche zu gehen scheint, sondern auch darum, überhaupt guten Gewissens eine Entscheidung treffen zu können. Durch dieses setting scheint hier die Kontingenz „künstlich“ erhöht zu werden, um sie dann anschließend überzeugend als ärztliche Entscheidung wieder reduzieren zu können. Die Freude der beiden Stationsärzte, dass man es dem Oberarzt aus dem anderen Hause endlich mal gesagt habe, scheint dann zwar aus der Akteursperspektive verständlich, denn hier scheint im Sinne eines herrschaftsfreien Diskurses das bessere Argument gesiegt zu haben. Aus systemischer Sicht erscheint jedoch auch eine andere Deutung des Geschehens möglich. Die Szene erscheint auch als eine Reinszenierung ärztlicher Entscheidungskompetenz in einem Fall, wo an sich nicht mehr viel zu entscheiden ist. Es ist zu vermuten, dass der Arzt, der den Fall in die Konferenz eingebracht hat, wohl selber an dem Sinn weiterer Behandlungsversuche zweifelt. Das hier analysierte Beispiel bedeutet natürlich nicht, dass auf der Tumorkonferenz auch Fälle vorkommen, in dem überwiegend Sachfragen und weniger die Selbstinszenierung ärztlicher Entscheidungsmacht im Vordergrund zu stehen scheint80. Suche nach Entscheidungsalternativen: „Das Einzige ist eine experimentelle Therapie ... vielleicht monoklonale Antikörper” Ein Oberarzt der chirurgischen Abteilung stellt den Fall eines Mannes vor, in dessen Bauch eine Vielzahl metastasierender Knoten gefunden wurde. Der Chefarzt ergänzt, dass die eigentliche Frage sei, was man jetzt noch tun könne, zumal der Mann erst 40 Jahre alt sei. Der Oberarzt fügt hinzu, dass der Mann sich gut über Behandlungsmöglichkeiten seiner Krankheit informiert habe und wüsste, dass es kein konventionelles Verfahren gebe, das ihm helfen könne. Vielleicht könne man jedoch noch eine experimentelle Therapie probieren, etwa Antikörper gegen die Krebszellen. Eine Hämatologin bemerkt daraufhin, dass man den Patienten erneut an der Uniklinik vorstellen sollte: Oberarzt Dr. Lage: Überall im Bauch metastasierende Knötchen ... in der Leber sind keine Metastasen zu finden Chefarzt Dr. Strauss: Die Frage ist jetzt eigentlich, was tun, der Patient ist 40 Jahre alt ... Dr. Lage: Der Patient ist ausgesprochen gut informiert ... kennt alle wissenschaftlichen Studien zu dem Thema und weiß konventionell gibt’s da jetzt nichts mehr ... das Einzige ist eine experimentelle Therapie ... vielleicht monoklonale Antikörper ... Hämatologin: Ihr müsst den nochmals an der Uni-Klink vorstellen ... 266 VI. Ärztliches Feld Auch hier erscheint die Fallvorstellung als eine Suchbewegung im Angesicht eines jungen Patienten, bei dem man nicht mehr weiter weiß. Pointiert wird das Problem dadurch, dass der Patient vollkommen informiert ist und deutlich um die Grenzen der üblichen Therapien weiß. Hier bietet sich jedoch die Lösung, zumindest ideell noch eine Behandlungsperspektive bieten zu können, indem man den Fall an die Hochschulmedizin delegiert. Die Medizin braucht sich (noch) nicht mit dem Scheitern ihrer Behandlungsversuche zu arrangieren, sondern kann - von der Tumorkonferenz abgesegnet - noch einen weiteren Versuch versprechen. Der behandelnde Arzt kann gestärkt dem Patienten mit seinem Vorschlag entgegentreten und sich dabei auf das Gespräch berufen. Die Uniklinik erscheint hier als ein Joker, den man ausspielen kann, um nicht anders entscheiden zu müssen: nämlich den Patienten mit einem palliativen Therapieregime auf sein Sterben vorzubereiten. Die Fallkonferenz dient hier analog zum vorangegangenen Beispiel auch zum hypothetischen Durchspielen von Entscheidungsalternativen. Entscheidungskonferenzen lassen sich manchmal auch als Joker nutzen, um eine Wende im bisherigen Entscheidungsprozess herbeiführen zu können: Königsentscheidungen als Kontingenzbewältigung: „Nichts vorher sagen ... doppelt blind” Melanie, eine 19-jährige Patientin, wird aufgrund einer Essstörung in der psychosomatischen Station behandelt. Wenngleich der für die Abteilung konsiliarisch tätige Psychiater bei ihr schon eine „Ich-strukturelle Störung“ und keine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis diagnostiziert hat, beschließt der Stationsarzt, die Patientin auf der psychiatrischen Fallkonferenz vorzustellen. Der Einzeltherapeut ist überrascht, seine Patientin vor versammelter Mannschaft wiederzufinden und macht dem Arzt einen Vorwurf. Doch die junge Frau wird zur Fallkonferenz gebeten. Etwa zwanzig Personen in weißen Arztkitteln sind anwesend, darunter der Chefarzt der psychosomatischen Abteilung sowie der Chefarzt der Psychiatrie. Beide sehen diese Patientin zum ersten Mal und verzichten ausdrücklich darauf, sich vor der Befragung durch das therapeutische Team Informationen zur Fallgeschichte oder den Vordiagnosen geben zu lassen. Melanie wird etwa zwanzig Minuten lang über ihre Symptomatik, ihre Beziehungen zu Vater und Mutter, ihr Sexualleben, ihre Psychiatrieaufenthalte, ihre schulische Situation sowie über ihre Zukunftswünsche ausgefragt und anschließend aus dem Raum geschickt. In der anschließenden Diskussion beschließen die Chefärzte, die Patientin in die Psychiatrie zu verlegen: Prof. Marek (Chefarzt der psychosomatischen Abteilung): Nichts vorher sagen Prof. Gutmus (Chefarzt einer psychiatrischen Abteilung): Doppelt blind (Die Patientin wird befragt und anschließend gebeten, den Raum zu verlassen. Der Fall wird von den beiden Chefärzten diskutiert. Man einigt sich auf eine Schizophrenie und beschließt, die Patientin in die Psychiatrie zu verlegen.) Die psychiatrische Fallkonferenz erscheint hier durch ihre hochkarätige Besetzung als ein Joker, der in eine vielleicht schon erstarrte Behandlungssituation Bewegung bringen kann. Einen Fall vorzustellen bedeutet, ihn der Willkür einer „Königsentscheidung“ (Wettreck 1999: 181) auszusetzen. Die Diagnosen und Einschätzungen der bisher involvierten Therapeuten und Ärzte können einfach links liegen gelassen werden. Die Karten werden neu durchmischt und in einem spontanen Akt chefärztlich entschieden. Die Fallkonferenz erzeugt gewissermaßen erhöhte Kontingenz, um eine definitive Entscheidung zu provozieren. Der hier von dem psychiatrischen Chefarzt im umgekehrten Sinne seiner Bedeutung verwendete Begriff „doppelt blind“ 5. Zeitliche und räumliche Koordination 267 pointiert ironisch die erwartete Zuspitzung des Geschehens. Während in dem Forschungsdesign des Doppeltblindformats Patienten- und Therapeuteneinflüsse methodologisch kontrolliert werden – bei gesicherter Diagnose wissen weder der Arzt noch der Patient, ob das Verum oder nur ein Scheinmedikament verabreicht worden ist - wird hier eine Situation aufgebaut, in der Kontextvariablen gezielt ausgeschaltet werden, um der ärztlichen Willkür besonderen Raum zu geben. Interdisziplinäre Entscheidungskonferenzen erzeugen – wie die unterschiedlichen Beispiele aufzeigen - einen Raum erhöhter Kontingenz. Hierdurch wird es leichter möglich, in prekären Fällen Entscheidungen zu treffen, für die keine Entscheidungsroutinen bestehen. Als institutionalisiertes Gremium für regelmäßig wiederkehrende Problemlagen (insbesondere onkologischer bzw. psychiatrischer Natur) erleichtern sie es, unter Unsicherheit Entscheidungen treffen zu können. Abschließend: Formelle Entscheidungsgremien erfüllen recht unterschiedliche Funktionen innerhalb der ärztlichen Handlungsvollzüge. Ein soziologischer Beobachter kann hier neben den immanenten Funktionen (Qualitätssicherung, Falldiskussionen etc.) latente Funktionen entdecken. Es geht hier immer auch um die Restabilisierung ärztlicher Ordnung, um die rituelle (Wieder-)Herstellung abteilungseigener Programme, aber auch um die institutionalisierte Bewältigung von unsicheren Entscheidungen. 5. Zeitliche und räumliche Koordination ärztlicher Arbeit Die Darstellung der komplexen Vernetzung der unterschiedlichen, parallel verlaufenden Prozesse im Krankenhaus würde allein schon eine dicke Monografie füllen können - zumal hierzu auf arbeitswissenschaftliche und techniksoziologische Diskurse zurückgegriffen werden müsste und darüber hinaus auch die soziale Organisation medizinischer Arbeit unter diesem Blickwinkel aufzuarbeiten wäre81. Auch wenn hier nicht einmal im Ansatz eine Beschreibung der räumlichen und zeitlichen Organisation medizinischer Arbeit geleistet werden kann, so möchte ich dennoch anhand einiger ausgewählter Beobachtungsbeispiele deutlich werden lassen, dass die soziale Organisation medizinischer Entscheidungen untrennbar mit dem zeitlichen und räumlichen Gewebe dieser Prozesse verbunden ist. Soziale Räume gestalten und manifestieren sich auch in physischen Räumen und umgekehrt82. (a) Räumliche Organisation Die Anonymität eines Großklinikums gestaltet andere Beziehungsmuster als die überschaubare Welt eines kleinen Hauses. Auf der einen Seite steht das städtische Krankenhaus mit einer überschaubaren Größe. Die Wege zu den Funktionsabteilungen sind innerhalb kurzer Zeit erreichbar. Tendenziell kennen sich die Ärzte untereinander. Man trifft sich in der Kantine, auf dem Gang oder vor dem Aufzug wieder. Die geringen räumlichen Distanzen zwischen den Mitarbeitern erleichtern es, die formellen Entscheidungswege abzukürzen. Man kann kurz ein paar weitere Details zu einem Befund besprechen oder etwa einen Kollegen ansprechen, ob dann nicht doch am Freitagnachmittag noch eine Spezialuntersuchung durchgeführt werden kann83. Den zweiten Typ repräsentiert das Universitätsklinikum. Allein schon durch die räumlichen Distanzen kann es 268 VI. Ärztliches Feld schon mal 10 bis 20 Minuten dauern, bis eine Akte persönlich einer Spezialabteilung übergeben worden ist. Nicht selten müssen sich die Ärzte durch komplizierte Telefonverzeichnisse graben, um den Experten ans Telefon zu bekommen, der gerade dabei ist, die Proben eines Patienten zu befunden, bei dem dringend eine Therapieentscheidung getroffen werden sollte. Jedoch nicht nur im Hinblick auf die Klinikform, sondern auch unter den verschiedenen medizinischen Disziplinen zeigen sich Unterschiede in der Organisation der Arbeit. In der chirurgischen Abteilung dreht sich alles um den Operationsplan. In den Phasen intensiver Operationstätigkeit sind kaum noch Ärzte auf den Stationen anzutreffen. Entscheidungen bleiben dort liegen, können allerdings – falls die beteiligten Ärzte im gleichen Operationssaal sind - auch während einer Operation besprochen werden. Der Operationssaal – zentraler Ort der chirurgischen Arbeit – ist zugleich auch informeller Raum, wo man sich trifft und nebenbei auch andere Dinge besprechen kann. Gerade die medizinischen Entscheidungsautoritäten sind als chirurgische Kapazitäten eher wenig auf der Station anzutreffen. Dies wird von Patienten und Pflegepersonal regelmäßig beklagt, denn manche Stationsentscheidungen können aus diesem, aber auch aus anderen Gründen leicht für längere Zeit liegen bleiben. Demgegenüber stellt in den internistischen Abteilungen die Station einen Raum dar, in dem regelmäßig Ärzte anzutreffen sind. Auch ist hier der Rhythmus ein langsamerer und gegenüber der Chirurgie herrscht eine andere Diskussionskultur. Die zweite Meinung ist ausdrücklich erwünscht. Bei vielen Gesprächen hört ein Kollege mit einem Ohr zu und schaltet sich gegebenenfalls in die Diskussion ein. Während der Chirurg dem Patienten überwiegend in einem liegenden und anästhesierten Zustand begegnet, wird für die Internisten auch der aktive Patient zum Gegenstand der medizinischen Auseinandersetzung. Neben der Funktionsdiagnostik in den peripheren Abteilungen interessiert insbesondere auch die klinische Symptomatik: Was kann der Patient noch tun? Wie viele Treppen kann er steigen? Wo genau schmerzt es? Und ob er sich müde fühle etc. In der psychosomatischen Abteilung verlagert sich der soziale Raum der Entscheidung noch mehr zum Patienten hin. Sein Verhalten, seine Haltung, seine Mitarbeit („compliance“) wird selbst zum Teil des diagnostisch-therapeutischen Prozesses. Die Station stellt hier den zentralen Ort dar, an dem sich Einzel- und Gruppentherapeuten, Ärzte und Pfleger treffen und darüber austauschen können, was der Patient anstellt, wie er sich führen lässt, ob er Fortschritte zu machen scheint und welcher Schritt als nächstes getan werden sollte. Vielfältige informelle aber keineswegs zufällige Begegnungen helfen, die fluiden psychischen und sozialen Phänomene, die den Patienten charakterisieren, zu einer Gestalt zu verdichten. Chirurgie und Psychosomatik stehen gewissermaßen an den zwei Enden eines medizinischen Kontinuums. Während mit der OP-Indikation die Frage der Therapie und Diagnose normalerweise in den Hintergrund tritt, wird in der Psychosomatik die Suche nach dem „richtigen“ Bild über den Patienten und damit nach der entsprechenden Intervention zu einer permanenten Aufgabe. In der einen Disziplin wird schnell und oftmals „aus dem Bauch“ heraus entschieden, in der anderen unter Bedingungen erhöhter Reflexivität, gegebenenfalls auch unter Supervision. Die beiden internistischen Stationen stehen in der Mitte. Wenngleich ihre Diagnosen und Therapien im Gegensatz zur Psychosomatik einen unhinterfragten objektiven Status beanspruchen, so stellt sich jedoch der Weg, die richtige Diagnose zu finden, nicht selten als eine Suchbewegung dar, die durchaus chaotische Elemente haben kann. Entsprechend gewinnen auch hier die (sozialen) Räume, in denen ein Diskurs stattfinden kann, an Bedeutung. 5. Zeitliche und räumliche Koordination 269 (b) Zeitliche Koordination Während der idealtypische medizinische Behandlungsprozess einer sequenziellen kausalen Logik folgt - aus dem Ergebnis der einen Diagnose bzw. des einen Therapieversuchs folgt eine weitere Diagnose bzw. der nächste Schritt im Therapieplan –, zeichnen sich die realen Prozesse im Krankenhaus durch eine Vielzahl parallel laufender, in der überwiegenden Mehrzahl nicht kausal verknüpfter Einzelprozesse aus. Ob etwa ein geplanter chirurgischer Eingriff kurzfristig wegen einer Notfalloperation abgesagt werden muss oder von den zwei Laborexperten gerade einer in Urlaub und der andere kurzfristig erkrankt ist, ist weder vorhersehbar noch planbar. Zufällig begegnen sich im Krankenhaus unterschiedlichste Falltrajektorien und biografische Linien in ihren jeweiligen Eigengesetzlichkeiten – denn warum ein konkreter Patient mit einem speziellen Krankheitsbild auf ein bestimmtes Konglomerat von Spezialisten trifft, die gerade Dienst haben, unterliegt keiner gekoppelten Kausalität. Dennoch laufen diese Prozesse organisiert ab, denn ein Krankenhaus ist in Form hochgradig arbeitsteiliger Prozesse in der Lage, die unterschiedlichen therapeutischen und diagnostischen Aufgaben zu zergliedern, prozessorientiert abzuarbeiten, um dann in der Gestalt eines mehr oder weniger sinnvollen diagnostischen und therapeutischen Handelns wieder zusammenfließen zu lassen84. Die Koordination und sinnhafte Zusammenführung dieser „taylorisierten“ Bausteine medizinischer Tätigkeit obliegt dann wieder dem einzelnen, jeweils für diesen Patienten verantwortlichen Arzt. Während die Funktionsabteilung die Gesamtgestalt in der Regel kaum überblicken kann und dementsprechend Fehler, die sich in den Prozess einschleichen, kaum bemerkt, muss hier auf der Station der Überblick gewahrt bleiben, denn nicht selten finden sich Brüche in der Koordination oder gar Fehler. Die folgenden drei Beispiele verdeutlichen die Komplexität, aber auch einige Bruchstellen innerhalb dieser Prozesse. Eine Oberärztin der chirurgischen Abteilung verdeutlicht dem Beobachter am Beispiel eines aktuellen Falles die vielfältigen Anforderungen an ein gelungenes Zeitmanagement: Verzahnung organisatorischer Prozesse: „Sie sehen, was das für ein Aufwand ist” Eine Patientin wird zur operativen Anlage eines Dialyse-Zugangs („Shunt“) in der chirurgischen Abteilung angemeldet. Zunächst müssen hierzu als vorbereitende Diagnostik die Arterien in einem bildgebenden Verfahren dargestellt werden. Für den Aufnahmetag muss auf der Station ein freies „Frauenbett“ bereitstehen. Dementsprechend muss geschaut werden, welcher Patient bis dahin entlassen werden kann. Parallel hierzu muss mit der diagnostischen Abteilung besprochen werden, ob am nächsten Tag, eine „Arteriografie“ durchgeführt werden kann. Da sich durch die am gleichen Tag stattfindende Dialyse die Blutwerte der Patientin verändern, muss die Aufnahmestation instruiert werden, dass erst am darauf folgenden Tag die routinemäßige Blutuntersuchung stattfinden solle, denn würde fälschlicherweise Alarm geschlagen, könnte der Eingriff nicht stattfinden. Die Anforderungsbögen für die Diagnostik und den gewünschten OP-Termin müssen ausgefüllt werden. Um sicher zu gehen, dass die Scheine an die richtige Stelle kommen, werden sie persönlich abgegeben. Außerdem startet die Ärztin einen Versuch, die Patientenakte, in der die vorangehenden Operationen beschrieben sind, noch rechtzeitig zu bekommen. Schließlich wird darauf geachtet, die Patientin zu einer Uhrzeit einzubestellen, wo die Oberärztin noch anwesend ist und einen klinischen Eindruck von der Frau gewinnen 270 VI. Ärztliches Feld zu kann. Darüber hinaus muss der voraussichtliche OP-Termin mit der ambulanten Dialyse abgestimmt werden, denn kurz vor der Operation sollte noch eine Dialyse stattgefunden haben. Entsprechend muss mit der ambulanten Praxis Kontakt aufgenommen werden. Abschließend bemerkt die Ärztin dem Beobachter gegenüber, dass er jetzt sehen könne, was für eine Arbeit in der Operationsvorbereitung stecken würde und dass es dann schlecht sei, wenn ein Patient die Operation wieder absagen würde: Oberärztin Dr. Kindl: … eine Shunt-Patientin … Arteriografie abklären – neuer Shunt setzen – wen kann man entlassen, was sind die leichten Fälle, damit wieder ein Bett frei wird? Morgen abend nachfragen nach einem Frauenbett. In der Aufnahme anrufen, dass die Patientin morgen um 17:00 kommt. Kommt um 17:00 nach der Dialyse, keine Blutentnahme, nachfragen auf der 21, ob ein Bett frei wird. Hab ich am Freitag früh die Möglichkeit, eine ‚Arteriografie‘ zu machen? Aufnahme: Keine Blutentnahme – Blutentnahme Freitag um 8:00 – OP Termin am Dienstag. Dialyse auf Montag verschieben ... Zettel ausfüllen und abgeben ... (Die Ärztin fragt eine Schwester, ob es ein freies Frauenbett geben würde, diese sagt: „Ich weiß es nicht.“) Oberärztin (anschließend zum Beobachter): Immer wieder ‚weiß ich nicht‘, ich schaffe Patienten heran und sichere die Arbeitsplätze und auf der Aufnahme heißt es, „der Zettel ist voll”. Das ist grundsätzlich öffentlicher Dienst. Das sind Sachen, die mich tierisch ärgern. Ich interessiere mich für DialyseShunt-Patienten. [...] Wenn die dann um 17 Uhr kommt, dann kann ich die noch untersuchen, wo der Arterienpuls fühlbar ist. Erst am nächsten Tag muss dann Blut abgenommen werden. Denn die Patientin bekommt um 17 Uhr mit der Dialyse Heparin, dass die Blutgerinnung hemmt, bei der Blutuntersuchung würden dann falsche Werte herauskommen, wenn die dann auf der Radiologie diese Werte sehen, würden die sagen, ‚die Arterioskopie können wir nicht machen‘ und dann würde die Patientin eine Stunde unten liegen, bis die einen neuen Test gemacht hätten und das will ich vermeiden, indem ich jetzt genau aufschreibe: Bei der Aufnahme keinen Bluttest und dann wird der Bluttest erst am nächsten Morgen um 8:00 gemacht und dann stimmen die Werte. Wenn um 8:00 der Bluttest gemacht wird, dann kann um 10:00 das Röntgen gemacht werden. [Dann den Anforderungsbogen für die Angiografie ausfüllen] Was will ich: Ischämie linke Hand. Darstellung der Situation linker Arm. [Dann versuchen, die bisherigen OP-Berichte zu bekommen. Den OP-Bericht vom Universitätsklinikum anfordern. Die Chefsekretärin von hier ha ja mal dort gearbeitet. und besorgt dann die Akte. Eigentlich müssten wir eine Einverständniserklärung vom Patienten faxen. Wir versuchen es jetzt aber unbürokratisch, sonst kann ich es gleich vergessen. Dann die OP-Planung: Die Dialyse ist Dienstag, Donnerstag, Samstag, dann sind drei Tage dazwischen. Die OP sollte aber relativ frisch nach einer Dialyse stattfinden. Also am besten Dienstag und die Dialyse muss dann auf Montag verschoben werden (diesbezügliches Telefonat mit der Dialysepraxis). [...] Jetzt muss der OP-Zettel fertig gemacht werden: OP, arterielle Rekonstruktion, Dr. Merkel oder Dr. Kindl, wird persönlich im Chefsekretariat abgegeben. [...] Sie sehen, was das für ein Aufwand ist, die Vorbereitung, wenn dann eine Patientin sagt, ich will nicht, dann ist kehre. Selbst ein chirurgischer Routineeingriff, wie die Anlage eines Dialyse-Shunts, kann für die Ärzte eine erhebliche Anforderung im Hinblick auf das Zeitmanagement darstellen. Während der eigentliche Eingriff für die Ärztin wohl kaum einen organisatorischen Aufwand darstellen wird – es ist davon auszugehen, einen sauberen Operationsaal mit gewarteten Geräten vorzufinden, dass die Operationsschwestern zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle anzutreffen sind und dass die Ärzte die Abläufe der Operation gleichsam im Schlaf beherrschen –, kostet die Koordination des Patientenaufenthaltes erhebliche Aufmerksamkeit. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die ambulanten Einrichtungen mitdenken, die Schwestern automatisch die Bettenkoordination übernehmen, die Anforderungszettel rechtzeitig bearbeitet werden und die jeweiligen diagnostischen Abteilungen ihre eigenen Routinen an die konkrete Fallproblematik anpassen. Entsprechend müssen alle diese Prozesse persönlich koordiniert werden. Auf einer Station ein freies Bett zu bekommen, kann ein erhebliches individuelles Engagement erfordern85. Insbesondere wenn dann noch ambulante und stationäre Behandlungsprozesse verzahnt werden müssen, oder gar die Arbeiten verschiedener Häuser koordiniert werden müssen86, ergeben sich 5. Zeitliche und räumliche Koordination 271 vielfältige Probleme, die in der Regel nur durch persönlichen Einsatz angegangen werden können. Jemand muss hier die Aufgabe des Fallmanagements übernehmen - andernfalls entstehen „Pannen“, die erhebliche Verzögerungen und Reibungsverluste mit sich bringen können. Probleme innermedizinischer Arbeitsteilung: „Der Chef geht in Urlaub [...] und wir haben immer noch nicht die Werte” Herr Trampert, ein 62-jähriger Patient der chirurgischen Station, hat einen Tumor im Nebennierenbereich. Die Ärzte sind sich jedoch unsicher im Hinblick auf die Genese des Geschwürs. Wahrscheinlich handele es sich um eine Metastase eines Bronchialkarzinoms, das vor zwei Jahren operiert wurde. Unter Umständen könne es sich jedoch auch um ein Primärkarzinom aus dem Drüsengewebe handeln. Im letzteren Falle wären bei der Operation Komplikationen zu erwarten, denn wenn solch ein Tumor angeschnitten würde, besteht die Gefahr, dass schlagartig eine große Menge von Hormonen freigesetzt würde, was wiederum zu einer tödlichen Kreislau fdestabilisierung führen könnte. Da der Patient ohne die Abklärung dieser diagnostischen Frage auf die Chirurgie überwiesen wurde, haben die Ärzte dort zunächst die Tumorklassifizierung mit Hilfe spezifischer biochemischer Marker veranlasst. Eine entsprechende Probe wurde nach München geschickt, da in Berlin kein Labor diese speziellen Untersuchungen durchführen kann. Als nach sieben Tagen immer noch kein Befund vorliegt, stellt die Oberärztin mit Schrecken fest, dass der Chefarzt als einziger Spezialist für diese Art von Operationen nächste Woche in Urlaub fahren werde. Nun versucht sie, telefonisch den Befund einzuholen. Nachmittags liegt das Ergebnis schließlich vor. Der Patient kann am nächsten Tag operiert werden. Der Stationsarzt erklärt dem Beobachter im Anschluss das Dilemma der Station: Einerseits wolle man die Erwartung des Patienten nach einer zügigen Operation erfüllen, andererseits sei man juristisch belangbar, falls einem bei der Operation aufgrund falscher Annahmen ein Fehler unterlaufen würde: Donnerstag, 9.3. 9:10 Oberarztvisite Oberärztin Dr. Puls (wird bleich vor Schreck): Der Chef geht in Urlaub und bei so einer kniffligen Operation brauchen wir den, denn er ist der Einzige der das kann. Und wir haben immer noch nicht die Werte. 9:20 (Stationszimmer) (Die Oberärztin telefoniert mit Dr. Peters, dem leitenden Oberarzt und dem Speziallabor aus München. Anschließend zum Stationsarzt): Dr. Puls (zum Stationsarzt): Jetzt kriege ich den Ärger, nur weil ich darauf aufmerksam gemacht habe. Freitag, 10.3. (Der Befund vom Labor ist gestern am späten Nachmittag noch eingetroffen. Der Tumor stellt sich nun als Metastase des vor zwei Jahren operierten Lungenkarzinoms dar. Herr Trampert wird noch am gleichen Tage operiert) Stationsarzt Scholz (erklärt dem Beobachter nochmals die Problematik): Herr Trampert ist letzte Woche Mittwoch gekommen, hat nun mehr als sieben Tage auf die Operation gewartet. ... Von ambulanter Seite ist der eingewiesen mit der Erwartung, dass er jetzt operiert wird, dann sind aber die richtigen Befunde nicht da und dann stehen wir in der Zwickmühle, entweder der Erwartung des Patienten nach einer zügigen Operation zu genügen oder den fehlenden Befund abzuklären ... wenn wir letzteres nicht tun und es passiert was, dann sind wir juristisch dran. ... Das ist so ein Beispiel von schlechter 272 VI. Ärztliches Feld Verzahnung von ambulanter und stationärer Betreuung. ... Die Sprechstunde hier im Haus wird nicht bezahlt und der Hausarzt macht sich bei der Einweisung keinen Kopf ... die Verzahnung ambulant stationär funktioniert überhaupt nicht und wir sind juristisch belangbar, wenn wir suboptimal vorbereitet operieren. ... Andererseits wird der eingewiesen mit der Erwartung, dass jetzt operiert wird ... Sinn der Sprechstunde ist es, vorher abklären zu lassen, was für Untersuchungen noch gebraucht werden. Wenn die diagnostischen Möglichkeiten zur Vermeidung von Kunstfehlern bestehen, dann müssen diese auch genutzt werden. Insbesondere in komplexen Fallgeschehen können sich jedoch erhebliche Koordinationsprobleme ergeben, denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die ambulanten Ärzte die jeweiligen Differenzialdiagnosen wissen, geschweige denn die Spezialuntersuchungen von sich aus eigenständig veranlassen. In diesen und ähnlichen Fällen muss die Diagnostik dann vom Haus veranlasst werden. Da jedoch im Sinne der institutionellen Arbeitsteilung spezielle Untersuchungen nicht mehr selbst durchgeführt werden können, ergeben sich hier weitere Probleme und Unwägbarkeiten, die – wie hier durch rechtzeitiges Nachhaken, manchmal aber auch durch die Übernahme eines diagnostischen Risikos - bewältigt werden müssen87. Insbesondere die Universitätsklinika zeigen sich aufgrund ihrer Größe und Undurchschaubarkeit, aber auch aufgrund ihrer sozialen Topologien besonders anfällig für Probleme in der Koordination von Diagnostik und Therapie: Koordinationsprobleme innerhalb steiler Hierarchien: „Hat dann der Chef von denen bei meinem Chef angerufen” Ein Stationsarzt der onkologischen Abteilung telefoniert mit der Röntgenabteilung, da ein CT, was er vor ein paar Tagen beantragt hatte, bis jetzt noch nicht bearbeitet wurde. Dem Arzt wird erklärt, dass der Konsilschein noch gar nicht angekommen sei. Daraufhin erzählt der Arzt dem Beobachter, dass er sich früher noch gegen solche Zustände gewehrt habe. Dies hätte jedoch keinen Sinn, sondern würde nur Magengeschwüre bereiten. Einmal habe er an die Röntgenabteilung eine zweite Aufforderung als Mahnung geschickt. Diese Aktion hätte jedoch dann dazu geführt, dass sich der dortige Chefarzt bei seinem Chef über ihn beschwert habe: Mittwoch, 21.11. Dr. Kringe (telefoniert): ... ja für Frau Stollberg ... eine CT mit Kontrastmittel ... ist das hier bei Ihnen nicht angekommen? ... Dr. Kringe (zu dem Beobachter): Anfangs habe ich da auch noch gekämpft, aber das gibt dann doch nur Magengeschwüre ... habe dann anfangs die Konsilscheine nach zwei Tagen nochmals ausgefüllt und groß drauf geschrieben „zweite Aufforderung“ ... hat dann der Chef von denen bei meinem Chef angerufen und gefragt „wie lange läuft sein Vertrag noch?“ Besonders für die jungen Kollegen eines universitären Großklinikums ist die Aufgabe, diagnostische und therapeutische Prozeduren zu koordinieren, nicht immer leicht zu leisten. Die informellen Kanäle sind ihnen mangels Kenntnis der jeweiligen Personen verstellt, und der offizielle Dienstweg funktioniert oft nur noch bedingt bzw. nach undurchschaubaren Gesetzen. An einer Uni-Klinik stellt sich für sie zusätzlich noch das Problem der steilen Hierarchien. Der Durchgriff auf die jeweils andere Abteilung läuft in der Regel nur über den Umweg der Leitungsebene – es ziemt sich nicht, etwas von einem hierarchisch höher gestellten Arzt zu fordern, geschweige denn diesen oder seine Abteilung gar zu kritisieren. Nicht nur die physische, sondern auch die soziale Topologie gestaltet hier den Möglichkeitsraum, ob, wann und unter welchen Bedingungen Dinge machbar sind. An einem Universitätsklinikum können sich - mehr oder weniger explizit - Wertigkeiten in der Bearbeitung von Anforderungen herausbilden, die in gewisser Weise die 5. Zeitliche und räumliche Koordination 273 soziale Hierarchie spiegeln. Anforderungen für die privat versicherten Chefpatienten, ebenso die Fälle, welche in die reputativen Forschungsvorhaben eingebunden sind, werden in der Regel schneller bearbeitet, ebenso natürlich die Notfälle. Der gemeine Stationsarzt einer onkologischen Abteilung, der auf eine CT angewiesen ist, um den nächsten Therapiezyklus einer Chemotherapie starten zu können, muss oft tagelang auf die Bearbeitung seiner Anforderung warten88. Im Einzelfall können die diagnostischen und therapeutischen Prozesse so weit auseinanderdriften89, dass der Krankenhausaufenthalt kaum noch den ursprünglichen Zweck erfüllen kann90. Abschließend: Ärztliche Arbeit im Krankenhaus stellt sich als ein hochgradig arbeitsteiliger Prozess dar, dessen „Tätigkeitsfragmente“ immer wieder zu einem sinnvollen Ganzen verzahnt werden müssen. Diese Koordinationsarbeit ist nur bedingt routinisierbar und verlangt oft erheblichen Einsatz der beteiligten Personen. Insbesondere die fehlende Verzahnung unterschiedlicher medizinischer Arbeitsbereiche (Diagnose und Therapie, ambulanter und stationärer Bereich) kann selbst zu einem Entscheidungsthema werden, etwa in dem Sinne, dass man abwägen muss, ob man den Patienten übermäßig lange warten lässt, andere Ärzte brüskiert oder gar ein medizinisches Risiko in Kauf nimmt. Unterschiedliche räumliche und soziale Distanzen zu den gefragten medizinischen Funktionsabteilungen prägen dabei nicht unwesentlich die Eleganz bzw. Reibung der Arbeitsabläufe. 6. Zusammenfassung „Ärztliches Feld” − Im Hinblick auf die Arbeitszeiten sind im ärztlichen Feld die üblichen arbeitsrechtlichen Vorgaben de facto außer Kraft gesetzt. Insbesondere an den Universitätsklinika sind Wochenarbeitszeiten von 60-80 Stunden nicht selten anzutreffen. − Besonders die Stationsärzte müssen sich unter steilen Hierarchien und oftmals willkürlich erscheinenden Chefentscheidungen einer Situation der permanenten Überforderung stellen. Wenngleich gelernt werden kann, den permanenten Stress zur Routine werden zu lassen (»routinization of emergency«), bleibt das Problem, dass insbesondere für die in Ausbildung Befindlichen die Arbeitsanforderungen tendenziell ins Grenzenlose anwachsen. − Unter Bedingungen befristeter Arbeitsverträge von zunehmend kürzerer Dauer werden insbesondere die Weiterbildungsassistenten erpressbar, nahezu alle Arbeitsbedingungen kritiklos anzunehmen, zumal sie nicht selten auch von dem Wohlwollen der leitenden Ärzte abhängig sind, die benötigten Weiterbildungsabschnitte aus Gefälligkeit bestätigt zu bekommen. Strukturell ergeben sich hier Spannungen zu den älteren Assistenten, die es sich erlauben können (und müssen), den Anforderungen zu widersetzen. − Der behandelnde Stationsarzt führt in der Regel den Patienten, der Oberarzt ist dabei in der Regel zumindest rudimentär in das Fallgeschehen involviert, während es dem Chefarzt als dem „Letztverantwortlichen“ der Hierarchie obliegt, den Gesamtprozess zu supervidieren und bei entsprechenden „Qualitätsmängeln“ einzugreifen. Mit Ausnahme der Privatpatienten ist der Chefarzt in der Regel nicht mehr in die Patientenführung involviert. Die leitenden Ärzte sind von den arbeitsintensiven Anforderungen der Stationsarbeit entlastet und haben in der 274 VI. Ärztliches Feld Regel weniger Patientenkontakt als die Stationsärzte. Entsprechend fällt es ihnen leichter, eine distanziertere Position einzunehmen. Sie stehen strukturell eher auf der Seite der Organisation, während sich der Stationsarzt tendenziell mehr dem Patienten verantwortlich fühlt. − Das Bestehen steiler Hierarchien innerhalb des Krankenhauses bedeutet nicht, dass auch an den „kleinen“ Arzt die Forderung gestellt wird, autonom zu handeln und zu entscheiden. Ein Stationsarzt muss die Fähigkeit entwickeln, eigenverantwortlich widersprüchliche Anweisungen zu balancieren und einen Mittelweg in den organisatorischen und ärztlichen Interessenkonflikten zu finden. Darüber hinaus muss er den Spagat leisten, einerseits die übergeordneten Hierarchieebenen nicht übermäßig zu belasten, andererseits im Hinblick auf die „Distribution“ von Verantwortung immer wieder die Absicherung von oben zu suchen. − Ärztliche Macht und Entscheidungsgewalt wird durch die Position im Feld bestimmt, nicht durch die Fachkompetenz. Als zentrales und konstitutives Moment des ärztlichen Feldes kann Macht als originär soziale Dimension quer zum medizinischen Wissensstand und Können liegen. − Chefärzte inszenieren sich in der Regel als „Meta-Entscheider“. Der Chef lässt sich nicht fragen, ob er entscheidet, sondern entscheidet selber, wann er entscheidet. Im Einzelfall kann der chefärztliche Habitus totalitäre Züge reiner Willkür annehmen. − Die Oberärzte haben in der ärztlichen Hierarchie eine Mittlerrolle inne. Informiert über die Geschehnisse auf der Station übernehmen sie in den kritischen Fällen Mitverantwortung. Teilweise können Oberärzte allerdings auch die Konfliktlinien in Bezug auf verschiedene Entscheidungsstile und –kulturen verstärken. − Externe Ärzte, Hausärzte, aber auch beratende Ärzte anderer Abteilungen stehen außerhalb der Entscheidungslinien der Station. Chef- und Oberärzte können sich über Diagnose- und Therapieentscheidungen der hinzugezogenen Fachkompetenzen hinwegsetzen. Stationsgrenzen stellen „Schnittstellen“ dar, an denen jeweils selektiv entsprechend der eigenen medizinischen Kultur Informationen gefiltert und rezipiert werden. − Formelle Entscheidungsgremien erfüllen recht unterschiedliche Funktionen innerhalb der ärztlichen Handlungsvollzüge. Neben immanenten Funktionen (Qualitätssicherung, Falldiskussionen) kann ein soziologischer Beobachter hier auch latente Funktionen entdecken, wie die permanente Restabilisierung hierarchischer Strukturen, die rituelle (Wieder-) Herstellung abteilungseigener Programme, aber auch die institutionalisierte Bewältigung von Entscheidungsunsicherheiten. − Die soziale Organisation medizinischer Entscheidungen ist untrennbar mit der zeitlichen und räumlichen Koordination dieser Prozesse verwoben. Soziale Räume gestalten und manifestieren sich auch in physischen Räumen und umgekehrt. Die Anonymität eines Großklinikums mit seinen räumlichen und sozialen Distanzen gestaltet andere Beziehungsmuster als die überschaubare Welt eines kleinen Hauses. − Ärztliche Arbeit im Krankenhaus stellt sich als ein hochgradig arbeitsteiliger Prozess dar, deren „Tätigkeitsfragmente“ immer wieder zu einem sinnvollen Ganzen verzahnt werden müssen. Diese Koordinationsarbeit ist nur bedingt routinisierbar. Die mangelhafte Verzahnung unterschiedlicher zeitlicher Prozesse kann zu einem Entscheidungsthema werden, etwa in dem Sinne, dass man abwägen muss, ob man Patienten übermäßig lange warten lässt oder ein medizinisches Risiko in Kauf nimmt. Anmerkungen 275 Anmerkungen 1 Eine Befragung Berliner Ärzte zur Arbeitssituation im Krankenhaus führte zu folgendem Ergebnis: »Die Überschreitung der tarifrechtlichen oder gesetzlichen Bestimmungen zur Arbeitszeit gehört in Berlins Krankenhäusern offenbar zur Regel. Bei 86,2% der antwortenden Ärzte wurde mindestens eine gravierende Verletzung des Arbeitszeitgesetztes oder des Tarifrechts festgestellt. Als gravierende rechtliche Verletzungen wurden eingestuft: - regelmäßig 5 und mehr Überstunden pro Woche bzw. eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 45 und mehr Stunden, - weniger als 50% der Überstunden werden offiziell registriert, [...] - monatlich mehr als 6 Bereitschaftsdienste [...], - keinerlei Ausgleich von Bereitschaftsdiensten, - Ruhezeiten nach Bereitschaftsdiensten oder einem langen Arbeitstag regelmäßig geringer als 5,5 Stunden oder selten bzw. nie möglich, - Arbeit nach Bereitschaftsdiensten regelmäßig länger als 2 Stunden (sofern nicht Forschungsarbeiten als Grund angegeben wurden) oder - nur 50% oder weniger Wochenendvisiten werden ausgeglichen. Das Ergebnis ist vernichtend: Für 62,1% der Befragten lassen sich zwischen 2 und 4 gravierende Abweichungen feststellen. Nur bei 141 von 1019 Antworten kommen keine gravierenden Verletzungen des Rechts vor!« (Brennecke 2002: 13). 2 Als Beispiel für viele andere hier eine im Namen seiner oberärztlichen Kollegen geäußerte Kritik von Görg (2001) im Ärzteblatt benannt: »Arbeitsverträge für junge Ärztinnen und Ärzte werden häufig nur noch für Monate oder ein Jahr abgeschlossen. Diese zunehmende Vertragswillkür durch Chefärzte und Verwaltungsleiter stellt einen Missbrauch ihrer Macht dar und löst bei den jungen Kollegen große Unsicherheit über ihre Zukunft aus. Sie leben gleichsam in der Zeitdimension der fortgesetzten Augenblicklichkeit (11). Die Sorge um den Arbeitsplatz erzeugt ein Gefühl der ständigen Verletzlichkeit und ist sehr familienfeindlich (9). Trotz gesetzlicher Arbeitsvorschriften werden die gesetzwidrigen Praktiken mit übermäßig hohen Wochenarbeitszeiten erwartet. Nacht- und Wochenenddienste bewirken eine Deregulierung der Arbeitszeit (11) ganz nach dem Motto: Der Arzt hat jederzeit verfügbar zu sein. Die vielen unbezahlten Überstunden treffen besonders das schwächste Glied in der ärztlichen Hierarchie, den Arzt im Praktikum, der mit einem Gehalt knapp oberhalb des BAföG-Satzes nicht in der Lage ist, eine Familie zu ernähren. [...] Durch den Stellenabbau hat sich die Arbeitsbelastung des Arztes deutlich erhöht. Neben Krankenversorgung, Lehre und Forschung werden ihm zunehmend administrative Tätigkeiten abverlangt, die in einer unangemessenen Art und Weise ärztliche Fähigkeiten und Arbeitszeit vergeuden. [...] Auch die Implementierung neuer Abrechnungs- und Finanzierungssysteme (DRG), bei denen der kranke Mensch zu einem ,,Summationsfaktor von Diagnosen und therapeutischen Maßnahmen mit entsprechendem Marktwert” umfunktioniert wird, soll überwiegend von ärztlichen Mitarbeitern durchgeführt werden und verlagert deren Arbeitskraft in das Feld der Betriebswirtschaft« (Görg 2001: A 1174), s. im gleichen Sinne Stork (2001) und Flintrop (2001). Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist auch die breite Resonanz auf die Frage des British Medical Journals »Why are doctors so unhappy?« (Smith 2001b). 3 Kinder sind entsprechend dieser Logik natürlich auch kein Grund, auf dem Weg zu einer ärztlichen Leitungsposition eine Pause einlegen zu dürfen. Frau Kindl, eine chirurgische Oberärztin, benennt hier im Interview klar die Regeln, die für eine Frau gelten, wenn sie trotz eines eigenen Kindes ihre berufliche Karriere weiterverfolgen will. “Weiterarbeiten wie zuvor”, “eine durchgehende Kinderbetreuung” und “Glück mit dem Kind” sind hier als notwendige, wenngleich nicht hinreichende Ingredienzen zu nennen, die Mutterrolle und den Beruf vereinbaren zu können: Frau Dr. Kindl: »[...] Ich hab an der Uni-Klinik angefangen als Assistentin und da gab es gar nichts anderes, als dass ich weitermache auch als ich die Kleine bekommen habe, weil ich sonst in irgendwelchen Kanälen gelandet wäre, die mit Recht auch die, wo ich das Ganze hätte vergessen können, also in der Chirurgie muss man für meine Begriffe, es geht auch anders, es gibt auch Ausnahmen, aber das ist nicht das Übliche, für meine Begriffe muss man durcharbeiten, weiterarbeiten, sonst wäre ich jetzt nicht Oberärztin, und ich hab durch meine jetzige Position zwar nicht weniger Arbeit, aber ich habe ʻn paar Sachen, die ganz sind, ich muss nachts nicht hier bleiben, ich darf nachts nach Hause gehen, ich hab zwar 12 Nachtdienste, Rufdienste, aber ich darf, ich weiß immer, ich komme irgendwann nach Hause und ich muss nicht mit meinen fast 50 Jahren in der Ersten Hilfe stehen und Kopfplatzwunden nähen, ja? Ich darf eben Sachen entscheiden, ich darf also, das ist mir viel lieber und das ist genau das, was ich auch erreichen wollte [...] und dazu musste ich natürlich weiterarbeiten, und ich hab immer ein Riesenglück gehabt, meine Tochter die ganze Schwangerschaft war völlig unkompliziert, meine Tochter war immer gesund, sie war nur krank, wenn ich mal Urlaub hatte, da hatte sie ihre Kinderkrankheiten, das war also Riesenglück und die war völlig unkompliziert und es lief immer unheimlich gut, und ich hatte ʻne Tagesmutter die ersten gut 2 Jahre, 21/4 Jahre und dann war sie eben im Kindergarten, und ich hatte immer genug Leute, die sie abholen konnten, und als ich in der ersten Zeit, das waren die ersten drei Jahre, bis sie drei Jahre war, hatte ich noch Anwesenheitsdienste, nee, danach dann auch noch mal, teils teils, und da hatte ich immer jemanden, wo sie dann schlafen konnte, und ich hab da also immer Glück gehabt«. 276 4 VI. Ärztliches Feld Auf der universitären Onkologie wurde beobachtet, dass krank geschriebene Ärzte gar im Rollstuhl zur Arbeit kamen. 5 Das Kürzel NEF steht für Notarzt-Einsatzt-Fahrzeug. 6 Im moralischen Code geht es, um mit Luhmann zu sprechen, darum, das Verhalten des anderen in den Kategorien gut/schlecht zu beurteilen. Verhalten wird hier auf Personen attribuiert: »Von Moral wollen wir sprechen, wo immer Individuen einander als Individuen, also als unterscheidbare Personen, behandeln und ihre Reaktionen aufeinander von einem Urteil über die Person statt über die Situation abhängig machen. In diesem Sinne ist Moral eine gesellschaftliche Universale, da es keine Gesellschaft gibt, in der Individuen einander nicht als Individuen unterscheiden. […]. Wie immer, Moral ist nicht ein Normtypus besonderer Art, ja nicht einmal durchweg auf Normierung angewiesen (es gibt primär meritorische Moralen), sondern eine Codierung, die auf dem Unterschied von Achtung und Mißachtung aufbaut und die entsprechenden Praktiken reguliert« (Luhmann 1998a: 245). 7 Während in der moralisierende Form die bewertete Person ethisch disqualifiziert wird, stellt die pathologisierende Form das Verhalten des anderen als krankhaft oder zumindest als psychisch gestört dar. In beiden Fällen wird das Problem auf Personen, nicht jedoch auf Strukturen attribuiert. Zur Illustration die Schilderung einer chirurgischen Oberärztin über die Personalsituation der Abteilung: Die von ihr erwähnten Altassistenten bekommen hier gleichsam durch die Blume eine psychische Störung attestiert: »Wir haben inzwischen halt auch so ʻne Lücke hier in der Struktur, 4 Oberärzte und dann ein paar Altassistenten, wobei zwar ein Teil von uns Oberärzten, sitzen auf Facharztstellen, also keine richtige Oberarztstelle, sondern eine Funktionsoberarztstelle, dass heißt, das ist aus dem Assistentenpool eigentlich und das sind unbefristete Verträge, und dann gibt es Fachärzte mit unbefristeten Verträgen, die sagen wir mal in der Karriereleiter nicht höher gekommen sind und als Dauerassistent noch an dieser Abteilung arbeiten, die sitzen einer im Moment in der Aufnahme und der andere in der Intensivstation, zwei gerade auf der Intensivstation, ja dann merkt man schon so langsam ein bisschen psychische Auswirkungen so oder Krisen einfach, die schon einen gewissen Frust schlicht weg mit rumtragen«. 8 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung auf der chirurgischen Station, dass die vielen Versuche einiger Assistenten, eine gemeinsame Assistenten-Besprechung zu organisieren, jedesmal gescheitert sind. Auf oberflächlicher Ebene scheint hier die Schwierigkeit zu bestehen, einen gemeinsamen Termin zu finden. Eine tiefer liegende Analyse würde jedoch vielmehr zeigen, dass auch die Positionierung der Ärzte im Feld einer allzu offensichtlichen Kooperation der Stationsärzte abträglich ist. Zum einen stellen eben die Stationsärzte keine Einheit dar. Die Interessen etwa der jungen, “mittleren” und alten Assistenten variieren massiv. Zum anderen lässt die Identifikation und die Kollaboration mit den “herrschenden” Ärzten eine allzu starke Vertretung der Interessen der gemeinen Ärzteschaft besonders für die jungen Kollegen unattraktiv erscheinen. Diesbezügliche Dynamiken sind nicht nur auf der Chirurgie, sondern auch auf den anderen Stationen festzustellen. 9 S. hierzu auch das folgende Beispiel aus der internistischen Abteilung: Dr. Martin, ein Altassistent, und Dr. Schmidt, der gerade seinen AiP beendet hat, stehen vor dem Belegungsplan und überlegen, wie die neuen Patienten am besten zu verteilen sind. Dr. Martin erklärt, dass es am besten sei, wenn die Ärzte nicht so viel hin und her rennen müssen und verteilt entsprechend dieser Logik die Patienten. Daraufhin wirft Dr. Schmidt ein, dass ja nun drei seiner Patienten in einem Zimmer lägen. Er befürchte, dass es ihm schwer fallen würde, sich von den Fragen der anderen abzugrenzen, wenn er dann mal wegen einer Kleinigkeit zu einem ins Zimmer müsste. Der erfahrene Stationsarzt erwidert daraufhin, dass es gut sei, wenn man alle seine Patienten in einem Zimmer habe. Man müsse die dann nur entsprechend straff führen. 10 Vielmehr wurde eher beobachtet, dass in den ärztlichen Visiten Gesprächsbedürfnisse diagnostiziert wurden, die dann entsprechend weiter delegiert wurden. Formeln wie: „Sprechen Sie das morgen in der Einzeltherapie nochmals an”. „Gleich ist Gesprächgruppe, da können Sie das einbringen” routinisieren auch hier die Abgrenzung von dem Patienten. Das professionelle Selbstverständnis psychosomatischer Ärzte beinhaltet analog zu dem der Chirurgen die Haltung „sich nicht mit Patientenproblemen „zumüllen” zu lassen, da man ja schließlich qualifiziertere Aufgaben zu erledigen habe. 11 Pointiert wird das Verhältnis von Leben und Tod, Sterben lassen und Heilen nochmals in der Transplantationsmedizin, in der ja bekanntlich ein lebender Toter ausgeschlachtet werden muss, um andere Menschen vor dem Tod zu bewahren (s. hierzu: Baureithel/Bergmann 1999). 12 Die medizinische Welt und die Laienwelt unterscheiden sich in ihren Denk-, Handlungs- und Erlebniswelten radikal voneinander. Wie fremd sich diese beiden Welten sein können, konnte ich erfahren, als ich mit dem speziellen Umgang mit einer frisch verstorbenen Patientin konfrontiert wurde: 15:30 (auf der Station) Der Beobachter lernte Frau Moll, eine schwer kranke multimorbide ältere Dame auf der morgendlichen Visite zum ersten Mal kennen. Den Ärzten erschien ihr gesundheitlicher Zustand äußerst prekär und eine Reihe von Interventionen wurden versucht, um das Ruder noch einmal herumzureißen. Als der Beobachter nach dem Mittagessen wieder auf die Station kam, erwähnte ein Stationsarzt, dass man Frau Moll einen zentralvenösen Katheter legen wolle. Der Beobachter fragte, ob er dabei sein könne. Der Arzt antwortete, dass dies selbstverständlich möglich sei. Der Stationsarzt, die Ärztin im Praktikum und der Beobachter gingen in das Zimmer, wo die Patientin lag. Der Beobachter wunderte sich, dass der “behandelnde” Arzt zwischendurch ans Telefon gerufen wurde, dazu den Raum verließ und dann nach einer Viertelstunde erneut versuchte, den Zugang zu legen. Das Blut war jedenfalls noch flüssig und erst als die “Operation” Anmerkungen 277 schließlich glückte, realisierte der Beobachter, dass die Patientin schon seit einiger Zeit tot gewesen ist und die Ärzte den Eingriff an der Toten nur zum Übungszweck für den Notfall veranstaltet hatten. Er hatte die ganze Zeit gedacht, dass die Patientin noch lebe, vielleicht ein wenig flach atme, was man aber wegen des massiven Übergewichts der Patienten nicht sehen könne. Dieser fundamentale Rahmungsfehler des Beobachters lässt seine Fremdheit hinsichtlich der ärztlichen Lebenswelt massiv deutlich werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der an einer Toten geübt wird, scheint für den Beobachter so unvorstellbar gewesen zu sein, dass von ihm die Realität dieses Vorgangs nicht einmal mehr wahrgenommen werden konnte. 13 Selbst ein Universitätsprofessor kann im ökonomischen Verteilungskampf des Krankenhauses seine Stationen verlieren. 14 Die zwei folgenden kurzen Szenen verdeutlichen die tiefe habituelle Verankerung der Beziehung zwischen Chefarzt und den untergebenen Ärzten: (1) Als Frau Dr. Schneider das Telefon mit dem Hinweis “Chef” überreicht bekommt, zuckt sie deutlich zusammen und bemerkt anschließend dem Beobachter gegenüber: “Früher habe ich immer einen Schreck gekriegt, wenn der Chef anruft.” (2) Die Oberärztin bittet den Stationsarzt, vor der Chefvisite noch schnell ein großes Pflaster über die Narbe einer Patientin zu kleben, damit dieser nicht sehe, wie hässlich die Narbe geworden sei. 15 Entscheidungen über Versetzungen auf andere Stationen und Arbeitsbereiche fallen vielfach über den Kopf der Betroffenen Akteure. 16 Bei einer Oberarztvisite auf der psychosomatischen Station wurde einmal beobachtet, dass bei einer kritischen, aber sehr interessanten Patientin die wenigen Personen, die das Therapiegespräch beobachten durften, persönlich vom Oberarzt ausgewählt wurden. 17 In der Abteilung der Inneren Medizin wurde versucht, eine Bevorzugung einzelner Kollegen zu vermeiden, in dem die Assistenten turnusmäßig in Halbjahresrhythmen in die nächste Abteilung wechseln. Während des Beobachtungszeitraums wurde begonnen, diese jahrelang geltende Regel von einem kardiologischen Oberarzt zu unterlaufen. Dieser konnte der Leitung deutlich machen, dass er sein riesiges Arbeitspensum nicht mehr bewältigen könne, wenn immer nur Anfänger um ihn herum arbeiten würden. 18 So wurde in der onkologischen Abteilung beobachtet, dass Weiterbildungsassistenten während der Abteilungsbesprechung vom Chefarzt ungefragt recht zeitaufwändige Sonderaufgaben aufgetragen wurden. Ein Assistent wurde etwa zum Beauftragten für biologische Sicherheit ernannt, ein anderer bekam die Kontrollaufgabe, die Einhaltung des Blutprodukte-Gesetzes zu überwachen, ein dritter wurde zum DRG-Beauftragten. Alle diese „Ernennungen” geschahen im institutsöffentlichen Rahmen der Abteilungsbesprechung. Wenngleich sie vorher nicht persönlich über den Vorgang informiert wurden, nahmen alle „Opfer” den Auftrag stillschweigend an. 19 Zur Illustration die folgende Beobachtungssequenz aus der psychosomatischen Abteilung. Bemerkenswert ist hier insbesondere der Versuch des betroffenen Assistenten, die Wut gegenüber seinem Vorgesetzten im Nachhinein “unbeobachtet” zu machen, indem er den Beobachter bittet, den „Vorfall” nicht zu dokumentieren: 13:30 (auf dem Weg zur Kantine) Dr. Klingsor (zur Einzeltherapeutin Frau Meinhard): ... wenn es dann um richtige Entscheidungen geht, dann ist es hier wie überall ..... wenn der Dr. Jonas [der Oberarzt] dann verstimmt ist, dann kriege ich noch mehr Arbeit aufgebrummt ... ich habe eine Stinkwut ... und man ist so ohnmächtig ... Dr. Klingsor (zum Beobachter): Ich sage das aber jetzt privat, nicht dass du das jetzt dokumentierst, sonst sage ich dann nämlich gar nichts mehr ... wahrscheinlich brauchst du das gar nicht für deine Studie ... was sind denn überhaupt die Ziele dieser Studie? (Der Beobachter erklärt in relativ abstrakter Form, dass es um Entscheidungsprozesse gehe, insbesondere um Hierarchien und Kommunikationslinien). [...] (später am Essenstisch) Frau Meinhard (zu Dr. Klingsor, der etwas niedergedrückt auf seinem Stuhl sitzt): Du sitzt ja da! Stationsarzt Völler: Kein Wunder, wenn er dem Jonas den Artikel schreiben muss. 20 Auf der psychosomatischen Station berichtet eine Therapeutin dem Beobachter, dass sie zuvor in Süddeutschland ein kleines Forschungsprojekt geleitet habe, dann sich aber hier in Berlin auf die Stelle einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin beworben habe. Im Einstellungsgespräch habe man ihr versprochen, dass sie von der Stationsarbeit entlastet Vollzeit forschen könne. Kurz nachdem sie die Stelle angetreten habe, hätte der Chefarzt die Stellenbeschreibung geändert und sie anstelle in der Wissenschaft ganztägig im Stationsdienst eingesetzt. 21 Das Gefühl, als starkes Ich mit rationaler Vernunft die Situation beherrschen zu können, zeichnet den ärztlichen Professionellen geradezu aus. Der Arzt attribuiert seinem Handeln eine viel höhere Wirksamkeit als ihm etwa von den Krankenschwestern zugeschrieben wird. S. in diesem Sinne auch die Studie von Berg (1996) über den Wandel des ärztlichen Selbstbildes. 22 Diese Diskrepanz trifft generell die Mittelschichten der modernen Gesellschaften unter dem Zeichen der Neoliberalisierung. Unter der Voraussetzung der funktionellen Trennung zwischen Ökonomie, Medizin, Wissenschaft etc. kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Erfolg in Medizin, Wissenschaft etc. auch ökonomisch honoriert 278 VI. Ärztliches Feld wird, oder zumindest die ökonomischen Risiken einer biografischen Bindung an diese Funktionssysteme in einem erträglichen Rahmen bleiben (s. a. Sennet 1998). 23 In diesem Sinne verwundert kaum der Bericht von Frau Dr. Reif, dass nach der Schließung einer Abteilung im Krankenhaus einer der beiden Oberärzte verwahrlost bei den Obdachlosen aufgefunden worden sei und der andere sich gar umgebracht habe. 24 Hierzu ein weiteres Beispiel aus der chirurgischen Abteilung: Die Oberärztin erklärt dem Beobachter, warum einem Assistenten kurz nach der morgendlichen Röntgenbesprechung die Tränen über die Wangen gelaufen seien. Dieser habe erfahren, dass seine Stelle für weitere neun Monate verlängert worden sei. Nun sei er überglücklich, schließlich habe er ja eine Familie: 8:20 (Stationszimmer) Oberärztin Frau Dr. Kindl: Bei dem Müller, Sie haben das ja heute morgen gesehen, der hat geweint wegen einem dreiviertel Jahr Verlängerung, der Mann hat eine Familie. 25 An beiden untersuchten Krankenhäusern der Maximalversorgung wurde von solchen Fällen berichtet. 26 In diesem Sinne ist durchaus zu vermuten, dass der Befund, dass unter den akademischen Berufen der Ärztestand die höchste Selbstmordrate aufweist, gerade auch mit der tiefen Identifikation der Betroffenen mit dem ärztlichen Sein zusammenhängt. Zum Thema Suizidalität unter Ärzten s. u.a. König (2001). 27 In diesem Sinne kann auch die Geschichte von Herrn Dr. Kringe, einem anderen Stationsarzt der onkologischen Abteilung, gelesen werden. Dr. Kringe leitetet mittlerweile eine kleine Forschungsgruppe in der Abteilung, wenngleich auch bei ihm früher zunächst keine „onkologische Vision” anzutreffen gewesen ist: Dr. Kringe: »Ich bin 39 Jahre alt [...] hab dann in der normalen Regelstudienzeit da meinen Abschluss gemacht. Habe im Rahmen meiner Doktorarbeit mich mit einem onkologischen Thema beschäftigt, gegen Ende des Studiums war mir noch nicht so ganz klar gewesen, wo die Reise hingeht. Ich hatte mich eigentlich immer soʼn bisschen für Neurologie interessiert halt, bin dann aber im PJ also, als ich dann das, also die praktische Tätigkeit kennen gelernt habe, eher so wieder abgeschweift, da war die Innere eher wieder für mich attraktiv und sah mich halt soʼn bisschen dann am Ende in der Situation, dass ich irgendwie außer meinem Abschluss keine Referenzen habe [...] viele haben ja praktisch schon im Studium versucht, sich in einer Abteilung halt einzuarbeiten, meistens da, wo sie die Doktorarbeit gemacht haben. Ich hab halt in einem theoretischen Institut eine Doktorarbeit gemacht, wo ich jetzt nicht unbedingt hin wollte und habe dann mich dann besonnen, dass ich eigentlich ja eine onkologische Doktorarbeit gemacht habe und das im Endeffekt meine einzige Referenz ist. Natürlich zu einem Thema, das mich interessiert hat und das eben auch Innere ist. Und hatte mich dann hier beworben aufgrund einer Stellenanzeige im Ärzteblatt und habe dann also auch die Stelle sofort bekommen.« 28 Zur Illustration zwei Interviewsequenzen mit einer chirurgischen Oberärztin, die seit 25 Jahren im Beruf steht. In der ersten Sequenz antwortet sie auf die Eingangsfrage des Beobachters nach den Entscheidungsituationen aus ihrer Praxis, dass es für sie eigentlich kaum noch etwas zu entscheiden gäbe. Am Ende des Interviews auf ihre Karriere hin befragt antwortet sie, dass sie froh sei, in eine Stellung gekommen zu sein, wo sie es sei, die die Entscheidungen treffe: Beobachter: So; ja; mich interessieren jetzt einfach persönliche Entscheidungssituationen bei Ihnen hier im Beruf, in der ärztlichen Praxis; und ich verstehe jetzt unter Entscheidungen also eigentliche echte Entscheidungen, also wo nicht von vornherein aus juristischen oder Fachgründen klar ist, was zu tun ist [...] Dr. Kindl: Das gibtʼs eigentlich ganz selten für mich. Beobachter: Ganz selten? [...] Dr. Kindl: Ja - ja - es hängt ja immer von sehr vielen Faktoren ab, was man macht und wie man sich entscheidet und die Faktoren existieren; das ist das Alter des Patienten, das Umfeld, die Krankheiten des Patienten und die Art der Erkrankung natürlich, und davon ist es abhängig, was man macht und das ist für mich sehr klar vorgegeben [...] Beobachter: Das ist einfach die Erfahrung? Dr. Kindl: Ich denke ja; es gibt sehr wenige Situationen in denen man Unterschiede, also in denen ich mich schwer entscheiden kann; es gibt sicher verschiedene Arten, wie verschiedene Kliniken entscheiden; das kann ich mir vorstellen; das weiß ich; das weiß ich von Kongressen; aber eigentlich haben wir hier ein ziemlich klares, ziemlich klares Entscheidungsprofil, klar natürlich; eigentlich haben wir hier ein ziemlich klares Vorgehen und ziemlich klare, ja sehr ähnliche Ansichten und das ist relativ selten, dass man unterschiedlich entscheidet, denke ich. [...] Dr. Kindl: [...] und das haben meine Eltern mir eben ermöglichst durchʼs Studium und alles, und dann war das für mich ja auch ganz wahnsinnig wichtig, als ich mich getrennt hab, warʼs wichtig, dass ich mein eigenes Geld verdient habe und ich hab an der Uni-Klinik angefangen als Assistentin, und da gab es gar nichts anderes, als dass ich weitermache, auch als ich die Kleine [meine Tochter] bekommen habe, weil ich sonst in irgendwelchen Kanälen gelandet wäre, die mit Recht auch, die wo ich das Ganze hätte vergessen können, also in der Chirurgie muss man für meine Begriffe, es geht auch anders, es gibt auch Ausnahmen, aber das ist nicht das Übliche, für meine Begriffe muss man durcharbeiten, weiterarbeiten, sonst wäre ich jetzt nicht Oberärztin, und ich hab durch meine jetzige Position zwar nicht weniger Arbeit, aber ich habe ʻn paar Sachen, die ganz sind, ich muss nachts nicht hierbleiben, ich darf nachts nach Hause gehen, ich hab zwar 12 Nachtdienste, Rufdienste, aber ich darf, ich weiß immer, ich komme irgendwann nach Hause und ich muss nicht Anmerkungen 279 mit meinen fast 50 Jahren in der Ersten Hilfe stehen und Kopfplatzwunden nähen, ja? Ich darf eben Sachen entscheiden, ich darf also, das ist mir viel lieber und das ist genau das, was ich auch erreichen wollte. Subjektpsychologisch gesprochen konstituiert hier die Identifikation mit den Zwängen des Feldes die Stärke des Selbst. Das Subjekt geht hier gewissermaßen ohne Dissonanz zu den Gesetzen des Feldes in diesem auf, ist gleichsam vollkommen habitualisiert, wird eins mit dem Feld. Die Spannung zwischen Objekt und Subjekt verschwindet in der gelebten Praxis. 29 Das Gefühl ärztlicher Macht scheint hier auch seinen Ausgangspunkt zu finden. Schem (1998) geht in seinem autobiografischen Roman bezüglich des Gefühlskonglomerats, das Ärzte im Krankenhaus erleben, gar von einer Einheit von Tod, Erotik und Macht aus. 30 »Auf die direkte Frage „Warum üben Sie den Beruf des Chirurgen aus?” erwähnte nur ungefähr ein Drittel der befragten Ärzte die Möglichkeit zu heilen als einen Hauptgrund. [...] Die anderen gaben als Hauptgrund die Freude an der chirurgischen Aktivität an: „Es macht Spaß”, „ich habe Freude am ganzen Prozess”, „es ist aufregender als alles andere”, „ich arbeite gerne mit meinen Händen” usw. Sogar diejenigen, welche sich am meisten um das Wohl der Patienten besorgt zeigten, unterstreichen die Wichtigkeit „spezifischer Antworten”, „dramatischer Heilmethoden”, klarer Lösungen« (Csikszentmihalyi 1985: 161). 31 »Ob ein Chirurg im Verlauf einer Operation Langeweile, Entspannung, flow oder Angst empfindet, hängt von dem Verhältnis zwischen seinem Können und der Komplexität des Falles ab. [...] So gaben Chirurgen zum Beispiel zu, in reinen (anforderungslosen) Routinerollen Langeweile empfunden zu haben. [...] Obwohl einige unserer Informanten aussagten, während Operationen niemals Langeweile zu empfinden, erwähnten immerhin neun ausdrücklich Langeweile bei Routinefällen und während des Assistierens. [...] Chirurgen, die in ihrem Gebiet Spitzenkönner sind, vermeiden Langeweile, indem sie nur gerade einen kleinen, aber äußerst schwierigen Teil einer Operation durchführen und die weniger anspruchsvollen Teile anderen überlassen. [...] Ich erlebe eine intellektuelle Freude – wie der Schachspieler oder Forscher, welcher alte mesopotamische Zahnstücke untersucht ... Die Berufstätigkeit macht Freude – wie etwa das Schreinern in sich selber Freude bereitet ... Die Befriedigung, ein äußerst schwieriges Problem anzugehen und zu lösen. Ich habe Vergnügen an einer Ökonomie der Bewegungen und versuche, die Operation so gut durchdacht und geplant wie möglich durchzuführen. Es ist sehr gut; viel Vergnügen dabei und Befriedigung. Es geht gut, wenn die Stiche richtig sitzen, wenn die Blutungen nicht zu groß werden, und wenn die Gruppe problemlos zusammenarbeitet ... es läuft dann in einer ästhetisch ansprechenden Weise.« (Csikszentmihalyi 1985: 163ff.). 32 »Wie andere flow-Aktivitäten ist auch die Chirurgie eine Welt für sich, in welcher relevante Stimuli, Normen und Handlungen festgelegt sind. Es gibt einen speziellen Ort – den „Operationsschauplatz” – wo die Aktivität ausgeführt wird sowie eine Menge von Rollen, Uniformen und Ritualen. Um aus der Alltagswelt in diese umschriebene Welt der Berufsaktivität hineinzuwechseln, stützen sich Chirurgen auf verschiedene Übergangshilfen [...] Während dieser Übergangsperiode muß der Chirurg eine neutrale Haltung gegenüber dem Leben des Patienten einnehmen. Obwohl er sich ganz für den Erfolg der Operationen einsetzt, darf er sich nicht von dem Schicksal des Patienten einnehmen lassen, denn wenn er sich zu sehr mit diesem identifiziert, könnte er unter Druck zu ängstlich werden und die Operation verpfuschen [...] Bis der Chirurg, entsprechend gekleidet und gewaschen, in den emsigen Betrieb des Operationssaals eintritt, ist die Alltagswelt praktisch vergessen und deren Stimuli haben kaum mehr Gelegenheit zur Ablenkung. So kann der Chirurg mit der Aktivität verschmelzen, sich ganz auf die vorliegende Aufgabe konzentrieren« (Csikszentmihalyi 1985: 168 ff.). 33 Schon Rohde (1974: 111) sieht in der »Operationssucht« das vorrangige Handlungsmotiv der Chirurgen. 34 Das gezielte über-die-eigenen-Grenzen-Gehen gehört dabei zum entwickelten Habitus ärztlicher Eliten. Für viele Ärzte stellen nicht die hohen Arbeitsbelastungen als solche das eigentliche Problem dar, sondern die Verwicklungen, die sich aus den Arbeitszeitgesetzen ergeben - etwa dass Überstunden nur noch unbezahlt und illegal geleistet werden können. Zur Illustration die Proklamation eines chirurgischen Ärzteteams einer Universitätsklinik im deutschen Ärzteblatt: »Von den an chirurgischen Universitätskliniken tätigen Assistenzärzten wird erwartet, dass die bisher bei ihnen üblichen Arbeitsleistungen, die in der Regel mit einem Arbeitsaufwand von 70 bis 80 Stunden pro Woche für jeden einzelnen Arzt verbunden waren, jetzt in maximal 48 Stunden pro Woche erbracht werden. [...] Die gesetzliche Forderung nach einer drastisch verringerten Arbeitszeit hat an der weiterhin hohen Erwartungshaltung der Öffentlichkeit bezüglich der Standards und der Qualität der Patientenversorgung sowie der Lehre und der Forschung an einer universitären Einrichtung nichts geändert. Berechtigterweise kann von der Gesellschaft erwartet werden, dass sich auch die Medizin in Deutschland im Wettbewerb mit den weltweit führenden Gesundheits- und Ausbildungssystemen sowie den führenden Forschungsinstitutionen konkurrenzfähig zeigt. In diesem Spannungsfeld ist zu erwarten, dass Ärzte sich zunehmend genötigt fühlen werden, gegen das Arbeitszeitgesetz zu verstoßen, um die unverändert hohen Anspruchshaltungen erfüllen zu können. Mit diesen Erwartungen und mit hohen Erwartungen an die eigenen Leistungen haben sich engagierte Ärzte an Universitätskliniken bereits bei der eigenen Berufswahl, die oft als Berufung erfahren wird, weitgehend identifiziert. Unter den aktuellen Bedingungen eines zu eng gesteckten zeitlichen Korsetts folgt als Konsequenz hieraus, dass entweder die Identifikation mit diesen Erwartungen weitgehend aufgegeben werden muss (mit dem damit verbundenen Abschied von Idealen und wesentlichen beruflichen Motivationen), oder es muss aus Überzeugung gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen werden. Letzteres führt nicht nur zu einer illegalen und unbezahlten Mehrarbeit, sondern auch in eine versicherungsrechtliche Grauzone. Es ist zu befürchten, dass eine subtile und gefährliche Ausbeutungssituation von 280 VI. Ärztliches Feld dramatischem Ausmaß unter Ausnutzung der Leistungsbereitschaft und der Motivation engagierter Ärzte erzeugt wird, die bisher nicht beachtet wurde« (Schrem et al. 2002). 35 Ärzte zeigen unter den akademischen Berufen die höchste Prävalenz zum Selbstmord. S. auch: Brogan et al. (1998), Frank et al. (1998, 1999), Hem et al. (2000), Lindemann et al. (1997), Moesler (1994) und North et al. (1997). 36 Demgegenüber reicht es für unsere Zwecke in der Regel aus, die anderen Bereiche im medizinischen Feld (etwa die Pflege) ungeachtet der auch dort vorhandenen innerprofessionellen Differenzen in Status und Stellung als eine Einheit zu behandeln. 37 Es ergeben sich natürlich Unterschiede in den Rollen eines internistischen und eines chirurgischen Chefarztes. Während ersterer sich durchaus in mehr oder weniger starkem Umfang von der klinischen Arbeit zurückziehen kann, muss letzterer sich als „chirurgische Koryphäe” auch als praktischer Mediziner beweisen. 38 In der Organisation der Behandlung von Privatpatienten zeigen sich in den verschiedenen Abteilungen recht unterschiedliche Modelle. Während etwa auf der Onkologie und in der Chirurgie die Betreuung der Chefpatienten klar geregelt ist, der Chefarzt und ein speziell hierfür abgestellter Arzt („Privatassistent”) leisten alleine die ärztliche Betreuung, besteht auf der psychosomatischen und der internistischen Abteilung eine Konfusion der Sphären. Alle Ärzte auf der Station haben hier die Betreuung der „Privaten” mitzuleisten, was nicht selten zu Zuständigkeitskonflikten führt. 39 Viele Ärzte müssen zu Beginn ihrer Laufbahn die Erfahrung machen, dass in der Behandlung von Chefpatienten andere Gesetze gelten. Hier eine kurze Erzählsequenz aus einem mit einem 29-jährigen internistischen Assistenzarzt geführten Interview, der zu diesem Zeitpunkt auf einer Lungenstation gearbeitet hat: Arzt: [...] man muss vorsichtig sein, also ich hab früher da in der Beziehung auch viele Fehler gemacht und Leute vergrätzt, und also ich kann mich, das ist jetzt ein bisschen anderes Beispiel, aber in meiner ganz frühen Zeit als Assistenzarzt habe ich Privatpatienten betreut [...] und da gabʼs ʻn Privatpatienten, wo mein Chef, eilig wie erʼs immer hat, ein gewisses Therapiekonzept aufgebaut hat und eine Medikation angesetzt und den dann entlassen wollte und - dem ist einfach ein grober Fehler unterlaufen - ja da ist was einfach schiefgelaufen. Da ist der mit einer falschen Medikation hat er den meines Erachtens nach Hause geschickt. Interviewer: mhm Arzt: Und da hab ich eigenmächtig ʻne Entscheidung getroffen an ihm vorbei und das ist rausgekommen, und da gab es gehörigen Ärger für mich - und seitdem mache ich so was nicht mehr – ja. 40 Die folgende Beobachtungssequenz aus dem Operationsaal einer Universitätsklinik – freundlicherweise von Cornelius Schubert zur Verfügung gestellt - lässt deutlich werden, dass die hier demonstrierte Haltung des chirurgischen Chefarztes kein Einzelfall darstellt: »(Operationssaal in einem Universitätsklinikum) 8.03h: Die Anästhesieschwester kommt aus dem Labor und bringt einen Ausdruck der Blutwerte von Patient 1 mit. Der Anästhesist sagt, dass der Kaliumwert viel zu niedrig sei, bei ‚gesundenʼ Menschen würde das schon als tödlich gelten, jedoch tritt bei älteren Menschen ein Gewöhnungseffekt an niedrige Kaliumwerte auf. Der Anästhesist entschließt sich, Patient 1 Kalium zu verabreichen. Dieses Vorgehen kann unter Umständen zu Komplikationen führen, aber der Anästhesist meint: „no risk, no fun”. 8.10h: Die Krankenkurve, auf der die Medikation von Patient 1 aufgezeichnet ist, ist nicht im OP. Der Anästhesist weiß nicht, welche Präparate verabreicht wurden und mit welchen Wechselwirkungen zu rechnen ist. Er fordert die Kurve über das Telefon von der Station an, kann aber so lange nicht weiterarbeiten. 8.25h: Der Oberarzt (Anästhesist) kommt in den OP und bespricht das weitere Vorgehen für die Operation mit dem Anästhesisten und dem chirurgischen Oberarzt. 10.05h: Der anästhesistische Oberarzt entscheidet gegen den Willen des chirurgischen Chefarztes die Gabe von zwei Blutkonserven. Nach Absprache mit dem Oberarzt werden die Konserven geordert und der chirurgische Chefarzt wird von dem anästhesistischen Oberarzt informiert, dass die Anästhesie im Verlauf der Operation vorhabe, Fremdblut zu verabreichen. Die Anästhesie ist letztendlich für das Wohlergehen und die Gesundheit der Patienten verantwortlich und kann so ihre Entscheidung rechtfertigen. Der chirurgische Chefarzt möchte aber möglicht blutarm operieren um zu zeigen, dass es bei einer Operation durch einen guten Chirurgen nicht nötig ist, Fremdblut zu verabreichen. In einer fast schon filmreifen Szene schmuggeln dann die Anästhesieschwester und der Anästhesist die Blutkonserven konspirativ an dem chirurgischen Chefarzt vorbei und hängen sie so auf, dass er sie nicht sehen kann. Dies hat allerdings nur den Zweck, den chirurgischen Chefarzt nicht unnötig zu stressen und die gute Atmosphäre im OP zu erhalten« (Schubert 2002). 41 Internistische Stationen mit einem eingespielten Team können gegenüber der Chirurgie dann auch mal einen “weicheren” Chef erlauben, der weniger autoritäre Präsenz zeigt. 42 Ärzte, die lange Zeit auf der Station arbeiten, übernehmen in gewisser Form die Stationskultur in ihren Habitus mit auf. Insbesondere ihre Entscheidungs- und Reflexionsmuster passen sich den vorherrschenden Autoritäten an. Im Folgenden ein kurzer Ausschnitt aus dem Interview mit dem Oberarzt der psychosomatischen Abteilung, der die diesbezügliche Beziehung zu seinem Vorgesetzten thematisiert: Anmerkungen 281 Dr. Jonas: »Also die Aufteilung zwischen Chef und mir ist sicherlich so, dass ich konkrete Alltagsentscheidungen alleine treffe und ihm dann entweder, wennʼs Relevanz hat, davon erzähle oder aber diese Entscheidung einfach gefallen ist und dann umgesetzt wird, also sehr viel, was mit Patienten geschieht, wird nicht noch einmal großartig mit dem Chef besprochen, es gibt aber eine große Übereinstimmung in inhaltlichen Fragestellungen und ich hab bei den meisten Entscheidungen, die ich treffe, entweder sehr reflektiert oder auch mehr aus einem diffusen Empfinden heraus das Gefühl, das ist jetzt nichts, was gegen seine Intention verstoßen würde, also die hab ich ziemlich deutlich in mir diese Ideen, die er hat, und die Stoßrichtungen, die er verfolgt, so dass ich da eigentlich selten großartige Dissonanz in mir erlebe, oder das Gefühl hab, ich würde so entscheiden, er anders und wie kriegt man da jetzt nochʼn Brückenschlag hin. Das gibtʼs ganz selten mal, dass es inhaltlich bei konkreten Patienten unterschiedliche Strategien gibt, wie man so etwas diagnostiziert oder therapiert, und ich bin in den meisten Fällen dann auch bisher gut damit gefahren, dass ich dann letztendlich die Entscheidung ihm überlassen hab, wennʼs wirklich um irgendein Medikament, irgendeinen therapeutischen Schritt ging und er war da anderer Meinung als ich, dann ist es sowohl von der Hierarchie als auch von der Erfahrung her sinnvoll, dass er das entscheidet.« 43 Selbst auf der psychosomatischen Station zeigte sich regelmäßig eine Szenerie, innerhalb derer ein ganzer Haufen von Therapeuten, Praktikanten und Ärzten auf den Beginn der Oberarztvisite wartete (eine Chefvisite konnte dort nicht beobachtet werden, da sie innerhalb der 12-wöchigen Beobachtungszeit nicht stattfand). Unter den Praktikanten führt das Vorvisitenspektakel der nervös wartenden Abteilungsmitglieder nicht selten zu kritischen Bemerkungen zur Stationsorganisation: 11:10 (im Stationszimmer) Schwester Miriam (Stationspflegeleitung): Ist der Oberarzt schon unterwegs? Stationsarzt Völler: Ich glaube nicht? Schwester: Soll ich ihn mal anrufen? (Der Arzt nickt. Die Schwester telefoniert mit dem Oberarzt) Schwester: Sie sind schon unterwegs. Stationsarzt Völler: Danke. [...] 11:15 Herr Freise (Praktikant): Was das kostet, 10 Leute warten hier eine halbe Stunde, 30 Mark pro Person, also DM 300. 44 Hierzu weiter Bourdieu: »Man müßte einmal alle Verhaltensweisen zusammenstellen und untersuchen, die mit der Ausübung von Macht auf die Zeit anderer zu tun haben, und zwar von seiten des Mächtigen (Vertrösten, Hinhalten, Hoffnungen wecken, Verschieben, Abwarten, Aussetzen, Vertagen, sich Verspäten – gerade umgekehrt: Überstürzen, Überrumpeln) wie von seiten des Machtlosen, des „Patienten”, wie es in dem medizinischen Universum (einer der Hauptstätten angsterfüllten, ohnmächtigen Wartens) heißt, eines Dulders, der sich in Geduld zu üben hat. [...] Folglich ist die Kunst „sich Zeit zu nehmen”, „der Zeit Zeit genug zu geben”, wie Cervantes sagt, hinzuhalten, zu vertrösten, aufzuschieben, ohne allzu sehr zu enttäuschen, damit die Erwartung selbst nicht zerstört wird, ein integraler Bestandteil der Machtausübung« (Bourdieu 2001: 294). 45 Als der Chefarzt an einem Mittwoch auf die Station kommt, ist ärztlicherseits nur der Arzt im Praktikum anzutreffen. Die Stationsärztin und die Oberärztin sind im OP und der Stationsarzt hat heute einen freien Tag, den er jedoch dafür nutzt, in einem Arztzimmer auf der Nachbarstation telefonisch Daten für eine wissenschaftliche Studie zur Katamnese laparoskopisch operierter Krebspatienten zu erheben. Der Chefarzt sucht den Stationsarzt in dem Arbeitszimmer auf und wirft ihm schreiend vor, dass dieser doch schließlich auf seiner Station zu sein habe. Ohne eine Antwort abzuwarten verlässt der Chef den Raum und kündigt an, die Visite heute ausfallen zu lassen: Der Chef kommt auf die Station 13, als Arzt ist nur der Arzt im Praktikum anwesend. Chefarzt: Wo sind denn die Ärzte? ... Wo ist denn der Scholz? Krankenpfleger: Ich versuche mal den Stationsruf (er betätigt die Rufanlage, jedoch kommt keine Antwort) Der (SA), wo ist der denn? Arzt im Praktikum: Der ist oben in der Station 23 im Zimmer 27 und arbeitet was. Chefarzt: Der hat hier unten bei seiner Station zu sein ... Chefarzt (geht zur Rufanlage, drückt eine Taste und spricht ins Mikrofon): OP2, ist die Frau Schneider da? (Die Stationsärztin meldet sich beim zweiten Ruf.) Chefarzt: Wo ist denn der Scholz? Stationsärztin: Ich weiß es nicht ... Chefarzt: Dann fange ich eben auf der 23 an. (Der Chefarzt und der Arzt im Praktikum gehen zur Nachbarstation.) 282 VI. Ärztliches Feld Chefarzt: (auf der 23 zu einer Ärztin): Wo ist denn der Scholz? Ärztin: Der ist im Arztzimmer. Chefarzt: Ein Stationsarzt gehört auf seine Station, was macht er denn da. Ärztin: Ich hole ihn. Chefarzt: Nein, der soll da unten sein, wenn dann soll der da sein. Chefarzt (Geht zum Arztzimmer und trifft dort Stationsarzt Scholz an)(schreiend): Keiner weiß, wo Sie sind und auf der Station ist kein Arzt.” (Macht die Tür wieder zu und geht, die Visite fällt aus). 46 Allein aus zeitlichen Gründen (“1- bis 2-Minuten-Visiten”) ist es in der Regel kaum möglich, dass der Chefarzt ein für die Qualitätsprüfung angemessenes Fallverständnis entwickelt. 47 Schon Rohde thematisiert, wenngleich unter einem anderen Blickwinkel, die merkwürdige Beziehung von ärztlicher Autonomie und Hierarchie: »Allein es sind schon selbst wieder die Ärzte, die zunächst und erst einmal der Autorität anderer Ärzte formell unterworfen werden, deren Entscheidungsvollmacht, wenn schon nicht aufgehoben, so doch in verschiedenen Graden beschnitten wird und die mithin im Extremfall als Arzt wesentlich verlängerter Arm eines anderen Arztes sind. Die von daher rührende Situation des Arztes im Krankenhaus läßt sich am ehesten durch die Modifikation eines Wortes von George Orwell charakterisieren: „Alle Ärzte sind gleich, aber einige sind gleicher als die anderen”. Der Arzt selbst, per se und normativ Herr seiner Entscheidungen und Handlungen, tritt in seinem ureigensten Bereich „außer sich” und wird gewissermaßen „Knecht in Hinsichten”. Das Ärztekollegium nimmt hierarchische Formen an« (Rohde 1974: 363). 48 Auf der internistischen Station konnte während einer Urlaubsvertretung des regulären Oberarztes durch einen Kollegen aus der Intensivstation gleichsam ein Paradigmenwechsel im Umgang mit “hoffnungslosen” Fällen beobachtet werden. Während der reguläre Oberarzt tendenziell eher zu einer Therapiemaximierung neigt, plädiert der vertretende Arzt eher in Richtung auf Therapiebegrenzung: 12:50 Abteilungsbesprechung (unter Leitung von Oberarzt Dr. Hembach): Oberarzt: Herr V. soll nicht in die Intensiv zurück ... das ist ein Patient mit vielfältigen Problemen ... Herz ... dann auch ein Patient mit außerordentlich schlechter compliance aufgrund des Alkohols. .... das muss dann der Diensthabende mit seinem eigenen Gewissen verantworten, ich würde da jetzt mit den Bordmitteln und Morphin. 49 S. hierzu etwa die Leserbriefdebatte im Deutschen Ärzteblatt zum Beitrag von Degenhardt (2001). 50 Zur Erhellung der sich aus konfligierenden diagnostischen Urteilen entwickelnden Interaktionsprobleme s. insbesondere den Fall von Frau Siegel aus der psychosomatischen Station (Kap. VII.1.). In den diagnostisch “weicheren” Fächern zeigen sich Diskrepanzen in den Fachurteilen naturgemäß häufiger, was aber nicht heißt, dass diese auch in den anderen Abteilungen auftreten können. Für die Chirurgie s. etwa den Fall von Herrn Schmidt-Bauer (Kap. VII.1.). 51 In diesem Sinne erscheint es etwa sinnvoll, die Zuständigkeiten von Chirurgen und Anästhesisten bei der Operationsvorbereitung klar festzulegen, wie die folgende Sequenz aufzeigt: 15:30 Stationszimmer Anästhesistin (kommt in den Raum und spricht einen Arzt an): Wir brauchen für die OP vier Konserven. Herr Feldmann (Arzt im Praktikum): Das ist aber sehr teuer, dann gibt es wieder Ärger. Anästhesistin: Der Chef hat gesagt, für das Blut sind wir zuständig … OP bei einem Hb-Wert unter 9, da ist das notwendig. 52 Man kann natürlich immer auch informell einen Kollegen fragen, was er zu diesem oder jenem meine. Diese Aussagen haben jedoch nicht den formellen Status eines fachlichen Urteils. 53 In der Herzkatheteruntersuchung (PCA) wird durch eine Bein- oder Armarterie eine Sonde bis zu den Herzkranzgefäßen geführt, so dass die Durchblutung am Herzen in einem bildgebenden Verfahren in vivo dargestellt werden kann. 54 Wettreck spricht in diesem Zusammenhang von »alpha-Kampf-Kultur« (Wettreck 1999: 54), einer Haltung, in der krampfhaft alles Mögliche versucht wird: ein hilfreiches Konstrukt, um viele auf den ersten Blick unmenschlich erscheinende ärztliche Praktiken verstehen zu können: »[Z]ur Vermeidung von ß-Fehlern (noch Therapierbare werden nicht therapiert, Chancen werden versäumt) werden eher alpha-Fehler in Kauf genommen: Hoffnungslos Untherapierbare werden zur Sicherheit dennoch therapiert, Schädigungen von Menschenwürde durch sinnlose Therapie-Torturen und Verluste an autonomer Sterbegestaltung werden gegenüber übergangenen möglichen Therapie-Chancen billigend in Kauf genommen« (Wettreck 1999: 54). 55 Oberarzt Krause vertritt im Hinblick auf onkologische Entscheidungen diesbezüglich in der Regel eine klare medizinale Position: Alle Therapiechancen sollen genutzt werden. Im Folgenden hierzu auch eine Interviewsequenz zu einem Fall, bei dem der Arzt vergeblich versucht hatte, einen Patienten zu der risikoreichen allogenen Transplantation zu überzeugen: Prof. Krause: »[Eine Entscheidung] die nach meinem medizinischen Wissen nicht optimal ist, die ich aber emotional aus seiner Sicht sehr gut nachvollziehen kann. […] Anmerkungen 283 Prof. Krause: Weil die objektiven medizinischen Daten so eindeutig sind, dass man, ich hatte ja ihm das auch mal ganz bewusst in den dürren Zahlen genannt, wenn er sich meiner Therapieempfehlung nicht anschließt, hat er mittelfristig eine Prognose von null Prozent. Interviewer: Mhm Prof. Krause: Wenn er sich meiner Therapieempfehlung anschließt, hat er mittelfristig eine Prognose von 30 bis 40% - und das wäre für mich bei aller Sorge und bei allen Ängsten vor einer solchen Therapie Grund genug zu sagen ich versuche das.« 56 Dies bedeutet natürlich nicht, dass ein Konsiliarius im Einzelfall den Auftrag, zu dem er gerufen worden ist, transzendieren kann, indem er etwa in die Patientenführung eingreift, oder gar das diagnostische Ergebnis in Richtung auf das von ihm gewünschte weitere Prozedere “verfälscht”. Manöver dieser Art lassen sich insbesondere in psychiatrischen Kontexten beobachten. 57 Wettreck (1999) arbeitet in seinen Rekonstruktionen ärztlichen Handelns hier mit der Leitunterscheidung »medizinischer Blick« vs. »ärztlicher Blick«. Mit dem ersteren ist – durchaus in Anlehnung an Foucault (1996) – das in “unserer Gesellschaft vorherrschende – technologisch-wissenschaftliche, institutionelle, anthropologisch-ideologische – Gesamt medizinischer Perspektivierung” (Wettreck 1999: 9) gemeint. Der zu behandelnde Mensch wird in der “normativen Grundhaltung” der “Medizinität” als Körper objektiviert. Subjektives oder Intersubjektives wird hier getilgt zugunsten naturwissenschaftlicher, etwa biostatistischer Rationalitäten (ders.: 9). Demgegenüber meint der „ärztliche Blick” im Rekurs auf die traditionellen ärztlichen Tugenden eine Grundorientierung, in der der “biotechnologisch erhobenen Krankheitsstatus und die daraus abzuleitenden, medizinisch normierten Handlungsstandards idealtypisch mit dem wahrgenommenen Wertsystem und Sinn-Erleben, dem Lebens-Umfeld und Lebensverlauf des Patienten”, aber auch mit den Werten und der Person des behandelnden Arztes in Beziehung gesetzt werden (ders.: 9). Im „ärztlichen Blick” ist die “kontrollierte Thematisierung des Persönlichen von Patient (und Arzt)” möglich. Entscheidungen werden – wenngleich auf der Grundlage medizinischer Standards – biografisch und personenbezogen getroffen (ders.: 13). 58 In Holland ist eine Position, in der der Arzt als Todesengel auftritt, nicht nur denkbar, sondern auch praktizierbar. Zur scharfen Kritik der Euthanasie des Deutschen Ärztetages s. etwa Klinkhammer (2002). Zum Diskurs hinsichtlich der ärztlichen Todessematik aus der Perspektive deutscher Ärzte siehe etwa Pfäfflin (1999). 59 Selbst auf der psychosomatischen Station wurde es eher selten beobachtet, dass der einweisende Hausarzt während des Klinikaufenthaltes kontaktiert wurde. 60 Als System orientiert sich die Medizin natürlich am Funktionsvollzug und nicht an ihren Grenzen. »Hohe Unsicherheiten in Diagnose und Krankheit« mögen zwar vorhanden sein und »werden zugestanden«, spielen aber in der Praxis der Krankenbehandlung keine Rolle, »denn die Ärzte orientieren sich natürlich nicht an ihrer Unsicherheit, sondern an dem, was sie sehen und wissen« (Luhmann 1990: 183). 61 In allen Stationen (selbst auf der Psychosomatik) konnte beobachtet werden, dass die Frage der Nachsorge innerhalb des jeweiligen Behandlungszyklus auffällig spät thematisiert wird, nicht selten erst am Tag der Entlassung. Oftmals wird dann unter dem Druck der letzten Stunden erst am Entlassungstag noch ein Termin mit dem Sozialarbeiter vereinbart. 62 In manchen medizinischen Fragen kann der Entscheidungskonflikt zwischen den ökonomischen Zwängen einer preiswerten Dauermedikation und den teureren modernen Präparaten eine ethische Dimension annehmen. Ein in letzter Zeit diskutiertes Thema ist der Einsatz so genannter atypischer Neuroleptika: Wie Lambert et al. (1999: 34) bemerkten, erscheint »der Unterschied zwischen typischen und atypischen Neuroleptika aus der Sicht mancher Psychiater« als ein »relativ geringer«, aus der Sicht der Patienten und insbesondere ihrer Angehörigen« als »ein sehr großer«. Unter dem Blickwinkel der schizophrenen Symptomatik erscheint die Wirkung gleich, beide Klassen von Neuroleptika wirken antipsychotisch (ebd.: 34). Im Hinblick auf die Lebensqualität des Patienten erscheinen jedoch markante Unterschiede: Die klassischen Antipsychotika führen »mittels der D2-Blockade bisweilen zu einer signifikanten Verschlechterung einzelner kognitiver Funktionen« (ebd.: 32). Eine Verbesserung der kognitiven Funktionen stellt wiederum eine unabdingbare Voraussetzung »für die Rehabilitation und die berufliche und soziale Wiedereingliederung« sowie »für den Erfolg von psychotherapeutischen oder psychoedukativen Maßnahmen« dar. Überhaupt »stellen neurokognitive Leistungen [...] wichtige Prädiktoren für Lebensqualität, soziale Integration und allgemeines Outcome dar« (ebd.: 32). In dieser Hinsicht erscheinen die atypischen Neuroleptika eindeutig überlegen. Dennoch werden die atypischen Neuroleptika bei schizophrenen Patienten derzeit in der Bundesrepublik im ambulanten Bereich aus Kostengründen nur in geringem Maße (8 bis 10%) verschrieben, während im Klinikbereich öfters mit den neuen Präparaten experimentiert wird. 63 Diese können auch ausfallen, in manchen Fällen auch monatelang nicht mehr stattfinden. 64 Zu nennen ist hier insbesondere die interdisziplinäre Tumorkonferenz auf den internistischen und chirurgischen Stationen und die psychiatrische Fallkonferenz auf der psychosomatischen Station. 65 Besonders auf der psychosomatischen Station konnte beobachtet werden, dass die psychosomatische Weiterbildungs veranstaltung regelmäßig zur Vorstellung im Bereich und in der Diskussion aktueller Fälle genutzt wurde. 66 Wettreck unterscheidet hier zwischen kleinem und großem Ritus der Exkulpierung. Der große Ritus beinhaltet eine ausführliche medizinische Untersuchung des einen Fehlers, etwa durch die Veranlassung einer Obduktion nach einem 284 VI. Ärztliches Feld unerwarteten Todesfall. Nach Wettreck geschieht diese Aufarbeitung systemisch jedoch deshalb, um die verloren gegangene medizinische Handlungsrationalität wiederherzustellen, nicht jedoch, um einen Arzt persönlich für das Geschehene verantwortlich zu machen (Wettreck 1999: 96 f.). 67 Auf allen Stationen zeigt sich eine gewisse Willkür der Leitungsebene in der Gestaltung der Visitentermine. Diese und ähnliche Verhältnisse scheinen deshalb eher ein strukturelles Merkmal der Machtbeziehungen im Medizinbetrieb, denn eine kulturelle Besonderheit einer speziellen Abteilung darzustellen. 68 Zum Team zugehörig gelten bis auf die Ausnahme der psychosomatischen Abteilung nur die Ärzte bzw. angehenden Ärzte, welche in der jeweiligen Abteilung arbeiten. In der Psychosomatik werden auch Vertreter der Pflegekräfte, Psychotherapeuten sowie externe Kräfte, wie ein Sozialarbeiter oder Konsil-Psychiater mit zum Team gerechnet. Die strengen Fachdisziplingrenzen werden hier im Sinne einer interdisziplinären Herangehensweise zunächst aufgehoben, werden dann aber im Hinblick auf die Entscheidungsbefugnis, die letztlich doch bei den Ärzten liegt, wiedereingeführt. 69 Eine Ausnahme stellt die psychosomatische Station dar. Hier ist in der Falldiskussion prinzipiell die Meinung aller Beteiligten gefragt, was jedoch nicht heißt, dass hier nicht doch eine informelle Hierarchie besteht. 70 In allen Abteilungen lässt sich beobachten, dass unter den Assistenten ein erheblicher Unmut über die Zustände im Krankenhaus im Allgemeinen und die (Macht-)Verhältnisse auf der Station im Besonderen artikuliert wird. Diese Unzufriedenheit – im System nicht adressierbar – kann sich in den Abteilungsbesprechungen manchmal ausdrücken – gleichsam rituell entladen -, ohne jedoch eine systemische Lösung zu erfahren. 71 Eine Organisation ist darauf angewiesen, viele der oftmals organisatorischen Entscheidungen, die informell schon längst weitergetragen worden sind, in einen formellen Status zu transformieren. Irgendwann müssen die Dinge einen offiziellen Status bekommen, allein schon um die formelle Ordnung aufrechtzuerhalten. 72 In der Hinsicht auf den Funktionsvollzug der Krankenbehandlung unterscheidet sich die moderne Medizin nur unwesentlich von den vormodernen, aus heutiger Sicht skurrilen Versuchen der Krankenbehandlung (z.B. Aderlass und Quecksilbertherapie), denn auch hier bildet die Krankheit das Anschlusskriterium für den Heilversuch und nicht der Erfolg. In Frage gestellt wird diese ureigenste medizinische Logik jedoch in jüngster Zeit durch die epidemiologisch geprägte Bewegung der so genannten evidence based medicine. Kriterium der Bewertung des Sinns einer Maßnahme ist hier nicht mehr die Bedürftigkeit des Einzelfalls, sondern der epidemiologische Erfolg der jeweiligen Therapiemaßnahme, gemessen anhand biostatistischer Verfahren. Inwieweit die bioepidemiologische Logik der Orientierung am Kollektiv die medizinische Logik der Einzelfallorientierung ersetzen kann, bleibt jedoch fraglich. Aus interaktionstheoretischen und systemtheoretischen Gründen ist zu erwarten, dass diese externen Programme seitens der Medizin durchaus wieder umgangen bzw. ausgehebelt werden können, s. hierzu auch Vogd (2002). 73 Diesbezügliche Infragestellungen sind nur außerhalb des Medizinsystems möglich. Hier können sich die Dinge dann durchaus so darstellen, dass viele multimorbide Patienten nichts anderes als Behandlungsartefakte einer High-TechMedizin darstellen, die zwar die Grenze des Todes geschickt rausschieben kann, jedoch nur um den Preis, neues Leiden zu erzeugen. Gerade die Transplantationsmedizin erzeugt eine Vielzahl von medizinischen Folgeproblemen. Durch die immunsuppressiven Mittel, die ein Fremdorganempfänger einnehmen muss, werden zusätzliche Krebserkrankungen, aber auch Infektionen geradezu provoziert. 74 In allen Abteilungen finden sich mehr oder weniger ritualisierte Formen, wie selbst ein offensichtliches Scheitern kommunikativ reintegriert werden kann. Im Folgenden eine besonders elegante Form der Bearbeitung, die während der Teamsitzung der psychosomatischen Station beobachtet werden konnte. Eine Patientin erlitt aufgrund einer hypertensiven Krise ein Hirnsstammbluten, infolgedessen sie in ein medizinisch gesehen irreversibles Wachkoma fiel. Der Oberarzt spricht den Fall gegen Ende der Teamsitzung an, transformiert das Fallgeschehen in die Metapher eines fahrenden Zuges und rahmt die ganze Geschichte als eine wertvolle Erfahrung, die man lernend integrieren kann, um sich dann anschließend in Form des gewohnten Ritus der Teamsitzung zu verabschieden. Bemerkenswert erscheint hier insbesondere die im Ritual des Abschieds liegende performativ demonstrierte Botschaft, nicht weiter nachzudenken und stattdessen im Sinne des stationsüblichen Prozedere weiterzumachen: Oberarzt Dr. Jonas: Ein solcher Patient, und jemand, der Arzt werden will, wird vielen solchen Patienten begegnen, ist dann wie ein fahrender Zug, auf den dann die Ärzte aufspringen ... der dann in den Kurven nicht mehr stabil ist, dann rausspringen kann und wir können dann versuchen noch zu steuern vielleicht zu bremsen .... aber oft hüpft er dann doch aus der Kurve ... und dann können wir nur hoffen, nichts falsch gemacht zu haben, und in diesem Fall haben wir nichts falsch gemacht ... und dann ist diese Erfahrung außerordentlich wertvoll, wenn wir sie an uns heranlassen ... auch sehr schmerzvoll, aber wenn wir das annehmen, können wir unsere eigene Hilflosigkeit in unseren Erfahrungsschatz aufnehmen, können lernen, das zu integrieren. Gut, dann bis zum nächsten Mal. 75 Wie beobachtet, werden dekompensierte Alkoholiker auf der internistischen Station zwar entsprechend der ärztlichen Kunst wieder hochgepäppelt. Wenn man dann aber die Stationsärzte fragt, warum man denn jetzt nicht den Sozialdienst einschalte oder versuche, einen Entzug anzuleiern, dann hört man in der Regel Begründungen wie: “Das hat bei dem keinen Sinn”oder “die Initiative muss jetzt von dem Patienten selbst kommen”. Unabhängig davon, dass solche Einschätzungen im Sinne des immanenten Sinngehaltes klinisch plausibel sein können, lässt sich hier ein Orientierungsrahmen feststellen, der die stationsüblichen Modi der Behandlung trotz offensichtlicher Grenzen legitimiert. Anmerkungen 76 285 Dieses Muster der Neurahmung der Erfahrung des Scheiterns - die aktuell erlebte Sinnlosigkeit des Handelns erscheint als potentieller Nutzen in der Zukunft - findet sich in Variationen in allen medizinischen Abteilungen und Disziplinen. Die Universitätsmedizin unterliegt per se einem starken Zukunftsmythos, denn aktuelles Scheitern kann mit dem Verweis auf die Forschung und den zu erwartenden medizinischem Fortschritt legitimiert werden, an dem man ja schließlich mitarbeite. In ähnlichem Sinne zeigt auch Wettreck auf, dass Obduktionen bei verstorbenen Patienten auch als ein Ritual verstanden werden können, den individuellen Tod - vielleicht sogar durch einen Kunstfehler herbeigeführt - in ein überindividuelles Lernen zu verwandeln, das zukünftigen Heilungen dient (Wettreck 1999: 96 f.). Diesbezügliche und funktionell äquivalente Rahmungen zu installieren und aufrechtzuerhalten, scheint angesichts der Konfrontation mit den hohen Misserfolgen in medizinischen Organisationen nicht nur für die Akteure wichtig, sondern wird zur unumgänglichen programmatischen Voraussetzung medizinischer Institutionen, denn eine stabile professionelle Ideologie wird angesichts der Vielzahl unvermeidlicher Krisen eine wichtige Voraussetzung für den reibungslosen Ablauf des Krankenhausgeschehens. 77 In diesem Sinne scheint es hilfreich, auch das Geschehen der Supervisionsgruppen der psychosomatischen Abteilung gegen den Strich zu lesen. Während das selbst erklärte Ziel dieser Veranstaltungen in der Spiegelung und damit Verbesserung der therapeutischen Arbeit liegt, kann ein äußerer Beobachter feststellen, dass auch hier oftmals nicht die Behandlung des Patienten im Vordergrund steht, sondern die Behandlung des Behandlungssystems, dessen professionelle Ideologie und Identität im Angesicht der eigenen Grenzen und Möglichkeiten wiederhergestellt werden muss. Zur Verdeutlichung eine kurze Sequenz aus einer Supervisionssitzung: Der Fall einer 49-jährigen jugoslawischen Patientin wurde vorgestellt. Die Frau wurde vor kurzem aufgrund eines Trägerwechsels ihres Arbeitgebers arbeitslos und scheint zudem noch regelmäßig von ihrem Freund misshandelt zu werden: Einzeltherapeutin: Sie ist eigentlich sehr bedürftig ... ist dann auch keine Lösung, wenn sie sich von ihrem Freund trennt. Dann hat sie niemanden mehr. Der besucht sie mindestens ... Supervisorin: Das mit den Schwierigkeiten ... dass sie keine Chance mit der Arbeit hat ... das muss doch erst mal verdaut werden .... das kann man dann auch nicht hier in 4 bis 6 Wochen klären ... und dann ist noch die Frage, was macht man mit der Therapieerfahrung ... Beziehungen klären, dass ist ja die einzige Aufgabe, die Psychotherapie leisten kann ... sonst wäre es Sozialarbeit. Therapeutin: ... und dann ins Frauenhaus? ... mit der Sozialarbeiterin reden? Supervisorin: ... Psychotherapie kann nur die Voraussetzungen klären, sich zu entschließen, dort hingehen zu können … jetzt ist die Zeit aber zu Ende ... bis zum nächsten Mal. 78 In allen Abteilungen außer der Psychosomatik wurden in 2- bis 4-wöchigen Abständen interdisziplinäre Tumorkonferenzen durchgeführt. In der psychosomatischen Abteilung fand in 14-tägigem Rhythmus die psychiatrische Fallkonferenz statt. 79 Zum Konzept der Einklammerung von Machtverhältnissen innerhalb medizinischer Institutionen siehe auch Flick (1989). 80 Dr. Dinkel (ambulante Hämatologin): ... Rektumsektion ... Rezitiv ... G1T3 mit AP-Anlage .... adjuvante Chemotherapie ... jetzt die Frage, ob da noch operativ was gemacht werden kann ... Prof. Strauss: Der ist ja schon adjuvant bestrahlt worden und dann rektumsektioniert worden im August letzten Jahres ... kann günstig sein, wenn der noch keine Lymphknoten hat ... Röntgenarzt (CT-Bilder werden vorgestellt) ... alte Befunde vom August ... präsakral ein Rezitiv ... Prof. Strauss: In welcher Höhe? Röntgenarzt: Jetzt in Höhe des Hüftgelenks ... Oberarzt Dr. Lage: Sind denn schon viele Darmschlingen dran? Röntgenarzt: Sieht nicht so aus. Dr. Dingel: Wäre dann daran zu denken, noch mal zu bestrahlen. Prof. Strauss: Ich denke mit der Operation wäre kein Problem, ist ja auch lokal beschränkt ... 81 In diesem Zusammenhang lesenswert ist Strauss et al. (1997), insbesondere das Kapitel »Macro to Micro and Micro to Macro Impacts: The intensive Care Units«. 82 Diese Beziehung wird seitens der Architektur auch im Hinblick auf die Krankenhausgestaltung zunehmend thematisiert. S. hierzu etwa Eichhorn 1986. 83 So beobachtet auf der internistischen Station. 84 Aus systemtheoretischer Perspektive besteht die Leistung von Organisationen gerade darin, sich durch interne Entscheidungen eine Struktur geben zu können, um Aufgaben dieser Art bewältigen zu können. Wenn ein Teil der Aufgaben, und damit auch die Entscheidungsautonomie darüber, wie diese zu bewältigen sind, nach außen abgegeben (outsourcing) wird, können Koordinationsprobleme entstehen, die dann nicht mehr systemintern – etwa durch einen guten 286 VI. Ärztliches Feld Kontakt mit der jeweiligen Leistungsabteilung - gelöst werden können: Auf der chirurgischen Station konnte in diesem Sinne etwa beobachtet werden, dass die Verbandsvisite regelmäßig um mehrere Stunden verschoben werden musste, da eine externe Firma die sterilisierten Verbandsbestecke erst gegen 11:00 angeliefert hat. 85 Der Beobachter hatte zu Beginn seiner Beobachtungsphasen gar den Eindruck, dass das Einzige, was auf den Dienstübergaben und Röntgenbesprechungen wirklich verhandelt werden würde, die Frage der Bettenbelegung sei, denn nur hier zeigten sich längere, teils erregte Diskussionen. Die Frage, was diesbezüglich wem und welcher Station zugemutet werden kann, ist nur bedingt routinisierbar und muss entsprechend immer wieder neu ausgehandelt werden. 86 Im Hinblick auf Multiorganerkrankungen und in Anbetracht der Spezialisierungen verschiedener Häuser auf bestimmte Operationstechniken und bevorzugt behandelte Organe ist es gar nicht so selten, dass auch hier die Zeitabläufe verkettet werden müssen bzw. ein Plan erstellt werden muss, welcher Eingriff oder welche Therapie zuerst zu erfolgen hat. 87 In einem beobachteten Fall konnte die angeforderte Diagnostik vor einer Operation nicht abgeschlossen werden, da eine Laborexpertin im Urlaub war, eine andere kurzfristig erkrankte, so dass sich die Ärzte schließlich doch entschieden haben, ohne den Befund zu operieren. 88 In manchen Fällen ist ein zusätzliches Warten auch für die Stationsärzte kaum noch vertretbar, so dass nach anderen Lösungen gesucht wird, etwa dass der Patient zwischenzeitlich an eine externe Einrichtung weitergegeben wird, um dann schneller zu Ergebnissen zu kommen. Da ein solches Vorgehen jedoch ein Affront gegen die Ärzte im eigenen Haus darstellt, kann diese Eskalation nur in Absprache mit einem leitenden Arzt geschehen: Dr. Merkel: Jetzt das schwierigste Telefonat vom Tag (greift zum Telefonhörer): ... ja, ich brauche eine CT für Frau Bels ... möglichst schnell ... geht jetzt nicht? (Ein wenig später) Dr. Merkel (telefoniert mit Oberarzt Krause): ... jetzt mit Frau Bels ... brauchen wir eine CT und das geht jetzt erst in einigen Tagen ... machen wir jetzt ein Example und schicken wir sie zur Praxis Marx und Weber in der Bismarckstraße ... ja, welche Formulare wir jetzt brauchen? ... wie das dann geht? ... ja ... ja ... ah ... ja (schreibt etwas auf) ... ne, ruf ich den Bertram jetzt an [Dr. Bertram und Dr. Markel sind Oberärzte der Röntgenabteilung] ... und sage ihm, ich brauche das jetzt und wenn nicht, verlegen wir sie zu ... ich schaue jetzt, wie Bertram oder Markel reagieren ... Dr. Merkel (piept die beiden Ärzte an) ...(Warten) ... (schwerer Atem) ... (Warten) ... (schwerer Atem) ... (keiner meldet sich) (ein paar Minuten später) Dr. Merkel (zu seiner Kollegin): Dann mit Krause telefoniert wegen der CT von Frau Bels ... wenn sich da jetzt nichts ändert, dann zu Marx und Weber. Ärztin im Praktikum: Finde ich gut. 89 Eine 69-jährige Frau, die aufgrund von Vorhofflimmern unter einer Marcumar-Therapie stand, wurde wegen gastrointestinaler Blutung zur internistischen Betreuung auf die onkologische Station eingeliefert. Durch die Verzögerung in der Diagnostik dauerte die Abklärung der Blutung 21 Tage. 90 So konnte etwa in der psychosomatischen Abteilung ein Fall beobachtet werden, bei dem der Prozess der diagnostischen Abklärung, ob noch eine Operationsindikation bestehe oder der Patient einfach lernen müsse, mit seiner Krankheit umzugehen, erst nach 4 Wochen - kurz vor der Entlassung - zum Abschluss kam (s. die Fallanalyse „Beckenbauer” in VII.2.). 287 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Gleichsam als Herzstück dieser Arbeit möchte ich in diesem Kapitel die grundlegenden Muster des ärztlichen Entscheidens innerhalb des Krankenhauses herausarbeiten. Auch wenn sich die empirische Realität überaus komplex zeigt und entsprechend auch in den Beobachtungsprotokollen die vielfältigsten Facetten aufscheinen, so kristallisiert sich dennoch auf allen untersuchten Stationen ein Leitproblem heraus, das die Entscheidungsdynamik in vielen Fällen prägt - nämlich der Konflikt zwischen ärztlichem Ethos und der ökonomisch administrativen Rationalität. Auf der einen Seite steht der ärztliche Wunsch, bestmöglich dem Wohle des Patienten zu dienen1, ihn gut betreut zu wissen, seine Krankheit ausführlich zu untersuchen und ihm schließlich die bestmögliche Therapie anbieten zu können. Auf der anderen Seite steht die Organisation Krankenhaus mit ihren institutionellen Grenzen. Wünschenswerte Betreuungsangebote können ärztlicherseits nicht immer geleistet werden - sei es deshalb, weil deren Finanzierung durch die Kassen nicht mehr geleistet werden kann, oder auch eben nur, weil man sich aus Gründen begrenzter Leistungskapazität nicht noch mehr um den Patienten kümmern kann. Auf allen Stationen stellt sich die Aufgabe, eine geschickte Balance zwischen dem ärztlich Fachlichen und dem ökonomisch Administrativen zu finden. In diesem Sinne stellt dieses gemeinsame Bezugsproblem eine Schlüsselkategorie für die weiteren Analysen dar und eignet sich als Tertium comparationis für die weiteren Analysen: Denn jede medizinische Organisation muss sich diesem Balanceakt stellen und entsprechende Lösungswege (er-)finden. Gewissermaßen besteht die organisatorische Eigenleistung einer Station bzw. einer Abteilung gerade dann darin, funktionell äquivalente Antwort(en) auf dieses Leitproblem hervorzubringen. Aus dem Vergleich der Abteilungen ergeben sich dann Hinweise für die Entwicklung einer differenzierteren Typik, denn je nach Thema, medizinischer Disziplin und Kultur können diese Probleme dann unterschiedlich verhandelt und bearbeitet werden. Dabei macht es zunächst Sinn, die empirisch rekonstruierten Beispiele – wie auch in den drei Unterkapiteln geschehen – zu drei unterschiedlichen Themenkomplexen zusammenzufassen. In den »medizinisch komplexen Fallproblematiken (1)« stellt sich der medizinische Gegenstand dem ärztlichen Team selbst in solch komplizierter Form dar, dass dieser das Behandlungssystem zu überfordern droht. In dem Thema »Behandlung palliativer Fälle (2)« steht das Krankenhaus vor dem Problem, eine angemessene Betreuung von sterbenden bzw. unheilbar kranken Patienten zu leisten, und im letzten Unterkapitel wird der Umgang mit Irritationen durch so genannte »schwierige Patienten (3)« behandelt, Störungen durch Patienten, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht entsprechend der üblichen Rollenerwartungen verhalten. Ereignisse aus diesen drei Themenfeldern können – wenngleich in unterschiedlicher Ausformung und Charakteristik - potenziell die normalen Abläufe auf der Station gefährden und verlangen deshalb vom Behandlungsteam besondere Aufmerksamkeit und Beachtung. Sie stellen „Verstörungen” dar, die Entscheidungen provozieren bzw. Entscheidungsbedarf wecken. Da diese Geschehnisse ihrerseits keineswegs selten auftreten, entwickeln die Stationen spezifische Modi operandi, um mit solchen Irritationen umzugehen. Es entstehen mehr oder weniger routinierte Muster, wie denn nun in solchen Fällen vorgegangen wird. Hier kann dann meine soziologische Entscheidungsanalyse ansetzen: Wie organisieren sich die Entscheidungsprozesse in diesen Problemfeldern? Wem wird die Entscheidungsverantwortung zugeschrieben und welche (latenten) Strategien und Systemrationalitäten lassen sich aufzeigen? Über den Vergleich 288 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse der unterschiedlichen Bearbeitungsformen auf den verschiedenen Stationen ergeben sich dann schließlich Hinweise auf eine differenziertere Typik, in der die jeweiligen Bewältigungsformen in Beziehung zum spezifischen Behandlungssetting gesetzt werden können. Gerade für den soziologischen Beobachter zeigen sich viele der Ereignisse, welche von den betroffenen Akteuren als aufregend und emotional aufwühlend empfunden werden, keineswegs als singuläre Angelegenheit, sondern eher als ein wiederkehrendes, regelmäßiges Muster. Selbst wenn die Akteure sich in ihrem Feld chronisch unwohl fühlen und zu erkennen geben, dass sie mit den Abläufen nicht einverstanden sind, so bedeutet dies keineswegs, dass sich hier nicht auch habitualisierte Muster vorliegen, die dann im Hinblick auf die Gesamtrationalität eine erhebliche Funktionalität zeigen können. So mag ein Stationsarzt zwar stillschweigend seinem Chef vorwerfen, ein unausstehliches Alpha-Tier zu sein, und dabei die Überzeugung hegen, er selber würde niemals wie dieser solche unmenschlichen Entscheidungen treffen. Im Klinikalltag kann sich jedoch gerade hierdurch eine stabile Form herausbilden – etwa indem sich der Missmut auf den Chefarzt konzentriert und diesem die Verantwortung zugerechnet wird, allein die prekären unvermeidbaren Entscheidungen zu treffen, während unterm Strich gerade durch das Arrangement von Macht und Widerständigkeit eine funktionale Balance zwischen Ärztlichkeit und Organisationsinteressen gefunden wird. Wenn sich einzelne Akteure schlecht fühlen, so bedeutet dies nicht, dass die Organisation nicht funktioniert oder keine gute Arbeit geleistet werden kann. Das Erleben psychischer Systeme ist nicht auf soziale Systeme hochzurechnen. Die Gefühle der Akteure, ihre Zufriedenheit mit den Verhältnissen und die sich hieraus entfaltenden Interaktionsmuster sind vielmehr als ein Ganzes zu verstehen, das erst innerhalb eines Organisationssystems Sinn macht. Betroffenheitsargumente sollten deshalb beim Lesen etwas nach hinten gestellt werden. Ebenso sollte jegliche Form der moralischen Missbilligung unterbleiben. Die im Folgenden teilweise recht offene Darlegung der Geschehnisse in unseren Krankenhäusern darf hier keineswegs als offene Kritik an den Akteuren gelesen werden. Ein Soziologe darf hier nicht den Anspruch vertreten, es besser zu wissen oder zu können. Seine Aufgabe besteht vielmehr darin, sich von diesbezüglichen Stimmungen und Meinungen frei zu machen und stattdessen aus einer soziologischen Distanz heraus die überindividuellen Zusammenhänge des Geschehens zu beleuchten. Vielleicht hier ein paar Worte zum Verhältnis von Entscheidung und Routine. Entscheidungssituationen wurden hier empirienah dadurch definiert, dass im Team bzw. in den Erzählungen der Akteure ein Entscheidungskonflikt abgespult wurde, das heißt, dass zumindest eine Entscheidungsalternative explizit mit ins Spiel gebracht wurde. Auf Grundlage dieser Definition kann ein soziologischer Beobachter rekonstruieren, wie ein Entscheidungskonflikt prozessiert wird, wer oder welches Gremium involviert wird und wie sich dieser Prozess über die Zeit entfaltet. Der Soziologe kann jedoch aufgrund dieses Materials keinesfalls eine Aussage darüber machen, ob die beteiligten Akteure nun im subjektphilosophischen Sinne „wirklich” eine Entscheidung getroffen haben, oder ob sie unbewusst und automatisch gehandelt haben. Diese Unterscheidung macht dem Duktus dieser Arbeit folgend auch wenig Sinn, denn Entscheiden wird hier nicht mehr als ein individuelles Phänomen begriffen, sondern als ein kollektiver, sozial hergestellter Prozess. Hier müssen aber die Grenzen zwischen Entscheidung und Routine als fließend betrachtet werden. Als habitualisierte Handlungsmuster laufen Entscheidungen immer auch schon auf vorgebahnten Wegen ab. Zugleich gewinnt gerade der in seinem Feld sozialisierte, erfahrene Arzt erst die Freiheit, alle Register seiner Kunst zu ziehen, also besonders kontextsensitiv zu handeln. Freiheit und Notwendigkeit dürfen hier ebenso wie Soziales und Individuelles nicht als Gegensatz betrachtet werden. Vielmehr ist es etwa hilfreich, die indivi- 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 289 duelle Entscheidungsfreiheit als einen sozial hergestellten Prozess zu betrachten, umgekehrt die vielfältigen Routinen als Pfade, die bestimmte Entscheidungsprobleme erst emergieren lassen. Um die folgenden Argumentationen in einer für den Leser methodologisch nachvollziehbaren Weise zu entfalten, werde ich gerade im ersten Unterkapitel („medizinisch komplexe Fallproblematiken”) den Falldarstellungen und Fallanalysen besonders breiten Raum geben. Die Darstellung und Diskussion der Themenkomplexe „palliative Patienten” bzw. „schwierige Patienten” kann dann kompakter gehalten werden, da hier die zentralen Muster nicht mehr herausgearbeitet werden müssen. Die Argumentationslinie folgt dabei folgendem Format: (a) Falldarstellung mit formulierender und reflektierender Interpretation; (b) Herausarbeitung der für den Entscheidungsprozess grundlegenden Orientierungsrahmen; (c) Hinzuziehung eines weiteren Falles; (d) komparative Analyse; (e) Hinzuziehung weiterer Fälle; (f) abschließende komparative Analyse und (g) Formulierung einer Typik. Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, sei abschließend nochmals erwähnt, dass der Begriff „Fall” in zweierlei Weise verwendet wird: Im sozialwissenschaftlichen Kontext meiner Arbeit bezeichnet „der Fall” den jeweiligen Forschungsgegenstand, also ein spezifisches Sozialsystem, das den dokumentierten Entscheidungsprozess veranstaltet. Im medizinischen Sinn meint Fall jedoch etwas anderes, nämlich die Behandlungsgeschichte eines einzelnen Patienten. In der Darstellung durchkreuzen sich die beiden Fallbegriffe zwangsläufig, da die Entscheidungsprozesse (der soziologische Fall) am Beispiel der Prozessierung eines konkreten Patienten (dem medizinischen Fall) rekonstruiert werden. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken Gemeinsames Merkmal der im Folgenden behandelten Fallbeispiele ist die Hyperkomplexität einer medizinischen Problematik, die eine Entscheidung für oder gegen eine spezifische Therapie schwierig erscheinen lassen. Oftmals gleichsam mit dem Rücken an der Wand stehend erscheinen den Ärzten die ins Auge gefassten Therapien fraglich, im Einzelfall gar außerordentlich riskant. Einfach nichts zu tun würde jedoch demgegenüber auch ein Risiko mit sich bringen. Für und Wider müssen abgewogen sowie die Verantwortlichkeiten festgelegt werden. In solchen Fällen stehen den Ärzten keine formalisierten Entscheidungsroutinen zur Verfügung. Nicht selten sind sie - insbesondere wenn sie noch am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn stehen - zudem auch fachlich überfordert. Oftmals erzeugen solche Fälle eine Kaskade von Folgeproblemen – und diesbezüglich weiteren Entscheidungsbedarf - organisatorischer bzw. administrativer Art, denn unter der Vielfalt der Anforderungen kann auch das ökonomische Primat des Akutkrankenhauses, rationell und effizient zu arbeiten, kaum mehr eingehalten werden. Im Folgenden soll nun herausgearbeitet werden, wie Situationen solch überfordernder Komplexität im Krankenhaus verhandelt werden können. Dies geschieht zunächst paradigmatisch am Beispiel der ausführlichen Analyse eines Entscheidungsprozesses auf der internistischen Station eines Akutkrankenhauses. Im Anschluss daran wird dieser Fall durch zwei Beispiele der chirurgischen Abteilung kontrastiert. Deutlich werden hier die Unterschiede zwischen den zwei grundlegend verschiedenen Entscheidungsstilen innerhalb der Chirurgie und der Inneren Medizin. In der weiteren Analyse werden zwei Beispiele aus der Psychosomatik hinzugezogen. Dieser Kontrast stellt einerseits einen weiteren fachlichen Kontrast dar und beleuchtet zum 290 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse anderen die Besonderheiten der steilen Hierarchien der universitären Medizin. Zur abschließenden komparativen Analyse wird schließlich ein Fall aus der Onkologie der Hochschulmedizin betrachtet. Hier zeigen sich dann einerseits Gemeinsamkeiten zur universitären Psychosomatik, allerdings auch Parallelen zur Inneren Medizin des städtischen Krankenhauses, denn es handelt sich hier ebenfalls um eine internistische Disziplin - wenngleich auch einige Unterschiede im Hinblick auf die Besonderheiten der onkologischen Problematik aufscheinen. (a) Herr Spondel, Innere Medizin (Allgemeinkrankenhaus) Herr Spondel, 71 Jahre alt, wird am 17. Januar erneut auf die Station für Innere Medizin eingewiesen2. Den Arztbriefen zufolge ist Herr Spondel ein multimorbider Patient, der eine Hypertonie und einen Diabetes mit beginnender Neuropathie und Nephropathie (Nerven- und Nierenschädigung) als Grunderkrankungen aufweist. Zusätzlich wurde er aufgrund eines Rektumkarzinoms chirurgisch und chemotherapeutisch behandelt. Außerdem zeigt sich eine gutartige Vergrößerung der Prostata. Während des letzten Krankenhausaufenthaltes erlitt Herr Spondel zudem eine fortschreitende Sepsis (sog. Blutvergiftung), die zunächst erfolgreich behandelt wurde. Mitte Januar wurde der Patient erneut mit einer Sepsis eingewiesen, zusätzlich zeigte sich eine (vermutlich bakteriell verursachte) Entzündung im Bereich eines der Lendenwirbelkörper. Die Sepsis ist zum Zeitpunkt der Beobachtung bereits durch eine erfolgreiche Antibiotikatherapie abgewehrt worden. Nun stellt sich die Frage nach dem weiteren Prozedere. Die behandelnde Stationsärztin schildert dem Beobachter die aus ihrer Sicht prekäre klinische Problematik des Patienten und antizipiert einen ungünstigen Krankheitsverlauf: In dem nur unvollständig abfließenden Harn könne sich in der Blase erneut eine Bakterieninfektion ausbilden. Eine wiederholte Sepsis würde jedoch das Leben des Patienten diesmal ernsthaft bedrohen. Die schlechte Nierenfunktion und der Diabetes lasse eine chirurgisch-operative Lösung des Grundproblems jedoch aktuell nicht zu. Hinzu komme die Wirbelkörperentzündung, aufgrund derer der Patient bettlägerig wurde. Durch die lange Bettlägerigkeit würden zunehmend seine Muskeln abgebaut und durch diese Schwächung werde die Stabilität des Rückens zusätzlich gefährdet. Nichtbehandlung bedeute eine weitere Verschlimmerung des Zustandes. Als Kompromiss erscheint für die Ärztin die Anlage eines speziellen Blasenkatheters durch einen kleinen chirurgischen Eingriff, in der von der Bauchdecke her die Blase angestochen wird, so dass durch eine Sonde die restliche Harnflüssigkeit nach außen abgeleitet werden kann (suprapubischer Katheter). Die Stationsärztin bespricht am Nachmittag mit dem Oberarzt den Fall. Dieser tendiert zu einer zügigen Entlassung. Die Stationsärztin hält diesem Vorschlag entgegen, dass die Gefahr einer erneuten Blasenentzündung drohe: Montag, 26.2. 13:30 auf der Station (Oberarzt Neudorf ist auf der Station. Dr. Neudorf leitet die innere Intensivstation, vertritt jedoch im Urlaub Dr. Schwarz, den Oberarzt der Station.) Stationsärztin Dr. Reif: Dann doch zu den Neurochirurgen oder den Orthopäden? Oberarzt: Wir hatten ja vereinbart, dass wenn da im CT keine Verschlimmerung ist, dann nichts weiter zu machen und ich denke das ist dann auch so eine gute Entscheidung ... wir können ihn dann ja auch entlassen. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 291 Dr. Reif: Nein, entlassen können wir ihn auf keinen Fall. Oberarzt: Wir können ihn ja dann auf eine Orthopädie oder eine Neurochirurgie, vielleicht in das Maximilian-Krankenhaus… Dr. Reif: Das Neurologische ist jetzt nicht so im Vordergrund, eine orthopädische wäre dann schon angemessen ... dann ist aber noch die Sache mit dem suprapubischen Katheter. Oberarzt: Ist dann doch ein richtiger Eingriff, ist ja dann die Frage, ob man da nicht wartet. Dr. Reif: Aber das Problem, ich habe ja mit älteren Patienten gearbeitet, ist ja die Sache mit der Sepsis, die dann sofort wieder da ist. Das Gespräch zwischen Oberarzt und der Stationsärztin lässt unterschiedliche Perspektiven im Hinblick auf das Geschehen aufleuchten. Jener tendiert zur Entlassung, diese demgegenüber zur stationären Weiterbehandlung. Der Oberarzt (zusätzlich auch noch in der Rolle als Vertretung des regulären Oberarztes) zeigt Distanz zum Geschehen. Er rekurriert auf das Übliche, was man so eben tut. Die entsprechend der medizinischen Routine durchzuführende bildgebende Diagnostik liefert zugleich die Begründung wie auch die Legitimation für das weitere Handeln: In dem von ihm erwarteten Fall einer ausbleibenden Verschlimmerung des entzündlichen Befundes könne der Patient entlassen werden und dieses Prozedere sei eben nun auch vereinbart gewesen. Sein Vorschlag entspricht der von der Krankenkasse eingeforderten Logik kurzer Liegezeiten, entsprechend der ein chronischer Patient nicht mehr Zeit als nötig auf der teuren Akutstation verbringen sollte. Frau Dr. Reif widerspricht dem Oberarzt und verweist dabei auf ihre langjährige Erfahrung im Umgang mit älteren Patienten. Die Gefahr einer erneuten lebensbedrohlichen Sepsis steht im Raum und verlangt nach präventiven Interventionen. Diese sind jedoch in der Behandlungslogik eines Akutkrankenhauses nicht explizit vorgesehen. Vor dem Hintergrund der während des Beobachtungszeitraums üblichen Praxis der Krankenkassen, bei längeren Klinikaufenthalten Regelanfragen und damit verbundene finanzielle Regressforderungen zu stellen, fallen Patienten wie Herr Spondel hier durch das Raster. Als Alternative aus diesem Dilemma scheint hier zunächst nur der Weg zu bestehen, den Patienten in ein anderes Krankenhaus - welcher Disziplin auch immer - verlegen zu können. Tendenziell offenbaren sich schon hier zwei „konfligierende” Logiken: Zum einen ist die Weiterbetreuung des Patienten aus organisatorisch-ökonomischen Gründen auf der Station nicht möglich. Auf der anderen Seite steht das Fallverständnis der Stationsärztin, die – mit der Geschichte des Patienten vertraut – ihn kompetent weiterbehandelt wissen möchte. Im Stationszimmer organisiert Frau Dr. Reif telefonisch ein urologisches Konsil und versucht darüber hinaus mit dem Sozialdienst die Perspektive einer Reha-Behandlung zu erarbeiten. Sie artikuliert die Befürchtung, dass der Patient für den Fall, dass aufgrund des Befundes der Computertomografie keine Indikation für einen chirurgischen Eingriff besteht, einfach unbehandelt entlassen werden würde: Dienstag, 27.2. 8:30 im Stationszimmer Dr. Reif (denkt laut): ... suprapubischer Katheter für Herrn Spondel ... jetzt ein Konsil bei Dr. Müller ... (einem ambulanten Urologen) Dr. Reif (telefoniert mit dem Sozialdienst): ... der Herr Spondel hat eine seltene und schwere Erkrankung und der müsste eine Reha bekommen ... kann ich die jetzt schon einleiten ... die Erkrankung ist eine neurologische, die Zersetzung der Bandscheiben [eine orthopädische] und da er jetzt vier Wochen hier gelegen hat, muss er erst mal wieder komplett aufgebaut werden ... deshalb vielleicht eine FrühReha ... gut, wenn die nach der weiteren CT[-Untersuchung], die in [Universitätsklinikum X.] sagen, „wir müssen eine stabilisierende Operation machen”, dann erübrigt sich dies, aber wenn nicht, ich gehe jetzt Freitag in den Urlaub, dann stehen wir ohne was da, und wir müssen den ja entlassen. ... 292 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Spondylodiszitis? Ist bei Frühreha dabei ... okay ... dann müssen wir das bei der Krankenkasse beantragen ... Polyneuropathie hat er ... was gibt es denn noch, was die als Rehagrund akzeptieren ... ja, alles klar. Die Stationsärztin versucht hier, eine medizinische Versorgungsperspektive für den Patienten zu entwickeln. Zunächst erscheint eine Rehabilitationsmaßnahme als die bessere Alternative gegenüber der drohenden Entlassung. Ein medizinischer Grund wird gesucht, um das Anliegen finanziert zu bekommen. In der Kommunikation mit der Krankenkasse passen sich die Begründungen dem zu erreichenden Ziel an, nicht umgekehrt. Die Ärztin gewinnt hierdurch Autonomie gegenüber den bürokratischen Vorgaben seitens der Kassen und der Politik. Aber auch der zweite mögliche Fall, nämlich dass die bildgebende Diagnostik doch eine Befundverschlechterung darstellen würde, die dann möglicherweise sogar eine Operationsindikation nach sich ziehen könnte, wird als Handlungsoption mit in Betracht gezogen. Darüber hinaus versucht die Stationsärztin, das Problem des Restharns nochmals durch einen urologischen Spezialisten beurteilen zu lassen. Erst von autorisierter Hand beschrieben und aufgeschrieben bekommt das Problem Relevanz im medizinischen System und gewinnt als Facharzturteil zusätzliches Gewicht in der Verhandlung um das weitere Prozedere. Frau Dr. Reif sucht nach Wegen, noch etwas für ihren Patienten tun zu können. Ihr ärztliches Handeln kann sich nun als ein aktives und wirksames rekonstituieren. Die Identität des „guten Arztes” reproduziert sich oftmals gerade darin, mit persönlichem Einsatz gegen die medizinischen und organisatorischen Grenzen anrennen zu können. Während der Chefvisite am folgenden Tag schildert die Stationsärztin ihrem Vorgesetzten das vereinbarte Prozedere und erzählt, dass die Aufnahmen der Computertomografie zur Abklärung einer neurochirurgischen Indikation an das Universitätsklinikum weitergeleitet werden sollen. Der Chefarzt äußert Bedenken gegenüber einer möglichen Operation. Die Stationsärztin spricht die Gefahr einer Sepsis durch die Blase an. Der Chefarzt spricht eine weitere chirurgische Therapieoption an, bemerkt jedoch, dass der Erfolg fraglich sei. Die Stationsärztin ergänzt, dass der Patient voraussichtlich das Krankenhaus verlassen solle und informiert den Chefarzt, dass sie eine Rehabilitationsmaßnahme initiiert habe. Der Chef bestätigt nochmals, dass es richtig sei, den Patienten in dem aktuellen Zustand zu entlassen: Dienstag, 27.2. 11:00 Chefvisite Dr. Reif: Herr Spondel, jetzt sind wir erst mal mit Herrn Neudorf übereingekommen, die Bilder [in das Universitätsklinikum X.] zu geben und noch das nächste CT abzuwarten. Chefarzt: Ich wäre dafür, das erst einmal konservativ zu behandeln, jetzt mit der Infektion ... da reinzuoperieren und dann ein Tumorpatient, da kann es da eng sein, gut, dass man sich da die Stellungnahme holt, ist okay, aber den nicht so schnell weggeben, die Chirurgen sind da sehr schnell. Dr. Reif: Dann ist da noch die Sache mit dem Restharn ... ist dann das Problem mit der Sepsis, ob wir das nicht ableiten ... wollte das dann morgen mit Herrn Müller ... Chefarzt: Gut, mit der Infektion ist hier immer die Sache ... aber kann auch an der Prostata liegen, ob man da nicht doch eine Operation macht ... aber ob das jetzt dann wirklich was bringt ... das kann jetzt auch vom Spinalkanal kommen ... wenn wir das jetzt als ursächliche Therapie machen, dann kann das sein, dass das nicht funktioniert, wenn es eben nicht daran liegt. Dr. Reif: Der würde ja dann auch nach Hause geschickt ... deshalb habe ich das auch schon angeleiert mit der Früh-Reha. Chefarzt: Ja, das ist auch gut so, wir müssen ihn jetzt so entlassen. Die Stationsärztin schildert dem Chefarzt das besprochene Vorgehen mit einer anderen Konnotation als noch beim Oberarzt angeklungen: Entsprechend der von ihr vorgetragenen Position steht nicht die Entlassung, sondern die Suche nach einer weiteren Therapieoption im 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 293 Vordergrund - möglicherweise sogar einer neurochirurgischen Intervention. In dem Sinne dieser Behandlungsoption erwähnt sie auch, dass die CT-Bilder einer neurochirurgischen Abteilung eines Universitätsklinikums vorgestellt worden sind und dass man erst einmal die Beurteilung der Bilder abwarten solle. Der Chefarzt demgegenüber stellt den Sinn der hier in Betracht gezogenen therapeutischen Intervention mit dem Verweis auf die Überkomplexität des Krankheitsbildes in Frage, denn keine der Interventionsentscheidungen, die getroffen werden könnten, würde die Sicherheit bieten, etwas Sinnvolles für den Patienten tun zu können. Ob der Chef hier diese Orientierungsfigur gleichsam als strategische Konstruktion entwickelt, um im Sinne der administrativen Logik den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, oder ob er hier aus medizinisch immanenten Gründen wirklich keine Behandlungsperspektive mehr für den Patienten sieht, muss hier eine offene Frage bleiben. Systemisch spielt die „wirkliche” Motivation des Chefarztes keine Rolle, da hier seine Kommunikation und die diesbezüglichen Anschlüsse der anderen Ärzte entscheidend sind3. Auf dieser Ebene bleibt der Ausgangskonflikt in beiden Varianten erhalten: Jenseits von Abschiebung und weiteren therapeutisch-diagnostischen Initiativen ist die Frage der angemessenen Versorgung von Herrn Spondel ungeklärt. Bezüglich der Position, die zu dem Problem eingenommen wird, scheinen die Rollen im ärztlichen Team aufgeteilt: Die Polarität zwischen abwartender Distanz versus parteiischem Engagement läuft analog der hierarchischen Stellung: Auf der Stationsarztebene liegt eine emotionale Last, angesichts der existenziellen Bedrohung des anvertrauten Patienten eine Behandlung anbieten zu müssen, während auf der Leitungsebene das Entscheidungsrational tendenziell eher darin besteht, die Verantwortung dafür zu übernehmen, den Patienten loszulassen, falls die Behandlungsoptionen keinen allzu großen Erfolg mehr versprechen. Als Minimalkonsens zwischen diesen beiden Positionen kristallisiert sich hier die Möglichkeit heraus, den Patienten in einer Rehabilitationseinrichtung versorgt zu wissen. Am folgenden Morgen berichtet Dr. Reif dem Beobachter von einem belastenden Gespräch mit den Angehörigen von Herrn Spondel. Diese hätten geweint, und es wäre vielleicht doch besser gewesen, den Angehörigen nicht so viel gesagt zu haben. Die Stationsärztin erörtert mittags im Gespräch mit einem neurologischen Konsiliarius nochmals die medizinische Problematik. Eine chirurgische Intervention wird in Betracht gezogen. Die Stationsärztin tastet ab, ob eine Verlegung auf die neurologische Station möglich sei. Die Ärzte stellen übereinstimmend fest, dass es gleichsam das Todesurteil bedeute, wenn man den Patienten unbehandelt nach Hause schicken würde. Unter Einbeziehung der Neurochirurgen wird eine differenziertere bildgebende Diagnostik geplant: Mittwoch, 28.2. 12:00 Gespräch mit dem Konsil-Neurologen vor dem Stationszimmer Stationsärztin Dr. Reif: Soll ich ihn auf die Neurologie verlegen? Neurologe: Na, wäre auch nicht so ... na, ja, behandeln wir ja sonst auch eher konservativ ... wenn der jetzt antibiotikaresistent ist ... dann wäre es in seinem Alter vielleicht angemessener, heroisch heranzugehen ... dann im Universitätsklinikum X. oder im Klinikum Y, bei Prof. X. zum Beispiel. Stationsärztin Dr. Reif: Dann aber auch mit der Kostenübernahme, ob das bei euch in der Neurologie nicht besser läuft? Neurologe: Das ist doch das gleiche, auch bei uns wird die Kostenübernahme erst einmal abgelehnt und dann geht es in die Revision ... Stationsärztin Dr. Reif: Jetzt auch mit den Angehörigen, ich kann den doch jetzt nicht so nach Hause schicken ... 294 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Neurologe: Die Neurochirurgen, ob die ihn dann nehmen, oder ob die den dann nicht erst [in die RehaKlinik-X] ..., da würde ich ihn übrigens dann auch wieder sehen, bin dort auch konsiliarisch tätig ... Stationsärztin Dr. Reif: Jetzt aber die ganze Problematik, der hatte ein Sigmakarzinom ... und ob der entzündliche Prozess überhaupt von da rüber ... ob man da nicht erst mal eine Rektoskopie ... aber wenn ich dann erst mal weg (im Urlaub) bin, dann hat von den Kollegen für den keiner Verständnis. [...] Neurologe: Du, wenn wir den nach Hause schicken, ist der tot, das sehe ich jetzt genauso, also sollte man den dann doch erst mal zu den Neurochirurgen ... die haben auch MRT ... so was haben wir doch auf unserer Abteilung noch nicht einmal gesehen ... Stationsärztin Dr. Reif: Und wenn wir ihn dann doch erst mal zu ihnen ... Der Neurologe kann hier in seiner Rolle des „externen” Beraters die Fallproblematik aus einer eher distanzierteren Position heraus betrachten, ohne jedoch eine Entscheidung treffen zu müssen. Auf der inhaltlichen Ebene stimmt er Frau Dr. Reif durchaus in der Einschätzung zu, dass das Leben von Herrn Spondel im Falle der Nichtbehandlung massiv gefährdet sei. In der Rolle, die er aktuell innehat, bedeutet dies nicht, dass er hier die gleiche Verantwortlichkeit fühlt wie die betreuende Stationsärztin. Ihr Ansinnen, den Patienten von ihm auf der neurologischen Station versorgt zu wissen, wehrt er ab. Der schwarze Peter bleibt bei Frau Dr. Reif, die ihrer Interaktionsgeschichte mit dem Patienten und seinen Angehörigen (wie hier angedeutet) nicht so leicht entkommen kann, denn ihr persönliches Handeln bleibt gefordert. Der Neurologe verweist auf die chirurgische Maximaltherapie („in seinem Alter angemessener, heroisch heranzugehen”) und die Übergangslösung eines Rehabilitationskrankenhauses. Der Rekurs auf die Notwendigkeit einer differenzierteren bildgebenden Diagnostik durch einen Magnet-ResonanzTomografen (MRT) löst zwar nicht das therapeutische Dilemma, ermöglicht jedoch kurzfristig eine Perspektive, doch noch etwas tun zu können. Da Frau Dr. Reif, wie geplant, für zwei Wochen in Urlaub gehen wird, muss sie den Fall einem anderen Stationsarzt übergeben. Sie erwähnt diesem gegenüber ihren Entscheidungskonflikt und macht deutlich, dass für sie zunächst die Abklärung der OP-Indikation im Vordergrund stehe. Im Anschluss werden von ihr die weiteren Behandlungsalternativen benannt: die vom Chefarzt vorgeschlagene medikamentöse Behandlung der Prostata sowie als weitere Möglichkeit die invasive Anlage eines Blasenkatheters. Die Stationsärztin betont, dass sie auch gegen den Wunsch ihres Vorgesetzten nach schneller Entlassung, den Patienten stationär versorgt wissen möchte und fügt hinzu, dass auch der Oberarzt das Problem mit der Blase ignorieren würde: Donnerstag, 1.3. 10:40 Kurvenvisite im Arztzimmer Dr. Reif: Herr Spondel, eine große Diskussion ... der Chef sagt entlassen, das kann man zu Hause machen ... ich denke an eine gerontologische Station [...] gestern habe ich dann die Bilder nach [Universitätsklinikum X.] gegeben [...] neurologische ... oder gerontologische oder die FrühRehabilitation ... das kann ich aber jetzt noch nicht entscheiden. Wenn die dann im [Universitätsklinikum X.] sagen „der ist operationswürdig” ... der Assistent gestern sagte „nein, das werden wir sicher nicht machen” ... und jetzt warte ich darauf, was die sagen ... wenn die in [Universitätsklinikum X.] ja sagen und der Chef sagt ja, dann sind wir unsere Sorgen los ... dann hat ihn noch Dr. Müller gesehen, der sagt jetzt Alpha-Blocker (für die Prostata-Behandlung) oder einen suprapubischen Katheter ... ich würde ihn am liebsten ins [Universitätsklinikum X.] und dann vielleicht wieder hierher zurück ... der ist dann schon jemand, der vier Wochen im Krankenhaus sein sollte ... wenn die Neurochirurgen sagen: „wir nehmen den nicht”, dann würde ich den in die Mauritius-Klinik geben ... dann ist noch Herr Dr. L. (der Neurologe) ... da gewesen ... könnte dann auch durch den Darm infiltriert sein ... ob das jetzt nur Narben sind ... oder eine Fistel, das weiß man nicht ... die Neurochirurgen sagen dann „eine zwei-HöhlenOperation, das können wir bei dem alten Mann nicht machen” doch ob das wirklich von da kommt, weiß man auch nicht so genau ... sagen die Neurochrirurgen „da müsste man ein MRT, um das mit dem Filtrat abzuklären”, da habe ich gesagt „Sie haben doch eins, dann nehmen Sie ihn doch”. Stationsarzt Schmidt: Da haben Sie ja wirklich alles versucht. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 295 Dr. Reif: Der Chef sagt, man solle ihn nach Hause, aber ich würde ihn jetzt doch gerne versorgt haben. [... einige andere Patienten werden besprochen] Dr. Reif (zu Herrn Schmidt): Der Schwarz [der reguläre Oberarzt; zur Zeit in Urlaub] ignoriert das mit dem Restharn bei Herrn Spondel. Herr Heimbach [der stellvertretende Oberarzt] meinte dann schon, dass man da was tun müsste ... In der Übergabe des Patienten an den neuen Stationsarzt muss nicht nur die medizinische Information, sondern auch die soziale Dynamik des Prozesses mit übergeben werden. Entsprechend muss die Spannung im ärztlichen Feld, die sich aus den unterschiedlichen Positionen in der Hierarchie ergeben, mit kommuniziert werden, wobei der neue Arzt in die „richtige” Position im Feld hinübergezogen werden muss - als ein Verbündeter, der die Versorgung des Patienten auch gegen den Wunsch der Administration nach rascher „Abschiebung” gewährleistet. Frau Dr. Reif vermittelt ihr Anliegen an den jungen Arzt durch einen moralischen Appell, der auf das Zentrum seines ärztlichen Selbstverständnisses zielt, nämlich auf den professionsethischen Imperativ, ein guter Arzt zu sein. Im Gegensatz zum neurologischen Konsiliarius, der sich aus der Rolle des Beraters heraus Distanz erlauben kann, stellt der Wunsch an den jungen Stationsarzt eine Forderung dar, deren Missachtung das symbolische Kapital seiner eigenen Arztidentität berühren würde. Während der anschließenden gemeinsamen Visite beim Patienten werden die möglichen Nebenwirkungen der medikamentösen Prostata-Therapie besprochen. Darüber hinausgehend erklärt die Stationsärztin, dass sie die Durchführung einer differenzierteren bildgebenden Diagnostik [MRT] für die Abklärung der Details der Wirbelkörperentzündung für notwendig hält. Als performativer Akt, der hier vor dem Patienten vollzogen wird, ist diese Debatte um mögliche Nebenwirkungen für den jungen Arzt gleichzeitig eine Instruktion, vermehrt die Aufmerksamkeit auf den Patienten zu lenken und mögliche Nebenwirkungen genauestens zu beobachten. Die bisher noch nicht beschlossene Durchführung der teuren bildgebenden Diagnostik durch ein MRT bekommt in der Visite nun den Status einer medizinischen Notwendigkeit verliehen. Dies geschieht hier wieder als performativer Akt: Indem der diagnostische Bedarf persönlich vor Herrn Spondel konstatiert wird, wird der Patient - hierdurch gleichsam als Zeuge ermächtigt – in die Lage versetzt, jederzeit die von der Stationsärztin offensichtlich für notwendig erachtete Maßnahme einfordern zu können. Am folgenden Tag spricht der Stationsarzt mit den Angehörigen von Herrn Spondel über das weitere Prozedere. Diese äußern den Verdacht, dass man den Patienten abschieben wolle: Freitag, 2.3. 11:20 (auf dem Gang vor den Stationszimmern) Stationsarzt Schmidt (berichtet): ... [Universitätsklinikum X.] ... Neurochirurgie ... oder dann wie Frau Dr. Reif vorschlägt, eine Reha-Klinik wie das Mauritius ... dann das Problem mit der Blase ... könnte man mit einem Medikament die Prostata oder dann den Katheter ... ist das Problem, bei Körpertemperatur entwickeln sich die Keime [in der Blase]. Mann: Ich habe das Gefühl, dass er abgeschoben wird. Stationsarzt Schmidt: Nein, das ist nicht so, auch in so einem Haus wie in dem Mauritius wird regelmäßig Blut abgenommen und kontrolliert ... nur hier ist dann bloß ein Akutkrankenhaus, die Schwestern haben hier gar nicht die Zeit, intensiv was mit ihm zu machen ... Stationsarzt Schmidt: Das Problem ist, dass wir jetzt auf die Entscheidung vom [Universitätsklinikum X.] angewiesen sind, ob die das jetzt machen können, vorher können wir jetzt nicht weitersehen ... Die Fähigkeit, zwischen den Polen Einsatz und Abwehr, Aufklärung und Verschleierung, Dramatisierung und Besänftigung pendeln zu können, stellt für den Arzt eine wichtige 296 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Voraussetzung dar, angesichts prinzipiell unsicherer Handlungsperspektiven sein aktuelles Entscheiden und Behandeln begründen zu können. Hier zeigen sich in der kontrastiven Analyse deutliche Parallelen zum Thema „Behandlung palliativer Patienten”4. Das eigentliche Problem liegt hier jedoch weniger in der Aufklärung über die Komplexität der medizinisch therapeutischen Fragen, sondern auch in der Unvermittelbarkeit der administrativen Logik. Der organisatorische Rahmen muss in der Angehörigen- (und auch Patienten-)Kommunikation verschleiert werden, denn allzu direkte Information ist gefährlich, würde dies doch bedeuten, sich auf eine moralisch kritisierbare Position festlegen zu lassen. Entsprechend stellt ein diesbezügliches misframing seitens der Ärzte, eben „manchmal nicht alles zu sagen” eher eine systemische Disposition der Arzt-Patient-Kommunikation dar, denn ein persönliches Defizit eines einzelnen Arztes. Die Interferenz von medizinischer und administrativer Rationalität verhindert hier im Sinn von Glaser und Strauss (1965) einen »offenen Bewußtheitskontext« und erzeugt den Angehörigen gegenüber einen »geschlossenen Bewußtheitskontext« - mit der Konsequenz, dass hier leicht Misstrauen entsteht5. Nachmittags berichtet die Stationsärztin dem Beobachter von den Ergebnissen der Beurteilung der Röntgenbilder durch die Neurochirurgen des Universitätsklinikums. Diese würden auf keinen Fall operieren, zumal es sich differenzialdiagnostisch an der fraglichen Stelle auch um einen tumorösen Prozess handeln könnte. Zur diagnostischen Abklärung müsse nun noch eine MagnetResonanz-Tomografie (MRT) durchgeführt werden. Die Stationsärztin bemerkt weiterhin, dass die frühere Untersuchung mittels einer CT-gestützten Punktion des Rückenmarks möglicherweise ein falsches Ergebnis vorgetäuscht habe. Darüber hinaus sei die Ursache für den Restharn in der Blase immer noch ungeklärt: 15:30 im Stationszimmer Dr. Reif (erklärt dem Beobachter): ... Herr Spondel ... wir hatten ja gedacht, das mit dem Wirbelkörper, wenn sich das jetzt so schnell, in zwei Monaten entwickelt hat, dann muss das jetzt was Entzündliches sein, die meinen aber jetzt, dass das eher was Tumoröses sein kann. Die Geschwindigkeit spricht dann eher dafür. Allerdings dachten wir, bei einem Tumor müsste der Verlauf ja jetzt weitergehen und nicht stoppen wie jetzt ... da meinten die ‚na, ja‘. Jetzt sollte dann ein MRT gemacht werden, Dienstag, in einer Praxis in der Nähe von [Strasse K.]. Jetzt meint der aber, es dürfte kein Metall im Körper sein und Herr Spondel meinte dann, dass da noch Granatsplitter seien ... jetzt müssen wir noch röntgen, um die Granatsplitter aufzuspüren. ... Im [Klinikum X.] meinten die dann noch: Wenn das MRT nichts aussagt, dann müssen wir doch die „offene Punktion” machen, auch wenn wir jetzt dann auch nicht operativ drangehen würden, aber jetzt zur diagnostischen Abklärung ... dann könnte man vielleicht noch bestrahlen. Wir hatten dann ja eine CT-gestützte Punktion durchgeführt, aber da hatten wir dann weder Bakterien noch was Tumoröses gesehen ... die Neurochirurgen meinten aber hierzu, dass man den Tumor bei einer CT-gestützten Punktion oft nicht sieht, dann müsse man doch die offene durchführen. ... das ist dann wirklich ein spannender Fall ... die Sache mit der Blase ist ja immer noch nicht abgeklärt, ist das jetzt eine Polyneuropathie aufgrund des Zuckers, wegen dem engen Spinalkanal, oder kommt die Restharnbildung jetzt von der Prostata? Das „therapeutische” Problem wird nun zu einem „scholastischen” Fall transformiert. Herr Spondel wird zu einem „wirklich spannenden Fall”, zu einem intellektuell herausfordernden Spiel moduliert. Die ärztliche Handlungsperspektive wandelt sich dabei von der Therapie zur Diagnose: Weitere diagnostische Prozeduren einschließlich einer offenen diagnostischen Operation werden angedacht. Die ins Auge gefassten Prozeduren geben dem Krankenhausaufenthalt von Herrn Spondel erneuten Sinn: Solange die Diagnostik noch nicht abgeschlossen ist, kann der Patient nicht entlassen werden. Als „positiver” Nebeneffekt wird die administrative Logik unterlaufen. Ärztliche Aktivität perpetuiert sich nun selbst durch die Sachzwänge, die sich aus den diagnostischen Unsicherheiten und Rationalitäten ergeben. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 297 Das Ergebnis der fünf Tage später erfolgten MRT-Untersuchung spricht für eine bakterielle Entzündung und gegen ein tumoröses Geschehen. Der Stationsarzt erläutert dem Beobachter das weitere therapeutische Vorgehen: Es werden Alpha-Blocker zur medikamentösen Verkleinerung der Prostata sowie weiterhin Antibiotika gegeben. Darüber hinaus solle die Restharnmenge regelmäßig kontrolliert werden. Die heroische Therapieoption wird nun stillschweigend nicht mehr weiterverfolgt. Die neurochirurgischen Experten werden weder ein zweites Mal zu Rate gezogen noch über den neuen Befund informiert. Des Weiteren wird nun die Verlegung in ein Rehabilitationskrankenhaus angepeilt. Eine Schwester problematisiert dem Stationsarzt gegenüber die Gefahr der Hospitalisierung des Patienten und fordert von ihm eine Entscheidung im Hinblick auf die Mobilisierung, denn es gelte hier, zwischen der Gefahr der Chronifizierung der Immobilisierung durch die lange Bettlägerigkeit und der Gefahr einer übermäßigen Belastung der angegriffenen Wirbelkörper durch die Bewegung abzuwägen. Der junge Arzt nimmt den Spielball der Entscheidungslast für diese prekäre Entscheidung nicht an, sondern verweist auf die höhere Kompetenz der leitenden Ärzte. Während der Oberarztvisite erläutert der Stationsarzt den Befund und informiert über die Möglichkeit der Anlage eines Stützkorsetts. Der Oberarzt stellt den Nutzen des Korsetts mit dem Hinweis in Frage, dass dies langfristig die Muskeln noch mehr destabilisieren würde. Vor die Alternative gestellt, zwischen zwei Korsettformen wählen zu können, trifft der Oberarzt eine Entscheidung für die beweglichere Form. Nach der Visite antizipiert der Stationsarzt auf dem Gang das Scheitern der medikamentösen Prostata-Therapie. Der Oberarzt benennt daraufhin die weiterhin bestehende Therapie-Option der invasiven Anlage eines suprapubischen Katheters. Die Entlassung des Patienten wird diskutiert. Die internistische Kompetenz der vorgeschlagenen Reha-Klinik wird von einem anderen Stationsarzt in Frage gestellt. Es wird eine Rangliste der in Frage kommenden Kliniken aufgestellt. Der Stationsarzt erklärt, dass er sich um die Verlegung kümmern werde: Mittwoch, 7.3. (auf dem Gang) Stationsarzt Schmidt: Das andere ist jetzt mit dem Alpha-Blocker, wenn das jetzt nicht anschlägt. Oberarzt: Dann den suprapubischen Katheter. Stationsarzt Schmidt: Dann würde ich den dann auch gerne bald entlassen. Stationsarzt Martin: Dann bloß, wohin? Oberarzt: Vielleicht sogar die Klinik Sonne. Stationsarzt Boller: Aber da machen die internistisch doch gar nichts mehr. Oberarzt: Die sind eher orthopädisch, aber das macht jetzt nichts oder ist sogar besser, denn das Krankheitsbild ist ja jetzt wirklich abgeklärt. Stationsarzt Boller: Aber die sind doch die Teuersten. Dafür gibt es doch keine Genehmigung. Oberarzt: Versuchen wir es dann und dann vielleicht… Stationsarzt Schmidt: Gut, erste Priorität ist dann Klinik Sonne, dann als zweite das Mauritius, werde ich mich drum kümmern. Die kurze Diskussion der Ärzte reproduziert nochmals das Grunddilemma der Entscheidung: Der Erfolg der medikamentösen Therapie ist keinesfalls gesichert und die Verlegung in eine geriatrische Reha-Klinik birgt die Gefahr einer unzureichenden akutmedizinischen Betreuung. Die Beruhigungen, dann doch noch den Blasenkatheter einsetzen zu können und das Krankheitsbild nun doch „wirklich abgeklärt” zu haben, dienen hier eher als rhetorische Figuren gegen die Scheinalternative einer intensiven internistischen Dauerbetreuung. Letztere Betreuungsvariante würde allein schon aufgrund der mangelnden Finanzierung durch die Krankenkassen kein praktikables Behandlungsmodell darstellen können. Das, was für Herrn Spondel auf der Station 298 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse getan werden kann, ist getan – übrig bleibt nur noch, den Patienten in der bestmöglichen RehaEinrichtung unterzubringen. Zwei Tage später wird Herr Spondel entlassen. Der Kurzarztbrief ist fertiggestellt. Das Krankheitsbild wird hier in medizinischen Begriffen stichwortartig geschildert. Der Beobachter fragt den Stationsarzt, was denn nun mit der Blase sei. Dieser antwortet, dass die Weigerung des Patienten, sich den suprapubischen Blasenkatheter anlegen zu lassen, die Entscheidung leichter gemacht habe. Nun müsse der Restharn eben in einigen Wochen wieder kontrolliert werden: Freitag, 9.3. 9:45 (vor dem Stationszimmer) Dr. Schmidt (zum Stationsarzt Böller): Herr Spondel wird heute entlassen in die Klinik Thomasstift ... geht jetzt zur Früh-Reha. Beobachter: Wie ist es jetzt mit der Blase? Dr. Schmidt: Der hat jetzt immer noch Restharn ... müssen wir jetzt mit dem Alpha-Blocker weiterversuchen ... mit dem suprapubischen Katheter das lehnt er ja ab, da habe ich jetzt gestern noch mal mit ihm gesprochen ... das macht jetzt die Entscheidung leichter ... gut, müssen wir jetzt nach ein paar Wochen wieder kontrollieren ... Der Willensausdruck des Patienten befreit den jungen Arzt ein Stück von der emotionalen Last der Entscheidung („das macht jetzt die Entscheidung leichter”). Da Herr Spondel sich als autonomer Patient entscheidet, das Risiko einer weiteren, möglicherweise letalen Blaseninfektion einzugehen und dafür auf die Unannehmlichkeiten eines Dauerkatheters und den damit verbundenen kleinen chirurgischen Eingriff zu verzichten, ist jetzt für die Ärzte wirklich alles getan. Der Patient kann guten Gewissens entlassen werden, indem der Auftrag zur regelmäßigen Untersuchung des Restharns an seine künftigen Ärzte weitergeleitet wird. Warum der Patient die Maßnahme ablehnt, wird hier nicht weiter erwähnt. Denkbar wären hier verschiedene Motive: Angst vor dem Eingriff, ein hohes Schamgefühl bezüglich des Dauerkatheters, unter Umständen gar der Wunsch, in Ruhe sterben zu können. Systemisch spielt die Motivation des Patienten hier für das weitere Fallprozedere keine Rolle und braucht deshalb nicht erwähnt zu werden. Gegen Mittag telefoniert Stationsarzt Schmidt nochmals mit der Reha-Klinik, die den Patienten übernommen hatte. Besprochen werden unter anderem die fortzuführende Antibiotikatherapie, die Anpassung des Korsetts, sowie einige Wünsche der Angehörigen. Herr Schmidt weist abschließend darauf hin, dass man den Patienten auf der Station nun wirklich gut kennen würde und falls sich Fragen ergeben würden, jederzeit angerufen werden könne. In der hier deutlich werdenden Beziehung zum Patienten wird eine starke professionelle Identität deutlich, in der der hier nur schwer erfüllbare Anspruch mitschwingt, die professionelle Beziehung auch weiterhin aufrechtzuerhalten. Die Aneignung eines dezidierten Fallverständnisses, ein Gefühl für Komplexität der Problematik und nicht zuletzt die Beziehung der Ärzte dieser Station zum Patienten und seinen Angehörigen stellen einen wesentlichen Teil einer guten ärztlichen Arbeit dar. Dieses Wissen kann nur rudimentär auf administrativem Wege – etwa durch den Arztbrief – übergeben werden und droht deshalb durch die Verlegung verloren zu gehen. Knapp eine Woche nach der Entlassung ist die Stationsärztin aus dem Urlaub zurückgekehrt. Dr. Schmidt erklärt, dass der lange Arztbrief von Herrn Spondel noch nicht geschrieben sei. Einige Tage später hat die Stationsärztin einen Entwurf für den langen Arztbrief formuliert und zeigt diesen dem Beobachter. Die medizinische Indikation für den suprapubischen Katheter sowie 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 299 die Ablehnung dieses Eingriffs durch den Patienten werden hier ausdrücklich benannt. Darüber hinaus wird nochmals die regelmäßige Abklärung der Restharnmenge gefordert. Mit der Fertigstellung des Arztbriefes ist der Fall „Spondel” nun endgültig zum Abschluss gekommen. Im Hinblick auf die entlastende Attribution der Entscheidungslast übernimmt sie den „Ball” von dem jungen Stationsarzt: Da der Patient die therapeutische Maßnahme abgelehnt hat und die „Kontrolle der Blase” explizit an die künftigen Ärzte als Auftrag übergeben wird, ist sowohl aus ärztlicher als auch aus juristisch-legitimatorischer Sicht alles getan und dokumentiert, was getan werden konnte. Die professionelle Identität der Stationsärzte rekonstituiert sich hier im Arztbrief ohne Verlust der Reputation, das „symbolische Kapital” bleibt erhalten6. Als Kommentar zum Arztbrief bemerkt die Stationsärztin dem Beobachter gegenüber, dass der Patient im Falle einer erneuten Urosepsis sterben würde und dass die Anlage eines suprapubischen Katheters schließlich doch nicht so ein großer Eingriff sei. Herr Spondels prekäre medizinische Lage besteht zum Zeitpunkt der Entlassung weiterhin fort7: Dienstag, 20.3. 11:15 Im Stationszimmer Dr. Reif (zum Beobachter): Ich bleibe dabei, wenn der eine Urosepsis bekommt, dann ist der tot, bei seinen Nierenwerten und allgemeinem Zustand ... ein suprapubischer Katheter ist ja jetzt auch nicht so was Großes. Orientierungsrahmen: organisatorische Überforderung - Zeit gewinnen Die besondere Entscheidungsdynamik im Fall von Herrn Spondel ergibt sich aus der Zeitdynamik der zukünftigen Antizipation der noch nicht eingetretenen Sepsis und der gegenwärtigen Stabilität des Patienten auf einem niedrigen Level. Während das weitere Prozedere unter den Ärzten überwiegend in einem medizinischen Rahmen diskutiert wird, findet unterschwellig eine Überlagerung des Verhandlungsprozesses durch einen organisatorisch-ökonomischen Rahmen statt, denn ein Akutkrankenhaus kann weder die Betreuung eines chronischen Patienten noch die umfassende Prävention zukünftiger Krankheitsereignisse leisten. Die Antizipation des medizinisch Notwendigen stößt hier an die Grenze der eigenen Möglichkeiten. Das Dilemma zwischen medizinischem Wollen und administrativem Können wird im Verlauf des hier geschilderten Entscheidungsprozesses ausgebreitet und entfaltet. Der Ausgangspunkt des Geschehens bildet die offensichtliche medizinische Komplexität der Fallproblematik. Hieraus entfalten sich einerseits medizinische „Aktionismen” im Sinne von Suchbewegungen, um jenseits der vorgegebenen Handlungsschablonen einen Weg zur Weiterbehandlung zu finden8. Verschiedene Dinge können hier – versuchsweise – probiert werden. Die Stationsärztin versucht etwa, das internistische Problem in ein chirurgisches oder neurologisches Problem umzudefinieren, dabei neue klinische Zuständigkeiten und entsprechende Verantwortlichkeiten zu installieren. Diese Versuche misslingen, dennoch wird etwas Zeit gewonnen. Ebenso wird die administrative Forderung nach schneller Entlassung dadurch entschärft, dass die therapeutische Aufgabe zeitweise in ein diagnostisches Problem umdefiniert wird. Als nun doch die unvermeidbare Entlassung ansteht, mildert die Perspektive einer Rehabilitationsmaßnahme die Last der Verantwortung im Hinblick auf die organisatorisch unvermeidbare Entscheidung zur Entlassung ab. Doch erst im Rekurs auf den vermeintlichen Willen des Patienten und die Antizipation des noch durchzuführenden medizinisch Notwendigen in dem abschließenden Arztbrief werden die Ärzte endgültig aus der ihnen zugeschriebenen Entscheidungslast entlassen. Symbolisch ist nun der eigene Ethos 300 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse wiederhergestellt: Man hat alles gesagt und getan, was nötig ist. Die Verantwortung für das weitere Geschehen liegt nun beim Patienten und den zukünftigen Ärzten. Der Grundkonflikt – die Spannung zwischen ärztlich-medizinisch Wünschenswertem und administrativ-organisatorisch Leistbarem - bleibt zwar weiterhin bestehen, hat aber im Laufe des Behandlungsprozesses eine Form gefunden, die für die Beteiligten akzeptierbar scheint. Die Aushandlung dieser Balance stellt sich dabei als ein kompliziertes soziales Gebilde dar, in dem im ärztlichen Team Zuständigkeiten verteilt und reattribuiert werden. Im Zentrum der Spannung stehen hier die Stationsärzte. Ihnen obliegt es, zwischen Angehörigen-, Patienten- und Organisationsinteressen eine Mitte zu finden, in der nicht nur der eigene ärztliche Ethos, sondern auch die Identität medizinischer Organisationen reproduziert wird. Die Fähigkeit, die Last der diesbezüglichen Entscheidungsverantwortung zu schultern, aber auch wieder an andere Stelle verweisen zu können, gehört zum entwickelten ärztlichen Habitus. Oder anders herum: Für die Medizin bleibt die Krankheit des Patienten - wider alle organisatorischen und ökonomischen Zwänge - instruktiv. Die diesbezügliche Verantwortung kann nicht abgewiesen, sondern nur überwiesen werden. Eine entwickelte ärztliche Kompetenz bedeutet, die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten eines komplexen Entscheidungsprozesses balancieren zu können9. Der Vergleich zwischen dem jungen Stationsarzt und der Stationsärztin zeigt hier jedoch unterschiedliche Strategien auf, mit diesem Problem umzugehen: Während Herr Schmidt versucht, seine Verantwortlichkeit im ärztlichen Team, insbesondere in der Leitungsebene, zu verteilen und deren Verweis auf die Überkomplexität als Entlastung, nichts mehr tun zu können, annimmt, stellt für Frau Dr. Reif derselbe Sachverhalt einen Ansporn dar, doch noch einen Weg zu finden. Solche Unterschiede lassen sich zwar biografisch plausibilisieren, etwa durch unterschiedliche Widerständigkeiten oder durch verschiedene Ausbildungsstände – so hat Herr Schmidt erst seit einem Monat seine Arzt-im-Praktikum-Ausbildung beendet. Dennoch kann das für diese Art von Entscheidungsprozessen erscheinende Grundproblem nicht psychologisch auf die emotionale Haltung einzelner Ärzte reduziert werden, sondern stellt sich gleichsam als Konflikt dar, der – wenngleich mit unterschiedlicher Enaktierung – das ganze medizinische Team trifft. Zum einen steht hier das Problem, dass eine Weiterbehandlung des Patienten aus organisatorischen und administrativen Gründen nicht mehr möglich ist, auf der anderen Seite steht die professionelle Identität der Ärzte bzw. einer Station, die einen Patienten auch als Gesamtperson gut kennt und deshalb besonders gut weiterbetreuen könnte. Diese Widersprüchlichkeit lässt „Falschrahmungen” notwendig erscheinen, die auf der einen Seite medizinisch-diagnostische Initiativen aus administrativer Sicht unverdächtig erscheinen lassen, während auf der anderen Seite administrative Gründe den Angehörigen und Patienten als vermeintlich therapeutisch begründete Maßnahmen verschleiert werden. Die Organisation Krankenhaus ist zwar letztlich mit diesem Fall überfordert, aber dennoch gelingt es den Ärzten Zeit zu gewinnen, um eine Versorgungsperspektive zu entwickeln. Dieser Prozess zeigt sich als ein geschickter Akt, in dem zwischen den verschiedenen Interessen - verkörpert durch unterschiedliche, im medizinischen Feld positionierte Akteure – eine Balance gesucht wird. (b) Herr Schmidt-Bauer, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) Herr Schmidt-Bauer, ein 49-jähriger Mann, wird am Mittwoch über die Notaufnahme wegen Verdachts einer akuten Pankreatitis (Entzündung der Bauchspeicheldrüse) auf die Intensivstation einer chirurgischen Abteilung aufgenommen. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 301 Dr. Mehring, der Oberarzt der Intensivstation vermutet, dass die Einblutung in den Bauchbereich nicht allein von einer Pankreatitis herkommen kann und entscheidet sich zu einer diagnostischen Punktion. Aufgrund der Fermente im Blut kommt der Arzt zu dem Schluss, dass es sich hier nicht um eine Pankreatitis, sondern um eine eingeblutete Pseudozyste handelt: Dr. Mehring: ... das war eine Entscheidung, wo man sagen konnte, okay, wir machen jetzt erst mal gar nichts, beobachten das nur, nicht? haben‘s aber punktiert, um zu wissen was er hat und dadurch war eigentlich sehr früh klar, dass der keine Pankreatitis hat, sondern ne eingeblutete Pseudozyste, was man ja ganz anders [behandelt. [...]. Am Freitag wird der Patient auf die Normalstation verlegt. Eine Pankreatitis ist nicht ungefährlich. Nicht selten endet diese Krankheit tödlich. Den Ärzten ist mit Herrn Menzel, der seit sechs Wochen auf der Intensivstation mit dem Überleben ringt, das abschreckende Beispiel eines ungünstigen Verlaufs noch deutlich vor Augen. Die folgenden Tage wird Herr Schmidt-Bauer auf der Station beobachtet. Außer den regelmäßigen Blutkontrollen haben sich die Ärzte noch nicht für eine weitergehende Therapie oder Diagnostik entscheiden können. Auch auf der üblicherweise mittwochs stattfindenden Chefarztvisite wird diesbezüglich keine Entscheidung getroffen, da der Chef die Visite kurzerhand aufgrund mangelnder Arztpräsenz ausfallen lässt10. Die folgenden Tage liegt Herr Schmidt-Bauer auf der Station und wird von den Ärzten beobachtet. Auch am kommenden Montag ist seitens der Ärzte noch nicht entschieden, wie denn nun im Falle Schmidt-Bauer weiter vorgegangen werden soll. Die Stationsärztin bemerkt dem Beobachter gegenüber, dass man eigentlich nicht recht wisse, was man mit ihm hier auf der chirurgischen Station anfangen solle: Montag, 27.3. 14:10 Stationszimmer Dr. Schneider (zum Beobachter): Klar, der trinkt ganz gerne ein bisschen, ... hat ein paar kleine Zysten in der Pankreas ... wir können ja eigentlich hier mit ihm nichts anfangen ... ihn aufbauen (über die Ernährung) und dann kontrollieren, was geschieht … 14:40 Stationszimmer Dr. Schneider (zum Stationsarzt Scholz): Herr Schmidt-Bauer ... was machen wir jetzt mit dem ... muss die Sabine [Vorname der Oberärztin] entscheiden ... oder bauen wir den auf, stellen die Ernährung um und gucken dann noch mal wie es ihm geht ... Elf Tage nach der Aufnahme des Patienten sind die betreuenden Stationsärzte noch nicht in der Lage, eine Entscheidung hinsichtlich des weiteren Prozedere zu treffen. Im Prinzip wäre jetzt zu entscheiden, wie weit man mit der Diagnostik geht und ob dann nicht im Falle von weiteren so genannten Pankreaszysten eine Indikation für einen chirurgischen Eingriff bestehe. Wenngleich Dr. Schneider von ihrer Qualifikation her den Status einer chirurgischen Fachärztin besitzt, „traut” sie sich weder den Patienten zu verlegen oder zu entlassen, noch den umgekehrten Weg zu gehen und eine weitergehende Diagnostik zu veranlassen. Die Entlassung birgt – gerade auch mit Blick auf den Alkoholkonsum des Patienten – die Gefahr, dass die Pankreatitis dann doch ausbrechen kann. Weitere diagnostische und therapeutische Initiativen sind jedoch mit dem Verweis auf die Kosten der Gefahr einer Kritik durch den Chefarzt ausgesetzt11. Entsprechend wird die Entscheidung an die Oberärztin delegiert, die jedoch aufgrund ihres vollen OP-Programms kaum auf der Station anzutreffen ist. Das Entscheidungsproblem zeigt sich auch hier als ein Rahmenkonflikt: Auf der einen Seite steht der ökonomisch administrative Rahmen – hier manifestiert durch die Hierarchie und die Anweisung von „oben”, auf teure Maßnahmen zu verzichten und auf der anderen Seite das ärztliche Gebot, den Patienten gut versorgt zu wissen. Als Strategie, um mit diesem Entscheidungsproblem umzugehen, „entscheidet” sich die Stationsärztin dafür, erst einmal abzuwarten. 302 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Zwei Tage später wird der Patient dem Chefarzt während der regulären Mittwochsvisite vorgestellt. Die im Fall Schmidt-Bauer am meisten engagierte Stationsärztin ist während der Visite im OP und kann deshalb nicht persönlich berichten. Die Oberärztin kündigt an, dass zur weiteren diagnostischen Abklärung noch eine Computertomografie durchgeführt werden solle. Der Chefarzt stellt einige Differenzialdiagnosen und fragt die Ärzte nach dem Vorbefund und ob schon einmal eine ERC12 durchgeführt worden sei. Die Oberärztin benennt die akute Pankreatitis als den Vorbefund und gibt auf den ersten Teil der Frage keine Antwort. Der Chefarzt bestätigt, dass eine CT in diesem Falle eine sinnvolle diagnostische Maßnahme sei. Nach der Visite schauen sich die Oberärztin und der Stationsarzt gemeinsam die Akte von Herrn Schmidt-Bauer an. Frau Dr. Puls stellt fest, dass zunächst das Ergebnis der Computertomografie abgewartet werden solle, bevor die weitergehende Diagnostik durchgeführt werden könne. Ein wenig später berichtet der Stationsarzt seiner aus dem Operationssaal zurückgekehrten seiner Kollegin von der Panne während der Chefvisite: Weder er noch die Oberärztin hätten über die Vorgeschichte von Herrn Schmidt-Bauer Bescheid gewusst. Im Hinblick auf die Ergebnisse der Chefvisite bemerkt die Stationsärztin, dass sie die Durchführung einer diagnostischen ERC für nicht sinnvoll halte, zumal sich der Oberarzt der Intensivstation bezüglich der Diagnose recht sicher sei: Mittwoch, 29.3. 11:10 Stationszimmer (Der Stationsarzt tauscht sich mit Dr. Schneider, die gerade aus dem Operationssaal gekommen ist, über das aktuelle Geschehen auf der Station aus). Stationsarzt: Heute morgen einen Anschiss gekriegt, weil wir nicht wussten, ob er ERCipiert worden ist ... wann sollte ich mich auch darum kümmern? [...] Stationsärztin: Und der Chef ist mit der CT einverstanden? Stationsarzt: Ja, aber der Chef meint auch noch eine ERC. Stationsärztin: ERC bringt es nicht ... Dr. Mehring sagt, der hat freie Flüssigkeit in der Milz ... Neben dem grundlegenden Rahmungskonflikt wird hier die Entscheidungsfindung durch ein weiteres Problem belastet: Die Kommunikationsflüsse innerhalb des ärztlichen Teams werden durch das volle OP-Programm gebrochen. Die Träger der entscheidenden Informationen sind nicht immer zur rechten Zeit am rechten Ort anwesend. Auch der Oberarzt der Intensivstation - wenngleich gerade er relevantes Wissen zu dem Fallgeschehen beizutragen hätte - befindet sich außerhalb des Stabs der Entscheidung. Die Kommunikationsschranken innerhalb der Abteilung verhindern, dass eine diesbezügliche Information zur Geltung gebracht werden kann13. Die Systemgrenzen zwischen den Stationen können hier nicht überwunden werden. Eine „draußen stehende” Information wird nicht verhandelt, stellt bestenfalls eine Meinung dar. Relevant für die Entscheidungskommunikation scheint nur das zu sein, was innerhalb der Hierarchielinie thematisiert wird. Am Mittwoch nachmittag werden auf der Röntgenbesprechung bereits die CT-Bilder besprochen. Die Röntgenärztin schildert, dass die Zysten sich nicht verändert hätten, der Flüssigkeitsraum in der Milz sich jedoch vergrößert habe. Die Stationsärztin fragt, ob die Zyste mit dem Pankreas verbunden sei. Die Aufnahmen scheinen hierzu jedoch keinen Hinweis zu geben. Die Oberärztin und die Stationsärztin schauen sich im Anschluss an die Besprechung nochmals die Aufnahmen von Herrn Schmidt-Bauer an. Die Oberärztin bittet die Röntgenärztin, die Bilder am nächsten Tag nochmals aufzulegen, damit der Chefarzt sie sehen könne. Der Versuch, diesen am Donnerstag durch die erneute Präsentation in den Entscheidungsprozess zu involvieren, missglückt aufgrund erneuter Abwesenheit des Chefs. Am Freitag ist das weitere Prozedere von Herrn Schmidt-Bauer 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 303 immer noch ungeklärt. Der Stationsarzt schlägt vor, eine Entscheidung durch den Chefarzt einzufordern, möchte diesen allerdings nicht persönlich mit den aktuellen Ergebnissen konfrontieren, sondern weist darauf hin, dass dies die Aufgabe der Oberärztin sei. Dr. Schneider verweist nochmals auf das Votum der letzten Chefvisite, fügt jedoch hinzu, dass die dort in Betracht gezogene diagnostische ERC ein nicht unerhebliches Risiko berge. Auch innerhalb der Hierarchie scheinen die Kommunikationslinien wenig durchlässig zu sein. Ein einfacher Stationsarzt kann nicht ohne Weiteres den Chefarzt aufsuchen und von diesem eine Entscheidung einfordern, denn der Chef entscheidet selbst darüber, wann er entscheidet14. Stattdessen entfaltet sich ein subtiles Spiel, den Chefarzt auf indirektem Wege zu einer Entscheidung herauszufordern, etwa indem die Bilder des Patienten ein weiteres Mal während der routinemäßigen Röntgenbesprechung präsentiert werden, in der Hoffnung, dass der Chef auf die Information anspringt. Eine kontroverse Diskussion des weiteren Prozederes, etwa die Verhandlung über Sinn oder Unsinn der invasiven ERC-Untersuchung, scheinen hier nicht möglich. Dennoch: Das Problem verlangt nach einer Entscheidung. Die beteiligten Ärzte „entscheiden” sich, den Konflikt durch Abwarten zu lösen. Am kommenden Montag wird vom Chefarzt eine diagnostische ERC angeordnet. Die Prozedur wird ohne Komplikationen am folgenden Dienstag durchgeführt. Am nächsten Morgen werden die Ergebnisse auf der Röntgenbesprechung vorgestellt. Es zeigt sich eine Pseudozyste. Die vor fast drei Wochen vom Oberarzt der Intensivstation gestellte Diagnose wird nochmals bestätigt. Jetzt sind alle Ärzte der Station diagnostisch auf dem gleichen Informationsstand15. Die nun erhärtete Diagnose stellt für die Chirurgen eine Operationsindikation dar. Der Patient erklärt jedoch, dass er einen chirurgischen Eingriff ablehne. Im Hinblick auf die Gefahr von schweren Komplikationen erklärt der leitende Oberarzt mit Verweis auf die Verantwortung, die die Ärzte für diesbezügliche Missgeschicke zu tragen hätten, dass es durchaus in Ordnung sei, wenn der Patient sich nicht operieren lassen wolle - zumal er es ja durch die Vermeidung weiterer Exzesse selber in der Hand habe, weiteres Übel zu vermeiden: Freitag, 7.4. 8:15 (auf dem Weg zwischen Station und Röntgenbesprechung) (Herr Schmidt-Bauer begegnet der Ärztegruppe. Patient und Ärzte grüßen sich wechselseitig.) Oberärztin: Das gibt gleich was auf der Visite, der will sich nicht operieren lassen ... Leitender Oberarzt: Ist ja auch verständlich ... kann die Milz mit rausfliegen ... wenn nicht ... oder gibt eine heftige Pankreatitis ... 8:35 Stationszimmer Leitender Oberarzt (zur Oberärztin): ... Schmidt-Bauer ... habe ich gesagt, ob wir den nicht punktieren sollen ... da hat der aber auch nicht begeistert geguckt ... wenn dann eine Infektion kommt, dann sind wir noch schuld ... das war ja auch nach einem Exzess entstanden ... wenn der jetzt sein Leben in Ordnung bringt ... ist das auch okay. Der Chefarzt bekundet auf der anschließenden Visite, dass es unter der Voraussetzung regelmäßiger diagnostischer Kontrollen durchaus in Ordnung sei, wenn der Patient sich jetzt nicht operieren lassen wolle, zumal der Eingriff ja auch noch später durchgeführt werden könne. Der Entscheidungsprozess findet hier seinen Wendepunkt und Abschluss: Indem der Patient für diese Entscheidung die Verantwortung übernimmt, kann ihm „autonomisierend” die Entscheidungslast übertragen werden. Man kann sich nun „verstehend” in das vom Patienten artikulierte Unbehagen hinsichtlich eines chirurgischen Eingriffs einklinken, denn die Verantwortlichkeiten sind nun reattribuiert: Es ist nun Sache des Patienten, die geforderten 304 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Kontrollen durchführen zu lassen, weitere Alkoholexzesse zu vermeiden und in nicht allzu ferner Zukunft die aus medizinischen Gründen für notwendig erachtete Operation durchführen zu lassen. Abschließend informiert die Stationsärztin den Hausarzt von Herrn Schmidt-Bauer über die Ergebnisse des Krankenhausaufenthaltes und dass der Patienten die Operation abgelehnt habe. Sie weist nochmals auf die Notwendigkeit hin, regelmäßig diagnostische Kontrollen durchführen zu lassen. Außerdem solle man den Patienten in drei Monaten erneut bei den Chirurgen vorzustellen. Im Sinne einer sauberen Verteilung der Verantwortlichkeiten kommt der Fall von Herrn SchmidtBauer erst dann zum Abschluss, wenn die Weiterbetreuung des Patienten im medizinischen System zumindest gesichert ist. Dies geschieht, indem die Aufgabe an den Hausarzt weitergereicht wird und dieser sorgfältig instruiert wird, was an weiteren Maßnahmen zu geschehen habe und vor allem, dass es an der Fehleinschätzung des Patienten liege, dass das medizinisch Indizierte noch nicht geschehen sei. Das medizinische Rational ist nun geschlossen, man hat alles getan, was man tun konnte und retrospektiv kann nun auch der lange Aufenthalt auf der chirurgischen Station einen von außen nachvollziehbaren Sinn unterlegt bekommen: Zunächst musste die Diagnose gesichert werden und dann konnte der geplante Eingriff aufgrund des Eigenwillens des Patienten nicht durchgeführt werden. Orientierungsrahmen: Verschieben der Entscheidungslast und heroischer Aktionismus Im Fall von Herrn Schmidt-Bauer bleibt die dem Geschehen (mit) zugrunde liegende Systemdynamik implizit verborgen. Die Kultur der Kommunikationsvermeidung, induziert durch das double bind der Leitungsebene, sie sowohl involvieren zu müssen als auch nicht involvieren zu sollen, lässt informelle Kommunikationswege entstehen, die außerhalb des regulären Entscheidungsstabes stehen. Dies führt seinerseits zu Reibungen oder gar dem Verlust von Information. Es wäre jedoch zu einfach, die Ursache dieser Dynamik einfach dem Charakter von Einzelpersonen zuzurechnen, hier etwa dem Despotismus des Chefarztes oder der Entscheidungsschwäche der Stationsärztin. Vielmehr scheint hier als strukturelle Variable gerade auch die besondere Situation in der Chirurgie zum Tragen zu kommen. Die chronische Überlastung, die Notwendigkeit, sparsam mit den Ressourcen umgehen zu müssen, der knappe Raum für die Stationsarbeit und die hohe Last der Verantwortung – etwa wenn es sich um riskante operative Eingriffe handelt – lassen ein System der Distribution von Entscheidungslasten emergieren, indem die beiden Pole „Entscheidungsvermeidung” und „despotische Entscheidungsautorität” nahe beieinander liegen. Die hier deutlich werdende Rolle des Chefarztes kann deshalb auch gerade so gedeutet werden, dass das System dringlich jemanden braucht, der die Verantwortung für prekäre Entscheidungen angesichts knapper personeller und ökonomischer Ressourcen übernimmt. Dies bedeutet natürlich nicht, dass einzelne Charaktere auch mal über das Ziel hinausschießen, die „Eigenarten einer Persönlichkeit” durchaus auch Einfluss auf das Geschehen haben können. Dennoch, um mit Rohde zu sprechen, »die faktische Autoritätsstruktur (die übrigens nicht eigentlich als informelle angesehen werden darf, da sie zwar von der formellen abweicht, dennoch nicht an der zufälligen Konstellation der beteiligten Individuen, sondern an den funktionalen Notwendigkeiten anknüpft) bestimmt das Maß an Spannungen und Konflikten« (Rohde 1974: 374). 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 305 Da der offizielle Dienstweg nicht ohne Risiko der symbolischen Degradierung begangen werden kann - den Chefarzt kommunikativ herausfordern zu wollen, ist gefährlich - bekommen für die untergeordneten Akteure Strategien wie „Informationen nicht zur Geltung bringen”, „abwarten” oder auch „dem Zufall mal ein wenig nachhelfen” eine wichtige Bedeutung, um im ärztlichen Feld bestehen zu können. Wenngleich der Fall Schmidt-Bauer offiziell in einem medizinischen Rahmen thematisiert wird - denn es geht hier um die richtige Diagnose und Therapie – scheint hier deshalb unterschwellig immer auch die hierarchische Ordnung verhandelt zu werden. In dem sich hier offenbarenden „mikropolitischen”16 Rahmen werden Positionen bestätigt und reproduziert. Der Oberarzt der Intensivstation – sich der Diagnose von Anfang an sicher - bleibt in diesem Spiel außen vor, denn er gehört nicht zum Spielfeld der Stationsdynamik17. Die systemische Analyse offenbart hinter diesen Machtkonstellationen jedoch einen tiefer liegenden administrativ-legitimatorischen Rahmen: Denn einer muss ja schließlich die prekären, unter Umständen risikoreichen medizinischen Entscheidungen innerhalb der Organisation Krankenhaus treffen, Entscheidungen, die zugleich immer auch Entscheidungen über Ressourcenverteilungen sind. Letztlich zeigt sich auch hier als Basistypik der Konflikt zwischen ärztlichem Ideal, den Patienten gut betreut zu wissen und den Grenzen des organisatorisch Leistbaren. Für das Letztere steht hier die despotisch anmutende Autorität des Chefarztes. Im vorauseilenden Gehorsam vermeiden die ihm untergebenen Ärzte es hier, eigenständig über den Einsatz kostspieliger diagnostischer Prozeduren zu entscheiden. Aus systemischer Sicht leistet die steile Hierarchie, wenngleich wie etwa hier in den Informationsflüssen offensichtliche Probleme erscheinen, eine Antwort auf ein tiefer liegendes grundsätzliches Entscheidungsproblem, nämlich auf die Frage, wie Entscheidungen in diesen prekären medizinisch organisatorischen Balanceakten verfahrensmäßig zu legitimieren sind. Komparative Analyse: Innere Medizin vs. Chirurgie Wie im Fall von Herrn Spondel bleibt auch bei Herrn Schmidt-Bauer die dem Geschehen (mit) zugrunde liegende Systemdynamik verborgen. Auch hier ergibt sich ein Rahmenkonflikt zwischen einerseits den organisatorischen und ökonomischen Grenzen und andererseits dem ärztlich professionellen Selbstverständnis, einen anvertrauten Patienten richtig betreut zu wissen. Auf beiden Stationen geht es um die Übernahme und Verschiebung von Entscheidungslasten. Dennoch zeigen sich hier erhebliche Unterschiede innerhalb der sozialen Dynamik, wie das Thema Entscheidung in diesen komplexen Fallproblematiken verhandelt wird. Die im Fall Schmidt-Bauer erscheinende markante Chefarztposition kann deshalb auch so gedeutet werden, dass dieser in seiner Rolle die Aufgabe hat, Probleme wieder in den habitualisierten aktionistischen Entscheidungsmodus der Chirurgie zu überführen. In diesem Sinne kann es nicht »verwundern, [dass] ein gewisser „Despotismus” in der Chirurgie geradezu funktionsnotwendig ist. Entscheidungen müssen hier typischerweise schnell und präzis getroffen werden und lassen sich nicht leicht und vor allem nicht in kollegialen Diskussionen aushandeln« (Rohde 1974: 372). Komplementär hierzu ist die Angst vor dem Chefarzt tief habitualisiert. Die Begegnung mit ihm ist potenziell immer bedrohlich18. In dem hier vorgestellten Prozess von Herrn Schmidt-Bauer bestimmen diese habitualisierten Autoritätsstrukturen den Entscheidungsverlauf nicht unwesentlich mit. Im Gegensatz zur Chirurgie herrscht in der Inneren Medizin eine andere Diskurskultur. Eine wesentliche Aufgabe der Ärzte besteht hier im geduldigen Beobachten und dem Studium bzw. der Diskussion der Fallgeschichte. In einer gewissermaßen institutionalisierten Kultur der „second opinion” wird der 306 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Meinungsaustausch hier geradezu gesucht. Die durchaus auch kontrovers geführte Falldiskussion ist hier nicht wie in der Chirurgie ein zu vermeidendes Übel, sondern stellt gar einen zentralen Bestandteil im professionellen Selbstverständnis eines guten Internisten dar. Über diese Unterschiede zwischen den beiden Abteilungen hinweg zeigen sich im Hinblick auf den Umgang mit den konfligierenden Logiken der administrativ-organisatorischen bzw. institutionellen und der medizinischen Rahmungen deutliche Gemeinsamkeiten. Dies betrifft insbesondere die Fähigkeit der Ärzte, Informationen modulieren und dynamisch in verschiedene Kontexte setzen zu können. In Goffmans Sinne strukturieren Rahmen die Handlungspraxis von Akteuren und beinhalten deshalb auch ein habituelles Element. Entsprechend der vorgestellten Ergebnisse muss der ärztliche Habitus jedoch darin bestehen, diese zwei unterschiedlichen Orientierungsschemata miteinander in Verbindung zu bringen. Beide Formen müssen in eine Handlungspraxis überführt werden, wobei jeweils einmal mehr der eine, dann wieder der andere Aspekt in den Vordergrund tritt. Innerhalb der oftmals langwierigen Behandlungs- und Entscheidungsprozesse können vielfältige „Umrahmungen” bzw. „Fehlrahmungen” („misframings”) stattfinden, um - gleichsam einer Suchbewegung - einen professionell befriedigenden Mittelweg finden zu können, oder gar eine Not in eine Tugend zu verwandeln. Diese Prozesse bleiben dem Außenstehenden verborgen. Der Patient wird in beiden Fällen in die diesbezüglichen Manöver nicht eingeweiht. Die systemischen Zwänge und mikropolitischen Hintergründe werden ihm und seinen Angehörigen gegenüber nicht kommuniziert. Zumindest im Arztbrief jedoch wird abschließend eine einheitliche Logik präsentiert, die formal sowohl dem ärztlichen wie auch dem administrativen Rahmen entsprechen muss und aus der die sozialen bzw. organisatorischen Aspekte der realen Entscheidungsdynamik getilgt werden. (c) Herr Wusel, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) Herrn Wusel, einem 83 Jahre alten Patienten, wurde vor drei Monaten ein Rektumkarzinom mittels einer speziellen, minimalinvasiven chirurgischen Technik entfernt (Laparoskopie). Der Patient lebt in einer kleineren, etwa hundert Kilometer vom Behandlungsort entfernten Stadt und wird dort medizinisch von Prof. Zennek weiter betreut. Nachdem bei einer routinemäßigen Laboruntersuchung erhöhte Werte eines Tumormarkers festgestellt wurden, stellt Prof. Zennek entgegen dem einstimmigen Votum der damals operierenden Chirurgen die Indikation für die chirurgische Entfernung des Enddarms, verbunden mit der Anlage eines künstlichen Darmausgangs (Anus praeter). Am Mittwoch nachmittag erscheint Herr Wusel auf der chirurgischen Station. Weder die Schwestern noch die Stationsärzte sind zuvor über sein Kommen informiert worden. Der Stationsarzt berichtet dem Beobachter, dass die damals operierenden Oberärzte ausdrücklich im Arztbrief vermerkt hätten, dass man von weiteren chirurgischen Behandlungen absehen und nur noch bestrahlen solle. Im Gespräch mit dem Stationsarzt schildert der Patient, dass Prof. Strauss, der Chefarzt der Abteilung, zunächst auch die Operation abgelehnt habe, dann aber nach Rücksprache mit dem leitenden Oberarzt sich doch mit der großen Operation einverstanden erklärt habe: Mittwoch, 22.3. 14:20 Patientenzimmer Patient: Der Strauss (Nachname des Chefarztes) sagte mir zunächst ‚das machen wir nicht’. Der Martin (Vorname des leitenden Oberarztes) hat mir jedoch zuerst ja gesagt, dann jedoch wieder nein ... dann nachdem Zennek mit dem Peters gesprochen hatte, war dann doch klar, dass es gemacht wird ... dann 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 307 bin ich hierher nach Berlin und dann war der Strauss in Urlaub und dann bin ich schließlich mit einer Überweisung vom Hausarzt hierher gekommen ... ich habe eben mit Martin (wieder wird nur der Vorname von Dr. Peters genannt) telefoniert. Ein wenig später spricht der Stationsarzt mit der Oberärztin kurz über den Fall. Sie entscheiden sich, zunächst eine Rektoskopie durchzuführen. Am Freitagmorgen fragt die Oberärztin den Arzt, ob der Patient schon über die Darmamputation aufgeklärt sei. Dieser bemerkt, dass dies im Prinzip schon geschehen sei, der Patient das Gespräch allerdings aufgrund seines schwachen Gedächtnisses möglicherweise schon wieder vergessen habe. Die Oberärztin gibt daraufhin die voraussichtlichen Operationstermine bekannt. In der anschließenden Visite erklärtder Stationsarzt dem Patienten mit ruhiger Stumme, dass er am kommenden Montag operiert werden solle. Dabei würde man dann auch einen künstlichen Darmausgang anlegen müssen, der dann zu Hause versorgt werden müsse. Wie das gehe, müsse der Patient dann noch lernen und außerdem müssten vorher noch einige Untersuchungen durchgeführt werden. Im Anschluss an das Gespräch erklärt der Stationsarzt seiner Kollegin, dass der Patient alles vergessen habe, was er zuvor mit ihm besprochen habe. Außerdem habe er zu Hause eine Frau, die ein Pflegefall sei. Die Ärztin betont gegenüber ihrem Kollegen, dass auch sie darüber nicht glücklich sei, dass der Beschluss, den Patienten kein zweites Mal zu operieren, wieder umgeworfen worden sei: 10:50 Stationszimmer Stationsarzt Scholz: Der Herr Wusel, der hat eine Frau zu Hause, die ist ein Pflegefall und der hat ja Kinder ... und der erinnert sich jetzt nicht mehr, was ich mit ihm geredet habe ... der hat alles wieder vergessen, was gestern besprochen ist ... Dr. Schneider: Ich bin jetzt auch nicht ganz glücklich mit der Entscheidungsfindung ... dann wird dann einfach alles umgeschmissen, was einmal beschlossen worden ist ... Wie geplant, wird die Operation am Montag durchgeführt. Einige Tage später kommt der Patient zurück auf die Station. Der künstliche Darmausgang wächst jedoch nicht wie erwünscht an die Bauchdecke an. Eine Schwester bittet den Stationsarzt, den künstlichen Darmausgang von Herrn Wusel nochmals anzuschauen, da die Platte mit dem Reservoir gerade entfernt worden sei und nun die Wunde auf der Bauchdecke gut zu sehen sei. Der Arzt schaut sich die Öffnung an und beruhigt den Patienten, bemerkt aber draußen dem Beobachter gegenüber, dass es schon hart sei, was man einem Patienten mit einem Anus praeter alles antun würde: Montag, 3.4.00 9:00 (auf dem Gang) Schwester: Die Puls [Nachname der Oberärztin] sagt, dass es wohl etwas schwieriger war ... nekrotisierendes Gewebe ... Stationsarzt: Das lag ziemlich tief ... (im Patientenzimmer) Stationsarzt (zum Patienten): Es wird schon alles gut. (auf dem Gang) Stationsarzt (zum Beobachter): Ist schon hart, was man den Patienten mit dem Anus praeter alles antut. Auch die folgenden Tage scheint der Darmausgang nicht richtig anzuwachsen. Zum anderen tritt noch ein Harnweginfekt auf. Ein paar Tage später scheint sich auch der psychische Zustand des Patienten zu verschlechtern. Die Schwestern haben den Eindruck, dass es Herrn Wusel gar nicht gut gehe. Außerdem wolle er nicht richtig essen. Der Stationsarzt bemerkt demgegenüber, dass der Patient einfach alt und ein wenig „verhuscht” sei. Nachmittags spricht Dr. Schneider mit ihrer Oberärztin nochmals über die psychosoziale Lage des Patienten. Herr Wusel habe eigentlich den 308 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Wunsch, seine pflegebedürftige Frau zu versorgen, sei nun aber selber ein Pflegefall. Wenngleich hier von der Stationsärztin eine schwerwiegende psychosoziale Dimension des Patienten angesprochen wird, bleibt der Befund gleichsam im leeren Raum stehen. Der Hinweis bleibt ohne Anschlüsse und Konsequenzen, etwa in dem Sinne, dass eine diesbezügliche Versorgung, Betreuung oder ein entsprechendes Gespräch angedacht wird. Kurz vor der Abschlussbesprechung liegt den Ärzten der Befund aus der Pathologie vor. Die Stationsärztin berichtet dem leitenden Oberarzt, dass in dem amputierten Enddarm kein Tumorgewebe gefunden worden sei. Der Arzt stellt daraufhin mit Bedauern fest, dass der Patient nun umsonst einen künstlichen Darmausgang verpasst bekommen habe. Ende der Woche übergibt die Oberärztin die Station einer Kollegin zur Vertretung, da sie beabsichtigt, für die folgenden zwei Wochen in Urlaub zu gehen. Während der Besprechung der Patientenkurven bemerkt sie, dass Herr Wusel die ganze Geschichte nicht so ganz verkraftet habe, es aber jetzt wohl schaffen werde: Freitag, 14.4. 14:50 (im Arztzimmer) Oberärztin (zu der Vertretung): Herrn Wusel ... den haben wir jetzt fast umgenietet mit der Aktion ... war ganz durch den Wind, hat das nicht so ganz verkraftet ... packt‘s jetzt wohl, glaube ich ... Am späten Nachmittag spricht die Oberärztin noch mit dem Sohn von Herrn Wusel über die Betreuungsperspektive des Patienten. Die Oberärztin erklärt, dass die Versorgung eines Anus praeter an sich eine einfache Sache sei und wohl eher in der psychischen Einstellung das Problem liege. Überhaupt wirke der Patient jetzt noch sehr mitgenommen. Der Sohn bemerkt daraufhin, dass sein Vater sich schon früher ab und zu depressiv in sich zurückgezogen habe. Die Stationsärztin wirft daraufhin ein, dass man jetzt eine Depression nicht wegoperieren könne. Hierauf antwortet der Sohn, dass sein Vater die Erwartung gehabt habe, schon eine Woche nach der Operation wieder Ausflüge machen zu können. Die Oberärztin antwortet daraufhin, dass er nun als Sohn überlegen müsse, wie es jetzt mit seinem Vater weitergehe: 16:00 (im Stationszimmer) Oberärztin: ... mit der Anus praeter-Versorgung ... ist ja im Prinzip wie Po abwischen von Kindern ... ist dann eher die psychische Einstellung, die zu ändern ist ... es gibt ja auch ausgebildete StomaSchwestern in Berlin ... gut dann bleibt der noch bis Ostern ... der ist ja nicht so gut drauf jetzt ... so sehr verhuscht ... hat ihn doch sehr mitgenommen ... Sohn: Aber, wenn der sich jetzt so sehr in sich kehrt, das hat der schon immer ab und zu gemacht ... Stationsäztin: Die Depression können wir jetzt nicht wegoperieren ... Sohn: Der wollte jetzt eine Woche nach der Operation wieder Ausflüge machen ... Oberärztin: Müssen Sie überlegen, was Sie jetzt machen wollen ... Sohn: Der ist dann mal auf und mal ab ...jetzt kommt die ganze Familie nach Berlin, auch die Mutter ... aber das haben wir ihm jetzt noch gar nicht gesagt ... nicht dass der dann wieder Erwartungen hat ... Im Gespräch mit dem Sohn trivialisiert die Oberärztin die Konsequenzen des großen chirurgischen Eingriffs und konstatiert, dass die Rehabilitation eigentlich nur eine Frage der Einstellung sei. Das Problem, der von allen Beteiligten wahrnehmbare schlechte Allgemeinzustand, wird hier individualisiert, indem es ursächlich der psychischen Einstellung des Patienten zugerechnet wird. Der Sohn übernimmt mit Verweis auf die bekannten Reaktionsmuster seines Vaters diese Deutung. Mit dem Hinweis, dass man eine Depression nicht operieren könne, klinkt sich die Stationsärztin in den Tenor ein und macht hierdurch nochmals deutlich, dass der Grund für die Befindlichkeit des Patienten außerhalb des hier verhandelten biomedizinischen Rahmens lokalisiert sei. Der 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 309 emotionale Zustand des Patienten liegt damit auch nicht mehr in der Verantwortlichkeit der betreuenden Ärzte, sondern wird zur Familie des Patienten verlagert. Am kommenden Montag fragt der Arzt im Praktikum, was denn nun mit Herrn Wusel weiter geschehen solle. Die Stationsärztin antwortet, dass die weitere Perspektive nun von den Kindern abhänge, insbesondere inwieweit sie die Pflege übernehmen könnten. Das medizinische Rational schließt sich nun für die Abteilung. Die von ihr erwünschte Dienstleistung wurde erfolgreich durchgeführt. Das weitere Geschehen liegt nun außerhalb ihrer Verantwortung, ebenso wenig wie die Entscheidungslast für die fragliche Indikationsstellung bei ihnen gelegen hatte. Im Einzelinterview erläutert der leitende Oberarzt, dass für ihn die Entscheidung für den Eingriff recht einfach zu treffen gewesen sei: Man habe zwar dem Patienten die große Operation am liebsten ersparen wollen. Das Problem habe jetzt jedoch darin gelegen, dass die ursprüngliche Entscheidung von den Ärzten aus einem anderen Bundesland umgestoßen worden sei. Dies wäre jedoch an sich auch nicht so problematisch gewesen, wenn da jetzt nicht raus gekommen wäre, dass in dem Restpräparat überhaupt kein Tumorgewebe zu finden sei. Es würde aber nun auch nichts bringen, retrospektiv die Geschichte wieder in Frage zu stellen, denn da die „Entscheidungsflüsse” eben so gelaufen seien, solle man als Arzt die getroffenen Entscheidungen ebenfalls mittragen: Dr. Peters: Also wenn wir jetzt am Beispiel Otto Wusel, ist es halt so, dass letztendlich die Entscheidung eigentlich einfach war; man konnte relativ schnell sagen, wir würden diese Behandlung empfehlen. Haben wir auch empfohlen. Die Schwierigkeit war aber, dass letztendlich diese Empfehlung in einem andern Bundesland, da ist man natürlich auch nicht so direkt vor Ort und kann es direkt mit den Leuten diskutieren, so nicht mit getragen wurde, und damit im Prinzip eine getroffene Entscheidung umgestoßen wurde, und man denn noch mal neu überlegen musste; aber das per se ist auch nicht so die Schwierigkeit, weil damit kann man leben, das ist so wie wenn man im Geschäft ist und sich zwischen zwei Hosen entscheiden muss, die grüne oder die blaue, und wenn man dann die blaue genommen hat, findet man die grüne nicht mehr so schön, also das wäre nicht so problematisch; problematischer ist eher… Beobachter: Also das war jetzt konkret in dem Fall, dass eigentlich hier gedacht wurde, man operiert nicht mehr oder so… Dr. Peters: Also wir haben gesagt, dieser Mann ist weit über 80. Dieser Mann hat einen Tumor im After, der im Prinzip völlig entfernt ist, und wir hätten ihn, um ihm eine größere Operation zu ersparen, gerne nachbestrahlt; das wurde nicht weiter getragen in Sachsen-Anhalt, das wurde da umgestoßen dieses Konzept, und dann sollte er im Prinzip die große Operation bekommen in seiner Heimatklinik, und dann haben wir aber gesagt, wenn wir ihm schon sozusagen den Mastdarm amputieren müssen, dann können wir das’n bisschen eleganter und können das in dieser minimalinvasiven Technik anbieten und dann habe ich ihn letztlich wieder zurückgeordert - wie es jetzt so gekommen ist, ist natürlich in dem Restpräparat überhaupt kein Tumor mehr drin, insofern kann man nachher sagen, die erste Entscheidung war goldrichtig, Beobachter: Ja. Dr. Peters: Aber dieses Nachkarten bringt letztendlich auch nichts, weil die Entscheidungsflüsse sind … Beobachter: Das war sozusagen außerhalb. Die Entscheidung ist nicht hier getroffen, sondern… Dr. Peters: Nee, wir müssen natürlich, wenn wir die Operation machen, müssen wir diese Entscheidung natürlich voll mittragen, also man hätte ja auch genauso gut sagen können, äh ja okay, wenn Sie den nicht bestrahlen, dann ist das Ihr Problem, wir operieren ihn auch nicht. Aber da es so’n Grenzfall ist und man sagt, ja wenn er jetzt 20 Jahre jünger gewesen wäre, keine Risikofaktoren, dann hätte man darüber gar nicht diskutiert. 310 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Bemerkenswert erscheint hier die Metaphorik des Hosenkaufs: Die Problematik der Operationsindikation scheint hier unter einem oberflächlich ästhetischen Blickwinkel gesehen zu werden, nämlich auf der Ebene der Frage, ob man eine blaue oder grüne Hose kaufen solle. Hierdurch wird der Entscheidung jegliche ethische Dimension genommen. Entsprechend braucht die getroffene Entscheidung auch im Nachhinein nicht mehr problematisiert zu werden, denn die Sache ist jetzt eben so gelaufen, weil der Auftrag so und nicht anders formuliert war. Orientierungsrahmen: Handlungsorientierung bei Entscheidungsvermeidung Das Problem der ärztlichen Entscheidung erscheint hier nicht als Interaktionsproblem - als Frage, wie und mit wem man eine Lösung auszuhandeln hat -, sondern reduziert auf die Ausführung einer Dienstleistung. Da diese Abteilung solche Operationen besonders gut ausführen kann und eine andere Klinik die Operationsentscheidung getroffen hat, ist dieser Prozess entsprechend der üblichen ärztlichen Entscheidungslinien zugleich in Ordnung wie auch legitimiert. Die Stationsärzte drücken zwar hier ihre Zweifel aus. Eine mit guten Argumenten getroffene Entscheidung würde hier wieder umgestoßen, und zudem sei fraglich, ob der Patient wirklich verstehe, was für Folgen die Operation mit sich bringe. Das Unbehagen der Ärzte bleibt jedoch ohne Handlungskonsequenzen, denn bei der eigentlichen Entscheidung bleiben sie und damit die von ihnen eingenommene Patientenperspektive außen vor. Nicht die Diskussion des medizinisch oder psychosozial Sinnvollen bestimmt hier den Handlungsrahmen, sondern die innerhalb verschiedener Hierarchien organisierten Entscheidungsflüsse. Die Ärzte können hier keine Verantwortung mehr übernehmen, denn die komplexe Fallproblematik erscheint nicht mehr als Entscheidungsproblem, sondern reduziert sich auf einen Dienstleistungsauftrag, dem man – unterder Voraussetzung, dass man fachlich dazu in der Lage ist - nachzukommen hat. Komparative Analyse: Modi der Entscheidungsverschiebung Wie im Fall Schmidt-Bauer reproduziert sich die Chirurgie hier als aktionsorientiert und handlungspotent. Das Problem kann angegangen werden, man muss bloß zur Tat schreiten. Die black box bleibt jedoch der Entscheidungsvorgang selber, denn wie in den vorangegangenen Fällen fällt es schwer, sich auf eine einheitliche, übergreifende Rationalität zu berufen. Als typisch chirurgischer Entscheidungsmodus scheint sich als gemeinsames Muster herauszukristallisieren, dass diesbezügliche prekäre Entscheidungen nur durch „Willkür” auf der Leitungsebene getroffen werden können. Steht die Entscheidung einmal fest, bleibt der Handlungsvollzug in sich rational und die durchzuführenden diagnostischen oder therapeutischen Eingriffe können entsprechend dem üblichen state of the art ablaufen. Die Entscheidungen werden dabei jeweils innersystemisch, innerhalb der organisationseigenen Hierarchielinien getroffen. Dies bedeutet jedoch auch, dass die Entscheidungen einer anderen Abteilung (und Station) nicht in Frage gestellt werden - man kann diese zwar mit vorgehaltener Hand kritisieren; über die Systemgrenzen hinweg findet jedoch keine Infragestellung des Rationals der jeweils anderen Entscheidungseinheit statt. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 311 (d) Herr Beckenbauer, psychosomatiche Station (Universitätsklinikum) Herr Beckenbauer, ein 55 Jahre alter Mann, wird vom Hausarzt auf die psychosomatische Station eines Universitätsklinikums überwiesen. Der Patient leidet an einer Fettstoffwechselstörung, die zur Bildung einer Vielzahl „gutartiger” Fettgeschwulste (Lipomatosen) in seinem Unterbauch geführt hat. Diese bringen seinen Bauch regelmäßig zum Anschwellen. Darüber hinaus leidet der Patient an einer Reihe weiterer Beschwerden und Krankheiten, darunter einer Diabetes sowie einer Herzschwäche. Während der Visite erläutert der Stationsarzt den anderen Kollegen kurz den Fall und erwähnt, dass die Chirurgen nach einer diagnostischen Operation (in Form einer so genannten Laparotomie) keine Möglichkeit sehen würden, ihrerseits durch einen Eingriff das Krankheitsbild bessern zu können. Entsprechend würde der Patient verständlicherweise mit einer Depression auf diesen Befund reagieren („ist entsprechend depressiv, was man dann auch verstehen kann, würde mir dann auch so gehen”). Im Folgenden tritt der mit der Überweisung in die Psychosomatik implizierte Auftrag, das psychische Geschehen und die Form der Krankheitsbewältigung genauer zu betrachten, zunächst in den Hintergrund. Der Stationsarzt schaltet den gastroenterologischen Oberarzt der Nachbarstation ein. Der Gastroenterologe ordnet einige weitere Untersuchungen an und verändert die Medikation ein wenig. Anschließend sucht er den Patienten persönlich auf, befragt ihn dabei zu den Spezifika seiner Krankheitssymptomatik, aber auch zu seinen Ernährungsgewohnheiten. Auf die gut sichtbare Narbe im Bauchbereich hin angesprochen, verweist der Patient auf den Misserfolg eines chirurgischen Behandlungsversuches („da sind jede Menge Lipome im Bauch, konnte aber wegen der Verwachsungen nicht operiert werden”). Im Anschluss an die Visite betont der Oberarzt dem Stationsarzt gegenüber die Ernsthaftigkeit der Fallproblematik („ich denke, das müssen wir schon ernst nehmen”). Er gibt einige diätetische Vorschriften und ordnet ein Bauchröntgen an zur Ermittlung des aktuellen Status. Am nächsten Tag werden die Röntgenbilder gemeinsam besprochen. Ein Darmverschluss ist nicht festzustellen. Es ist jedoch Luft im Enddarm sichtbar. Der Gastroenterologe verlangt daraufhin, eine differenziertere bildgebende Diagnostik (eine Computertomografie). Im Arztzimmer erklärt der Stationsarzt seiner Kollegin das bisherige Geschehen und bemerkt, dass die Aufgabe der psychosomatischen Ärzte jetzt darin bestehe, den Patienten über die Implikationen der Diagnose aufzuklären: Mittwoch, 11.10. 9:00 im Arztzimmer Stationsarzt Völler (zur Stationsärztin Schnarrenhäuser): ... gestern noch Röntgen vom Abdomen von Herrn Beckenbauer ... heute noch ein CT ... mit Mainzer gesprochen ... kein Ileus ... keine Passagestörung ... keine Spiegelbildung ... Luft im Enddarm ... ein Darmrohr, um die Luft abzulassen ... überall im Bauch Lipome, sind dann Tennisball groß ... wichtig, hier die Beschwerden zu lindern und den Patienten langsam über seine Diagnose aufzuklären ... Nachdem die Ergebnisse der bildgebenden Diagnostik vorliegen und keine akutmedizinische Problematik zeigen, zieht sich der gastroenterologische Oberarzt aus dem Fall zurück. Entsprechend der Anregung einer Ernährungsberaterin schlägt der Stationsarzt vor, noch eine Expertin für den Fettstoffwechsel in den Fall einzuschalten. Dabei entsteht auch die Idee, dass die Lipome möglicherweise auch durch ein intensives sportliches Training abgebaut werden könnten. 312 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse In der Visite auf diesen Vorschlag angesprochen, macht Herr Beckenbauer deutlich, dass aufgrund seiner Herzproblematik eine intensive körperliche Belastung für ihn nicht mehr in Frage komme. Der Patient berichtet darüber hinausgehend über ein zunehmendes Schwächegefühl sowie über Halsbeschwerden. Der Stationsarzt antwortet auf die Klagen jeweils mit einem Behandlungsvorschlag: Mittwoch, 11.10. 10:40 Visite beim Patienten Stationsarzt Völler: Kennen Sie Professor Donner? Herr Beckenbauer: Nein ... Stationsarzt Völler: ... ein Experte für Fettstoffwechsel ... sollten wir schauen, ob es einen Weg gibt, über Ernährung ... medikamentöse Einstellung ... gezieltes Training ... vielleicht weil ... Sie haben ja früher Leistungssport gemacht ... und dann ist es vielleicht da gar nicht zur Fettablagerung gekommen, weil das dann sofort verbraucht wurde, wenn Sie dann wieder trainieren ... der Kollege meinte schon Dauerlauf ... Herr Beckenbauer: ... ich habe ja auch noch die Probleme mit dem Herzen ... Stationsarzt Völler: ... da könnte man vielleicht hier unter klinischer Beobachtung beginnen ... Herr Beckenbauer: Ich fühle mich schon immer schwächer ... habe gestern nur eine Tomatensuppe gegessen und die war dann sofort wieder durch, kam praktisch direkt wieder unten raus ... Stationsarzt Völler: ... wir müssen Sie erst wieder aufbauen ... Herr Beckenbauer: ... dann mit dem Hals ... Stationsarzt Völler: ... ist dann mit der Muskelspannung, wenn die dann noch der ständigen Überlastung dann nachgibt ... müssen wir es noch mit der Physiotherapie probieren ... Das Krankheitsbild erscheint erdrückend. Die Schwäche, die Probleme mit dem Herzen, die Unfähigkeit, sich angemessen zu ernähren, und dazu noch die Genicksteife bringen den Arzt in Zugzwang, Hilfe anbieten zu müssen. Die Physiotherapie für den steifen Nacken ebenso wie die anderen Vorschläge scheinen dabei nur einen Tropfen auf den heißen Stein darzustellen. Am folgenden Donnerstag wird nochmals Kontakt mit der Fettstoffwechselexpertin aufgenommen. Das Krankheitsbild scheint ihr bekannt zu sein und sie formuliert, dass zumindest auf diätetischem Wege eine Linderung der Symptomatik erreicht werden könne, wenngleich eine operative Entfernung der Lipome nicht in Frage käme. Die Beschwerden im Hals könnten auch von Plaques in den Gefäßen kommen. In diesem Sinne solle doch mal ein Gefäßchirurg eingeschaltet werden. Am Donnerstag der darauf folgenden Woche stehen die medizinischen Aspekte der Krankheit - wenngleich schon vor dem stationären Aufenthalt abgeklärt - weiterhin Vordergrund. Die psychologische Seite der Krankheitsverarbeitung als der eigentliche Grund für die Aufnahme in die Psychosomatik wird nicht mehr verhandelt. Im Gespräch mit dem Patienten bringt der Stationsarzt die Option eines chirurgischen Eingriffs erneut in die Diskussion ein: Donnerstag, 19.10. 11:50 Patientenzimmer Stationsarzt Völler: ... ist ja auch bei Ihnen die Frage, wie lange Sie hier bleiben ... Herr Beckenbauer: Ist ja auch die Frage, ob man da organisch was machen kann ... Stationsarzt Völler: Müssen jetzt sehr vorsichtig sein, wie wir die Krankheit jetzt verlangsamen können ... Herr Beckenbauer: Und die Krankheit kann man nicht stoppen? Stationsarzt Völler: Bis jetzt gibt es keine Literatur drüber ... bis jetzt weiß man noch nichts, aber das lässt ja jetzt zwei Wege offen ... 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 313 Herr Beckenbauer: Ich habe ja auch noch die Hoffnung, dass da was gemacht werden kann. Stationsarzt Völler: Ist auch wichtig, die Hoffnung zu behalten ... bloß chirurgisch sollten Sie sich da keine falschen Vorstellungen machen ... Herr Beckenbauer: Habe ich dann ja auch zweimal erlebt, dass die Chirurgen dann gesagt haben, wir kommen da nicht weiter ... Stationsarzt Völler: Wir können Sie dann gerne auch noch mal beim Chirurgen vorstellen, wir wollen Ihnen das nicht vorenthalten ... Der Stationsarzt sieht sich hier in der Rolle, in Anbetracht der vom Patienten vorgebrachten Klagen, Lösungen anbieten zu müssen. Es scheint für ihn zu gelten, seine Hoffnungen nicht zu enttäuschen. Die Geschichte der verzweifelten Suche nach einer therapeutischen Antwort, einschließlich der chirurgischen Maximaltherapie, reproduziert sich hier nochmals auf der psychosomatischen Station. Der junge Stationsarzt, zunehmend in die Fallgeschichte verwickelt, ist dabei weitgehend auf sich gestellt, denn der verantwortliche Oberarzt ist zur Zeit wenig auf der Station anzutreffen. Letzte Woche, ebenso wie diese Woche, fand nicht einmal die üblicherweise donnerstags stattfindende Oberarztvisite statt. Die Gründe hierfür - etwa die zur gleichen Zeit stattfindenden Staatsexamensprüfungen - sind verständlich. De facto entsteht hier jedoch eine Lücke in der Betreuung, die weder durch eine Vertretung noch durch eine Chefarztvisite geschlossen wird19. Natürlich können die Stationsärzte ihre übergeordneten Ärzte telefonisch erreichen und um Stellungnahme bitten. Der Patientenkontakt und die damit verbundene Einschätzung der klinischen Symptomatik bleibt jedoch aufgrund der Distanz in der Betreuung weitgehend allein inder Hand der jungen Ärzte. Diese Aufgabe muss für sie allein schon aus fachlichen Gründen eine Überforderung darstellen, denn von ihrem Ausbildungsstand her sind beide nur „Ärzte im Praktikum” und arbeiten zudem erst seit wenigen Monaten auf der Station. Außer den im Studium vermittelten medizinischen Grundfertigkeiten ist hier im Sinne der psychosomatischen Aufnahmeindikation nicht einmal im Ansatz von einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Kompetenz auszugehen. Strukturell spiegelt sich hier die besondere Situation eines Universitätsklinikums wieder, die tendenziell dazu führt, dass die Fachkompetenz aus der Klinik in die Reputation bringende Forschung verlagert wird, und dementsprechend die Stationsroutine eher den „Anfängern” überlassen wird. Der junge Stationsarzt nimmt den ihm hier zugeschobenen Ball offensiv an und schlüpft in die Rolle eines potenten Arztes, der Hoffnung geben kann und den Eindruck erweckt, das Geschehen bewältigen zu können. Aus seiner schwachen Position heraus hat der Stationsarzt hier wohl kaum eine andere Wahl, sich als ein aktiv Handelnder zu präsentieren, denn die subtile Form der Zurückhaltung eines erfahrenen Psychosomatikers ist bei ihm noch nicht habitualisiert. Auch wenn er formal20 und fachlich die ihm hier angetragene Verantwortung nicht übernehmen kann, besteht für ihn im Sinne seiner weiteren Karriere kaum der Ausweg, die ihm hier angetragene Rolle des Stationsarztes zurückzuweisen, denn dies könnte ihm seitens der Leitungsebene als mangelnde Belastungsfähigkeit zugerechnet werden (wie etwa im Falle der Stationsärztin im späteren Verlauf geschehen). An den Universitäten sind Überforderungen, wie in diesem Fall dokumentiert, nicht selten zu beobachten. Das besondere Feld des Universitätsklinikums verlangt von Ärzten, die weiterkommen wollen, diesbezügliche Zumutungen anzunehmen. Der Weg, der hier vom Stationsarzt eingeschlagen wird, um die Anforderungen zu bewältigen, besteht darin zu versuchen, den Patienten in eine andere „harte” medizinische Disziplin auszulagern. Im Folgenden ordnet der Stationsarzt weitere Untersuchungen an (z.B. eine Doppler-Sonografie der Gefäße). Der Wochenenddienst wird über die Fallproblematik informiert. Am Montag spitzt sich die Falldramatik weiter zu. Der Patient klagt über Kopfschmerzen und Pupillenstarre. Eine Computertomografie wird angeordnet, um die differenzialdiagnostisch mögliche Komplikation 314 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse eines erhöhten Hirndruckes abzuklären. Der Oberarzt wird über die Zuspitzung informiert. Der anschließende Röntgenbefund gibt jedoch Entwarnung. Die folgenden Tage bekommt Herr Beckenbauer regelmäßig Spritzen, die den Bauch muskulär entkrampfen sollen. Die Entspannung scheint seine Symptomatik zu lindern. Darüber hinaus versucht der Stationsarzt erneut, einen Termin bei den Chirurgen zu bekommen. Schließlich erklärt Professor Waldung, ein Chirurg, im Gespräch mit dem Stationsarzt seine Bereitschaft, unter Umständen dann doch zu versuchen, die Beschwerden von Herrn Beckenbauer operativ durch die Entfernung eines Darmstücks zu lindern. Am folgenden Tag berichtet der Stationsarzt während der Oberarztvisite von der sich nun eröffnenden chirurgischen Therapieoption. Der Oberarzt erklärt dem Patienten, dass sich die Chirurgen nun vielleicht doch an die Operation heranwagen würden. Der Patient zeigt sich erfreut, nun doch wieder eine Hoffnung auf Besserung zu haben: Freitag, 27.10. 10:10 Oberarztvisite, im Patientenzimmer Oberarzt Jonas: ... wir haben jetzt mit den Chirurgen gesprochen ... der wird dann vielleicht doch sich da rantrauen, chirurgisch einzugreifen ... wir von der Inneren sind ja mit solchen Eingriffen eher zurückhaltend, aber in Ihrem Fall ... wir haben jetzt auch mit dem Professor Donner gesprochen und im Moment gibt es da auf der Welt noch kein Verfahren mit dem man das angehen kann ... vielleicht in einigen Jahren ... die Chirurgen würden dann ein Stück Darm wegnehmen, so dass dann ein wenig Platz entstehen könnte. Herr Beckenbauer: Das gibt mir dann auch Kraft, jetzt wieder was tun zu können ... ich war ja schon zweimal beim Chirurgen, und die sagten, das Risiko ist zu hoch für den Eingriff ... aber ich würde das Risiko auch gerne tragen, selbst wenn es nur 40 zu 60% Chance auf Besserung ist ... denn so geht es nicht weiter, ich halte das nicht mehr aus ... ist ja so nur eine Belastung für meine Familie ... Oberarzt: Ja, ist wohl im Moment das Einzige, dass wir chirurgisch was machen können ... mit Frau Donner, das haben wir nun ja auch abgeklärt ... Herr Beckenbauer: Ich bin froh, dass wir jetzt was tun können ... die Ärzte haben ja jetzt überall geschaut ... mit der Uni Heidelberg Kontakt aufgenommen und auch in der Literatur geschaut, ich bin dann auch sehr dankbar, für alles, was Sie für mich getan haben ... Knapp eine Woche später schließlich wird Herr Beckenbauer auf weiteres Drängen des Stationsarztes endlich persönlich bei den Chirurgen vorgestellt. Da der Oberarzt aufgrund einer auswärtigen Tagung die donnerstags übliche Chefvisite nicht durchführen konnte und der eigentliche Chefarzt die von ihm erwartete „Vertretung” kurz vorher mit dem Hinweis abgesagt hatte, dass man zu ihm kommen könne, wenn noch Fragenda seien21, zieht die Gruppe der Stationsärzte, Praktikanten und Psychologen ohne eine ärztliche Führungskraft durch die Patientenzimmer. Auf dem Gang wird über die anstehende Entscheidung durch den chirurgischen Chefarzt gesprochen. Die Therapeuten betonen, was für eine Bedeutung die Hoffnung auf die Operation für Herrn Beckenbauer habe und wie dankbar der Patient über das diesbezügliche Engagement des Stationsarztes sei: Donnerstag, 2.11. 10.00 auf dem Gang, Chefarztvisite ohne Chef Stationsarzt Völler: Herr Beckenbauer ist jetzt gerade beim Chirurgen. Montag entscheidet dann Professor Altmann, was geschieht. Einzeltherapeut Klingsor: Der entscheidet dann schnell, der ist wie ein Gott. Psychologin Meinhard: Herr Beckenbauer hofft jetzt unheimlich, dass er operiert wird. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 315 Stationsarzt Völler: Professor Waldung hat sich dann noch mal erkundigt, oder besser kundig machen lassen von Frau Dr. Anselm, dass in seinem Fall nichts mehr zu machen sei, außer chirurgisch einzugreifen ... Einzeltherapeut Klingsor: Und wenn der Altmann jetzt nein sagt ... das würde ihn total deprimieren ... ist ja dann auch ein progressives Geschehen. Stationsarzt Völler: Im MRT vor einem Jahr war die Geschichte noch nicht so weit fortgeschritten, deshalb hat man damals chirurgisch noch nicht eingegriffen ... vor einem Jahr war es noch nicht so schlimm ... jetzt müssen wir dann chirurgisch ... es gibt ja keinen anderen Weg mehr ... Einzeltherapeut Klingsor: Das kann dann aber wiederkommen. Stationsarzt Völler: Wir sollten dann versuchen, dann auch in der anschließenden Reha dann wieder Sport zu machen ... denn die Krankheit ist ja erst dann ausgebrochen, als er mit dem Sport aufgehört hatte ... Psychologin Meinhard: Herr Beckenbauer ist unheimlich dankbar, dass sich Martin [der Stationsarzt] so sehr engagiert ... das gibt ihm Hoffnung, dass er nicht aufgegeben wird. Die Hoffnungen des therapeutischen Teams konzentrieren sich nun auf den chirurgischen Eingriff. Die ursprüngliche Einweisungsindikation „Krankheitsbewältigung”, mit der Herr Beckenbauer eingewiesen wurde, tritt in der sich hier entwickelnden Dynamik weit in den Hintergrund. In Personifikation von Professor Altmann, dem Leiter der Abteilung Chirurgie, wird nun die Entscheidung des chirurgischen „Gottes” gleichzeitig zum Urteil über das Bewusstsein des Patienten. Die hier aufgebaute Dramaturgie lässt das fließende Kontinuum, das für die Bewältigung einer chronischen Krankheit anzunehmen ist, zu einer Alles-oder-Nichts-Frage zusammenschrumpfen. Dem Patienten, aber auch dem hier seine Psyche vertretenden therapeutischem Team wird implizit die Selbstwirksamkeit im Hinblick auf einen produktiven Umgang mit dem Krankheitsgeschehen abgesprochen. Hoffnungsträger bleibt alleine die externe Macht der Chirurgen. Bemerkenswert erscheint hier auch das Verhalten der Einzeltherapeuten. Sie scheinen die Wirkung der Operation skeptisch zu beurteilen („das kann jetzt auch mal wiederkommen”), wenngleich sie den Eingriff als vermeintlichen Willen des Patienten befürworten. Pointiert lässt sich ihre Argumentation so verstehen: Wenngleich der chirurgische Eingriff keine biologische Wirkung erwarten lässt, so ist er zumindest depressionsmildernd. Die Chirurgie wird hier zum Mittel der Depressionsbehandlung, wofür ja eigentlich die Psychotherapie zuständig wäre. Die Bestrebungen, den Patienten auszulagern, werden vom ganzen Team getragen und gefördert. In dieser Frage herrscht Einigkeit im Kollektiv. Eine Woche später wird die Frage der Operationsindikation immer noch verhandelt. Die Chirurgen zeigen sich jedoch mittlerweile eher zurückhaltend, wie in einem Gespräch zwischen dem Stationsarzt und einer chirurgischen Assistentin deutlich wird. Die Hoffnung richtet sich nun eher auf eine medikamentöse Therapie. Die Assistentin berichtet von den Einzelheiten der Ablehnung durch Professor Altmann, stellt jedoch anschließend heraus, dass Professor Waldung unter Umständen auch gegen das Votum seines Vorgesetzten zu einem Eingriff bereit sei. Die Chirurgin vermutet zudem, dass Herr Beckenbauer außerordentlich stark auf seine Krankheit fixiert sei. Der psychosomatische Stationsarzt verweist demgegenüber auf die organische Dominanz der klinischen Symptomatik: Donnerstag, 9.11. 8:15 im Ärztezimmer Stationsarzt Völler: Hier die beiden Artikel ... sind dann die Einzigen, wo was zu finden ist ... es gibt dann nur einen Professor [X] aus München, der dann festgestellt hat, dass Metformin Fetteinlagerungen in den Abdomen verhindert. [...] Dr. Mahlik: Altmann hat es mit der OP einfach abgelehnt, kann man es jetzt sehr lakonisch sagen, und zwar vor versammelter Mannschaft ... und dann ist Herr Beckenbauer ja auch sehr auf seine Krankheit 316 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse fixiert ...und in der Chirurgie greifen die ja jetzt erst ein, wenn es ein wirklicher Notfall ist ... gut, wenn es jetzt eine Lebermetastase wäre, dann wäre es keine Frage, dass man jetzt operiert ... Waldung ist ja an und für sich ein knallharter Chirurg ... der würde es machen ... aber dann wäre das in diesem Fall ja auch nicht mit einer Operation getan ... und dann sind Komplikationen zu erwarten ... Verwachsungen, Fisteln ... und jetzt hat Altmann vor versammelter Mannschaft gesagt: unter meinem Dach machen wir das nicht ... war dann ein wenig unglücklich ... denn die Frage, ob dann noch internistisch was gemacht werden kann ... das hat ja dann der Radiologe vorgebracht ... [...] Waldung würde ihn dann doch operieren ... ist jetzt bloß wichtig, noch mehr Informationen zu sammeln und dann würde Waldung mit Altmann nochmals reden [...] jetzt würde man ja auch bei einem Pankreaskarzinom, selbst wenn der dann nur fünf Monate Lebenserwartung hätte, würde man da operieren. [...] Dr. Mahlik: Jetzt ist der meiner Meinung nach aber schon sehr fixiert auf seine Krankheit ... Stationsarzt Völler: Aber da ist ja einfach auch was, der Bauch schwillt dann jeden Morgen auf ... Dr. Mahlik: Es gibt aber auch Patienten, die haben die Symptomatik, aber die dringt dann nicht so in den Vordergrund ... ob er nicht irgendwie auch damit leben kann ... Stationsarzt Völler: Ist aber dann doch auch der Leidensdruck, jeden Morgen der geblähte Bauch. Dr. Mahlik: Ist aber dann doch ne Fixierung ...müsste man dann doch mal genauer hinschauen, wie das mit der Verarbeitung aussieht ... kenne da jetzt auch so einen Fall ... Patient ist Musiker ... Bandscheibenvorfall ... genau in dem Moment, wo die Frau arbeitet und er zu Hause auf die Tochter aufpasst und sich um die Reinlichkeitserziehung kümmert und dann nicht mehr üben kann ... die ganze verdeckte Aggression kam da raus. [...] Stationsarzt Völler: Gut, wir denken ja sonst immer schnell an funktionelle Beschwerden, aber in diesem Fall steht dann doch zunächst die organische Symptomatik im Vordergrund ... Gleichsam als Kontrapunkt zum bisherigen Geschehen stellt hier die Chirurgin eine psychosomatische Indikation. Der ursprüngliche Behandlungsauftrag, der an die universitäre psychosomatische Station gestellt wurde, wird nun nach vier Wochen Therapieaufenthalt wieder zur Geltung gebracht. Paradoxerweise durchkreuzen hier die konträren medizinischen Disziplinen ihre angestammten Positionen. Angesichts des subjektiv außerordentlich großen Leidens von Herrn Beckenbauer sucht die Chirurgin die Entlastung im Verweis auf das Psychische, während der psychosomatische Arzt auf einen harten biomedizinischen Ausweg setzt. Der psychosomatische Stationsarzt versucht hier wieder, das Problem durch Auslagerung zu lösen, denn: wenn es um Organisches geht, ist ja die Psychosomatik nicht mehr zuständig. Sieben Tage später liegen die Ergebnisse einer verfeinerten bildgebenden Diagnostik vor. Die Bilder lassen keine Verschlechterung des Zustandes gegenüber den Vormonaten erkennen. Der Stationsarzt stellt während der Oberarztvisite nochmals die zur Diskussion stehenden medizinischen Behandlungsalternativen vor. Im Visitengespräch klagt der Patient weiterhin über seine Beschwerden. Der Oberarzt verweist im Hinblick auf die weitere Behandlungsperspektive auf die nächste Woche zu erwartende endgültige Entscheidung der Chirurgen und der Fettstoffwechselexperten: Donnerstag, 16.11.00 11:05 Oberarztvisite, Patientenzimmer Oberarzt Jonas: Wie geht’s? Herr Beckenbauer: Schlecht ... Übelkeit ... drückt den Bauch hoch ... Oberarzt Jonas: Da müssen wir noch die Untersuchungen der nächsten Woche abwarten und dann können wir wahrscheinlich mit Professor Waldung und Professor Donner zusammen entscheiden, was wir tun können. Herr Beckenbauer: Ich hoffe noch auf das Medikament. Herr Völler war dann noch so lieb und hat einige Artikel hier drüber besorgt. Oberarzt: Da müssen wir dann noch bis nächste Woche abwarten, um eine Entscheidung treffen zu können. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 317 Knapp eine Woche später ist die Therapieentscheidung gefallen. Die chirurgische Indikation ist nun erst einmal abgelehnt. Stattdessen soll eine medikamentöse Behandlung versucht werden, die den Fettstoffwechsel beeinflussen könne. Während der Visite erklärt der Patient der Stationsärztin, dass er es nun ohne Schmerzmittel versuchen wolle und kündigt an, nun geduldig die Wirkung der neuen Medikation abzuwarten: Mittwoch, 22.11. 10:00 Visite, im Patientenzimmer Herr Beckenbauer (zur Stationsärztin): Ich versuche es jetzt ohne Spritze [Schmerzmittel], sonst gewöhne ich mich daran. Stationsärztin Schnarrenberger: Geht das? Herr Beckenbauer: Es muss ... ich muss es einfach aushalten ... und mit dem Metformin, das braucht ja jetzt auch einige Zeit, bis es anschlägt. Stationsärztin: Da müssen Sie einige Wochen warten. Nach mehr als sechs Wochen Klinikaufenthalt hat sich nun die Form des Diskurses, in der Arzt und Patient über die Krankheit sprechen, gewandelt. Die Symptomatik scheint nun eine Form angenommen zu haben, die man aushalten kann, um dem nun eingeschlagenen Weg der medikamentösen Behandlung Zeit zum Wirken zu geben. Die Entscheidung der Chirurgen, auf einen heroischen Heilungsversuch zu verzichten, scheint weder das Ende der Arzt-Patient-Beziehung zu bedeuten, noch zu einer lähmenden Depression zu führen. Vielmehr scheint erst jetzt eine neue Form der Beziehung des Patienten zu seiner Krankheit möglich zu werden. Die folgenden Tage stehen im Zeichen der anstehenden Entlassung. Die ambulante Weiterbetreuung stellt sich wider Erwarten als unproblematisch dar, da das Krankheitsbild von Herrn Beckenbauer durchaus einigen Internisten vertraut zu sein scheint, wie der Stationsarzt berichtet: Mittwoch, 29.11. 10:40 (Arztzimmer) Stationsarzt Völler (telefoniert mit einem ambulanten Internisten): Ist jetzt mit Metformin eingestellt, was ihm wohl auch ganz gut bekommt. [...] (zu dem Beobachter): Ich habe jetzt einen Internisten gefunden, der sich um die Nachbetreuung von Herrn Beckenbauer kümmern kann, der Hausarzt war ja total überfordert mit ihm, hat er nur immer Spritzen zur Entkrampfung bekommen ... ist dann auch nicht so ein seltenes Krankheitsbild ... HIV-Patienten und Adipositas-Patienten haben Lipomatosen ... ist dann wohl doch nicht so ein seltenes Krankheitsbild ... das gibt ihm dann auch eine Perspektive, wenn er jetzt auch eine ambulante Weiterbetreuung findet ... und dann kann man ihm was sagen und anbieten ... Am Donnerstag, siebeneinhalb Wochen nach der Einweisung auf die psychosomatische Station, findet die letzte Visite statt. Das Team bespricht vor dem Patientenzimmer die therapeutischen Implikationen und rekapituliert das Erreichte: Die Fixierung des Patienten auf seine Krankheit scheint nur bedingt aufgebrochen. Der Stationsarzt weist darauf hin, dass es sinnvoll sei, seine ambulante Psychotherapeutin diesbezüglich zu instruieren: Donnerstag, 30.11. auf dem Gang Stationsarzt Völler (zur Gruppe): Herr Beckenbauer geht jetzt nach Hause ... da ist jetzt Herr Dr. Müller ... der ihn jetzt ambulant behandelt .. Stationsarzt Völler (zur Psychologin Frau Meinhard):.. braucht er ja auch eine Psychotherapeutin. Frau Meinhard: ... der hat ja eine Verhaltenstherapeutin. Stationsarzt Völler: ... und das ist das Richtige für ihn? 318 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Frau Meinhard: Ja, denke ich, habe ich auch so mit ihm besprochen. ... Wie geht er denn jetzt darauf ein, dass sein Krankheitsbild nicht so dramatisch ist? Stationsarzt Völler: Gar nicht ... er ist immer noch so auf seine Krankheit und seine Schmerzen fixiert ... es ist ja auch eine schwere Krankheit ... bloß eben nicht so selten und so dramatisch, wie er sich da jetzt reingesteigert hat. War jetzt auch unser Fehler, uns so stark auf die Krankheit zu fixieren ... aber wir sind jetzt eben von dem dramatischen Krankheitsbild ausgegangen ... müssen wir jetzt auch der Verhaltenstherapeutin sagen. Das Scheitern der Auslagerung in die Chirurgie führt zu einem Wendepunkt in der Fallinterpretation, ändert jedoch nicht die Zielrichtung des Bemühens. Die Dinge werden jetzt zwar psychologisch gedeutet, die eigentliche Behandlung wird jedoch weiterhin ausgelagert – nun in den ambulanten Bereich. Im Patientengespräch wird das weitere Prozedere besprochen. Herr Beckenbauer erklärt, dass er zunächst die Ergebnisse der medikamentösen Therapie abwarten wolle, darüber hinaus aber weiterhin als letzte Option an der Operation festhalte: (im Patientenzimmer) [...] Herr Beckenbauer: Jetzt mal sehen, wie das Metformin anschlägt ... und dann bleibt dann als die letzte Option noch die Operation … Stationsarzt Völler: Das ist aber wirklich nur die allerletzte Möglichkeit. Herr Beckenbauer: Habe ich ja jetzt auch mitgekriegt mit Professor Waldung und den Gesprächen ... haben die mir ja dann gesagt, aber als letzte Möglichkeit bleibt das noch [...]. Orientierungsrahmen: fachliche Überforderung - Auslagerung In der abschließenden soziologischen Analyse sollte vermieden werden, im Sinne einer common sense-Perspektive vorschnell Verantwortlichkeiten zu attribuieren oder gar mit dem Zeigefinger auf „Fehler” einzelner Akteure zu zeigen. Stattdessen scheint es hier Gewinn bringender - von den Einzelpersonen abstrahierend - den Modus operandi des Geschehens herauszuarbeiten, dass heißt zu fragen, welche soziodynamischen und organisatorischen Bedingungen dazu führen, dass ein Verlauf, wie in dieser Form beobachtet, möglich wenn nicht gar wahrscheinlich erscheint. Eine offensichtlich evidente klinische Symptomatik, wie auch die subjektiven Klagen eines Patienten, führen immer wieder zu einer akutmedizinischen Rahmung des Geschehens. Die vom Patienten produzierten Symptome erscheinen für einen Arzt, dem dieses Krankheitsbild nicht vertraut ist, als bedrohliche Verschlimmerung des Gesundheitszustandes, und kaum als ein aushaltbares, chronisches Geschehen. Entsprechend liegt der medizinische Aktionismus näher als das geduldige Abwarten. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die von den Ärzten veranstalteten Initiativen allesamt auf die Auslagerung des Patienten zielen. Die Ärzte und Therapeuten erscheinen fachlich überfordert und versuchen entsprechend, den Patienten an die harten medizinischen Disziplinen weiter zu verweisen. Erst als die Versuche, den Patienten in die Chirurgie auszulagern, endgültig scheitern, findet eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen psychosomatischen Auftrag statt. Doch auch dies geschieht hier mit dem Blick auf die Auslagerung: Der Patient wird schließlich entlassen und eine ambulante Psychotherapeutin soll sich nun des Falls annehmen. Die psychologische Rahmung des Geschehens, dem die Einweisung des Patienten auf die psychosomatische Station zugrunde lag, kippt insbesondere unter der Dramatisierung der Symptome zu einer existenziellen Bedeutung immer wieder ins Biomedizinische zurück. Da hier die Sicht 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 319 das Handeln bestimmt, reproduziert sich die Fixierung auf das Krankheitsbild. Der diagnostische Prozess wird erneut aufgerollt, ebenso die an sich schon bereits abgeklärte Frage der chirurgischen Indikationsstellung. Das geschäftige Handeln der Mediziner trägt seinerseits dazu bei, dass die längst schon ausgemalten Bedrohungsszenarien und komplementär hierzu dieals letzte Hoffnung inszenierte chirurgische Heilung beständig reaktualisiert werden. Das ärztliche Team „agiert” mit diesen Bildern und Schreckensszenarien, und verhindert hierdurch, dass dynamisch von der medizinischen zu einer psychologischen Rahmung gewechselt werden kann. In den wechselseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen entsteht eine stabile Dynamik, die den Prozess über mehrere Wochen prägt. Die jungen Ärzte und die Therapeutin, alle erst seit wenigen Monaten auf der Station, sind nicht in der Lage, hier gegen den Strich zu handeln. Dies würde bei Ihnen die Fähigkeit voraussetzen, die sich hier entwickelnde Interaktionsdynamik aus einer professionellen Distanz heraus betrachten zu können. Da sich die beiden betreuenden Stationsärzte als „Ärzte im Praktikum” allesamt noch selbst im Anfängerstatus befinden, ist eine diesbezügliche Kompetenz kaum zu erwarten. Die strukturelle Überlastung, das heißt, die Forderung, mehr Verantwortung übernehmen zu müssen, als es der eigenen Kompetenz entspricht, lässt es eher unwahrscheinlich werden, dass es den involvierten Ärzten gelingen könnte, eine Alternative zum geschäftigen „Hineinagieren” zu finden. Der Erwartungsdruck, etwas Gutes für den Patienten tun zu müssen, führt stattdessen im Sinne einer Logik eines „mehr des Selben” zu einer Kaskade medizinischer Konsile und diagnostischer Untersuchungen. Diese Prozesse erzeugen ihrerseits eine Eigengesetzlichkeit, eine Zeitstruktur der langsamen Abläufe, des Wartens und des nicht Entscheiden Könnens. Die erlösende Entscheidung seitens des chirurgischen „Gottes” lässt auf sich warten, und gerade der hierdurch entstehende Leerraum einer nie endgültig getroffenen Entscheidung nährt die Erwartung des Patienten. Diese Erwartungen wecken weitere Erwartungen und der Prozess perpetuiert sich im Sinne einer „self-fulfilling prophecy”. Darüber hinaus muss natürlich berücksichtigt werden, dass Erfolg und Misserfolg einer ärztlichen Handlung und Behandlung sich natürlich - wie auch in diesem Fall - erst aus der Retrospektive heraus beurteilen lässt. Nur im Nachhinein kann man es besser wissen. Unter dem Druck des aktuellen Leidens eines gegenüberstehenden Patienten und dem prinzipiell sowieso ungewissen Erfolg medizinischer Maßnahmen ist die Zukunft für den Arzt nur bedingt handlungsleitend. Sie dient ihm zwar als Orientierungshilfe im Sinne einer Risikosemantik, mittels der die schlimmsten Bedrohungen antizipiert und diagnostisch ausgeschaltet werden. Die wissenschaftliche Evidenz einer ärztlichen Intervention, ihre Wirksamkeit, spielt in der Praxis jedoch eine eher nachrangige Rolle für den Behandlungsprozess22. Die Konsequenz der Ablehnung einer sozialen Erwartung – sei es die des Patienten oder etwa die des Vorgesetzten – ist demgegenüber unmittelbar im Hier und Jetzt zu spüren. In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass man als Arzt mit einem aktionistischen Vorgehen eher auf der sicheren Seite steht. Der Patient hat das Gefühl, dass man sich für ihn einsetzt und der Leitungsebene kann man zeigen, dass man doch schließlich alles versucht habe. Der zur Qualitätssicherung wie auch zur Dynamisierung der Entscheidungsfindung notwendige Kontrapunkt einer distanzierten Betrachtung seitens der höheren ärztlichen Hierarchieebenen ist hier nur schwach ausgeprägt. Das notwendige Korrektiv kommt hier nur bedingt zur Geltung. Zurückzuführen ist dieses Ungleichgewicht auch auf die spezifischen Bedingungen eines Universitätsklinikums: Steile Hierarchien sowie die Verlagerung der Fachkompetenz hin zu den reputativen Feldern der Forschung und damit verbunden die Tendenz zur Habitualisierung der permanenten Überforderung kultivieren als Kehrseite dieser Prozesse leicht ein Gefühl der ärztlichen Allmacht – die sich diesen Situationen stellenden Akteure gewinnen den Eindruck, 320 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse die Sache irgendwie schon meistern zu können. Gleichzeitig verhindert jedoch gerade die latente Überlastung die Entstehung eines ruhenden Kontrapunktes, aus dem heraus es gelingt, die illusorischen Hoffnungen und Erwartungen eines Patienten zu konterkarieren und die Hilflosigkeit der eigenen Aktionismen wahrzunehmen. Wo, wenn nicht in einem Universitätsklinikum, wird sich jemand finden, der die Rolle des heilenden Gottes annimmt? Der ärztliche Einsatz als Erfüllung der Patientenwünsche bestätigt rekursiv seinen Erfolg zunächst auch ohne wirkliches Ergebnis, denn zumindest während der Behandlung werden die Erwartungen ja erfüllt und nach der Behandlung wird man mit dem Patienten ja nicht unbedingt wieder konfrontiert. Der medizinischen Organisation gelingt es hier, ihre Bedeutsamkeit und ihren Sinn über die Nährung neuer Hoffnungen zu reproduzieren. Denn: Die durch die Diagnostik und die Einschaltung weiterer Experten erneut aufgeworfenen Entscheidungsprozesse können nur im medizinischen System verhandelt werden, erzeugen also weiteren Entscheidungsbedarf. Die Leistung der ärztlichen Behandlung bleibt jedoch im Fall von Herrn Beckenbauer auf der „symbolischen” Ebene, denn die seelische Last der chronischen Krankheit, die eigentliche Auseinandersetzung mit dem realen Leiden, bleiben in diesem Prozess außen vor, weil es hier noch nicht einmal gelingt, einen Sinnbezug zwischen Leiden und Bewusstsein herzustellen, geschweige denn eine wirkliche Heilung herbeizuführen. Komparative Analyse: Universitätsklinikum vs. Allgemeinkrankenhaus Der Maximalkontrast der psychosomatischen Station führt ein ärztliches Entscheidungsdilemma vor, das sich aus der Spannung von Patientenerwartungen und medizinischer Ratio ergibt. Im Sinne von Luhmanns These von Entscheidung als Reaktion auf eine gerichtete Erwartung zeigt sich hier eine immanent soziale Dimension innerhalb von ärztlichen Entscheidungsprozessen. Der Teufel steckt gewissermaßen überall. Auch (oder gerade) auf der psychosomatischen Station eines Universitätsklinikums sind Ärzte verführbar. Auch wenn in der Fallprozessierung von Herrn Spondel ebenfalls eine Tendenz zur Auslagerung erscheint, so zeigt sich im Gegensatz zu Herrn Beckenbauer eine unterschiedliche Motivation. Während im einen Fall die organisatorische Überforderung im Vordergrund steht – man kann den Patienten aus ökonomischen Gründen auf der Station nicht mehr versorgen, wenngleich man die Weiterbetreung für notwendig hält –, liegt der Grund für die Auslagerungsversuche in diesem Fall in der fachlichen Überforderung der betreuenden Ärzte. Nicht selten werden an den Unikliniken die Stationen von Anfängern geführt, denen nichts anderes übrig bleibt, als die an sie gestellten Überforderungen mittels geschickter Auslagerungsmanöver zu bewältigen, wobei die Leitungsebene – die eine entsprechende Betreuung selbst nicht leisten kann – diesbezügliche Bewegungen in der Regel stillschweigend mit vollzieht, um ihrerseits Entscheidungslasten abzuwehren. Im Allgemeinkrankenhaus sind demgegenüber in der Regel genügend (fachliche) Entscheidungskompetenzen im System verfügbar. Fachärzte, dabei auch Altassistenten, arbeiten auf der Station und können im Zweifelsfalls um Rat gefragt werden. Zudem sind auch die Oberärzte tendenziell leichter erreichbar und ansprechbar. Auch ist die Betreuung der Ärzte im Praktikum in den Allgemeinkrankenhäusern viel dichter als in den Universitätsklinika. Zudem wird bei der Fallverteilung in der Regel darauf geachtet, dass den jungen, unerfahrenen Kollegen nicht die allzu schwierigen Fälle zugeteilt werden. Entsprechend zeigen sich hier weniger Versuche, das Problem nach außen, d.h. in andere Abteilungen zu verlagern. Stattdessen wird hier – wie besonders im Fall von Herrn Schmidt-Bauer deutlich wird – versucht, intern 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 321 eine Adresse zu finden, der man die Verantwortung für die Entscheidung zuschieben kann. Demgegenüber zeigen sich in der universitären Psychosomatik Kompetenzlücken, die hier nur durch Aktionismen überdeckt werden können. (e) Frau Siegel, psychosomatische Station (Universitätsklinikum) Frau Siegel, eine 19-jährige Patientin, wird zur Behandlung ihrer Bulimie (Essen und Erbrechen) in der psychosomatischen Abteilung aufgenommen. Die Stationsärzte schauen sich die Patientenakte an. Mehrere Aufenthalte in verschiedenen psychiatrischen Kliniken, diverse Diagnosen, darunter auch einige aus dem schizophrenen Formenkreis, werden in der Akte erwähnt. Die harten psychiatrischen Diagnosen scheinen aber bisher keine Bestätigung gefunden zu haben. In der Visite zeigt sich ein schüchtern wirkendes Mädchen. Der Stationsarzt fragt, ob sie heute erbrochen habe. Frau Siegel bejaht. Der Arzt kündigt Frau Siegel den Besuch eines Neurologen und eines Psychiaters an. Auf dem Gang erklärt der Einzeltherapeut, dass er die Patientin interessant finde und übernehmen werde („Ich-strukturelle-Störung, die nehme ich”). Der Konsil-Psychiater wird eingeschaltet und untersucht das Mädchen. Anschließend spricht er in der Stationsküche mit den Ärzten und dem Einzeltherapeuten über die Patientin: Dienstag, 10.10. 11:40 Stationsküche Psychiater: Die hat seit drei Jahren Erfahrung mit der Psychiatrie, in drei Kliniken, sie haben es probiert mit Neuroleptika, sogar Haldol, Antidepressiva, Valium, Fluxine haben auch nicht angeschlagen. Sie fühlt sich dann tagsüber immer müde ... ihr circadianer Rhythmus sei umgedreht, nachts sei sie hellwach und tagsüber dann müde ... es reicht aber dann immer noch für einen Notendurchschnitt von 1,3 in der Schule ... sie hat keine Halluzinationen ... mit ihrer Bulimie, das ist praktisch nur der hintere Teil, sie bricht dann, aber sie bricht nicht viel, weil sie nicht viel isst ... es ist dann für sie nur eine Entlastung, sich den Finger in den Hals zu stecken, kommt dann meistens nur Schleim raus ... alles sehr spannend ... sie ist nicht psychotisch, nicht neurotisch ... sehr spannend ... würde dann die ganze Hirndiagnostik durchziehen: EEG mit Schlaf und EEG ohne Schlaf. An Diagnostik wurde sicher bisher alles gemacht, was gut ist, machen wir jetzt, was teuer ist: MRT ... Können wir dann auch noch einen Glukose-uptake, PET machen ... Der Stationsarzt hat den Eindruck, mit der Patientin nicht weiterzukommen und entscheidet sich, den Fall auf der wöchentlichen Teamsitzung vorzustellen. Die Mitglieder des therapeutischen Teams beteiligen sich rege an der Diskussion. Der Psychiater macht sich Gedanken über den merkwürdigen Schlafrhythmus der Patientin und bekennt seine Schwierigkeiten, bei ihr zwischen Psychischem und Organischem unterscheiden zu können. Die Therapeuten bilden Hypothesen über die zugrunde liegende Psychodynamik und versuchen Verbindungen zwischen der familiären Situation und einzelnen „Signalen” der Patientin bzw. deren Verhaltensweisen herzustellen. Zum Abschluss bemerkt der Psychiater, dass man in der Diskussion nicht so recht weiterkommen würde: Mittwoch, 11.10. Teamsitzung Einzeltherapeut: Probleme mit dem Essen, zuvor selbstverletzende Handlungen, die sie sich abgeguckt hat ... BMI von 14, ... Psychiatrie mit 14 Jahren ... jetzt Abendschule mit guten Noten ... ohne Vater aufgewachsen, symbiotisches Verhältnis zur Mutter. Konsilpsychiater: Was ist psychisch, was ist organisch ... umgekehrter Tag- und Nachtrhythmus: Neuroleptika, Antidepressiva funktionieren nicht. War dann auch konfus ... nicht schizophren, nicht depressiv, nicht ich-strukturell, auch keine richtige Bulimie ... ist schüchtern ... 322 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Einzeltherapeut: Sie hat etwas sehr Nihilistisches ... Kunsttherapeutin: ... oft ein hämisches Grinsen. Musiktherapeut: Bei mir hat sie die beiden extremen Musikinstrumente gewählt ... das Glockenspiel mit den hohen Tönen ... und danach das tiefste Stabinstrument ... dann wieder sehr aggressiv auf das Glockenspiel geschlagen. Einzeltherapeut: Zu den Traumatisierungen in der Kindheit ... der Vater weg mit zwei Jahren ... und als ich dann fragte: „Freunde?” Nur ein Zusammenzucken ... und: „Kann ich mich nicht erinnern!” Konsilpsychiater: Was ist psychisch, was ist organisch, habe ich mich bei ihr gefragt ... sie ist eine Frühgeborene ... sie schielt ... Sport nie mitgemacht ... nicht gekonnt ... dann die Zeit ab 1994 habe ich überhaupt nicht verstanden ... Müdigkeit und Antriebslosigkeit seit dem vierzehnten Lebensjahr, Umkehrung des Tages- und Nachtrhythmus ... habe mir die Essgruppe herbeigesehnt, weil ich bei Frau Siegel nicht zwischen Psychischem und Organischem unterscheiden konnte ... nicht schizophren, depressiv auch nicht ... aber auch nicht ich-strukturell ... und die Essstörung, auch keine richtige Bulimie, obwohl die Spannung da ist ... Stationsarzt: Sie wirkt auf mich sehr kindlich und hilflos, die Frage ist, ob sie das will oder ob sie das ist ... Psychiater: Man kann sich bei der Gegenübertragung vorstellen, was das für ein grausames Schicksal ist, kindlich zu wirken, aber studieren zu wollen ... sie fühlt sich selber in der Sackgasse mit der Schule ... Musiktherapeut: Direkt neben mich hat sie sich in der Gruppe gesetzt ... der Vater, was ist da ... Kunsttherapeutin: Das Mütterliche ... sie will die Mutter eigentlich nicht, aber selber versorgen will sie sich auch nicht ... Einzeltherapeutin: Sie hat etwas Ambivalentes. Oberarzt: 0ft ist es ja so, dass sich ein Teil der Symptomatik einer Patientin hier im Team spiegelt ... die vier Herren beteiligen sich, sind engagiert, während die Frauen eher zuhören. Schwester: Ich werde mich hüten. Einzeltherapeut: ... wenn‘s ein Lolita-Aspekt wäre, dann würde es auf Missbrauch deuten ... Kunsttherapeutin: Sie setzte sich in der Gruppe direkt neben Herrn J., der ja bei Frauen sehr fürsorglich ist ... Musiktherapeutin: ... bei mir löst sie etwas Väterliches aus ... aber eher so im starken Pol, so dass ich denke, sie braucht etwas Konfrontatives, nicht so etwas Verschmelzendes, sondern ein Gegenüber. Stationsarzt: Sie ist ja ohne Vater groß geworden ... Konsilpsychiater: Ich glaube, dass wir hier nicht weiterkommen, ist jetzt eher ein Spintisieren ... sie wird ja auch den Partnern der Mutter begegnet sein, dort auch Männer kennen gelernt haben, und dann wird sie auch ihre eigenen Erfahrungen gemacht haben ... das müssen wir erfragen ... Die Teambesprechung dient hier zugleich als Fallkonferenz: Im Sinne einer „chaotischen” Suchbewegung dürfen hier die unterschiedlichsten Hypothesen eingebracht werden. Gremien dieser Art erhöhen zunächst die Kontingenz, erlauben die Spekulation, um Ideen für eine Lösung der anstehenden Problematik zu bekommen. Hier „rastet” jedoch keine Idee zum Fallverstehen ein. Es gelingt nicht, ein überzeugendes bzw. zumindest einigermaßen kohärentes Fallverständnis zu (re-)konstruieren. Die anfängliche Handlungsunsicherheit im Hinblick auf die richtige Behandlung bleibt bestehen (vgl. auch Kap. VI.4.). Am kommenden Freitag telefoniert der Stationsarzt mit einigen der psychiatrischen Kliniken, welche die Patientin schon einmal betreut haben, und möchte sich die ausführlichen Befunde schicken lassen. Kleinere bürokratische Hürden behindern eine schnelle Umsetzung. Als die Patientin von den Anstrengungen des Arztes erfährt, macht sie den Vorschlag, dass man doch den Hausarzt fragen könne, der habe schließlich alle Befunde. Der Arzt nimmt den Vorschlag an. Der Hausarzt scheint unkompliziert und sofort willens, die Befunde zu faxen. Ebenso macht sich der Konsil-Psychiater weiterhin Gedanken über Frau Siegel, kommt jedoch in seinen Überlegungen 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 323 nicht weiter („ist das jetzt was Hirnorganisches, worauf das EEG hinweist, oder ist sie einfach nur ein verzogenes Kind?”). Man sucht in verschiedene Richtungen, um dann doch Hinweise für ein Fallverständnis zu gewinnen. Die Patientin zeigt sich dabei kooperativ, was die Dinge allerdings nicht greifbarer werden lässt. Während einer Stationsvisite gegen Ende der zweiten Woche erklärt Frau Siegel, dass sie ein Medikament, das als Entkrampfungsmittel und Antidepressiva eingesetzt wird, absetzen möchte. Die Patientin berichtet darüber hinaus, dass sie sich über sich ärgere, da sie kein Gewicht zunehmen würde. Der Arzt erwidert hierauf, dass er ihr pulverförmige Zusatznahrung aufschreiben werde. Die Patientin antwortet daraufhin, dass das jetzt wohl wenig Sinn habe, denn sie würde diese Nahrung ja auch erbrechen. Der Arzt bemerkt abschließend, dass er jetzt dennoch die Zusatznahrung verschreiben würde und dass die Patientin die Sache mit dem Carbamazepin jetzt selber entscheiden könne: Freitag, 20.10.: Stationsarzt: Guten Tag, … mit dem Carbamazepin ... das ist jetzt so, sie sind ja noch gar nicht in dem therapeutischen Spiegel ... da müssten Sie jetzt morgens und abends eine bekommen. Frau Siegel: Wozu den Spiegel? Stationsarzt: Es wäre wichtig, dass die Dosis so hoch ist, dass Sie dann immer eine therapeutisch wirksame Menge im Blut haben ... Frau Siegel: Ich möchte das aber nicht, das beeinflusst mich dann doch ... und dann soll ich ja noch ins Schlaflabor ... Stationsarzt: Wenn Sie dann nicht wollen, dann schlage ich vor, dass Sie entscheiden ... Sie gehen ja erst mal die Woche ins Schlaflabor ... und nehmen dann keine Tabletten und danach können Sie, wenn Sie es wünschen, es noch mal probieren. Wie ist das jetzt mit dem Schlafen? Frau Siegel: Ich habe gestern Nacht geschlafen. Stationsarzt: Wie viele Stunden waren das? Frau Siegel: Das waren dreieinhalb Stunden. Stationsarzt: Und das ist genug? […] Stationsarzt: Gibt es noch was? Frau Siegel: Nein, oder doch ... ich ärgere mich über mich selber. Stationsarzt: Warum ärgern Sie sich über sich selber? Frau Siegel: ... dass ich nicht zunehme ... Stationsarzt (schaut die Kurve durch): Oh ... Sie haben ja abgenommen ... da sollten Sie die Zusatznahrung ... hier in Pulverform. Frau Siegel: Das hat dann sowieso keinen Sinn. Das nehme ich und erbreche das dann ja wieder ... Stationsarzt: Wie oft haben Sie erbrochen? ... Hier steht dreimal, gestern? Frau Siegel: Ja. Stationsarzt: Ich schreibe das Ihnen jetzt mal auf mit der Zusatznahrung. Sie müssen erst mal wieder zunehmen ... das kann man wieder so machen, wie mit dem Carbamazepin ... Sie entscheiden, ob Sie das nehmen ... Am folgenden Montag entscheidet sich der Stationsarzt, die Patientin auf der psychiatrischen Fallkonferenz vorzustellen. Der Einzeltherapeut ist überrascht, die junge Frau vor versammelter Mannschaft wiederzufinden und macht dem Arzt diesbezüglich einen Vorwurf („hättest du mir doch sagen können”). Frau Siegel wird in den Raum gebeten. Etwa zwanzig Personen in weißen Arztkitteln sind anwesend, darunter die Chefärzte der psychosomatischen und psychiatrischen 324 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Abteilung. Beide sehen diese Patientin zum ersten Mal und verzichten vor der Befragung darauf, sich vom therapeutischen Team über die Patientengeschichte informieren zu lassen: Montag, 23.10. 14:00 Psychiatrische Fallkonferenz Chefarzt Psychosomatik: Nichts vorher sagen. Chefarzt Psychiatrie: Doppelblind. Frau Siegel wird etwa zwanzig Minuten lang zur Symptomatik ihres Krankheitsbildes ausgefragt. Themen sind dabei: die Beziehung zu Vater und Mutter, ihr Sexualleben, die vorangegangenen Psychiatrieaufenthalte, die schulische Situation sowie ihre Zukunftswünsche. Nachdem die Patientin aus dem Raum geschickt wurde, besprechen die Chefärzte das weitere Vorgehen und entscheiden sich, die Patientin an die Psychiatrie zu übergeben: Chefarzt Psychiatrie: Hat eine bizarre Psychomotorik, könnte für eine Hebephrenie sprechen ... doch dazu ist sie aber nicht läppisch genug ... oder ein endokrines Psychosyndrom, kann ich mir dann auch nicht vorstellen ... hat dann in drei psychiatrischen Einrichtungen im Umfeld (dieser Großstadt) Neuroleptika bekommen ... kann ich mir auch nicht vorstellen, dass das überall ohne Grund ... würde dann doch für eine Krankheit aus dem schizophrenen Formenkreis sprechen ... dreißig Prozent der Anorektiker kommen aus dem endogenen Formenkreis ... wirkt außerordentlich infantil ... auch dann alles Endokrinologische noch abklären ... dann auch die Schilddrüse richtig einstellen, ... eine klassische Anorexie hat sie nicht ... kann dann drei Monate knall-psychotisch sein und dann ist es vorbei. Chefarzt Psychosomatik: Die Frage, ob in den Episoden dann nicht doch was Hebephrenisches gelaufen ist und jetzt haben wir die Negativsymptomatik. Chefarzt Psychiatrie: Drei bis vier Schübe und dann jetzt Dementia praecox ... würde die jetzt psychiatrisch aufnehmen und mit einem Neuroleptikum behandeln ... will sie Ihnen jetzt nicht wegnehmen ... aber dann auch auf der offenen Station. Chefarzt Psychosomatik: Keine Frage, die gehört hier nicht hin ... Chefarzt Psychiatrie: Mit der Vorsicht, dass viele psychiatrische Diagnosen nicht richtig sind, würde ich sagen, dass wir sie nehmen. [...] Die Entscheidung wird in Abwesenheit der Patientin aber auch ohne die Einbeziehung des bisher betreuenden therapeutischen Teams getroffen. Den meisten der Anwesenden dieser hochrangig besetzten Fallkonferenz ist die Beobachter- bzw. „Studentenrolle” zugedacht. Entschieden wird hier aufgrund diagnostischer Spekulationen innerhalb des hochvirtuellen Lehrkontextes eines Universitätsklinikums. Die Chefärzte haben es nicht mehr nötig, die Patientin persönlich über ihre Entscheidung zu informieren. Ebenso „traut” sich keiner der anwesenden Ärzte, das bereits bestehende, gegenteilige diagnostische Urteil des psychiatrischen Konsiliarius zu thematisieren. Der Anspruch an Vermittlung, geschweige denn anVerstehen stellt sich nicht einmal, da die Entscheidung weder kommuniziert noch weitergehend gerechtfertigt werden muss. Das gegenüberstehende Du der Arzt-Patient-Beziehung, das in der stationsärztlichen Visite etwa im Aushandeln der Medikamente und in der Suche des Psychiaters durchaus zur Geltung kommt, verschwindet hier vollkommen hinter der paternalistischen Autorität der beiden Ordinarien. Der Einzeltherapeut und eine Praktikantin bemerken auf dem Gang, dass der Konsil-Psychiater in dem Entscheidungsprozess vollkommen übergangen worden sei. Schließlich habe er die Patientin doch drei- bis viermal ausführlich gesehen und dann auch ausführlich ihre Akten studiert. Außerdem sei es eine falsche Entscheidung gewesen, die Patientin auf der Fallkonferenz vorzustellen („wenn die jetzt auf Neuroleptika eingestellt wird, dann setzt die die sowieso ab, wenn sie wieder draußen ist”). 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 325 Ein paar Wochen später erkundigt sich der Konsil-Psychiater über den weiteren Fallverlauf. Im Interview erzählt er, dass Frau Siegel auf eigenen Wunsch nach wenigen Tagen die Psychiatrie verlassen hat. Die Diagnose Defektschizophrenie habe sich nicht halten lassen, stattdessen vermute man, dass es sich um eine Borderline-Störung handele: Psychiater: »Sie müssen ein Verhältnis dafür gewinnen, für diese unglaubliche Farbigkeit der einzelnen Patienten. Die Frau hatte ja eine Psychiatriekarriere seit dem vierzehnten Lebensjahr. Und die vielen Arztbriefe, die der Stationsarzt abgefordert hat, und da war wirklich alles, vom frühkindlichen Hirnschaden, das ist eine organische Krankheit, irreversibel sozusagen, bis zur Hysterie waren alle in der Psychiatrie möglich zu stellenden Diagnosen gestellt worden. Und der [Professor] hat nun die letzte Diagnose gestellt, dass es sich um eine Defektschizophrenie handelt. Interessanterweise ist die vier Tage oder fünf Tage später aus der Psychiatrie gegangen, auf eigenen Wunsch. Und sie hat nicht die Diagnose “Defektschizophrenie” in ihrem Abschlussbrief bekommen, sondern “Borderline-Störung”. ... Es gibt Zweifelsfälle, wo tatsächlich die jeweiligen Beobachter unterschiedliche Diagnosen stellen, und das Schlimme ist, dass, wenn man eine Diagnose Schizophrenie stellt und die irgendwann mal in einem Arztbrief aufgetaucht ist, sie sich als schöne Wiederholung durch alle anderen Arztbriefe durchzieht und die Patienten gar nicht davon wegkommen, obwohl es durchaus sein kann, dass es eine Episode gibt, die einige schizophrene Symptome hat, also wie bei der Schizophrenie, aber durchaus nicht diesen Prozesscharakter hat wie eine Schizophrenie-Krankheit, und man tut den Menschen was sehr Böses an damit, indem man ihnen ein Etikett anklebt, das sie nicht wieder loswerden«. Orientierungsrahmen: fachliche Überforderung - Kontingenzerhöhung Sowohl der Einzeltherapeut als auch der Stationsarzt sind mit der Fallproblematik überfordert. Als Anfänger – beide sind seit drei Monaten als Arzt im Praktikum auf der Station und verfügen über keine psychotherapeutische Zusatzausbildung – sind sie gefordert, hier die Rolle eines psychosomatischen Facharztes anzunehmen. Die diesbezüglichen Unsicherheiten der beiden Berufsanfänger werden nicht durch eine entsprechende fachliche Betreuung balanciert – etwa einer stützenden Begleitung durch den Oberarzt. Die Überforderung wird zunächst angenommen. Im Sinne einer mehr oder weniger chaotischen Suchbewegung wird versucht, eine Handlungsorientierung zu gewinnen. Der Konsil-Psychiater, ein habilitierter und erfahrener Mediziner, wird eingeschaltet. Der Fall wird in die Teamsitzung eingebracht, und die vorherigen Akten werden angefordert. Dennoch gelingt es dem behandelnden Arzt und Therapeuten nicht, eine klare Handlungsorientierung zu gewinnen. Der Psychiater, seinerseits am Fall interessiert, bleibt als externer Konsiliarius außerhalb der eigentlichen Entscheidungslinie. Seine Kompetenz und sein Urteil werden zwar eingeholt, sind jedoch hier nicht entscheidungsrelevant, denn die Entscheidungslast liegt auf der Station und nicht bei den externen Beratern. Entsprechend muss hier ein Modus operandi gefunden werden, das Problem zu lösen. Systemisch gesehen dient die psychiatrische Fallkonferenz in diesem Prozess der Unsicherheitsbewältigung. Da das Urteil des psychiatrischen Konsiliarius „nicht psychotisch” heißt, ist den Ärzten zunächst der Weg verbaut, die Patientin mit dem Hinweis auf eine mögliche schizophrene Erkrankung in die Psychiatrie auszulagern. Erst im Rekurs auf die höhere Ebene kann diese Diagnose wieder revidiert werden, denn die chefärztliche Herrlichkeit braucht in ihren Urteilen und Entscheidungen nicht auf Vorbefunde zu rekurrieren. Die Fallkonferenz wird zum Joker, den der überforderte Stationsarzt einsetzen kann. Gleichsam die letzte Karte ziehend kann der überforderte Stationsarzt nun den Fall der Kontingenz einer Königsentscheidung aussetzen23. Der Vorwurf des Einzeltherapeuten („du hättest es mir doch sagen können”) weist darauf hin, dass die Beteiligten sehr wohl wissen, dass hier eine erhebliche Problemzuspitzung zu erwarten ist und die Auslagerung der Patientin in die Psychiatrie innerhalb der Eigendynamik einer solchen Fallkonferenz nicht unwahrscheinlich erscheint. 326 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Komparative Analyse: systemische Bewältigung von Überforderung In einem Universitätsklinikum mit steilen Hierarchien kann seitens der Untergebenen die Überforderung nicht offen zugegeben werden. Stattdessen wird implizit verlangt, mit der eigenen Handlungsunsicherheit produktiv umzugehen. Hieraus entfalten sich dann im Fall Siegel wie im Fall Beckenbauer mehr oder weniger raffinierte Strategien der Problemverschiebung und Auslagerung. Der eigentliche Entscheidungsrahmen besteht in beiden Fällen weder in der Beziehung zum Patienten noch im fachlichen Diskurs – eine Borderline-Störung stellt ebenso wie Bewältigung einer chronischen Krankheit durchaus eine Indikation für die Behandlung auf einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Station dar. Im Vordergrund steht in beiden Fällen vielmehr der strategische Umgang mit der fachlichen Überforderung der betreuenden Ärzte und Therapeuten, wobei es sich bei den herausgearbeiteten Strategien nicht um bewusste Handlungsabsichten handelt. Die Beteiligten entwickeln hier keinen Plan, wie man den Patienten am geschicktesten auslagern kann. Vielmehr bilden sich hier „spontan” überindividuelle systemische Konstellationen heraus, die dann im Hinblick auf ihre Konsequenzen für einen äußeren Beobachter als Auslagerungs- bzw. Vermeidungsstrategien erscheinen. Die externen Ärzte sind aus dem eigentlichen Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Hier zeigen sich dann wieder strukturelle Parallelen zu den anderen Abteilungen. Das fachlich gut begründete Urteil des Oberarztes der Intensivstation im Fall von Herrn Schmidt-Bauer kommt hier genauso wenig zur Geltung wie in der Psychosomatik das Urteil des Konsil-Psychiaters. Die „entscheidende” Entscheidung wird innerhalb der eigenen Systemgrenzen getroffen, d.h. innerhalb der inhärenten Logik der Entscheidungslinie der jeweiligen Abteilung24. Maßgeblich sind hier die inneren „Triebkräfte”, weniger die externe Fachkompetenz. (f) Herr Mertelsmann, Onkologie (Universitätsklinikum) Herr Mertelsmann, 65 Jahre alt, leidet unter einem multiplen Myelom, einer leukämischen Krankheit. Nach der Erstdiagnose vor gut einem Jahr wurden mehrere Therapien durchgeführt, darunter Bestrahlung und verschiedene Polyochemotherapien. Darüber hinaus wurden Knochenmarkstammzellen für die weitergehende Therapieoption der so genannten „autologen Transplantation” gesammelt. Am 6.10. wird Herr Mertelsmann aufgrund eines massiven Progresses der Leukämie erneut zur stationären Behandlung aufgenommen. Die Wirbelsäule und die Schädelkalotte werden bestrahlt, um die sichtbaren Manifestationen der Krankheit zurückzudrängen. Des Weiteren wird eine Chemotherapie angefangen mit dem Ziel, weitere Stammzellen für eine Knochenmarktransplantation zu gewinnen. Während dieser Behandlung treten erhebliche Komplikationen auf, da der Patient wider Erwarten über einen langen Zeitraum aplastisch, d.h. ohne eigene Blutzellen bleibt. Aufgrund der fehlenden Immunzellen leidet der Patient unter einer Reihe unterschiedlicher Infektionen, die jedoch bis jetzt noch durch verschiedenartige Kombinationen von Antibiotika und Antimykotika noch in Griff zu bekommen waren. Dennoch erscheint die lang andauernde Blutarmut bedrohlich, die Ärzte überlegen deshalb, ob man den Therapieversuch nicht lieber abbrechen sollte, um stattdessen dem Patienten die bisher gesammelten Zellen zurückzugeben: 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 327 Dienstag, 13.11. 9:15 Visite (auf dem Gang) Stationsarzt Dr. Kringe: Herr Mertelsmann hat ein Geschwür im Mund ... Ärztin im Praktikum: Neu? Dr. Kringe: Immer noch das alte ... Ärztin im Praktikum: ... der ist jetzt schon 20 Tage aplastisch ... ich weiß es genau ... habe es gezählt für die Chefvisite, da waren es 18 Tage ... genau genommen sind es jetzt schon 22 Tage, wo er aplastisch ist ... müssen wir überlegen, ob wir ihm die restlichen Zellen ... wollen wir Dr. Krause deswegen anhauen? Dr. Kringe: Der wird im Karree springen. Ärztin im Praktikum: Ich kann es ja mal probieren, als Ärztin im Praktikum darf man das ... Dr. Kringe (zum Beobachter): Das Problem ist, irgendwann kippt er dann biologisch um, und wenn es ihm erst mal schlecht geht, dann ist es zu spät ... dann toleriert der Organismus den aplastischen Zustand nicht mehr ... Ärztin im Praktikum: Mich wundert es überhaupt, dass er das bisher toleriert, mit den ganzen Keimen ... Dr. Kringe (erklärt dem PJ): ... die Zellen, die wir noch haben, reichen ja nicht einmal mehr für eine Hochdosischemotherapie ... wir sind jetzt mit dem Rücken an der Wand ... wenn es ihm schlechter geht, muss man ihm das jetzt geben ... bei so einer Krankheit ist es jetzt sowieso schwer, viele Zellen zu sammeln ... andererseits kann man jetzt in dem Stadium noch was machen ... Beobachter: Was macht man, wenn keine Zellen mehr da sind? Dr. Kringe: Dann ist Ende ... Infektionen ... Beobachter: Kann man noch Antibiotika ... und Intensivstation ... Dr. Kringe: Irgendwann toleriert der Organismus das nicht mehr ... Dem Patienten die bisher gesammelten Zellen zurückzugeben bedeutet, den bisherigen Therapieplan abzubrechen, was heißt, auf die mit der Transplantation verbundene Hochdosischemotherapie endgültig zu verzichten. Mit dieser Entscheidung würde auf die letzte Option, die Leukämie noch heilen zu können, verzichtet. Alle weiteren Therapieangebote, die darüber hinaus noch angeboten werden könnten, hätten nur noch palliativen Charakter, würden den Zerfall vielleicht noch einige weitere Monate hinauszögern, ließen jedoch keine grundlegende Wende mehr im Krankheitsverlauf erhoffen. Die Ärzte stehen vor der schwierigen Frage, ob man nun von einem kurativen auf einen palliativen Behandlungsrahmen wechseln solle, oder den Therapieversuch noch weiter durchführen könne. Denn angesichts des kritischen Gesundheitszustandes des Patienten droht die Gefahr, diesen mit der Therapie umzubringen. Die Stationsärzte sehen sich jedoch nicht in der Lage, diese prekäre Entscheidung alleine zu treffen, entsprechend soll der Oberarzt entscheiden. Den Kollegen scheint es jedoch Probleme zu bereiten, diese Entscheidung von dem Oberarzt einzufordern (»der wird im Karree springen«). Die Ärzte antizipieren - da sie schon einige Zeit auf der Station dienen, wissen sie vermutlich auch, wie der Oberarzt in solchen Fällen reagiert -, dass der Oberarzt es nicht mag, mit solch einer Entscheidung konfrontiert zu werden, denn wenn man diese Entscheidung trifft, muss man das Scheitern der kurativen Therapieoption explizit anerkennen. Der offizielle Dienstweg scheint diesbezüglich emotional belastet. Nur die Ärztin im Praktikum traut sich hier – sich auf ihren Anfängerstatus berufend –, eine diesbezügliche Kommunikation zu wagen, denn das Tabu, manche Dinge nicht thematisieren zu dürfen, darf von ihr bewusst gebrochen werden. An sie besteht noch nicht der Anspruch, die impliziten Regeln der Station verinnerlicht zu haben. 328 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Der Oberarzt, von der jungen Ärztin angesprochen, entscheidet, dem Patienten die gesammelten Zellen zurückzugeben, allerdings solle noch einige Tage gewartet werden, da erst die aktuelle Infektion durch die Antibiotikatherapie zurückgedrängt werden sollte. In einer Visite erklärt die Ärztin im Praktikum dem Patienten das weitere Prozedere: Die Zellen könnten jetzt nicht mehr weiter gesammelt werden und damit könne nun auch die Hochdosischemotherapie nicht mehr durchgeführt werden. Allerdings gäbe es noch eine weitere Therapie, nämlich ein Medikament, welches die Gefäßbildung in dem tumorösen Gewebe behindern würde: Mittwoch, 14.11. 10:20 Visite (Herr Mertelsmann wirkt sehr verschlafen und schwach.) Ärztin im Praktikum: ... wie geht es Ihnen ... muss Sie jetzt leider wecken ... mit der Bauchspritze ... weitersammeln können wir bei Ihnen jetzt nicht ... haben dann mit Professor Dr. Krause gesprochen ... machen wir jetzt so, dass wir auch zwei Tage Antibiotika geben, bis das Fieber dann runter ist, und geben dann die Zellen ... müssen dann bis Freitag warten, sonst verpuffen die Zellen in der Infektion ... ist jetzt schade, dass wir die Hochdosischemo mit Ihnen nicht machen können ... ist das Vertrackte, dass wir die Zellen nicht sammeln können ... ist jetzt bei einem Blastozym oft sehr schwer, die Zellen zu sammeln ... gibt dann noch eine andere Therapie ... das Thalidomid ... können Sie dann auch als Tabletten ... hemmt dann die Ausbildung der Gefäße im Blastozym ... Die Sachlage des Therapieversagens, einschließlich der Gefahr lebensbedrohlicher Komplikationen wird hier in einer sanften, fast schon verharmlosenden Art dargestellt. Die in der Fallproblematik mitschwingende Todessemantik – im Übergang von einem kurativen zu einem palliativen Behandlungskonzept – wird hier nicht expliziert. Stattdessen folgt der beruhigende Hinweis auf eine weitere Therapie. Der „Bewusstheitskontext” bleibt geschlossen, das Thema Sterben wird hier nicht verhandelt. Die Kommunikation bleibt innerhalb des kurativen medizinischen Rahmens. Während der Oberarztvisite stellt der Oberarzt fest, dass der Patient nun schon besser aussehe und dann hoffentlich nach der Gabe der Zellen bald wieder nach Hause könne: 9:10 Visite mit dem Oberarzt (Patientenzimmer) Oberarzt Prof. Krause: Herr Mertelsmann ... Sie sehen jetzt besser aus ... Prof. Krause: ... Sie bekommen dann morgen Ihre Zellen wieder ... und dann geht es hoffentlich bald wieder nach Hause ... Auch hier wird die eigentliche Falldramatik nicht thematisiert. Stattdessen wird die Hoffnung suggeriert, dass der Patient bald zu Hause sein werde und dass alles schon irgendwie weitergehen werde. Auch hier bleibt der Bewusstheitskontext bezüglich der Frage des Sterbens geschlossen. Ob dies im impliziten Einverständnis mit dem Patienten oder ohne sein Wissen geschieht, kann hier nicht beantwortet werden. Wie geplant bekommt der Patient am Freitag die Infusion mit den von ihm bisher gesammelten Stammzellen. Auch Dr. Kringe drückt dem Patienten gegenüber die Hoffnung aus, dass er bald wieder entlassen werden könne. Trotz der Rückgabe der Zellen haben sich die Blutwerte am kommenden Montag nicht verbessert. Stattdessen zeigen sich am Körper des Patienten mehrere Rezidive in Form deutlich sichtbarer Beulen. Dr. Kringel schlägt vor, mit dem Thalidomid anzufangen. Die Stationsärzte diskutieren darüber, ob das Medikament überhaupt wirken würde. Dr. Merkel schlägt vor, es mit einer 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 329 Antikörpertherapie zu versuchen und verweist auf die Notwendigkeit, mit dem Oberarzt zu reden. Außerdem habe er dem Patienten dringend geraten, mit dem Rauchen aufzuhören: Montag, 19.11. Visite 8:45 (auf dem Gang) Dr. Kringel: Hat sich da was getan? Dr. Merkel: Nichts ... 0,4, aber das sind jetzt noch die transplantierten Zellen ... konnte dann auch zwei Beulen tasten ... dort (zeigt am eigenen Körper auf eine Stelle an der Schädeldecke) ... und dort ... ich denke er ist progredient ... Dr. Kringel: Würde ich jetzt mit Thalidomid anfangen Dr. Merkel: Das wirkt doch nicht. Hast du doch gesagt! Dr. Kringel: Natürlich wirkt das ... in 30% aller Fälle. Dr. Merkel: Würde ich Camphert ... müssen wir mit Dr. Krause diskutieren ... Dr. Kringel: Der zerbröselt uns jetzt ja. [...] Dr. Merkel: Habe ihm jetzt auch eindringlich geraten, mit dem Rauchen aufzuhören ... (im Patientenzimmer) Dr. Merkel: (tastet die Beule ab) ... wird Zeit, dass wir was machen ... müssen wir mit Dr. Krause reden. Wenngleich die Ärzte vor dem Patientenzimmer die Falldramatik und die Zweifel bezüglich ihres weiteren Vorgehens in deutlichen Worten thematisieren, werden die diesbezüglichen Überlegungen dem Patienten gegenüber nicht kommuniziert. Im Patientenzimmer bleiben die Ärzte weiterhin in der Rolle des potenten Helfers. Fast scheint der Eindruck zu entstehen, dass es nur eine Frage des Zeitpunkts sei, wann endlich etwas geschehe und dass man jetzt dazu nur den Oberarzt einschalten müsse. Die andere Seite des therapeutischen Dilemmas, nämlich dass hier vielleicht gar nicht mehr geholfen werden kann, bleibt wieder außen vor. Die Ärzte orientieren sich in der Patientenkommunikation an ihren Möglichkeiten, nicht an ihren Grenzen. Entsprechend wird hier die Alltäglichkeit eines Therapieverlaufes verhandelt, in dessen Rahmen sogar das ärztliche Bemühen Sinn zu machen scheint, einem Patienten das Rauchen abzugewöhnen, der möglicherweise kurz vor seinem Tode steht. Performativ macht das Thema „Raucherentwöhnung” jedoch Sinn, denn hierdurch tritt in der Patientenkommunikation ein harmloser Gegenstand in den Vordergrund. Im Arztzimmer spricht der Beobachter Dr. Kringe auf die Prognose von Herrn Mertelsmann an. Dieser antwortet, dass der Patient höchstens zwei bis drei Monate zu leben hätte, falls den Ärzten nichts mehr einfallen würde. Der Arzt versucht, den Oberarzt telefonisch zu erreichen. Dieser ist jedoch außer Haus. Der Arzt bemerkt daraufhin, dass er morgen mit der Thalidomid-Therapie anfangen wolle. Im Sinne eines ärztlichen Aktionismus – hier verstanden als eine Suchbewegung, doch noch etwas tun zu können – ist der schnelle Beginn der Thalidomid-Therapie der einzige Rettungsanker. Während der Visite am folgenden Tage erklärt Dr. Kringe seinem Kollegen, dass er ohne Rücksprache mit dem Oberarzt die Thalidomid-Therapie angefangen habe. Dr. Merkel zeigt sich erstaunt über die Eigeninitiative des Stationsarztes und erklärt diesen für verrückt, diese Frage allein entschieden zu haben: 330 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Dienstag, 20.11. 9:30 Visite (auf dem Gang) Dr. Kringe: Habe ihm dann Thalidomid gegeben ... Dr. Merkel: Hast du das Dr. Krause gesagt? Dr. Kringe: Nein. Dr. Merkel: Bist du wahnsinnig? Dr. Kringe: Hat er gut vertragen, kann ich die Dosis steigern ... Dr. Merkel (schaut die Akte durch): Ne, hast du nicht gemacht. Dr. Kringel: Doch, die Schwestern haben es nur noch nicht gegeben (in der ärztlichen Anordnung steht „Thalidomid (sowie eine Dosisangabe)”. Die Perspektive, den drohenden Zerfall des Patienten anschauen zu müssen, ohne etwas tun zu können, erzeugt eine Spannung, die für Stationsarzt Dr. Kringe nicht mehr auszuhalten scheint. Dies würde den sonst eher selten zu beobachtenden Fall erklären, dass hier eine Therapieentscheidung ohne Rücksprache mit dem Oberarzt getroffen wird. Die hierarchiepolitische Brisanz dieses Vorgehens wird durch die Frage von Dr. Merkel deutlich, ob sein Kollege denn wahnsinnig geworden sei. Dr. Merkel fragt den Patienten, ob er das Medikament gut vertragen habe. Dieser antwortet, dass es gut gegangen sei. Zudem sei er gestern nur einmal zum Rauchen gegangen. Der Arzt lobt den Patienten diesbezüglich. Nach der Visite informiert Dr. Kringe den Oberarzt darüber, dass Herr Mertelsmann “progredient” sei. Dr. Krause schlägt vor, jetzt mit der Thalidomid-Therapie anzufangen. Der Arzt berichtet seinem Vorgesetzten, dass die Therapie schon begonnen habe. Als der Oberarzt erfährt, dass die Werte der Blutzellen immer noch sehr niedrig seinen, weist er den Stationsarzt an, die Medikation wieder abzusetzen, da hierdurch ja auch die erwünschte Gefäßbildung im Knochenmark gehemmt werden würde. Die Ärzte planen, den Patienten nächste Woche zu entlassen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Werte der Blutzellen wieder ansteigen. Auch die folgenden Tage bessert sich das Blutbild nicht. Der Oberarzt vermutet jedoch, dass die Stammzellen dann in den nächsten Tagen doch noch anwachsen würden und dann könne man dem Patienten auch das Thalidomid wieder geben. Die fehlende Eigenblutbildung wird regelmäßig durch Thrombozytenund Erytrozytenkonzentrate substituiert. Während der Visite am Freitag formulieren die Ärzte vor dem Patientenzimmer ihr Misstrauen, ob bei dem Patienten die Blutbildung überhaupt noch einmal in Gang komme. Dr. Merkel bemerkt, dass es nun eigentlich wichtig sei, den Patienten über seine Lage aufzuklären. Ein solches Gespräch könnte jetzt aber nur in Absprache mit dem Oberarzt geführt werden und dieser würde jetzt sicher sagen, dass man weiter abwarten solle: Freitag, 23.11. 8:40 Visite (auf dem Gang) Dr. Merkel: Was machen wir jetzt mit Mertelsmann? Da wächst doch nichts an ... das Mephalan hat er jetzt vor vier Wochen bekommen [Mephalan ist ein Standardchemotherapeutikum für die Lymphombekämpfung]. [...] Dr. Merkel: Die Frage ist jetzt, wie geht es weiter ... wir müssen einen Plan machen mit ihm ... dann ihm sagen „die Zellen kommen nicht” und dann muss man mit ihm reden „Sie haben jetzt noch zwei bis drei Monate” und dann braucht er nicht im Krankenhaus seine letzten Tagezu verbringen und dann morgens 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 331 so Gesichter wie uns zu sehen ... wenn wir mit ihm jetzt in der Form reden, müssen wir das jetzt bloß von Dr. Krause absegnen lassen, aber der sagt dann sicher „warten auf die Zellen”, aber K und K, Dr. Krause und Konzept ... das geht nicht zusammen. Die zugespitzte klinische Situation des Patienten lässt bei Herrn Merkel die Frage aufkommen, ob der geschlossene Bewusstheitskontext nicht doch in Richtung einer umfassenden Patientenaufklärung geöffnet werden sollte, so dass der Patient zumindest noch die Chance habe, außerhalb des Krankenhauses seine letzten Tage zu verbringen. Der Verweis auf die Autorität des Oberarztes, der ein solches Gespräch abzusegnen habe, hebelt den unmittelbaren Aufklärungsimpuls wieder aus. Da aber auch keine diesbezügliche Anweisung (ein »Konzept«) zu erwarten ist25, verzichtet man lieber auf die ausführlichere Aufklärung über die klinische Situation. Der Kommunikationsrahmen bleibt diesbezüglich diffus, d.h., es scheint besser, sich erst mal nicht festzulegen. Auch hier wird von den Stationsärzten wieder die Oberarztentscheidung bzw. -reaktion vorweggenommen. Man handelt diesbezüglich in vorauseilendem Gehorsam, ohne auch nur ein Wort mit ihm über das diesbezügliche Problem geredet zu haben. Die Verantwortung für die Aufklärung wird hier dem Oberarzt zugeschoben, ohne sie ihm jedoch real zuzuweisen, d.h. von ihm einzufordern. Systemisch betrachtet fahren die Stationsärzte hier eine doppelte Konf liktvermeidungsstrategie: Über die virtuelle Attribution der diesbezüglichen Entscheidungslast an den Vorgesetzten muss sich weder mit dem Patienten noch mit dem Oberarzt über diese prekären Fragen auseinandergesetzt werden. Im Patientenzimmer treffen die Ärzte Herrn Mertelsmann in einem sehr erschöpften Zustand an. Dr. Kringe bemerkt zum Patienten, dass heute wohl nicht sein Tag sei und dass sein Zustand anscheinend von Tag zu Tag wechseln würde. Im Arztzimmer sprechen die Stationsärzte nochmals über die Aufklärung des Patienten. Dr. Kringe meint, dass er diesbezüglich noch etwas abwarten würde. Dr. Merkel hingegen erklärt, dass man normalerweise immer zu lange abwarte. Am Wochenende habe er dann doch noch den Oberarzt auf die Aufklärung angesprochen. Wie erwartet, hätte dieser mit “warten, bis die Zellen kommen” geantwortet. Tatsächlich scheint der Spiegel der Blutzellen mittlerweile langsam zu steigen. Jedoch parallel zu diesem Fortschritt zeigt sich eine dramatische Progredienz des Krankheitsbildes. Zudem sind in den Röntgenbildern die Anzeichen für eine beginnende Lungenentzündung zu sehen. Die explizite Aufklärung des Patienten findet nicht statt; auch der Oberarzt lässt sich für eine diesbezügliche Initiative nicht gewinnen. Entsprechend stehen im Behandlungsalltag die stationsüblichen Routinen im Vordergrund. Ärztliches Handeln konzentriert und beschränkt sich weiterhin darauf, die Laborwerte zu überwachen und die Infektionen in den Griff zu bekommen. Wenngleich die Ärzte untereinander nicht mehr von einer Heilung ausgehen, wird dem Patienten gegenüber ein kurativmedizinischer Rahmen inszeniert. Während der Visite erzählt die Ärztin im Praktikum dem Patienten freudig, dass die Zellen nun jetzt endlich wieder kommen würden. Dem Patienten ist jedoch nicht nach Feiern zumute. In einem kurzen Gespräch über den geplanten Umzug in eine kleinere Wohnung macht Herr Mertelsmann deutlich, dass seine Frau und er längst schon für die Zeit nach seinem Tod planen. Dr. Merkel tastet die Lymphome ab und bemerkt, dass bald wieder mit dem Thalidomid angefangen werden solle. Der Patient bemerkt daraufhin, dass seine Frau sich riesig freue, dass er bald mal wieder nach Hause komme. Die Ärztin im Praktikum bemerkt zum Abschluss, dass der Patient sich auch noch bei der Strahlentherapie vorstellen solle, da die Thalidomid-Therapie wohl noch etwas länger brauche, bis sie anschlagen würde: 332 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Dienstag, 27.11. Visite (im Patientenzimmer) Ärztin im Praktikum (zu Herrn Mertelsmann): Wie geht es Ihnen? Patient: Gut (wirkt freudig und sitzt auf dem Bett). Ärztin im Praktikum: Haben Sie es schon gehört? 0,5! Patient: Ja, 0,5. Ärztin im Praktikum: Ist dann keine statistische Abweichung, die Zellen kommen jetzt. Patient: ... dann können wir ja diese Woche Möbel kaufen gehen. Ärztin im Praktikum: Ein bisschen werden Sie noch bleiben müssen ... Patient: Ich weiß ... aber wir ziehen jetzt um ... von Lichtenrade nach Lichterfelde ... die Wohnung ist dann 500 Mark billiger ... wenn dann mal meine Frau alleine ist, kann sie das ja gar nicht mehr finanzieren (Patient erzählt über das Umbauen der Wohnung und Details darüber, wie das Bad eingerichtet werden soll ...) aber der Umzug ist dann erst im März ... Ärztin im Praktikum: Aber mit den Zellen, dann werden Sie ja bald wieder nach Hause können ... eigentlich sollten wir ja jetzt ein Fest feiern. Patient: Nach Feiern ist mir nicht zumute ... (Die Ärztin im Praktikum schaut auf den Kopf, tastet die Lymphome.) Dr. Merkel: Müssen wir jetzt bald mit dem Thalidomid ... Patient: Da wird sich meine Frau riesig freuen, dass ich bald mal wieder nach Hause komme ... Ärztin im Praktikum: Müssen wir wegen dem Kopf noch mal bei der Strahlentherapie vorstellen ... dass mit dem Thalidomid braucht dann auch länger ... Patienten- und Arztperspektive scheinen hier im Gespräch deutlich zu divergieren. Der Patient möchte sich nicht vom Optimismus der jungen Ärztin anstecken lassen. Möbelzu kaufen und umzuziehen heißt für ihn nicht mehr, ein Leben vor sich zu haben, sondern seiner Frau ein geregeltes Leben ohne ihn zu ermöglichen. Hinter dem geschlossenen Bewusstheitskontext der Ärzte offenbart sich hier das Wissen, dass das Leben nicht mehr lange währen wird. Entsprechend ist ihm nicht zum Feiern zumute. Das, was noch bleibt, ist die Freude der Frau, ihren Mann noch mal zu Hause zu haben. Das Ehepaar scheint entgegen der Aktionismen der Ärzte schon längst damit zu rechnen, dass eine Heilung nicht mehr zu erwarten sei. Auf einer tieferen Ebene besteht die Divergenz der Perspektiven jedoch nicht – auch die Ärzte wissen um den Zustand des Patienten – dennoch wird das „Spiel der Hoffnung” weitergespielt. Die inhärente Logik medizinischer Hochleistungsinstitutionen verlangt, „an den Erfolg zu glauben”, zumindest sich auf ihn als Ziel hin ausrichten zu müssen. Zweifel können und dürfen zwar aufkommen, bestimmen jedoch nicht den Entscheidungsrahmen. Äußerlich bleibt der medizinische Rahmen mit der Perspektive auf Heilung oder zumindest Linderung im Vordergrund, während die Frage des würdigen Sterbens hier nicht offen, sondern nur implizit verhandelt werden kann. In diesem Täuschungsspiel entfalten sich komplexe Muster von Erwartungen und Erwartungserwartungen. Die Stationsärzte glauben, dass man diese Fragen bei dem Oberarzt nicht ansprechen könne. Patient und Stationsärzte erwarten, dass die jeweils andere Partei nicht in ihren Hoffnungen enttäuscht werden wolle. Hieraus entfaltet sich eine eigentümliche - in medizinischen Einrichtungen durchaus übliche - Dialektik von Wissen und Nicht-Kommunikation dieses Wissens. Wenngleich sich die Beteiligten - wie auch in diesem Fall - hinsichtlich ihrer Werthaltungen darüber einig sind, dass es jetzt im Sinne eines guten Restlebens am besten wäre, die verbleibende Lebenszeit eher zu Hause mit der Familie denn im Krankenhaus zu verbringen, geschieht im Krankenhaus weiterhin „business as usual”. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 333 Der Oberarzt betont bei seiner Visite am folgenden Tag nochmals, dass man mit der ThalidomidTherapie so lange warten solle, bis die Stammzellen regeneriert seien. Während der Chefarztvisite am folgenden Donnerstag erklärt die junge Ärztin, dass Herr Mertelsmann fast siebenunddreißig Tage aplastisch gewesen sei und dass man ihm die Zellen wieder zurückgegeben habe. Der Chefarzt spricht daraufhin den Patienten an und bemerkt, dass bei ihm die Sache wohl auch nicht so leicht gewesen sei und dass an der Stelle, wo jetzt sein Kopf bestrahlt werde, jetzt die Haare ausfallen würden. Die folgenden Tage zeigen die Laborwerte einen weiteren Anstieg der Zellen an. Am Freitag fällt auch das Fieber. Dr. Merkel bemerkt auf der morgendlichen Visite, dass jetzt nun noch einmal das Antibiotika gegeben werden solle und der Patient dann schließlich am Dienstag nach der Thrombozytentransfusion wieder nach Hause gehen könne. Zudem werden einige Details zur ambulanten Weiterbetreuung besprochen. Am Dienstag der folgenden Woche wird der Patient schließlich wie geplant entlassen. Dr. Kringe betont während der Abschiedsvisite nochmals, dass es wichtig sei, dass der Patient zweimal in der Woche zur Ambulanz komme, zumal jetzt auch die Thalidomidtherapie angeleiert werden müsse. Herr Mertelsmann bekommt zur Entlassung den Arztbrief überreicht. Dort ist der Therapieverlauf dokumentiert und das geplante weitere Prozedere festgehalten. Knapp zehn Tage später wird Herr Mertelsmann erneut auf die Station eingewiesen. Die Lymphome breiten sich aus und greifen die Knochen an. Aufgrund des hierdurch bedingten erhöhten Kalziumspiegels kommt es zu massiven neurologischen Beschwerden. Während der Visite am nächsten Morgen geht es dem Patienten schon etwas besser. Der Patient fühlt sich jedoch noch nicht in der Lage, entlassen zu werden. Die Computertomografie des Kopfes zeigt gegenüber dem Vorbefund neue »extraosäre Manifestation des Plasmazytoms mit Arrosionen der Tabula externa und Vorwachsen nach extra- und intracraniell links frontal«. Der Oberarzt überlegt, ob man angesichts des schlechten Befundes nicht jetzt doch mit der Thalidomid-Therapie anfangen solle: Donnerstag, 13.12. 11:10 (im Stationszimmer) Oberarzt Prof. Krause: Was ist mit Mertelsmann? Dr. Merkel: Der hatte eine Hyperkaliämie ... der Knochen wächst ja jetzt auch nach innen ... Prof. Krause: Wie sind die Zellen ... Dr. Merkel: ... auch nicht so berauschend ...[nennt die Zahlen] Prof. Krause: Jetzt die Frage, ob man ihm in seinem Zustand nicht doch dann Thalidomid ... Am Freitag spricht Dr. Merkel in der Visite nochmals ausführlich mit Herrn Mertelsmann über seinen aktuellen Zustand. Der Patient fühlt sich sehr erschöpft. Der Arzt erklärt, dass er gerne nochmals mit seiner Frau reden möchte. Nach dem Verlassen des Patientenzimmers erklärt Dr. Merkel, dass er nun mit der Thalidomid-Therapie anfangen und diesbezüglich den Oberarzt in Kenntnis setzen werde. Es bestehe nun keine andere Chance mehr für den Patienten: Freitag 14.12. 10:20 Visite (auf dem Gang) Dr. Merkel: Ich fange jetzt an mit dem Thalidomid und setze Dr. Krause in Kenntnis. Keine andere Chance. Am Nachmittag wird im Arztzimmer mit dem Oberarzt die Situation von Herrn Mertelsmann besprochen. Dr. Merkel bemerkt, dass er das Thalidomid jetzt angesetzt habe und stellt die Vermutung an, dass der Patient bald sterben werde. Der Oberarzt bemerkt, dass dies durchaus sein könne. Der Stationsarzt hakt nach und fragt, ob denn in diesem Falle eine Reanimation 334 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse unterbleiben solle. Der Oberarzt antwortet, dass der Patient nicht auf die Intensivstation verlegt werden solle. Die Hyperkaliämie solle jetzt jedoch weiter behandelt werden und außerdem bestünde jetzt immerhin eine Chance von 30%, dass die neue Therapie ansprechen würde: 15:00 Arztzimmer Dr. Merkel: Herrn Mertelsmann geht es nicht gut ... haben jetzt ein MRT ... er ist jetzt manchmal richtig durch den Wind ... obwohl die Hyperkaliämie jetzt runter ist ... habe jetzt das Thalidomid angesetzt ... ich denke er stirbt jetzt bald. Prof. Krause: Kann sein. Dr. Merkel: Frage ist „jetzt keine Rea?” Prof. Krause: Keine 04 [Kurzbezeichnung der Intensivstation] ... jetzt dann die Blutprodukte substituieren ... [...] Prof. Krause: Jetzt die Hyperkaliämie ... trotzdem die Diurese weiter durchführen ... [...] mit dem Thalidomid ist jetzt eine Chance von 30%, dass er partiell anspricht ... [weiteres Gespräch über die Medikation]. Ärztliches Handeln scheint hier nun endgültig an seine Grenzen zu gelangen. Die Möglichkeit des baldigen Sterbens wird nun offen angesprochen. Entsprechend der offensichtlichen Nähe zum Tode brauchen nun die Pro und Contra der experimentellen Thalidomid-Therapie nicht mehr weiter debattiert zu werden. Man kann hier medizinisch nicht mehr viel falsch machen. Entsprechend wird die diesbezügliche Therapieanordnung des Stationsarztes nicht mehr in Frage gestellt. Da eine rasche Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht unwahrscheinlich ist, muss nun ein Konsens darüber hergestellt werden, wie weit man jetzt noch gehen wolle. Entsprechend des Alltags einer onkologischen Station – man ist hier mit dem Sterben vertraut - wird diese Frage in routinierter Form geklärt. Durch die Benennung von Kürzeln wird die Hierarchie der Behandlungsoptionen abgetastet. Eine Reanimation auf der Station ist nicht ausgeschlossen – die Nichtbeantwortung der Frage legt die Verantwortung hierfür in die Hände der jeweils anwesenden Stationsärzte. Die Verlegung auf die Intensivstation soll aber unterbleiben. Innerhalb weniger Sekunden ist die Frage des Umgangs mit dem Sterben verhandelt. Der Tod ist ein Vorkommnis, das behandelt, nicht jedoch weiter diskutiert zu werden braucht – entsprechend schnell kann man wieder zum medizinischen Alltagsgeschäft übergehen. Ein paar Tage später geht es dem Patienten deutlich besser. Die Beule, durch das Lymphom verursacht, ist sichtbar kleiner geworden. Dennoch wollen die Ärzte mit der Entlassung noch etwas warten, da die Kalziumwerte noch recht hoch sind. Auf der Visite spricht Herr Mertelsmann von sich aus die Sache mit dem Rauchen nochmals an. Der Patient erklärt, dass ersich abends immer unruhig fühle und dass er, wenn seine Gedanken kreisen würden, lieber dann doch zu den anderen raus zum Rauchen gehen wolle. Die Ärztin im Praktikum antwortet daraufhin, dass dies alles vollkommen in Ordnung sei. Gegen Ende der Visite fragt der Patient, ob er denn abends mal ein Bier trinken dürfe. Die Ärztin stimmt dem Anliegen wohlwollend zu. Im Arzt-Patient-Gespräch wird hier wieder die routinierte Normalität des Stationsalltags aufgeführt – es geht um die richtige Medikation, um die Frage, ob man als Patient Alkohol zu sich nehmen dürfe, und die Schwierigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören. Die Bemerkung des Patienten, dass er nachts immer so grübele, wird „wissend” zur Kenntnis genommen. Worüber die Gedanken kreisen, darüber lassen sich angesichts der Lage von Herrn Mertelsmann Vermutungen anstellen. Konkretes wird hier von der Stationsärztin nicht weiter eruiert. Der Schein, dass schon alles in Ordnung ist, bleibt gewahrt. 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 335 Mittags erzählt die junge Ärztin dem Beobachter von einem Gespräch mit Herrn Mertelsmann und seiner Frau, dass sie vor einigen Tagen geführt habe. Dort hätte der Patient gesagt, dass er genau wüsste, dass er nicht mehr lang zu leben habe. Mittlerweile habe sie den Patienten richtig ins Herz geschlossen, da sie ihn jetzt schon lange kenne. Allerdings könne man jetzt nicht immer über den Tod reden - dies würde „der” ja auch gar nicht aushalten können. Den folgenden Tag scheint es Herrn Mertelsmann etwas besser zu gehen, wenngleich das Blutbild immer noch schlechte Werte zeigt. Der Oberarzt fragt sich im Gespräch mit der Ärztin, ob die Thalidomid-Therapie jetzt das Blutbild beeinflusst habe, schließlich sei die Sache mit der Beeinflussung der Vaskularisation im Knochengewebe nur eine hypothetische Überlegung gewesen. Außerdem sei der Patient ja immunologisch sowieso ein Wrack. Während der anschließenden Visite erklärt die junge Ärztin dem Patienten, dass gleich noch der Sozialdienst vorbeikomme, damit es jetzt auch mit der Pflegestufe weitergehen würde. Am Freitag schließlich wird der Patient entlassen. Entsprechend den Äußerungen der jungen Ärztin schien es ihm besser zu gehen. Eine Woche später berichtet die Ärztin während einer Kaffeepause ihren Kollegen, dass sie was Erfreuliches zu berichten habe: Herrn Mertelsmann würde es sehr gut gehen. Er habe das Thalidomid sehr gut vertragen und seine Beule am Kopf sei kleiner geworden. Ein wenig später kommt Frau Mertelsmann auf die Station, um Medikamente für ihren Mann abzuholen. Sie berichtet, dass ihr Mann sich entgegen der im Beipackzettel beschriebenen Nebenwirkungen des Thalidomid – sehr wach fühle und abends nochmals aufstehe. Die Ärztin antwortet, dass dies doch gut sei. Anschließend erklärt die Ärztin dem Beobachter, dass das Thalidomid eigentlich als Medikament für diese Tumorart nicht zugelassen sei. Es könne dem Patienten jedoch über compassionate use26 gegeben werden. Bei manchen Tumoren würde es ganz gut wirken, bei anderen jedoch nicht. Warum das so sei, wisse man nicht. Orientierungsrahmen: Konfliktvermeidung durch geduldiges Abwarten Der Übergang von der Kuration zur Palliation wird hier stillschweigend vollzogen. Herr Mertelsmann kann wieder nach Hause und hat ein paar Tage, vielleicht auch Wochen oder Monate an Lebenszeit gewonnen. Das Sterben, wenngleich im Arzt-Patient-Kontakt scheinbar nicht vorkommend, da nur rudimentär verhandelt, findet implizit auf der onkologischen Station doch seinen Raum. Der Patient kann das Spiel der Hoffnungen spielen, kann aber auch wissen, ahnen und prüfen, dass auch die anderen wissen, wie es um ihn steht – und dass er in diesem Wissen und der antizipierten professionellen Vertrautheit mit dem Prozess des Sterbens immerhin auf der Station aufgehoben ist. Es scheint hier auch etwas „Familiäres” zu geben. Man kennt sich, die Frau holt die Medikamente, aber auf die expliziten Inhalte der ärztlichen Entscheidung skommunikation scheint dies zunächst keinen Einfluss zu haben. Der (vorherrschende) Rahmen bleibt medizinisch, was jedoch nicht bedeutet, dass auf der Hinterbühne auch anderes geschieht. Auf der Handlungsebene vollzieht sich hier auch Sterbebegleitung – kommunikativ wird dieser Prozess jedoch nicht thematisiert. Der Verlauf des ärztlichen Entscheidungsprozesses lässt sich vielleicht am ehesten als durch ein Muster der Konflikt- und Entscheidungsvermeidung charakterisieren. Im „vorauseilenden Gehorsam” phantasieren die Stationsärzte, was der Oberarzt denken würde und vermeiden es entsprechend, die ihnen offensichtlichen Probleme auf der Leitungsebene anzusprechen und 336 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse warten stattdessen erst einmal ab. Man rechnet damit, dass die diesbezüglichen Verantwortlichen nicht entscheiden wollen. Dieses Muster – diese Zurechnung - zeigt sich hier auf verschiedenen Ebenen: etwa in der Frage, ob man dem Patienten die Zellen wiedergeben, oder ob man ihn nun über seinen prekären Gesundheitszustand aufklären solle. Selbstreferenziell entsteht hier systemisch und habituell das Muster der Konfliktvermeidung durch geduldiges Abwarten. Die jungen Ärzte – wenngleich hier wohl auch überfordert – können die Probleme nicht wie in den Beispielen der anderen Stationen - durch Auslagerung des Patienten lösen, denn die universitäre Onkologie stellt die Endstation einer oftmals langen Kette von Behandlungsversuchen dar. Es gibt jetzt nichts mehr, wohin man den Patienten noch zur Behandlung überweisen könnte. Man kann kein besseres medizinisches Rational mehr anbieten. In diesem Sinne muss das Problem – die implizite Überforderung - ausgehalten werden. Die Spannung des „watch and wait” scheint für die Stationsärzte in diesem Fall kaum mehr aushaltbar, und in diesem Sinne scheint es durchaus verständlich, wenn der Stationsarzt aktionistisch aus der Stationsordnung ausbricht und ohne Abstimmung mit dem Oberarzt die Thalidomid-Therapie verordnet. Der Oberarzt nimmt jedoch dem spontanen Aktionismus den Stachel. Die Entscheidung wird revidiert und stattdessen ist wieder aufmerksames Abwarten angesagt. In der Aufklärungsfrage erscheint für die jungen Stationsärzte die nächste Krise. Doch auch hier gewinnt der stationsübliche Habitus, den die jungen Ärzte noch nicht verinnerlicht haben, überhand. Der Übergang von der Kuration zur Palliation geht ruhig – ohne Worte zu verlieren - vonstatten. Auch hier scheint im „Abwarten” die Lösung zu bestehen, dabei Konflikte zu vermeiden und existenziellen Fragen ausweichen zu können bzw. diese zumindest nicht unnötig zu forcieren. Und irgendwann wird der Patient – wie auch hier geschehen – die wesentlichen Dinge von sich aus ansprechen. Entsprechend gebietet es sich, auch hier nicht allzu viel Hektik zu machen. Im Gegensatz zu vielen Fällen, in denen ein Patient dann doch am Ende eines gescheiterten Behandlungszyklus verstirbt, tritt in diesem Fall zudem noch eine medizinische Wende ein, die doch noch etwas mehr an Lebenszeit verspricht. Dies lässt diesen Fall als kontrastives Beispiel besonders aufschlussreich erscheinen, denn hier wird die innere Plausibilität der Eigenlogik einer eingespielten onkologischen Abteilung demonstriert: Man sollte eben nicht zu schnell seine Schlüsse ziehen, nicht voreilig die Todesstunde verkünden und nicht allzu leichtfertig in irgendwelche Aktionismen verfallen. Die vorsichtige und abwartende internistische Haltung rechtfertigt sich in solchen – gleichsam paradigmatischen - Fällen aus sich selbst heraus. So wie der chirurgische Aktionismus für sich spricht – zumindest die Operationen können in der Regel erfolgreich durchgeführt werden – zeigt sich auch hier eine in sich durchaus plausible ärztliche Grundhaltung in der Entscheidungsfindung. Selbstverständlich bleibt auch hier der Patient (oder seine Angehörigen) außen vor, sie werden nicht wirklich in den medizinischen Entscheidungsprozess mit einbezogen. Komparative Analyse: weiche Psychosomatik – harte Onkologie Zwischen universitärer Psychosomatik und universitärer Onkologie zeigen sich über die Gemeinsamkeit der steilen Hierarchien hinweg einige deutliche Unterschiede, die hier vermutlich soziogenetisch auf die unterschiedlichen disziplinären Spezifika zurückzuführen sind. Der Psychosomatik fällt es aufgrund ihrer fachlichen Unschärfe leichter, Inkompetenz zu verdecken. Dass eine Station nur von Ärzten im Praktikum geführt wird, scheint in der Onkologie weniger leicht möglich. In der Psychosomatik bestehen etablierte Auslagerungsroutinen: Man kann das 1. Medizinisch komplexe Fallproblematiken 337 Problem an den Patienten reattribuieren – der ist eben noch nicht therapiewillig -, man kann es in die Psychiatrie auslagern – er ist nicht therapiefähig-, und zudem kann man schließlich noch auf das Organische rekurrieren – dann ist der Patient eben ein Fall für die Chirurgie, die Neurologie, etc. Solche Bewältigungsstrategien sind der Onkologie allein schon dadurch verbaut, dass diese Disziplin die therapeutische Endstation darstellt – wo sonst kann der Patient behandelt werden, wenn nicht hier? Es ist zu vermuten, dass die Psychosomatik als „weiche” Wissenschaft, ähnlich wie die Psychiatrie, besonders prädestiniert, in den Diagnosen eine gewisse Willkür walten zu lassen. Um diese Befunde mehr abzusichern, wären hier weitere psychosomatische, onkologische ggf. psychiatrische Abteilungen als Vergleichshorizonte hinzuzuziehen. (g) Zusammenfassung, zugleich abschließende komparative Analyse Die Verhandlungen der vorgestellten Entscheidungsprozesse in den jeweiligen ärztlichen Teams stellen sich dabei als ein kompliziertes soziale Gebilde dar, in denen Verantwortlichkeiten verteilt, verschoben und (re-)attribuiert werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen in der Regel die Stationsärzte. Ihnen obliegt es, zwischen Angehörigen-, Patienten- und Organisationsinteressen eine Mitte zu finden, in der nicht nur die eigene ärztliche Identität, sondern auch die Identität medizinischer Organisationen reproduziert wird. Die Fähigkeit, die Last der Verantwortung zu schultern, aber auch wieder reattribuieren zu können, gehört zum entwickelten ärztlichen Habitus. Oder anders herum: Für die Medizin bleibt die Krankheit des Patienten - wider alle organisatorischen und ökonomischen Zwänge - instruktiv. Die diesbezüglichen Entscheidungslasten können nicht abgewiesen, sondern nur überwiesen werden. Entwickelte ärztliche Kompetenz heißt, dies auch unter Bedingungen von Ambivalenz und Unsicherheit leisten zu können. In den Fallbeispielen zeigen sich unterschiedliche Modi der Entscheidungsfindung – die sich, wie die Analyse aufzeigt- soziogenetisch unter folgender Typik subsumieren lassen: − Chirurgisch-aktionistischer Entscheidungsmodus vs. internistisch abwartender Entscheidungsmodus − Organisatorisch-ökonomische Grenzen vs. Kompetenzdefizite im Team Der Fall Spondel aus der inneren Medizin eines Allgemeinkrankenhauses steht für die organisatorische Überforderung in einem internistischen Entscheidungsmodus. Wenngleich fachlich kompetent, kann das Krankenhaus aus ökonomischen Gründen die Weiterbetreuung nicht mehr leisten. Strategisch wird hier einerseits versucht, Zeit zu gewinnen, andererseits wird angestrebt, den Patienten durch Auslagerung in andere Einrichtungen versorgt zu wissen. Gegenüber dem Abwarten der Internisten zeigt sich in den chirurgischen Fällen ein aktionistischer Entscheidungsmodus. Wenngleich im Behandlungssystem durchaus auf eine Reihe fachärztlicher Entscheidungskompetenzen zurückgegriffen werden kann, zeigt sich innersystemisch hier ein anderer Modus der sozialen Herstellung von Entscheidung. Die Entscheidung für den heroischen Eingriff wird personalisiert. Es muss entsprechend jemand gefunden werden, dem man die Entscheidungslast zuschieben kann. Die Entscheidung muss hier sozusagen erst hervorgelockt werden. Im Fall Schmidt-Bauer „provoziert” die innersystemische Dynamik den Chefarzt, auf den Fall anzuspringen, um dann schließlich die Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen. „Verschieben der Verantwortungslast bei heroischem Aktionismus” könnte man diesen Entscheidungsmodus nennen. Im Fall von Herrn Wusel gelingt es mit dem Rekurs auf einen 338 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse externen Entscheidungsträger, die Verantwortung für die Entscheidung abzuweisen, wenngleich das Chirurgenteam selbst die Operationsindikation für fraglich hält. Der Entscheidungsmodus lässt sich hier durch „Handlungsorientierung bei Entscheidungsvermeidung” charakterisieren. Gegenüber den Stationen der städtischen Krankenhäuser zeigt sich in der universitären Psychosomatik ein deutliches Kompetenzdefizit im Team. Da kaum fachärztliche Kräfte in die Stationsarbeit involviert sind (hier nur in der Person des Oberarztes), muss das Behandlungssystem entsprechende Strategien im Umgang mit den belastenden hyperkomplexen Fällen entwickeln. Sowohl im Fall Beckenbauer wie auch im Fall Siegel finden sich Suchbewegungen, den Patienten ohne Gesichtsverlust „unbehandelt” entlassen zu können. Die Bestrebungen zur „Auslagerung aufgrund fachlicher Überforderung” prägen die Dynamik der Entscheidungsprozesse. Im Fall Beckenbauer wie im Fall Siegel geschieht dies, indem die Entscheidung über die Aufnahmediagnose wiederholt als kontingent gesetzt wird; im ersten Beispiel dadurch, dass versucht wird, die Chirurgie als Medium der Depressionsbehandlung zu gebrauchen, im zweiten durch das Einbringen der Patientin in das hoch virtualisierte Entscheidungsgremium der psychiatrischen Fallkonferenz. Wenngleich auch in der universitären Onkologie die Stationsärzte mit dem Fallgeschehen überfordert scheinen, zeigt sich hier ein anderer Entscheidungsmodus – denn die Auslagerung der anvertrauten Patienten kommt hier nicht mehr in Frage. Als Orientierungsrahmen für die Problemlösung erscheint hier eher die „Konfliktvermeidung durch geduldiges Abwarten”. Hier zeigt sich einerseits wieder ein typisch internistischer Handlungsmodus, in der Typik tauchen hier dann wieder strukturelle Parallelen zum Fall Spondel auf, andererseits zeigen sich Homologien zur universitären Psychosomatik. Den grundlegenden Konflikten – sei es in der Frage der Aufklärung oder in der Entscheidung, ob man nun von einem palliativen zu einem kurativen Therapieregime wechselt – wird hier auszuweichen versucht. Die hier vorgestellten Entscheidungsprozesse finden einerseits immer auch in einem rechtlich-legitimatorischen Rahmen statt – die prekären Entscheidungen innerhalb der komplexen Fallproblematiken müssen schließlich formal korrekt bewältigt werden -, laufen aber andererseits zugleich innerhalb der mikropolitischen Dynamik der jeweiligen ärztlichen Hierarchien ab. Ärzte müssen sich zwar nach außen absichern, prägend für ihr Handeln und Entscheiden sind aber vielmehr die innerhalb des jeweiligen Feldes geltenden impliziten Regeln. Die Entscheidungsrationalität der beobachteten Prozesse ist deshalb nicht nur Zweckrationalität, sondern auch Systemrationalität und erscheint deshalb immer auch als Beziehung zwischen ärztlichem Feld und dem von den Ärzten verinnerlichten Habitus. Letzterer erscheint auch als eine Entwicklungstypik – denn wie die Problembewältigung durch die jungen Ärzte an den Universitätsklinika zeigt, kann der jeweils für die Fachdisziplin übliche Habitus nicht vorausgesetzt werden, sondern muss erst ausgebildet werden. Sowohl der jeweilige ärztliche Habitus als auch die hier herausgearbeiteten Systemrationalitäten lassen sich dabei nicht im Sinne von intentionalen Handlungsmotiven begreifen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die hier agierenden Ärzte die Absicht haben, einen Patienten auszulagern, einen Konflikt zu vermeiden, aktionistisch anstelle abwartend zu reagieren etc. Vielmehr agieren die Betroffenen in einem Geflecht wechselseitiger Erwartungserwartungen und Attributionen (man denke hier etwa an das Gedankenlesen der onkologischen Stationsärzte) und habituellen Dispositionen (hier etwa die Angst der chirurgischen Fachärztin vor der Auseinandersetzung mit ihrem Chef), die ihrerseits schon struktur- bzw. systembildend wirken, ohne dass überhaupt jemals eine diesbezügliche Absicht oder Intention vorausgesetzt werden muss. 2. Behandlung palliativer Patienten 339 Innerhalb der oftmals langwierigen Behandlungs- und Entscheidungsprozesse können vielfältige „Umrahmungen” bzw. „Falschrahmungen” („misframings”) stattfinden, um - gleichsam einer Suchbewegung - einen professionell befriedigenden Mittelweg zwischen dem Ärztlich-Fachlichen, dem Ökonomisch-Administrativen und den jeweiligen organisatorischen Bedingungen finden zu können. Zumindest im Arztbrief jedoch wird abschließend eine einheitliche Logik präsentiert, die formal dem administrativen Rahmen entsprechen muss und aus der die soziale Dynamik des abgelaufenen Entscheidungsprozesses getilgt ist. Ärztliches Handeln muss immer auch den administrativen und juristischen Ansprüchen gerecht werden. Da die ärztliche Logik der Praxis nicht unbedingt mit der Logik formal juristischer Legitimationen übereinstimmt, werden innermedizinisch oftmals mehr oder weniger komplexe Arrangements entfaltet, in denen dann interaktiv Wirklichkeiten inszeniert werden, die zumindest formell den unterschiedlichen Rahmen entsprechen. 2. Behandlung palliativer Patienten In diesem Unterkapitel werden die Entscheidungsprobleme während der Behandlung palliativer Patienten ausführlicher betrachtet. Diese Patienten sind wegen einer mehr oder weniger dramatischen medizinischen Indikation auf die Station eingewiesen worden. Medizinisch scheint den Ärzten der Fall mehr oder weniger eindeutig: Die Patienten können nicht mehr geheilt werden. Kurz oder mittelfristig werden sie an ihrer Krankheit sterben. Im Sinne der kassenärztlichen Finanzierungslogik sind diese jedoch nicht auf einer Akutstation zu behandeln, denn man kann ihnen keine sinnvolle Therapie mehr anbieten27. Auch hier erscheint wieder der Grundkonflikt zwischen dem ärtzlichen Ethos, den Patienten auch im Sterben gut betreut zu wissen und der ökonomisch-administrativen Rationalität: Den Ärzten stellt sich hier die Frage, ob und wie weit man den Sterbeprozess auf der Station in diesem konkreten Fall begleitet, unter Umständen unter verdeckter sozialer Indikation. Innerhalb dieser Entscheidungsprozesse muss ein Rahmen gefunden (bzw. erfunden) werden, um in diesem Zielkonflikt eine Balance zu finden. Im Folgenden wird zunächst paradigmatisch am Beispiel von Frau Mohn, einer Patientin der internistischen Station die grundlegende Entscheidungsproblematik dieser Fälle herausgearbeitet. Im Anschluss daran folgt mit Frau Hof ein Kontrast aus der Chirurgie. Hier zeigt sich ein ähnlicher Endscheidungsmodus, jedoch mit einer etwas anderen Lagerung. Mit Herrn Brugger und Herrn Kranz, zwei Fällen aus der Onkologie, wird ein weiterer Typus der Rahmung dieser Prozesse herausgearbeitet sowie nochmals auf die Besonderheiten des universitären Behandlungssettings eingegangen. (a) Frau Mohn, Innere Medizin (Allgemeinkrankenhaus) Frau Mohn ist eine 93-jährige Frau, die mit einem Ikterus (Gelbsucht) auf die Station eingeliefert wird. Martina, seit vier Wochen als Ärztin im Praktikum auf der Station, betreut die Patientin. Die junge Ärztin schildert dem Oberarzt ihr Problem, dass die Patientin jede weitere Diagnostik ablehne. Der Oberarzt schlägt vor, die Sache bei einer Tasse Kaffee zu besprechen. Am Tisch fragt er zunächst nach dem Alter der Patientin. Die junge Ärztin antwortet ihm, worauf der 340 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Oberarzt erklärt, dass man nachvollziehen könne, mit dreiundneunzig Jahren nicht mehr in ein Krankenhaus zu wollen: Donnerstag, 20.3. Stationszimmer Ärztin im Praktikum: Habe eine neue Patientin ... hat einen Ikterus [Gelbsucht] ... lehnt aber jede Diagnostik ab. Oberarzt: Besprechen wir das jetzt in Ruhe und setzen wir uns erst mal zu einem Kaffee hin (beide setzen sich im Stationszimmer an den Frühstückstisch. Die Famulantin sowie der Beobachter setzen sich mit an den Tisch). Stationsarzt Dr. Martin (zwischendurch): ... Patient mit einem Harnweginfekt ... die Beschwerden gehen jetzt trotz Antibiose nicht weg ... (Beide sprechen kurz über den Patienten). [...] Ärztin im Praktikum: Die Patientin mit dem Ikterus ... Oberarzt: Wie alt ist die? Ärztin im Praktikum: 08. Oberarzt: Ich will ihr Alter wissen ... nicht jetzt eine Gehirnakrobatik leisten und rechnen müssen. Ärztin im Praktikum: 93 ist sie. Oberarzt: Dann kann man gut nachvollziehen, dass sie jetzt nicht in ein Krankenhaus will. Warum ist sie jetzt hier? Ärztin im Praktikum: Sie hat beim Hausarzt jede Diagnose abgelehnt ... Oberarzt: Wie ist sie jetzt hier hergekommen? Ein Zusammenbruch? Ärztin im Praktikum: Der Ikterus ist jetzt seit Februar ... der Hausarzt hat sie dann überredet. Schon zu Beginn der Sequenz deutet sich für die Ärzte ein Zielkonflikt an, denn wenn die Institution Krankenhaus im Sinne der klassischen Krankenhaussoziologie als Zweckveranstaltung zur Diagnose, Therapie, Pflege und Isolierung (Rohde 1974: 172ff.) anzusehen ist, scheint hier die Erfüllung der ersten beiden Aufgaben durch das “Nein” der Patientin in Frage gestellt. Die Abklärung der Krankheitsursache, eine der Primäraufgaben eines Krankenhauses der Maximalversorgung kann nicht mehr routinemäßig anlaufen. Als Ausgangsproblem erscheint nun eine offensichtlich kranke Patientin, die jedoch nicht nach den Regeln der Kunst prozessiert werden kann, da das Einverständnis fehlt. Der Oberarzt erklärt seine Bereitschaft, über die Sache zu sprechen, verändert jedoch zunächst den Geprächsrahmen, indem er den üblichen Arbeitsort der Ärzte (die Patientenkurven auf dem Tisch vor dem Stationszimmer) durch den Frühstückstisch eintauscht und zunächst die thematisch fremden Zwischenfragen des Stationsarztes beantwortet. Die inhaltliche Brisanz der Ausgangsfrage, die vermutlich für Martina ein ernstes Problem darstellt, tritt weiter in den Hintergrund, indem der Oberarzt durch die metakommunikative Aufforderung, das Alter der Patientin in einem von ihm gewünschten Format zu präsentieren. Martina leistet seinem Wunsch bezüglich des Kommunikationsstils Folge und korrigiert die Sprechweise. Der Oberarzt bestimmt Form und Verlauf des Gesprächs und erzeugt dabei zunächst eine inhaltliche Distanz zum Ausgangsproblem. „Verstehend” scheint er zunächst die Position der Patientin zu übernehmen. Im soziologischen Sinne kann hier jedoch nicht von einer Perspektivenübernahme gesprochen werden, denn dies würde voraussetzen, dass die Patientin ihre Perspektive zunächst einmal persönlich darlegen würde, was hier (und im weiteren Verlauf des Entscheidungsprozesses) nicht geschehen ist. Anstelle der Rekonstruktion der persönlichen Identität wird hier von einer verallgemeinerten sozialen Identität einer 93-jährigen 2. Behandlung palliativer Patienten 341 Frau ausgegangen, die hier vermutlich der Quintessenz einer langjährigen ärztlichen Erfahrung des Oberarztes entspricht. Der Nachvollzug des realen Einzelfalls bleibt hier nur eine rhetorische Suggestion, die jedoch unter den funktionalen Anforderungen des Krankenhauses, möglichst schnell entscheiden zu können, verständlich erscheint. Als eine Abkürzung zu dem aufwändigeren Weg, eine “reale” Arzt-Patient-Beziehung aufzubauen, wird hier ein Typus konstruiert, der sich etwa unter der Aussage „sehr alte Frauen, die nicht mehr ins Krankenhaus möchten, wollen sterben” subsummieren lassen. Die Frage, ob die Patientin freiwillig bzw. mehr oder weniger gegen ihren Willen gekommen ist, vielleicht aber auch Pflege anstelle von Therapie und Diagnostik erwartet, wird nicht explizit thematisiert. Diesbezügliche Fragen treten in den Hintergrund, indem hier die Grenzen zwischen Alltagsmoral und professioneller, selektiver Entscheidungsfindung verschwimmen. Wenn man versteht, braucht man eben nicht mehr nachzufragen. Die instrumentelle Entscheidungsfindung im Sinne einer “coordinated task activity” geht hier nahtlos in das Vokabular einer reziproken Alltagsbeziehung über, wobei jedoch der Rahmen der Beziehungsorientierung nur vorgetäuscht wird. Im weiteren Gesprächsverlauf werden die medizinischen Aspekte der Fallproblematik erörtert. Hypothesen über das Krankheitsgeschehen werden gebildet. Es verdichtet sich der Verdacht, dass es sich um einen Tumor handelt, der den Gallengang abdrückt: Ärztin im Praktikum: In der Sonografie zeigt sich dann in der Leber eine Gallenstauung. Oberarzt: Hypothese? Ärztin im Praktikum: Verschluss ... der oben sitzt, da sie eine kleine Gallenblase hat. Oberarzt: Was kommt jetzt als Ursache in Frage für den hoch sitzenden Verschluss? Ärztin im Praktikum: Tumor. Oberarzt: Was für ein Tumor? Farmulantin: Metastasen ... oder ein Gallengangkarzinom. Oberarzt: Der heißt jetzt Glatzki-Tumor ... ist jetzt sehr selten ... Metastasen können draufdrücken ... was könnte es noch sein? Ärztin im Praktikum: Pankreaskarzinom ... Oberarzt: Sicher, Pankreaskarzinom ... das Pankreas sitzt so (zeichnet auf ein Blatt einen Pankreas im Bauchraum) und kann den Gallengang abdrücken ... Oberarzt: Warum haben Sie jetzt nicht gesagt: Die Patientin hat einen Stein? Ärztin im Praktikum: Wäre dann eher unten der Verschluss und dann wären dann plötzlich massive Schmerzen aufgetreten ... Oberarzt: Was wollen wir machen mit der Patientin, die nicht ins Krankenhaus will? Ärztin im Praktikum: Kommt noch dazu, dass sie blutig erbrochen hat und einen Quick von 17 hat. Oberarzt: Das Wichtigste jetzt erst zum Schluss gesagt. Oberarzt: Warum könnte die jetzt einen Quick von 17 haben? [weiteres Gespräch über die Ursachen] Ärztin im Praktikum: Vitamin K-Mangel ... der kann auf fettarme Ernährung zurückzuführen sein ... oder eben jetzt wegen der Galle ... weil dann die Fette nicht abgebaut werden können ... Vitamin K. sollte man jetzt geben ... in Form von Tabletten aber besser intravenös ... Oberarzt: Warum intravenös? Weil dann sonst alles gar nicht ankommt ... jetzt welche Gefahr von Nebenwirkungen besteht, wenn wir das intravenös spritzen ... [Die zu erwartenden Komplikationen werden besprochen] Oberarzt: ... deswegen in kleinen Dosen ... Oberarzt: Und mit dem blutigen Erbrechen, was macht man jetzt da ... ? Ärztin im Praktikum: Gastroskopieren. 342 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Oberarzt: Vorher? Ärztin im Praktikum: Schallen ... Oberarzt: Warum? ... Was kann das jetzt für eine Ursache haben ... dass der Magen von unten verschlossen ist ... Pankreastumor ... [...] Oberarzt: Gut, gehen wir erst mal zur Patientin. Die folgenden Sequenzen behandeln das Problem innerhalb eines medizinisch-diagnostischen Rahmens. Es gilt, die Ursachen für das Krankheitsbild zu erschließen. Im Sinne von Goffman (1996: 52ff.) wird das Problem jedoch zunächst in einen pädagogischen Rahmen heraufmoduliert: Im Sinne eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses stellt der Oberarzt Fragen, von denen selbstverständlich davon auszugehen ist, dass er die Antwort selber weiß. Der Fall dient als Beispiel, um Differenzialdiagnostik zu lehren. Die junge Ärztin und die Famulantin werden zu Prüflingen, die ihr Wissen oder Unwissen unter Beweis stellen können. Am Ende verdichtet sich dabei die Arbeitshypothese zu einem Karzinom, möglicherweise einem Pankreaskarzinom. Nun greift der Oberarzt die Unsicherheit der ärztlichen Handlungsperspektive wieder auf, indem er die Frage der Behandlung einer Patientin, die nicht ins Krankenhaus will, an die junge Ärztin zurückgibt. Die Rahmung dieser Frage bleibt jedoch im Ungewissen. Es bleibt unklar, ob es sich um die heraufmodulierte Form eines pädagogischen “mal sehen, ob du auch weißt, was zu tun ist” handelt, oder ob die Frage als offene Anerkennung eines Dilemmas zu sehen ist, das nicht auf triviale Weise zu lösen ist und auch den Oberarzt verunsichert. In beiden Lesarten verlagert sich jedoch das Problem in Richtung der jungen Ärztin, die in beiden Fällen gefordert ist, eine Antwort zu geben. Diese reagiert auf diese Überforderung mit der Schilderung der miserablen Laborwerte der Patientin. Hierdurch wird der Handlungsdruck nochmals pointiert, denn blutiges Erbrechen sowie schlechte Blutgerinnungswerte zeugen von einer Dramatik, die bei Nichtbehandlung auch zum Tode führen kann. Der Oberarzt reagiert hierauf zunächst wieder mit einer metakommunikativen Bemerkung über den Kommunikationsstil der Ärztin und greift anschließend die medizinische Problematik des Falles im Sinne einer “Lehrvisite” erneut auf. Die ethische Frage, ob und wie eine Patientin mit schweren klinischen Symptomen, die die Diagnose verweigert, zu behandeln ist, bleibt weiterhin unbeantwortet. Die Lücke, welche durch die Frage aufgeworfen wird, wird abschließend jedoch durch einen Aktionismus geschlossen: Erst mal wird die Patientin kontaktiert. Der Arzt-Patient-Kontakt, wenngleich unverdächtig, weil per se wünschenswert, erscheint hier jedoch auch als Übersprungshandlung, die den ethischen Konflikt des Ausgangsdilemmas verschleiert. Denn das Problem einer Kranken, die nicht behandelt werden will, wird hier aus dem Diskurs der Ärzte ausgelagert. Die implizit vorhandene ethische Thematik des Ausgangsproblems wird im Beratungsgespräch durch den Oberarzt geschickt umgangen, indem dieser eine medizinische bzw. pädagogische Rahmung vorgibt. In diesem Rahmen bestehen routinierte Reflexionsformen. Für das eigentliche hier im Raum stehende Problem scheint jedoch – zumindest zu diesem Zeitpunkt - kein explizierbares Rationalisierungsmuster zu bestehen, das als Lösungsangebot plausibel vermittelt werden kann. Allein handlungspraktisch zeigt sich ein Ausweg, nämlich erst mal etwas tun und zur Patientin zu gehen. Der Oberarzt begrüßt die Patientin und untersucht sie. Die Patientin erwidert freundlich den Gruß. Dies erlebt der Arzt als Einverständnis, sie ein wenig zu untersuchen. Der Oberarzt spricht an, dass er gehört habe, die Patientin wolle nicht ins Krankenhaus. Frau Mohn bestätigt dies. Der Oberarzt betont ihr gegenüber die Tatsache, dass sie jetzt eben nun mal hier sei und verspricht ihr, sich gut um sie zu kümmern. Was dies jedoch genau bedeutet, wird von ihm nicht weiter konkretisiert: 2. Behandlung palliativer Patienten 343 Patientenzimmer Oberarzt: Guten Tag Frau Mohn, mein Name ist Dr. Schwarz, ich bin der Oberarzt. Patientin: Guten Tag, Doktor Schwarz ... sehr angenehm ... Oberarzt (untersucht die Patientin): ... ein Hämatom auf der Zunge ... und ganz ausgetrocknet die Zunge. Oberarzt: Ich habe gehört, Sie wollten nicht ins Krankenhaus ... Patientin: Ja, ich wollte nicht ... Oberarzt: Jetzt sind Sie doch hier und jetzt wollen wir uns gut um Sie kümmern. Patientin: Das ist sehr angenehm. Oberarzt (untersucht den Bauch): Eine kleine Hernie hier ... dort eine Verdickung, könnte ein Lipom sein ... Patientin: Ich brauche den Topf zum Pullern. Oberarzt: Wie bitte? Patientin: Ich brauche den Topf zum Pullern. Ärztin im Praktikum: Bringen wir Ihnen gleich. Anschließend wird im Stationszimmer darüber gesprochen, was nun weiter zu tun ist. Obwohl der Oberarzt aus seiner Situationseinschätzung heraus bemerkt, dass jede Intervention bedeutet, der Patientin »weiteres Leiden zuzufügen«, wird von ihm ein intravenöser Zugang sowie die Gabe von Vitamin K angeordnet. Darüber hinaus solle dann gegebenenfalls noch eine Magensonde gelegt werden und außerdem sei es wichtig, mit den Angehörigen darüber zu sprechen, dass die Patientin möglicherweise bald sterben werde: Oberarzt: Alles, was wir jetzt machen können, ist, weiteres Leiden zuzufügen, auch wenn wir ihr jetzt eine Magensonde legen ... trotzdem braucht sie, wenn sie weiter erbricht, eine Magensonde ... jetzt ist die Frage, wie weit wir mit ihr gehen ... auf jeden Fall braucht sie intravenös Flüssigkeit ... also einen peripheren Zugang ... diesen dann verbinden und fixieren, damit sie sich den nicht rausziehen kann ... dann Vitamin K ... dann, wenn das Erbrechen weitergeht ... noch eine Sonde ... die kann dann auch sterben ... wichtig, mit den Angehörigen zu sprechen [...]. Famulantin: Es gibt einen Sohn, jedoch ohne Telefonnummer. Oberarzt: Jetzt dem Sohn Bescheid sagen, dass sie sich verabschieden kann. Der Oberarzt scheint hier in einer selbstläufigen Handlungspraxis gefangen. Die Spannung des Ausgangsproblems bleibt erhalten, wird jedoch nun noch durch die Frage Todes angereichert. Auch wenn dem Arzt das baldige Sterben durchaus wahrscheinlich erscheint, wird von ihm ein invasiver therapeutischer Eingriff - das Einführen einer Magensonde - geplant. Der Oberarzt erscheint nun als Handelnder. Der Sinn des Ganzen bleibt kommunikativ unvermittelt. Nur Details des Handelns werden begründet, etwa dass es nötig sei, den Zugang zu fixieren, damit die Patientin ihn sich nicht selber wieder herausziehen könne. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es sich hier möglicherweise nur noch um habitualisierte Routinen handelt, für die ein zweckrationaler Begründungszusammenhang nicht besteht. Deutlich wird nun jedoch, dass jetzt gegen den vermeintlichen Willen der Patientin gehandelt wird. Auch wenn die “Patientenperspektive” von dem Oberarzt zuvor in abstrakter typologischer Form antizipiert wurde, gewinnt das medizinische Routinehandeln die Oberhand. Ein intravenöser Zugang bei Flüssigkeitsverlust, eine Magensonde bei Erbrechen und Vitamin K aufgrund der Laborwerte sind aus medizinischen Gründen indiziert, und im Rahmen des hier üblicherweise therapeutisch Angesagten bieten sich hier Anknüpfungspunkte für eine Handlungsperspektive, die sich jedoch unter Einbeziehung der vollen Komplexität des Problems - dem nahenden Tod und dem Patientenwunsch nach Nichtbehandlung - nicht mehr so stellen würde. Auch die Balance von Lebensqualität und Lebensverlängerung als eigentlichem Zweck einer medizinischen Behandlung steht hier nicht 344 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse zur Diskussion. Die medizinischen Routineprozeduren laufen gleichsam ritualisiert weiter, unabhängig davon, ob diese noch einem Behandlungszweck dienen, der hier, wenn überhaupt, nur noch vom Tode als dem Un-Ziel medizinischen Wirkens her definiert werden könnte. Beim Oberarzt zeigt sich hier eine deutliche Diskrepanz zwischen einerseits der Reflexionsebene, in der das wahrscheinliche Ableben und das vermeintliche Patienteninteresse thematisiert wird, und andererseits der handlungspraktischen Ebene, in der - wie im Folgenden deutlich wird – gerade auch die Fragen der legitimatorischen Absicherung eine wichtige Rolle spielen. Nachmittags kommen Sohn und Schwiegertochter von Frau Mohn auf die Station. Die Ärztin im Praktikum klärt die beiden über den Gesundheitszustand der Patientin auf. Sie wählt dabei vorsichtige, eher indirekte Formulierungen. Die Schwiegertochter führt das Gespräch, während der Sohn schweigend daneben steht. Die Frau erklärt, dass sie in den letzten Wochen mit der Pflege überfordert gewesen sei und dass es sie besonders belastet habe, dass Frau Mohn die ärztliche Behandlung abgelehnt habe. Abschließend bemerkt sie, dass die Patientin doch schließlich am kommenden Wochenende 93 Jahre alt würde, was dann doch wirklich ein hohes Alter sei. Während der Visite am folgenden Tag erkundigt sich der Oberarzt nach dem akuten Zustand der Patientin. Im Gespräch versucht er die Patientin zu überzeugen, einer Magenspiegelung zuzustimmen, ansonsten müsse diese das Krankenhaus verlassen. Frau Mohn gibt jedoch keine Einwilligung für die geplanten diagnostischen Eingriffe: Freitag, 21.3. 10:30 Oberarztvisite (im Patientenzimmer) Oberarzt: Hat sie erbrochen? Ärztin im Praktikum: Ja, öfters. Oberarzt: Da müssen wir jetzt eine Magensonde machen ... dann eine Sedierung machen ... 1 mg Dormikum geben und dann die Sonde legen ... wenn dann weniger als 100 ml rauskommt, dann können wir die Sonde wieder entfernen ... Oberarzt (zur Schwester): Was ist mit ihrem Zustand? Schwester: Ja, sie trinkt gerne ... bricht es aber immer wieder aus. Oberarzt: Müssen wir jetzt eine Endoskopie machen ... und ihren Magen spiegeln? Ärztin im Praktikum: Ja. Oberarzt: Wir wollen Sie untersuchen, den Magen. Patientin: Mein Magen ist gesund. Oberarzt (zur Patientin): Wir wollen Ihren Magen untersuchen. Sind Sie damit einverstanden, dass wir Ihren Magen untersuchen? Patientin: Meinen Magen untersuchen? Warum das? Oberarzt (zur Ärztin im Praktikum): Sie kann ja noch schreiben ... wäre dann das Günstigste, wenn sie dann schriftlich die Einwilligung ... können Sie sich drum bemühen ... kann dann aber auch mündlich sein. Oberarzt (zur Patientin): Wir wollen Ihren Magen untersuchen ... eine Spiegelung machen ... Sind Sie damit einverstanden? Patientin: Nein. Ich bin in Ordnung so ... Oberarzt (zur Patientin): Wie geht es Ihnen sonst hier? Patientin: Gut ... Oberarzt: Wir müssen Sie untersuchen, sonst können Sie nicht im Krankenhaus bleiben. Patientin: Schade. Oberarzt: Möchten Sie wieder nach Hause? Patientin: Nein. 2. Behandlung palliativer Patienten 345 Oberarzt: Möchten Sie sich untersuchen lassen? Patientin: Ich bin doch in Ordnung. Oberarzt: Sagen Sie mal. Was möchten Sie dann? Patientin: Ich möchte was trinken. Ein Glas Wasser. Oberarzt: Das ist ein Wort. Der Oberarzt versucht, der Patientin eine Einverständniserklärung zur gastroskopischen Untersuchung abzuringen. Jede medizinische Intervention, die den Patienten zum Objekt macht, braucht die Einwilligung des Subjektes oder eines anerkannten Stellvertreters. Das Ausgangsproblem durchkreuzt hier die habituellen Routinen des Arztes in Form von „fehlender Einsicht”. Der Oberarzt verlagert einen Teil des Problems auf die junge Ärztin. Das, was ihm nicht gelingt, nämlich die Erlaubnis für die invasive Untersuchung aus der Patientin hervorzulocken, soll ihr nun gelingen - am besten noch in schriftlicher Form. Der Oberarzt scheint sich darüber im Klaren zu sein, dass diese Untersuchung „Gewalt” bedeutet und möchte sich deshalb absichern. Die Verantwortung für die weitere Prozessierung verschiebt sich mit der Ärztin im Praktikum auf das schwächste Glied in der Kette ärztlicher Autorität. In einem weiteren Versuch, das Einverständnis für die Untersuchung zu bekommen, rekurriert der Oberarzt auf den Auftrag seiner Institution (»sonst können Sie nicht hier bleiben«). Die Patientin bedauert dies und gibt dadurch zu erkennen, dass sie dem Sinngehalt des Gesprächs folgen kann. Doch auch die Androhung, sie bei Untersuchungsverweigerung zu entlassen, lässt die Patientin keine andere Haltung einnehmen. Zum ersten Mal entwickelt sich ein Gespräch über die Bedürfnisse der Patientin. Dabei scheint sich herauszukristallisieren, dass die Patientin weder zurück nach Hause noch in irgendeiner Form invasiv behandelt werden möchte. Positiv formuliert: Sie möchte gepflegt und in Ruhe gelassen werden. Ihren Gesamtzustand empfindet sie „in Ordnung” und nicht veränderungswürdig. Die diagnostischen und therapeutischen Zweckveranstaltungen eines Akutkrankenhauses laufen bei dieser Patientin in die Leere. Begrüßt wird die Pflege, nicht jedoch die Medizin. Die Visite findet ihren dramaturgischen Höhepunkt und auch ihr Ende an dem Punkt, wo die Patientin nochmals eindringlich gefragt wird, was sie denn eigentlich möchte. Die Banalität ihrer Forderung (»ein Glas Wasser«) lässt das ärztliche Bemühen wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Die unmittelbare Artikulation von Elementarbedürfnissen zeigt, dass diese 93-jährige Frau nicht von Sinnen ist, sondern genau weiß, was sie möchte. Vor dem Patientenzimmer wird die Behandlungsstrategie erneut verhandelt. Morphium erscheint nun als die zweite Behandlungsalternative zur Fortführung der medizinischen Routineprozeduren. Schließlich geht der Oberarzt auf die Vorschläge ein und trifft eine Entscheidung für die palliative Medikation: (vor der Zimmertür) Stationsarzt Martin: Wir können jetzt aber mit ihr keine Diagnostik machen, wenn sie gar nicht will. ... Sie hat doch auch dem Hausarzt schon gesagt, dass sie nicht will. Ich würde da M. geben. Stationsärztin Dr. Reif (zum Oberarzt): Ist ja jetzt auch schwierig. Selbst wenn man jetzt diagnostisch was findet. Da kann man da jetzt auch nichts machen ... wäre dann eine Untersuchung, die sie nicht belastet ... ein Ultraschall ... und dann würde ich Morphium geben, damit sie nicht so an dem Erbrechen leidet ... ich habe dann früher bei meinen Patienten erlebt, wie die dann richtig unter Morphium aufgeblüht sind ... Oberarzt: Sie kann aber jetzt nicht bleiben, wenn sie keine Diagnostik machen lässt. Hier muss dann was passieren. Stationsärztin Dr. Reif: Ich würde da schnell den Sozialdienst ... ob sie schon eine Pflegestufe hat ... oder eine Schnellpflege einrichten ... bei so Patienten kann das dann schon sechs Wochen dauern ... 346 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Oberarzt (zur Ärztin im Praktikum): Gut dann 5 mg M. subkutan ... sechsstündig ... und dann den Sozialdienst anrufen. Ein paar Tage kann sie jetzt doch noch hier bleiben. Neben dem Vollzug der diagnostischen Routineprozeduren erscheint nun auch die Morphiummedikation als eine gangbare Lösung des Legitimationsproblems. Eine offensichtliche Indikation für Morphium besteht hier nicht - seitens der Patientin wurden keine Klagen geäußert, die Anlass für eine starke Schmerzmedikation geben. Dennoch liefert Dr. Reif, eine gerontologisch erfahrene Stationsärztin, als Begründung ein Reflexionsmuster, das auf die Befindlichkeit der Patientin rekurriert (»damit sie nicht so an dem Erbrechen leidet«). Die Ungewöhnlichkeit des Begründungszusammenhangs (Morphium bei Erbrechen) scheint dabei nicht weiter erklärungsbedürftig, denn vielmehr scheint es darum zu gehen, einen praktikablen Weg zu bahnen, wenn auch nur rituellen Charakters: Man kann nun etwas Gutes tun, wenngleich weder Indikation noch Auftrag für diese Lösung vorhanden sind. Der Oberarzt stellt explizit die Sachzwänge der Institution “Akutkrankenhaus” heraus, in der zumindest Diagnostik geschehen muss, sonst können die Patienten nicht bleiben. Organisatorische Rahmen, im weiteren Sinne als eine ökonomische Rahmung zu verstehen, treten nun in den Vordergrund. Letztere gründen besonders auf der für die Station unangenehmen Erfahrung, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen in den letzten Wochen bei vielen Patienten die Indikation für den Aufenthalt in Frage gestellt und einen Teil der entsprechenden Kostenübernahmen zurückgenommen hatte. Im Sinne der Systemrationalität argumentiert der Oberarzt hier für eine “Funktionserfüllung ohne Zweck”, denn eine sinnlose, manchmal dazu noch schmerzhafte Medizin erscheint aus der Systemlogik heraus gesehen immer noch besser als der Verzicht auf Behandlung oder Pflege. Angesichts der Sicherheit des nahenden Todes, aber der Ungewissheit der Todesstunde, antizipiert Frau Dr. Reif die Zwänge, welche entstehen, falls die Patientin noch einige Wochen weiterleben würde. Die Station drohe handlungsunfähig zu werden angesichts einer Patientin, die eigentlich sterben, aber nicht behandelt werden wolle. Die Handlungsfähigkeit kann jedoch wiederhergestellt werden, wenn es gelingt, die Patientin zu verlegen. Letzteres wird nun ins Auge gefasst. Mit der Einschaltung des Sozialdienstes und der Option der Verlegung in ein Pflegekrankenhaus scheint die Gefahr der Dauerpatientin gebannt. Das Ausgangsproblem scheint zumindest organisatorisch gelöst. Die Pflege der Patientin scheint sichergestellt, ohne dass diagnostiziert und behandelt werden muss. Diese Lösung bedeutet, den nahenden Tod zu akzeptieren. Der Oberarzt trifft gemäß seiner Rolle die endgültige Entscheidung über das weitere Vorgehen. Diese besteht aus zwei Teilen: Zunächst darf die Patientin auch ohne Untersuchung ein paar Tage bleiben. Parallel hierzu ist der Sozialdienst einzuschalten, um eine mittelfristige Perspektive außerhalb des Krankenhauses zu finden. Dieser Aspekt der Lösung erscheint sozial und human, innerhalb eines ethischen Rahmens getroffen. Der medizinisch funktionale Zweckauftrag des Akutkrankenhauses wird für einige Zeit hintangestellt, um den aktuellen Bedürfnissen der Patientin nach Pflege gerecht zu werden. Die Morphiumgabe erscheint dabei als zweiter Teil der Lösung, denn auch in dieser Entscheidung rekonstituiert sich die ärztliche Handlungsfähigkeit: Die medizinischen Helfer können nun doch noch etwas Sinnvolles tun: nämlich Leiden mindern. Dass auch hierfür seitens der Patientin kein Behandlungsauftrag besteht, und ob diese wirklich unter Schmerzen leidet und entsprechend Opiate benötigt, interessiert nicht weiter, denn die rituelle Schließung dient hier primär der funktionellen Identität der Ärzte, weniger der Realität der Patientin. Die legitimatorische Absicherung muss dabei jedoch gewahrt bleiben: (auf dem Gang) Stationsärztin Dr. Reif (zur Ärztin im Praktikum): Jetzt unbedingt in den Bericht reinschreiben: “Morphium ist indiziert wegen der Schmerzen beim Erbrechen.” 2. Behandlung palliativer Patienten 347 Frau Dr. Reif rekurriert hier auf das Problem, dass sich aus der Perspektive eines äußeren Beobachters die Morphium-Indikation nicht selbstverständlich ergibt, zumal auch im Pflegebericht keine Klagen über Schmerzen zu finden sind. Der einzige Anknüpfungspunkt, der sich ergibt und entsprechend als formale Rechtfertigung dient, ist das wiederholte Erbrechen. Entsprechend bietet sich hier ein Begründungsrahmen für die Außendarstellung an. In der Pause zwischen Visite und Röntgenbesprechung spricht der Oberarzt mit dem Beobachter kurz über die Problematik der soeben getroffenen Entscheidung und bemerkt, dass für die Morphiummedikation eigentlich keine Indikation bestehe: 11:50 Stationszimmer Oberarzt: Für das Morphium gibt es jetzt eigentlich überhaupt keine Indikation ... sie klagt ja nicht über Schmerzen ... ich wollte sie jetzt spiegeln, damit wir jetzt den Tumor entdecken, und dann haben wir eine klare Indikation für Morphium. Beobachter: Sie scheint ja jetzt auch keine Schmerzen zu haben ... habe dann mitgekriegt, dass die Schwiegertochter dann wohl eher froh ist, dass sie weg ist, der Sohn war schweigsam ... sicher ein wenig traurig ... ist dann nicht einfach ... Oberarzt: Oft machen wir jetzt Therapie für die Helfer ... sind dann alle überlastet ... die Schwiegertochter ... und dann auch wir ... in so einem Fall ist die Therapie überwiegend für den Helfer ... Im Kontext dieser Gesprächssituation befindet sich der Oberarzt hier in einer Rechtfertigungslogik. Im Sinne der »widersprüchlichen Einheit Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung« (Oevermann 1990) besteht dem Beobachter gegenüber der Zugzwang, post hoc kommunikativ die Rationalisierungslücken einer Entscheidung zu begründen, die sich ihrerseits naturwüchsig aus der Situationsdynamik der Praxis heraus entfaltet hat. Der Beobachter bestätigt die Fragwürdigkeit der Indikation und lenkt dann die Aufmerksamkeit auf die soziale Dynamik der Situation, die anscheinend ihren Ausgangspunkt bei der Überforderung der Schwiegertochter genommen hat. Der Oberarzt greift diesen Gedanken auf und bemerkt, dass in so einem Falle die Therapie überwiegend dem Helfer diene und bestätigt hiermit die Vermutung, dass in diesem Falle mehr der Zweck dem Mittel diene. Die Systemrationalität des Helfersystems gewinnt die Oberhand: Die Helferidentität rekonstituiert sich im Aktionismus unabhängig vom ursprünglichen Zweckauftrag. Dennoch gleichsam als doppeltem Schlenker gelingt es dem Oberarzt, auch aus der kritischen Distanz heraus, seine eigene professionelle Identität vor der Dekonstruktion zu bewahren, denn in der weiteren Argumentation wird nun gerade die Überforderung der Schwiegertochter zum legitimen Ausgangspunkt der eigenen Helferbemühungen, die dann eben durch die Professionellen besser geleistet werden kann. Die angemessene Pflege kristallisiert sich hier sozusagen als ethisch legitimatorischer Minimalkonsens heraus, der dann die anderen, in der Systemrationaliät liegenden Zumutungen des Akutkrankenhauses (etwa unangenehme invasive Untersuchungen) untergeordnet werden können – entweder als notwendiges Übel, das zu ertragen sei, oder - wie nun entschieden - als einem sozialen Akt, für die hilfsbedürftige Patientin zu sorgen, ohne diese durch Untersuchungen zu quälen. Gleichsam durch die Hintertür wird hier für den Mediziner die sekundäre Zweckveranstaltung “Pflege” - deren eigentliche professionelle Vertreter zu keinem Zeitpunkt in die Entscheidungsfindung involviert wurden - zur eigentlichen Sinngebung. Es liegt nun doch in der Hand der Ärzte, etwas für die Patientin tun zu können, auch wenn dieses Tun eben nur darin besteht, die institutionellerseits erwartete Systemrationalität zu vollstrecken. Im Dienste des Humanen treten die Ärzte von ihrem eigentlichen Auftrag zurück, doch dies zu tun, ist nur den Ärzten erlaubt. Der Arzt argumentiert hier auch in der Logik der medizinischen Absicherung (“defensive testing”): sterben lassen und damit verbunden: die palliative Gabe von Morphium ist erst statthaft, wenn die biologischen Fakten schwarz auf weiß dokumentiert sind. Zumindest im Sinne einer juristisch hieb- und stichfesten Legitimationsbasis muss dies gesche- 348 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse hen, wenngleich sich der Oberarzt ohnehin hinsichtlich der Diagnose aufgrund des klinischen Bildes der Patientin sicher zu sein scheint. Unausgeprochen steht immer auch der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung mit im Raum bzw. gar der Verdacht, durch die Morphiumgabe den Sterbeprozess in unmoralischer Weise zu beschleunigen. Letzteres wäre eben nur im Falle eines manifesten, unheilbaren Tumorleidens indiziert. In diesem Sinne rekapituliert der Oberarzt nochmals im Einzelinterview: Oberarzt: »Ich hab ja nur praktisch anhand von indirekten Laborwerten und meinem Blick und meinem Tasten und was ich von der Patientin so erfahren hab gesagt, das und das könnte vorliegen, aber mir fehlte der Beweis dafür, manchmal brauch ich’n Beweis um was zu ... denn es war ja auch eine terminale Entscheidung, die zum Tod geführt hat, dann treffen zu können [... und dann fand ich] sehr hilfreich, dass die andern Kollegen alle einstimmig gesagt haben, nee wir geben dann Morphin und das war dann glaub ich auch richtig so [... aber hätte] noch gewusst und hätte diese Magenspiegelung, die hätte diese invasive Untersuchung wahrscheinlich überstanden, gut überstanden und da hätte ich gesagt, gut, die hat dieses Magen-Karzinom das ist vollkommen inoperabel [...] und die war ja schon über neunzig, da kann ich leichteren Herzens diese Entscheidung zu Morphium, zur Sterbehilfe treffen«. Orientierungsrahmen: Diffusität – Sterbebegleitung in einem medizinischen Rahmen Die Entscheidung, Morphium zu geben, heißt, die Patientin sterben zu lassen. Dies kann nicht ohne Weiteres kommuniziert werden, wenngleich dem Oberarzt und den Stationsärzten der kritische Gesundheitszustand bewusst ist. Eben weil diese Entscheidung hoch prekär ist, kann und will sich niemand offen dazu verhalten oder sich der Gefahr aussetzen, für eine eindeutige Entscheidung belangt zu werden, etwa indem er sich einem Angehörigen diesbezüglich entblößt. Der Rahmen bleibt zumindest in der Beziehung zum Patienten und den Angehörigen diffus. Oder anders herum: Diffusität ist das kennzeichnende Merkmal in diesen Situationen. Entsprechend wird zunächst versucht, die Fiktion der Behandlung bei dieser unheilbaren Patientin aufrechtzuerhalten. Wenngleich in diesem Fall eine sichere Intuition vorliegt, wie die Fallproblematik liegt, muss zunächst ein Modus operandi gefunden werden, der den legitimatorischen Ansprüchen der Außendarstellung sowie den internen Routinen gerecht wird. Medizinisch und diagnostisch muss deshalb auf der Station etwas geschehen. Die formale Erfüllung normativer Ansprüche hat dabei wenig mit den professionsethischen Maximen der handelnden Akteure zu tun. Die hier beobachtenden Ärzte können ihrerseits recht genau zwischen diesen beiden Ebenen unterscheiden und gewinnen gerade über Aufrechterhaltung von Diffusität – durchaus in guter Absicht – Handlungsspielraum. Wenngleich hier der primäre Rahmen in der legitimatorischen Absicherung besteht, ist durch diese Manöver hindurch immer noch im Sinne traditioneller ärztlicher Ethik der Auftrag sichtbar, Leiden zu vermeiden, und eine humane Pflege bzw. ein würdiges Ableben zu ermöglichen. Eine “Sterbebegleitung in diesem Sinne verlangt über die rechtlichen Aspekte hinaus, dass dem Kostenträger eine für ihn akzeptable Realitätssicht vorgespielt wird, denn aus der Sicht der Kassen gilt, dass Patienten, für die weder diagnostisch noch therapeutisch ein Aufenthalt im teuren Akutkrankenhaus indiziert ist, diese dieses wieder verlassen müssen (s. hierzu schon Rohde, 1974: 450 ff.). Paradoxerweise scheint das Spiel der wechselseitigen Täuschungen innerhalb diffuser Rahmen, ein würdevolles Sterben im Krankenhaus als dem “Sterbeort Nummer eins” erst möglich werden zu lassen, natürlich im Rahmen der hier geschilderten Grenzen, denn es liegt in der Sache der Natur, dass diese Prozesse kaum kommuniziert werden können. Im Sinne unserer Ausgangsfragestellung bedeutet dies für die Arzt-Patient-Interaktion auch hier: Diffusität und Mehrdeutigkeit rahmen die Beziehung schon vor der ersten wirklichen Begegnung mit dem Patienten. Unter dem Blickwinkel 2. Behandlung palliativer Patienten 349 von Goffmans Rahmentheorie bekommen die Arbeiten von Strauss und Glaser (1974) über die Interaktion mit Sterbenden einen weiteren Sinn. Die verschiedenen Kontexte des Wahrnehmens würden in diesem Sinne Rahmenmodulationen darstellen, die eine interaktive Bearbeitung der prekären Frage des baldigen Todes ermöglichen. In der Kette der Entscheidungen, welche die medizinische Prozessierung der Patientin betreffen, stellt sich nun die Frage, warum sich dieses Problem nun gerade in einer internistischen Station eines Akutkrankenhauses stellt, welche – wenngleich überwiegend chronische Patienten behandelnd – die Aufgabe der Heilung akuter Krankheitsbilder hat? Warum sahen sich die Angehörigen, der Hausarzt oder die Ärzte aus der Aufnahmestation als professionelle medizinische Helfer nicht in der Lage, die persönliche Entscheidung der Patientin, nicht behandelt werden zu wollen, zu akzeptieren? Aus der Distanz einer soziologischen Betrachtung heraus stellt sich die Frage, warum die Frage des Sterbens von Frau Mohn überhaupt als Entscheidungsproblem verhandelt wird, das dann, wenn einmal gestellt, eine Last der Verantwortung erzeugt, die weder die Angehörigen noch der Hausarzt noch ein Oberarzt einer Inneren Station tragen mag? Sozialpsychologische Erklärungsangebote könnten hier etwa auf die Dynamik von Schuldgefühlen der hilflosen Helfer fokussieren. Im Luhmannschen Sinne würde eine soziologische Erklärung demgegenüber hier die selbstreferenzielle Konstruktion einer Entscheidungssituation vermuten, die, wenn einmal plausibel kommuniziert, eine Folge weiterer Entscheidungsprobleme erzeugt, die dann wohl oder übel abgearbeitet werden müssen. Eine Kette von Ärzten ist nun in ein Problem involviert, das seiner Natur nach nicht in einem medizinischen Rahmen verhandelt werden kann, aber entsprechend der Logik der eingeschalteten Institutionen nur medizinisch bearbeitet werden kann. Das eigentliche Thema, die Frage des würdevollen Sterbens, tritt hierdurch in den Hintergrund, kann eben nur implizit verhandelt werden – die Sterbebegleitung kann nur in einem medizinischen Rahmen stattfinden. (b) Frau Hof, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) Frau Hof ist eine 88-jährige demente Frau, deren Gesundheitszustand sich aufgrund eines Ileus (Darmverschluss) und einer Lungenentzündung gefährlich verschlimmert. Für die Stationsärzte stellt sich nun die Frage des weiteren medizinischen Prozederes als Gratwanderung zwischen Intensivstation und palliativer Schmerzmedikation: Mittwoch 14.3. 10:00 Stationszimmer Stationsarzt Scholz zur Stationsärztin: Die hat es mit dem Bauch, aber auch mit der Lunge ... die kriegen wir jetzt nicht mehr hin, das ist jetzt ein Fall für die Entscheidung ... da gibt’s jetzt nur zwei Möglichkeiten, entweder bekäme die jetzt ein bisschen Morphium oder auf der Intensivstation wird die dann voll verkabelt, und um den Patienten kümmern die sich dann gar nicht mehr. Die Stationsärzte sind verunsichert in der Entscheidungsfindung. Nach Rücksprache mit der Oberärztin während einer Operation wird beschlossen, dass Frau Hof nicht auf die Intensivstation muss, obwohl die stark erhöhten Natriumwerte dies eigentlich nahe legen würden. Diese Entscheidung wird auf der Dienstübergabebesprechung am nächsten Tag nach einer kurzen, aber emotionalen Auseinandersetzung mit der Oberärztin der Nachbarstation durch den leitenden Oberarzt bestätigt. Die Oberärztin stimmt mit den Angehörigen das weitere Vorgehen ab. Zumindest besteht darin Konsens, dass auf invasive Eingriffe verzichtet werden soll. Der Behandlungsrahmen bleibt diffus. Er bleibt in seinen expliziten Zielen unklar, oszilliert zwi- 350 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse schen “sterben lassen” und “kurativen” internistischen Interventionen. Frau Hof wird in ein Einzelzimmer gelegt. Sie bekommt Elektrolyte und künstlich einige weitere Nahrungsmittel zugeführt, dazu eine leichte Schmerzmedikation. Letzteres wird seitens der Schwestern kritisiert, denn Frau Hof habe mehrmals geäußert, nicht mehr weiterleben zu wollen, und da die Patientin stöhnend im Bett liege, solle doch Morphium gegeben werden, da nur dies die Schmerzen lindern könne. Opiate würden jedoch angesichts des prekären Darmzustandes das definitive Todesurteil bedeuten. Deswegen lassen sich die Ärzte auf eine starke Schmerzmedikation nicht ein und verstärken stattdessen die künstliche Ernährung, was wiederum von einigen Schwestern beklagt wird. Die Stationsärztin liefert die Begründung für dieses ärztliche Vorgehen: Freitag, 16.3. 14:45 Stationszimmer Pflegedienstleitung: Frau Hof, warum bekommt die Zucker? Stationsärztin Dr. Schneider: Die darf hier liegen bleiben, keine Reanimation und keine Intensiv ... Pflegedienstleitung: Ah! Okay. Dr. Schneider: Wir müssen uns ein bisschen da rumhangeln. Orientierungsrahmen: Diffusität - legitimatorische Absicherung Die letzte Beobachtungssequenz lässt deutlich werden, dass die Diffusität nicht ungewollt erscheint, sondern aus der Perspektive der Akteure einer wünschenswerten Situationsrahmung entspricht, denn eine eindeutige Festlegung würde ein großes Risiko mit sich bringen. Diffusität erlaubt, ein Hintertürchen offen zu lassen. Man muss sich nicht zwischen den beiden moralisch bzw. rechtlich problematischen Alternativen “unnötiger Leidensverlängerung” und “leichtfertig sterben lassen” festlegen lassen, denn man kann sich immer herausreden, dass die Sache nicht so gemeint sei, wie sie erscheine. Die Produktion und Aufrechterhaltung von Diffusität wird zu einem wesentlichen Punkt in der verfahrensmäßigen Absicherung. Der hierdurch gestaltete Rahmen lässt die mehr patientenbezogenen Handlungsoptionen, etwa die Verabreichung einer stärkeren Schmerzmedikation, an die zweite Stelle rücken, denn zunächst muss die legitimatorische Absicherung stimmen. Eine chirurgische Station ist kein Platz für Sterbebegleitung, sondern ein Ort der Krankenbehandlung. Komparative Analyse: Innere Medizin vs. Chirurgie Homolog zum Beispiel aus der Inneren Medizin wird auch hier versucht, die Fiktion der Behandlung bei diesen unheilbaren Patientin aufrechtzuerhalten. Wenngleich in beiden Fällen eine sichere Intuition besteht, wie die Fallproblematik liegt, muss ein Modus operandi gefunden werden, der den legitimatorischen Ansprüchen der Außendarstellung sowie den internen Routinen gerecht wird. Diese Rahmungsprozesse sind einer jeden Arzt-Patient-Beziehung vorgelagert. Die oftmals recht komplizierten Interna können mit dem Patienten jedoch aus verschiedenen Gründen in der Regel nicht direkt kommuniziert werden, sondern erzeugen oftmals diesem gegenüber wiederum einen vorgetäuschten bzw. diffusen Rahmen28. Um mit Gregory Bateson zu sprechen: Es gibt gute Gründe dafür, warum es manchmal für alle besser ist, wenn die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut (Bateson/Bateson 1993: 103 ff). Täuschungen, auch hier durchaus in guter Absicht durchgeführt, konstituieren ärztliche Autonomie gegenüber äußeren Zwängen. Schwierige Entscheidungen verlangen nach einer Absicherung im Team und in der 2. Behandlung palliativer Patienten 351 Hierarchie. Hierzu bestehen Strategien der Verantwortungsdiffusion, deren Logik hier in diesen beiden Fällen deutlich wird. Die Innere Medizin wagt sich hier weiter vor in Richtung palliativer Schmerzmedikation, während die Chirurgie hier nicht das Risiko eingeht, den Sterbeprozess unter Umständen noch etwas zu beschleunigen. Hier ergeben sich möglicherweise habituelle Unterschiede zwischen den beiden Stationen und Disziplinen. Die Internisten sind von ihrer Klientel her mit dem regulären Tod vertrauter – Sterben gehört gewissermaßen zum Alltag auf einer internistischen Station29. Innerhalb der chirurgischen Logik bleibt der Tod – wenngleich auch nicht selten – ein Unfall. (c) Herr Brugger, onkologische Station (Universitätsklinikum) Herr Brugger, ein 67-jähriger Patient, leidet unter einem kleinzelligen Lungenkarzinom, das vor acht Monaten entdeckt wurde. Trotz diverser chemotherapeutischer Therapien zeigt sich zum Zeitpunkt der Aufnahme eine Vielzahl von Metastasen in der Lunge, in den Nebennieren und auch in den Knochen. Lebermetastasen sind allerdings noch nicht zu sehen. Mitte Januar wird der Patient wegen starker Schmerzen auf die onkologische Station eingewiesen. Morgens um vier Uhr, am Tag nach der Einweisung, ruft der Patient den diensthabenden Arzt und erklärt ihm, dass er den Eindruck habe, seine beiden Schulterknochen seien ungleich lang. Während der Stationsvisite wird die Schulter erneut zum Thema. Dr. Merkel, der Stationsarzt, erzählt auf dem Gang, dass man jetzt auch nicht wisse, woran es läge, dass der Patient den rechten Arm nicht bewegen könne. Des Weiteren erhöht er in der Kurve die Dosis der Antidepressiva-Medikation und bemerkt, dass man diesen Patienten ja so nicht aushalten könne: Donnerstag, 14.12. 9:20 Visite (auf dem Gang) Dr. Merkel: ... kann dann mit dem rechten Arm keine Abduktion durchführen ... wissen wir jetzt auch nicht, wo dran das liegt ... steigere ich jetzt noch das Saroten ... hält man ja nicht aus ... kann man glaube ich bis 75 mg gehen (schaut in dem Handbuch nach ... und trägt anschließend die Medikation in den Bogen ein). Verbal (“hält man ja nicht aus”) und handlungspraktisch (“steigere ich jetzt noch das Saroten”) wird der Patient zum psychiatrischen Fall degradiert. Sein Problem wird in einen psychopathologischen Kontext gestellt – der Patient hat eben eine Psychomacke. Bemerkenswerterweise verzichtet der Stationsarzt darauf, zusätzlich psychologische oder psychiatrische Fachkompetenz einzuschalten und schlüpft hier selbst in die Rolle des Psychiaters. Diesbezügliche diagnostische und therapeutische Fähigkeiten scheinen im Selbstverständnis dieses Arztes gleichsam als Grundkompetenz vorhanden zu sein. Diesbezüglich scheint für ihn klar zu sein, was zu tun ist – man muss eben die Dosis des Antidepressivums erhöhen. Im Patientengespräch wird das Problem mit der Schulter nochmals angesprochen. Der Patient vermutet daraufhin, dass er nicht richtig ernst genommen werde. Der Stationsarzt widerspricht dieser Vermutung und erklärt, dass die Beschwerden vermutlich eine neurologische Ursache hätten, dies aber noch genauer abgeklärt werden müsse. Im weiteren Gespräch fragt der Patient den Arzt, wie viele Tage er noch zu leben habe. Daraufhin antwortet der Arzt, dass man ihm noch einige Zeit geben würde, vielleicht sogar noch Monate und außerdem sei er doch über seine Krankheit aufgeklärt worden. Der Patient gibt keine Antwort auf die Frage, inwieweit er aufgeklärt sei. Der Stationsarzt bemerkt daraufhin, dass nun die Sache mit dem Arm neurologisch abgeklärt werden müsse. Daraufhin bemerkt der Patient, dass er mittlerweile nur noch ein 352 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Klappergestell sei und außerdem kaum noch was essen würde. Der Arzt daraufhin, dass man jetzt die Sache erst mal neurologisch abklären müsse und außerdem noch auf das Ergebnis der Computertomografie warte: Im Patientenzimmer Herr Brugger (die ganze Nacht in einem sehr weinerlichem Ton): ... jetzt die Knochen ... habe ich heute Nacht gespürt, dass die ungleich sind und dann den Arzt benachrichtigt ... dann jetzt mit dem Arm (versucht den Arm zu heben, was nicht geht) Praktikant (schmunzelt, vom Patienten sichtbar). Herr Brugger: Nicht lachen, das ist jetzt ernst ... Dr. Merkel: Wir lachen nicht über Sie ... da ist jetzt nichts am Knochen, ist jetzt was anderes, was die Erhebung macht ... jetzt mit dem Arm, wird was Neurologisches sein ... müssen wir noch abklären ... [...] (weitere Diskussion ... und Gespräch ... Patient spricht immer in weinerlichem, klagendem Ton) Herr Brugger: ... wieviel geben Sie mir noch, nur noch ein paar Tage? Dr. Merkel: Ein paar Tage? ... wir geben Ihnen schon noch einige Zeit ... noch ein paar Tage und Monate, vielleicht auch länger ... ich denke, Sie sind doch über Ihre Krankheit aufgeklärt? Herr Brugger: (keine Antwort) Dr. Merkel: Jetzt müssen wir das mit dem Arm noch neurologisch abklären ... Herr Brugger: Ich esse jetzt kaum noch ... bin ja jetzt nur noch ein Klappergestell ... Dr. Merkel: Wir werden das jetzt neurologisch abklären und warten dann noch auf das CT ... Der Patient scheint in seinem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, zu ahnen, dass er seitens der Ärzte psychiatrisiert wird. Dr. Merkel versucht daraufhin mit seinem Rekurs auf diagnostische Fragen, das Visitengespräch wieder auf den stationsüblichen medizinischen Rahmen zu fokussieren. Der Patient durchbricht den Versuch, das Gespräch auf den klinischen Alltag zu lenken, mit der existienziellen Frage, wie lange er denn noch zu leben habe. In der Antwort legt sich der Arzt nicht fest („noch einige Zeit”). Sein Hinweis impliziert, dass doch eigentlich schon genug über diese Frage geredet worden sei. Hierdurch klammert der Arzt die seelische und psychologische Dimension der Krankheit aus dem Visitengespräch aus, um das Gespräch wieder auf rein medizinische Fragen zu beschränken. Dies scheint ihm auch zu gelingen – der Patient bleibt zunächst sprachlos - und der Arzt kann wieder auf die nun noch durchzuführenden diagnostischen Routinen rekurrieren, wird dabei jedoch nochmals durch den Hinweis des Patienten auf seinen erbärmlichen Zustand unterbrochen. In dieser Gesprächssequenz wird ein komplexes Spiel des Aushandelns der vorherrschenden Rahmung deutlich. Während der Arzt implizit von einem psychiatrisch-psychologischen Rahmen ausgeht, allerdings im Gespräch einen internistischen Rahmen vortäuscht, versucht der Patient eine Diskursebene zu etablieren, in dem die existenzielle Dimension des zu erwartenden Todes thematisiert werden kann. Auch drei Tage später ist die Beurteilung der Röntgenbilder durch die Radiologen noch nicht gelaufen. Dr. Merkel erwähnt aber in der Übergabe, dass mit dem Patienten am Wochenende nochmals ausführlich über die Prognose geredet worden sei. Vor der Visite bemerkt Dr. Kringe, dass man nun überlegen solle, was mit Herrn Brugger geschehen solle. Dr. Merkel bemerkt, dass Herr Brugger zu den Patienten gehöre, die ihn fertig machen würden. Während der Visite erklärt die Ärztin im Praktikum dem Patienten, dass es nun wichtig sei, die Schmerzmedikation richtig einzustellen. Der Patient bemerkt daraufhin, dass die Mittel ja recht stark seien und ob denn keine Heilung mehr möglich sei. Die Ärztin antwortet daraufhin, dass man nichts mehr tun könne, da im Körper eine Reihe Metastasen zu finden seien. Herr Brugger 2. Behandlung palliativer Patienten 353 fragt nochmals, ob denn der Prozess wirklich nicht mehr zu stoppen sei. Die Ärztin antwortet, dass die Chemotherapie den Verlauf nur etwas aufgehalten habe, die Krankheit jedoch immer noch da sei. Der Patient fragt, was er denn falsch gemacht habe. Die Ärztin antwortet, dass er keine Schuld habe - dies sei eben die Eigenschaft der Krankheit. Der Patient fragt, ob es nicht doch noch eine Methode gäbe, etwa die Lasertherapie, mit der man noch etwas machen könnte. Die Ärztin erwidert, dass die Krankheit jetzt im ganzen Körper sei und dass man jetzt schon alle Optionen probiert habe. Der Patient stellt daraufhin den Sinn der bisher unternommenen Therapieversuche in Frage. Die Ärztin antwortet, dass er ohne diese Therapien gar nicht mehr leben würde. Der Patient fragt erneut nach einer Lösung. Die Ärztin erklärt, dass es jetzt keinen Sinn habe, eine Therapie zu beginnen, die den Patienten dann noch kränker machen würde. Nur wenn es dann ganz schlimm würde - wenn er dann etwa Luftnot bekäme - würde man von ärztlicher Seite noch etwas machen. Der Patient wirft ein, dass man ihm doch anfangs gesagt habe, dass die Therapie helfen würde. Hierauf erwidert die Ärztin, dass sie anfangs davon ausgegangen seien, dass eine Heilung noch möglich sei, letztlich die Therapie aber den Prozess nur wenig aufhalten konnte. Der Patient fragt darauf hin, wie lange er noch zu leben habe. Die Ärztin antwortet, dass man eine genaue Zeit nicht nennen könne. Daraufhin erwähnt der Patient seine Schmerzen. Die Ärztin erklärt ihm, dass diese von den Knochen kommen würden und dass sie nun versuchen würden, die Schmerzmittel entsprechend einzustellen. Der Patient ergänzt, dass er sich ja schließlich einigermaßen ohne Schmerzen bewegen können müsse. Die Ärztin stimmt ihm zu. Hieraufhin fragt der Patient, ob es denn auf der Station auch Morphin in Tropfenform gäbe. Die Ärztin bejaht die Frage und erklärt, dass sie diese auch besorgen könne. Abschließend bemerkt sie, dass das Gespräch ja auch nachmittags fortgeführt werden könne, zumal sie ja heute auch Nachtdienst habe: Dienstag 19.12.01 9:40 Visite (im Patientenzimmer) Ärztin im Praktikum: Herr Brugger: ... wichtig, die Schmerzmittel richtig einzustellen ... Tropfen ... und dann das Grundmedikament ... Herr Brugger: ... die Schmerzmittel sind ja jetzt relativ stark ... ist jetzt keine Heilung mehr möglich? Ärztin im Praktikum: Herr Brugger, eine Heilung ist nicht mehr möglich ... (setzt sich zu dem Patienten ans Bett) ... Nebennierenmetastasen ... dann an den Knochen ... Herr Brugger: ... und ist das nicht mehr zu stoppen? Ärztin im Praktikum: Herr Brugger: wir haben es durch die Chemo ein wenig aufgehalten, aber die Krankheit ist noch da ... Herr Brugger: Was habe ich für Fehler gemacht? Ärztin im Praktikum: Sie haben nichts falsch gemacht ... das ist die Eigenschaft der Krankheit, da können Sie jetzt nichts zu. Herr Brugger: Was kann man denn noch machen? Lasern? Ärztin im Praktikum: Herr Brugger: die Krankheit sitzt jetzt im ganzen Körper ... Herr Brugger: Gibt es eine andere Therapie ... eine härtere ...? Ärztin im Praktikum: Wir haben jetzt alle Optionen probiert. Herr Brugger: Dann hätte ich die Therapie gar nicht machen sollen? Ärztin im Praktikum: Dann wären Sie gar nicht mehr hier. Herr Brugger: Dann gibt es keine Lösung mehr? Ärztin im Praktikum: Nee, aber jetzt geht es Ihnen ja relativ gut und jetzt hat es keinen Sinn, eine Therapie zu machen, die Sie noch kränker macht ... wenn Sie dann später etwa Luftnot haben ... dann können wir noch was machen, um Ihnen zu helfen ... 354 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Herr Brugger: Sie haben ja am Anfang gesagt, dass die Therapie hilft. Ärztin im Praktikum: Waren wir ja noch von ausgegangen, dass dann die Chemo vielleicht heilen kann, aber jetzt wissen wir, dass die Therapie den Prozess nur ein wenig aufgehalten hat. Herr Brugger: ... wie lange ... Ärztin im Praktikum: Eine Zeitvorgabe können wir jetzt nicht machen ... Herr Brugger: Jetzt die Schmerzen? Ärztin im Praktikum: Die Schmerzen kommen vom Knochen ... versuchen wir die Schmerzmittel einzustellen ... Herr Brugger: Muss ich sehen, dass ich mich einigermaßen ohne Schmerzen bewegen kann. Ärztin im Praktikum: Ja ... Herr Brugger: Die Morphintropfen auf der Station 12 ... die gibt es hier nicht? Ärztin im Praktikum: Doch, die können wir auch besorgen ... Wir können heute Nachmittag noch einmal sprechen ... bin ja dann die ganze Nacht da ... Im Gegensatz zur zuvor dokumentierten Visite wurde in diesem Gespräch zwischen Arzt und Patient eine gemeinsame Gesprächsbasis hergestellt. Die fehlende Heilungsperspektive und die Enttäuschung über den Misserfolg der Therapie können thematisiert werden und finden eine medizinische Antwort, nämlich, dass die Krankheit nur aufgehalten, nicht jedoch bekämpft werden konnte. Auch die Schmerzen werden hier medizinisch gerahmt, nämlich als Folge der Knochenmetastasen. Das Geschehen bekommt in diesem medizinisch-onkologischen Rahmen eine Verstehbarkeit. Entsprechend macht auch hier die starke Schmerzmedikation Sinn und kann vom Patienten eingefordert werden. Der medizinische Rahmen etabliert sich nun langsam in Form einer palliativen Logik. Durchbrochen wird dieses Rational nur durch den Vorwurf des Patienten, dass man ihm doch früher erklärt habe, ihn heilen zu wollen. Das Gefühl des Patienten, mit falschen Heilsversprechungen seitens der Ärzte getäuscht worden zu sein, wird jedoch durch den Hinweis entkräftet, dass die Ärzte schließlich auch von der kurativen Option in ihren Behandlungsversuchen ausgegangen seien, die Krankheit allerdings leider in eine andere Richtung verlaufen sei. Die klare Trennung von Kuration und Palliation – in der Onkologie vielfach anzutreffen – zeigt sich jedoch beim genaueren Hinsehen als Fiktion. Während die Fachkollegen intern in Weiterbildungsveranstaltungen davon ausgehen, dass die Überlebensdauer beim fortgeschrittenen kleinzelligen Bronchialkarzinom klar begrenzt ist, wird dem Patienten in der Regel trotzdem noch eine kurative Therapieoption angeboten - allein schon deshalb, um ihn zur Therapie zu motivieren. Das Versprechen der Kuration erscheint hier auch als eine geschickte Inszenierung, um dem Patienten Hoffnung zu machen und so einen sanften, für einige Monate hinausgezögerten Übergang zur Palliation zu erlauben. Dies geschieht – wie auch auf dieser Station beobachtet – oftmals mittels offener Formulierungen wie „prinzipiell ist die Heilung möglich”. Solche kleinen „Täuschungen”, oftmals durchaus in guter Absicht durchgeführt, können wie hier zu Störungen in der Arzt-Patient-Beziehung führen. Herr Brugger - theoretisch schon seit acht Monaten über sein Krankheitsbild aufgeklärt – scheint erst jetzt zu realisieren, dass seine Krankheit einen langsamen Zerfall mit tödlichen Ausgang bedeutet. In der Visite am folgenden Tag kündigt der Stationsarzt an, dass der Patient nach der Einstellung der Schmerzmedikation nach Hause gehen könne. Der Patient antwortet daraufhin, dass er erst mal probieren wolle, ob es ihm nun besser gehe, ansonsten wolle er wiederkommen. Der Stationsarzt verweist darauf, dass doch zunächst eine ambulante medizinische Betreuung aufgesucht werden solle. Ein wenig später spricht eine Schwester den Arzt auf die Schmerzmedikation an. Es würde hier keine klare Linie geben, einmal Morphium und dann wieder Novalgin. Der 2. Behandlung palliativer Patienten 355 Arzt erwidert, dass er dem Patienten gebe, was er wolle. Die Schwester fragt daraufhin nach der Morphiummedikation. Der Arzt antwortet, dass der Patient jetzt zusätzlich noch Morphium bekomme. Am folgenden Morgen erklärt der Oberarzt während der Visite, dass der Patient eigentlich auf der Station nichts verloren habe. Er sei jetzt über die Aufnahme gekommen, aber das eigentliche Problem sei, dass er niemanden zu Hause habe, dazu noch Schmerzen und Angst habe und dass jetzt ein einfaches Krankenhaus oder eine teilambulante Versorgung angemessener sei. Außerdem sei jetzt noch Weihnachten, wo sowieso niemand da sei. Auf den Einwand des Beobachters, dass das Problem in der fehlenden pflegerischen Versorgung liegen würde, wirft der Oberarzt ein, dass das Problem eigentlich sozialer Natur sei, denn in seinem Fall gäbe es keine Familie, die sich um ihn kümmern könnte. Donnerstag, 21.12. 8:35 Visite (auf dem Gang) Prof. Krause (zur Ärztin im Praktikum): ... der Mann hat hier eigentlich nichts verloren ... er ist jetzt nur ein paarmal in die Aufnahme gekommen ... ist jetzt alleine, hat niemanden zu Hause ... hat Schmerzen ... hat Angst ... fehlt jetzt ein einfaches Krankenhaus ... oder eine so was wie eine teil-ambulante Versorgung für ihn ... (erklärt dem Beobachter) ist jetzt das Problem mit Weihnachten ... habe ich ihm gesagt, dass er über die Tage in die Ambulanz kommen kann ... nur das Problem ist, da ist ja nun niemand hier ... weiß er auch ... Beobachter: Das Problem besteht in der fehlenden pflegerischen Versorgung ... Prof. Krause: Das Problem ist ein soziales ... gibt ja viel ärmere Leute ... da kümmert sich dann die Familie drum ... Die junge Ärztin erwähnt, dass der Patient noch viele Schmerzen habe. Der Oberarzt erklärt daraufhin, dass es sich bei ihm überwiegend um Angst handeln würde. Nach einer kurzen Unterbrechung durch ein Telefonat mit der Aufnahme erklärt die Ärztin, dass morgen ein Bett frei werden würde, falls Herr Brugger dann gehen würde. Daraufhin wendet der Oberarzt ein, dass der Patient schon heute gehen solle. Die Ärztin verweist nochmals auf die Probleme des Patienten. Der Oberarzt erwidert, dass man dem Patienten schließlich schon in der letzten Visite gesagt habe, dass seine Entlassung anstehe. Im Gespräch erläutert der Oberarzt seine Vorstellung. Der Patient solle dann am Heiligabend zur Schmerzeinstellung nochmals auf der Station vorbeischauen und dann einmal die Woche zur ambulanten Sprechstunde kommen. Der Patient fragt darauf hin, was denn sei, wenn er das nicht packen würde. Der Oberarzt antwortet, dass sich die Ärzte dann um die Verlegung in ein anderes Haus oder ein Pflegeheim kümmern müssten. Der Patient wirft darauf hin ein, dass die Ärzte hier ja andere Aufgaben hätten, etwa Forschung zu betreiben. Der Oberarzt erwidert hierauf, dass es ja hier nicht nur um Forschung gehe, sondern um die akute Behandlung von Patienten. Er würde jetzt jedoch keine Chemotherapie mehr bekommen, sondern nur noch die Schmerzbehandlung. Herr Brugger fragt daraufhin den Oberarzt, ob man ihn jetzt nicht mehr heilen könne. Dieser verneint die Frage mit dem Hinweis, dass er eine chronische Krankheit habe. Die Ärztin ergänzt, dass man ja jetzt auch den Home-Care einschalten könne und dass es auch deswegen sinnvoll sei, wenn der Patient jetzt an die Ambulanz angebunden würde, zumal er ja von dort aus dann auch beim Sozialdienst vorbeischauen könnte. Der Patient erklärt, dass dies für ihn alles nicht so einfach sei, da er sich jetzt recht schwach fühle. Der Oberarzt bemerkt, dass es für die Ärzte jetzt eine leichte Übung sei, noch den Sozialdienst einzuschalten, der würde dann gleich noch bei ihm vorbeischauen. Der Patient fragt nochmals nach der ambulanten Weiterbetreuung an. Der 356 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Oberarzt wiederholt das Prozedere und verweist an den Hausarzt, der ja in den sonstigen Fragen der erste Ansprechpartner sei. Außerdem solle er sich jetzt keine Sorgen machen, auch wenn er jetzt ein wenig aufgeregt erscheine, schließlich könne er jederzeit wieder auf die Station kommen. Der Patient fragt, ob er auch über die Notaufnahme kommen könne, falls etwas passiere. Der Oberarzt entgegnet, dass der Patient jetzt nicht nach Hause müsse, sondern nach Hause dürfe: Visite (im Patientenzimmer) Herr Brugger: Sie haben geplant, mich heute nach Hause zu lassen? Prof. Krause: Ja genau, haben wir geplant, dass Sie dann Montag, Heiligabend, auf die Station kommen und wir dann noch mal mit den Schmerzen schauen können ... dann, Donnerstag, fängt es an, dann einmal die Woche in die Sprechstunde. Patient: Wie stellen Sie sich das jetzt so vor, das geht doch so nicht weiter? Wenn ich das jetzt nicht packe? Prof. Krause: Wenn Sie dass jetzt nicht packen, dann müssen wir uns drum kümmern, das Sie in ein anderes Krankenhaus kommen ... oder in ein Pflegeheim ... Herr Brugger: Ja, Sie haben ja andere Aufgaben, Forschung. Prof. Krause: Jetzt nicht nur Forschung, sondern auch Behandlung ... von Patienten, die jetzt akut behandelt werden müssen ... Sie bekommen ja jetzt keine Chemo mehr ... ist jetzt nur die Schmerzbehandlung ... Herr Brugger: Kann man mich jetzt nicht mehr heilen? Prof. Krause: Nein ... ist jetzt eine chronische Krankheit ... Ärztin im Praktikum: Können wir jetzt auch den Home-Care einschalten ... deswegen jetzt auch die Anbindung an die Ambulanz ... können Sie ja dann auch einfach noch beim Sozialdienst vorbeischauen ... Herr Brugger: Sagen Sie jetzt “ist so einfach” ... habe eben eine kleine Runde gedreht und war total fertig. Prof. Krause: Ist dann auch eine kleine Übung für uns, den Sozialdienst anzurufen und dann kommt der gleich vorbei, hoch zu Ihnen. Herr Brugger: Und dann zur Ambulanz? Prof. Krause: Ja, dann Weihnachten ... Herr Brugger: Und die Medikamente muss ich mir dann gleich in der Ambulanz ausstellen lassen, können Sie mir ja nicht verschreiben ... Prof. Krause: Und dann sollten Sie ja morgen zum Hausarzt ... der ist ja dann der erste Ansprechpartner und sollte dann immer im Bilde sein, wie es Ihnen geht ... Prof. Krause: Machen Sie sich jetzt keine Sorgen ... ich merke, Sie sind jetzt ein wenig aufgeregt ... jetzt können Sie ja immer zu uns kommen. Herr Brugger: Auch über die Notaufnahme ... wenn was passiert? Prof. Krause: Jetzt sage ich Ihnen mal: Sie müssen nicht nach Hause, Sie dürfen nach Hause. Die pflegerische Dimension der Nachsorge ist hier nicht in ein therapeutisches Gesamtkonzept eingebettet, sondern kommt erst dann zur Geltung, als die nahende Entlassung das Problem aufwirft. Anstelle einer konzeptionellen Lösung wird stattdessen ad hoc eine praktikable Zwischenlösung zusammengestrickt, die auf die jeweiligen Fragen des Patienten eine Antwort zu geben scheint. Der weihnachtliche Besuch der Station sowie der wöchentliche Kontakt mit der Ambulanz stellen eine improvisierte Zwischenlösung dar, mit deren Hilfe das akute Problem scheinbar gelöst wird. Im Hinblick auf seine verunsicherte Zukunftsperspektive findet der Patient jedoch keine Antwort, da die Lösungen eher administrativen organisatorischen Aspekten geschuldet sind, als unter dem Primat der besten pflegerischen bzw. organisatorischen Lösung abgehandelt zu werden. Der primäre Rahmen der ärztlichen Entscheidung, den Patienten zu entlassen, ist organisatorisch-administrativer Natur. Es werden Betten gebraucht und darüber hinaus 2. Behandlung palliativer Patienten 357 ist nicht zu erwarten, dass die Krankenkasse einen längeren Aufenthalt in einer onkologischen Spezialklinik finanzieren wird. Dies kann dem Patienten gegenüber jedoch nicht so ohne Weiteres offen thematisiert werden, zumal dieser gegen die Entlassung deutliche Bedenken anmeldet. Das eigentliche Problem von Herrn Brugger – die existenzielle und lebenspraktische Verunsicherung durch die fortgeschrittene Krebskrankheit - bleibt ungelöst. Am Ende der Gesprächsequenz wird dieses Defizit geschickt verschleiert. Durch die Intervention des Oberarztes („Sie dürfen nach Hause, Sie müssen nicht”) erscheint das Problem nun unter dem Licht der psychologischen Haltung des Patienten. Durch die Psychologisierung wird dem Patienten die Ursache für seine Verunsicherung reattribuiert („ich merke, Sie sind jetzt ein wenig aufgeregt”). Hierdurch werden die Ärzte von ihrer (Mit-)Verantwortung für diesen Prozess entlastet. Die Hochleistungsmedizin einer Universitätsklinik kann zwar entsprechend ihrem primären Auftrag neue Heilungsoptionen anbieten und entwickeln, nicht jedoch die Verantwortung für das immer mögliche (und in der Onkologie wahrscheinliche) Nichtanschlagen der Therapie übernehmen. Der Patient spürt dies mit seinem Einwurf („Sie haben ja andere Aufgaben”). Als chronisch Kranker, den man nicht mehr heilen kann, kommt er innerhalb des medizinischen Rahmens dieser Einrichtung nicht mehr vor. Im Sinne der Eigenlogik dieser Abteilung ist es wohl kein Zufall, sondern eher System, dass weder Home Care noch die Sozialarbeiter routinemäßig eingeschaltet werden. Der Oberarzt verlässt, nachdem er angepiept wurde, kurz den Raum. Die junge Ärztin erklärt daraufhin dem Patienten, dass er jetzt wieder lernen müsse, selbstständig zurechtzukommen. Darüber hinaus bemerkt sie, dass schließlich auch ein Problem mit der Krankenkasse bestehe. Dem Krankenhaus würden jetzt die Kosten nicht erstattet, wenn auf der Station nichts passiere. Der Oberarzt, wieder im Patientenzimmer, erklärt, dass das Ziel einer Behandlung darin bestehe, dass ein Patient wieder nach Hause könne. Herr Brugger erwidert, dass er sich zur Zeit sehr verwirrt fühle und zu Hause nur herumirren würde. Der Oberarzt bemerkt, dass dies ja nicht so schlimm sei, zumal der Patient sich zu Hause ja auskennen würde und zudem auch Zeit habe. Der Patient fragt nach der Möglichkeit einer Einkaufshilfe. Der Oberarzt verspricht, den Sozialdienst noch einzuschalten. Abschließend bemerkt der Patient, dass er jetzt acht Monate lang fast immer im Krankenhaus gewesen sei, worauf die Ärztin kontert, dass nun deshalb endlich Zeit sei, dass der Patient endlich mal raus komme: Prof. Krause (geht aus dem Zimmer, nachdem sein Pieper piept) Ärztin im Praktikum: Müssen Sie ja jetzt wieder lernen, selbstständig damit zurechtzukommen. [...] (Gespräch zwischen dem Patienten und der Ärztin über die Schmerzmedikation) Ärztin im Praktikum: Ist jetzt auch mit der Kasse ... wenn die sehen, dass Sie vier Wochen hier sind und nichts passiert hier, dann erstatten die uns die Tage nicht ... Sie müssen es ja auch lernen, dass Sie es schaffen ... Prof. Krause (kommt wieder rein): ... Sie müssen ja sehen, dass das ganze Ziel einer Behandlung ist, dass der Patient wieder nach Hause kommen kann. Herr Brugger: Ich fühle mich aber jetzt so verwirrt ... habe Angst, dass ich zu Hause nur rumirre. Prof. Krause: Zu Hause kennen Sie sich ja aus ... wenn es dann eine Stunde länger dauert, macht doch nichts ... Sie haben doch Zeit ... können die Dinge ja ruhig langsam angehen ... Prof. Krause: Müssen ja nicht den Einkauf für drei Tage auf einmal machen ... Herr Brugger: Kann man nicht eine Einkaufshilfe ... Prof. Krause: Müssen wir dann mit dem Sozialdienst besprechen ... rufen wir gleich noch an ... Herr Brugger: War jetzt acht Monate fast immer im Krankenhaus ... Ärztin im Praktikum: ... deswegen ist mal Zeit, dass Sie jetzt rauskommen ... 358 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Während der Oberarzt das Patientenzimmer für kurze Zeit verlässt, offenbart die Ärztin für einen kurzen Moment den ökonomisch-administrativen Rahmen der Entlassungsentscheidung, macht jedoch dann die Not zur Tugend – denn schließlich müsse der Patient nun ja auch lernen, es alleine zu schaffen. Der Oberarzt kommt wieder hinzu und bläst ins gleiche Horn. Unter einem pädogogisch-psychologischen Rahmen scheint es nun darum zu gehen, den Patienten zu ermächtigen, endlich seine Dinge wieder selbst regeln zu können. Unter diesem Blickwinkel erscheint nun wieder die psychologische Haltung des Patienten als das eigentliche Problem. Diese Verantwortungsdistribution erweist sich jedoch bei genauerem Hinsehen als Fiktion, denn der Patient ist nicht geheilt, sondern chronisch krank. Nieren und Knochen sind mit Metastasen durchsetzt, die zwar noch nicht akut das Leben bedrohen, jedoch die Lebensqualität massiv einschränken. Auch ein kurzer Kontakt mit der Sozialarbeiterin wird nicht ausreichen zu lernen, wie man solch eine Situation produktiv bewältigen kann. Dieses auf den ersten Blick gut gemeinte Lösungsangebot der Ärzte scheint hier auch eher der Entlastung zu dienen. Das Patientenproblem als psychologisches- oder soziales umzurahmen, täuscht darüber hinweg, dass der Patient nach acht Monaten Krankenkarriere und Hospitalisierung selbst zu einem Teil des Krankenhauses geworden ist. Das Kranksein ist für ihn schon längst zum Habitus geworden. Eineinhalb Stunden später fragt Herr Brugger die Ärztin, wann denn nun der Sozialdienst vorbeikommen würde. Diese antwortet, dass sie es noch nicht geschafft habe anzurufen und dass der Patient noch etwas warten solle. Sie ruft den Sozialdienst an und schildert der Sozialarbeiterin, dass sie mit Herrn Brugger sozusagen einen Notfall habe, um den man sich nun jetzt kümmern müsse. Kurz darauf erzählt sie einer Schwester, dass Herr Brugger nun nach Hause gehen solle, aber nicht gehen wolle. Die Schwester erklärt, dass ihr dies klar sei. Die Ärztin antwortet daraufhin, dass der Patient sicher wiederkommen werde und dass man ihn in ein kleines Haus hätte verlegen sollen, aber Stationsarzt Kringe habe gesagt, dass man ihn entlassen solle und dieser Anordnung habe sie Folge zu leisten. Kurze Zeit später beklagt sich die Ärztin im Telefongespräch bei einem Kollegen aus der Aufnahmestation, dass Herr Brugger jetzt gehen solle, wenngleich er sich noch sehr unsicher fühle. Bei dem schlechten Zustand des Patienten wäre das jetzt wirklich Blödsinn, man hätte ihn in ein kleines Haus verlegen sollen. Es sei schrecklich, was hier passieren würde. Die Schwester ergänzt im Anschluss an das Gespräch, dass der Patient nun Weihnachten ganz alleine zu Hause verbringen müsse. Die Ärztin im Praktikum artikuliert hier ihren Widerspruch zu den getroffenen Entscheidungen und benennt hier als Entscheidungsalternativen die Verlegung in ein kleines Haus bzw. zumindest eine Weiterbetreuung während der Weihnachtsfeiertage. Die Ärztin argumentiert hier in einem sozialen Rahmen. Das Krankenhaus erscheint hier gleichsam als Sozialstation, die dem Patienten etwas Gutes tun kann. Ihre Empörung erscheint hier eher moralisch denn professionell motiviert. Die Indikation für einen Krankenhausaufenthalt – sei es in der Uniklinik oder einem anderen Haus – würde entsprechend dieser Logik auf einer sozialen Indikation beruhen, nicht jedoch im Hinblick auf die besondere medizinische Problematik einer unheilbaren chronischen Krankheit. Eine Behandlungsperspektive im Hinblick auf das Dilemma, wie mit der fortgeschrittenen chronischer Krankheit am besten umzugehen sei, wird auch hier nicht entwickelt. Ein wenig später kommt die Sozialarbeiterin auf die Station. Die Ärztin spricht mit ihr über Herrn Brugger. Dieser Patient sei sehr ängstlich und wolle nicht nach Hause gehen. Die Sozialarbeiterin erzählt, dass sie seit 20 Jahren in dieser Klinik arbeite und man früher die Patienten immer über Weihnachten da gelassen habe. Gegen Mittag wird Herr Brugger von der Ärztin verabschiedet. Die Ärztin gibt ihm den Ratschlag, sich nicht zu übernehmen und die Sache langsam anzugehen 2. Behandlung palliativer Patienten 359 und dann im Zweifelsfall nochmals wiederzukommen. Ihm als Patient obliegt es nun, nach einer Odyssee von acht Monaten durch unterschiedlichste chemotherapeutische Behandlungsversuche für sich einen Weg zu finden, mit seinem eingeschränkten Restleben zurechtzukommen. Als Strohhalm, wenngleich unter dem Vorzeichen, dass er nicht ganz erwünscht sei und es doch eigentlich selber schaffen solle, steht das Angebot der Ärztin im Raum, im Zweifelsfall dann doch wieder in die Klinik kommen zu können. Orientierungsrahmen: Medizinalität und organisatorische Grenzen – Auslagerung Während der Patient hier versucht, die existenziellen und handlungspraktischen Aspekte seiner terminalen Krankheit zu realisieren, argumentieren die Ärzte ihm gegenüber zunächst in einem medizinischen Rahmen. Auch seine schlechte psychische Befindlichkeit wird innerhalb dieses Musters diskutiert, nämlich als psychiatrisches Symptom, das entsprechend medikamentös zu behandeln ist. Die für professionell ärztliches Handeln konstitutive Balance zwischen funktionaler Spezifität und diffuser Sozialbeziehung, organspezifischem Handeln und Wahrnehmung des ganzen Menschen verschiebt sich hier einseitig zur medizinalen Seite. In diesem Sinne verwundert es kaum, dass der Sozialdienst nicht in ein ganzheitliches Behandlungskonzept eingebettet wird, sondern – gleichsam als Verlegenheitslösung – erst am letzten Tag eingeschaltet wird. Parallel hierzu ist das Fallgeschehen in einem ökonomisch-administrativen Rahmen eingebettet, in deren Logik der Patient möglichst schnell auszulagern ist. Formal kann die palliative Betreuung auf einer onkologischen Therapiestation nicht geleistet werden, da keine Indikation mehr für eine Chemotherapie vorliegt. Den Patienten nun vor Weihnachten zu entlassen, führt bei den Pflegern und einigen untergeordneten Ärzten zur moralischen Empörung, hier nicht die soziale Indikation gelten zu lassen. Die Kritik mündet jedoch hier nicht in einen professionellen Diskurs, in dem dann verhandelt wird, was im Sinne einer ganzheitlichen Betreuung denn nun am besten mit diesem Patienten zu geschehen habe. Komparative Analyse: Die Stationsärzte sind hier offensichtlich mit der sozialen Problematik und der Psychodynamik des Fallgeschehens überfordert. Während es dem Behandlungsteam im Falle von Frau Hof und Frau Mohn – wenngleich in stereotyper Form – gelingt, ein Behandlungskonzept zu entwickeln, das der Problematik des Übergangs von der Kuration zur Palliation zumindest in Ansätzen gerecht wird, um auch auf der Akutstation eine Behandlung zu ermöglichen, kann hier die komplexe soziale Dynamik nicht aufgegriffen werden. Es zeigt sich – homolog zu den „komplexen medizinischen Fallproblematiken” – wieder die Typik „Kompetenzdefizite vs. ärztliche Kompetenz im Team”. Während die erfahrenen Stationsärzte des Allgemeinkrankenhauses in der Lage sind, sich der Fallkomplexität in ihrer Gänze zu stellen, sind die jungen Ärzte überfordert. Es bleibt ihnen als Handlungsstrategie hier nur übrig, sich an den routinisierbaren medizinischen Aspekten des Geschehens festzuhalten. Die entstehenden Konflikte können dabei nicht diskursiv verhandelt werden, sondern manifestieren sich bestenfalls unterschwellig als moralische Kritik. Im Kontrast hierzu finden sich etwa auf der inneren Station professionellere Formen, mit solchen Fällen umzugehen – etwa die zeitige Kontaktaufnahme mit einer Palliativstation30. Im Unterschied zu den Fällen aus dem Allgemeinkrankenhaus, zwingt die onkologische Problematik, auch gegenüber dem Patienten den Bewusstheitskontext zu öffnen, auch wenn 360 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse dies den Ärzten hier merklich schwer zu fallen scheint. Man kann nicht mehr diffus bleiben und muss dem Patienten erklären, warum denn jetzt keine Therapie mehr möglich ist. Die Frage der Öffnung und Schließung der Bewusstheitskontexte weist auf eine disziplinspezifische Typik: In der Chirurgie kann man die Dinge noch verschleiern, in der Hämatologie nur noch schwerlich31. (d) Herr Kranz, onkologische Station (Universitätsklinikum) Herr Kranz, 59 Jahre alt, leidet unter einer akuten myeloischen Leukämie. Die Krankheit wurde vor eineinhalb Jahren zum ersten Mal diagnostiziert. Durch chemotherapeutische Behandlungen konnte die Leukämie zwar zunächst für einige Monate zurückgedrängt werden. Doch die folgenden Rezidive zeigten sich zunehmend resistent gegenüber den weiteren Therapieversuchen. Herr Kranz muss mittlerweile regelmäßig Blutprodukte bekommen. Am 28. Januar wird Herr Kranz erneut über die Ambulanz zur stationären Behandlung aufgenommen. Er klagt über Atemnot. Ein paar Tage später hat sich Prof. Kandinski, der leitende Oberarzt entschieden, dem Patienten noch eine palliative Chemotherapie zu verschreiben. Im Gespräch mit dem Stationsarzt erklärt Herr Kranz, dass er darüber Bescheid wüsste, dass die Krankheit nicht mehr aufzuhalten sei. Er erhoffe sich jedoch im Krankenhaus eine bessere Betreuung als zu Hause, wenngleich es sich auch hier nur noch um ein wenig Lebensverlängerung handeln würde und er eigentlich lieber seine Zeit zu Hause verbringen würde. Auch mit den Angehörigen sei diesbezüglich alles ausgesprochen. Der Stationsarzt antwortet daraufhin, dass er noch mal mit dem Oberarzt reden wolle, ob man ihn nicht dann doch nach Hause lassen könne: Mittwoch 2.1. 9:00 Visite (im Patientenzimmer) Dr. Merkel: ... mit dem Puri-Nethol ... Herr Kranz: ... habe jetzt lange mit Dr. Maaz in der Ambulanz gesprochen ... gibt dann drei Wege: nichts machen ... Chemo ... oder Puri-Nethol ... Dr. Maaz hat mir dann auch gesagt “das wird Ihr letztes Weihnachten sein, das Sie erleben ... dann die Frage, ob ich nach Hause oder ins Krankenhaus ... bin dann doch ins Krankenhaus ... nicht, dass ich gerne im Krankenhaus bin, ich bin lieber zu Hause ... einfach, weil man hier mehr machen kann ... Zellen bestimmen ... und die Ärzte hier ... Sie wissen schon ... ich weiß jetzt auch, dass das nicht mehr aufhaltbar ist ... mein Körper kann vieles nicht mehr richtig produzieren ... Dr. Merkel: ... das ist jetzt nicht Ihr Körper, sondern die Leukämie ... [...] Dr. Merkel: ... mit dem Puri-Nethol kann man die Leukämie etwas in Schach halten ... Patient: ... ich weiß dann Bescheid ... ich habe auch zu Hause alles geklärt, nicht dass man dann auf einmal euphorisch ... ich weiß, dass es jetzt nur noch darum geht, wie sagt man “Lebensverlängerung” ... Dr. Merkel: ... muss ich jetzt mit dem Oberarzt reden ... vielleicht können wir Sie dann auch nach Hause schicken ... Der Arzt spricht zunächst die medizinale Frage der Medikation an. Der Patient antizipiert daraufhin die Grenzen seiner Körperlichkeit und versucht einen offenen Bewusstheitskontext zu etablieren, in dem auch die Frage des Sterbens behandelt werden kann. Der Stationsarzt wechselt von der anklingenden Todessemantik wieder zum medizinischen Diskurstyp: Das Problem sei jetzt nicht der Körper des Patienten, sondern die Leukämie und diese könne man schließlich durch eine palliative Therapie noch ein wenig in Schach halten. Der Patient versucht daraufhin erneut, 2. Behandlung palliativer Patienten 361 den Gesprächsrahmen im Hinblick auf die Frage des Ablebens zu ändern. Mit dem Hinweis, dass auch sein privates Umfeld in seine Situation eingeweiht sei und darüber hinaus Euphorie nicht angebracht sei, restabilisiert er den offenen Bewusstheitskontext. Der Stationsarzt greift das Kommunikationsangebot in impliziter Form auf, indem er Herrn Kranz das Angebot macht, ihn nach Rücksprache mit dem Oberarzt erst einmal wieder nach Hause zu lassen. Eine Woche später sprechen die Ärzte während einer Dienstübergabe erneut über den Patienten. Oberarzt Krause stellt fest, dass es Herrn Kranz gar nicht gut gehe. Eigentlich gehöre solch ein Patient nicht auf eine hoch spezialisierte hämatologisch-onkologische Station. Nach einer kurzen Diskussion über die weitere Medikation schlägt der Oberarzt vor, “das Sterben erträglich zu gestalten” und zu versuchen, den Patienten nochmals nach Hause zu schicken: Mittwoch 9.1. 9:40 Stationszimmer Dr. Kringe: Herr Kranz, hatten wir noch mal drüber geredet ... geht ihm gar nicht gut. Prof. Krause: Kranz ist jetzt ein Patient, der nicht für diese Station gedacht ist ... wir überlegen ja auch, ob wir ihn nach Hause ... der wird die kurze Restzeit seines Lebens aplastisch sein ... Prof. Krause (schaut den Medikationsplan an): Braucht der das alles ... Klacid ... (weitere Diskussion) Dr. Kringe: ... jetzt den Herpes ... Prof. Krause: Neupogen ist eine gute Sache ... Prof. Krause: Jetzt das Sterben erträglich gestalten ... und ob wir ihn noch mal nach Hause schicken können ... In diesem kurzen Gesprächsausschnitt werden unterschiedliche Rahmungen deutlich, innerhalb dessen das Fallgeschehen verhandelt wird. Einerseits wird hier die medizinische Seite verhandelt, d.h. welche Medikation denn hier angemessen sei. Darüber hinaus wird hier ein organisatorischökonomischer Rahmen deutlich: Ein sterbender Patient gehört streng genommen nicht auf eine onkologisch-hämatologische Spezialstation der universitären Hochleistungsmedizin. Hier sollte eigentlich Akutmedizin betrieben werden und nicht die palliative bzw. pflegerische Betreuung sterbender Patienten geleistet werden. Der weitere Verbleib des Patienten auf der Station stellt in diesem Sinne eine soziale Indikation dar, die nur indirekt zur Geltung gebracht werden kann. Der Oberarzt vertritt tendenziell eher die Systemrationalität seiner Organisation. Während der Visite erklärt der Patient, dass er sich sehr müde fühle. Außerdem fühle er sich nicht mehr in der Lage, von zu Hause zur ambulanten Versorgung her zu kommen. Der Oberarzt denkt daraufhin laut darüber nach, ob nicht die Blutprodukte ambulant durch das Rote Kreuz gegeben werden könnten, oder ob da nicht auch ein spezieller Krankentransport von den Kassen bezahlt werden könnte. Abschließend fragt der Oberarzt, ob das erwartete Enkelkind nun schon auf die Welt gekommen sei. Der Patient verneint und sagt, dass es bis zur Geburt voraussichtlich noch zehn Tage dauern werde. Der Oberarzt antwortet daraufhin, dass Herr Kranz doch mal ein Wort mit dem Kinde reden solle. Daraufhin kontert der Patient, dass es heute mit den Machtworten nicht mehr klappen würde: (drinnen) Prof. Krause: So Herr Kranz ... Ihnen geht es nicht so gut ... was ist das Hauptproblem? Patient: Ich bin jetzt so müde ... und wenn ich dann auf die Toilette ... Prof. Krause: Was ist das Problem mit der Toilette? Patient: Die ist falsch gebaut ... ist so tief und hat keine Armlehne ... 362 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Prof. Krause: Ist jetzt ein guter Hinweis ... (schaut sich die Toilette an) ... ja ... das fehlt dann ... ist jetzt wie bei einem neuen Hotel hier “Sie sind der erste Gast hier”. Patient: Jetzt, wenn ich Freitag nach Hause ... zu Hause komme ich ja zu recht ... bloß ich ja zweimal die Woche hierher zur Infusion ... das schaffe ich nicht. Prof. Krause: Klar, geht nicht ... müssen wir sehen mit dem Home Care ... dann müssen wir das Blut über das DRK bestellen ... können wir dann nicht über unser Haus ... [...] Prof. Krause: Gut, die Schwäche, dass kommt jetzt einfach von Ihrem Zustand ... dann jetzt mit der Kasse reden ... ob die dann nicht einen speziellen Transport ... zweimal die Woche ... Was macht denn das Enkelkind? Patient (freudig): Noch nicht da ... der Doktor sagt dann, dass es noch zehn Tage braucht ... Prof. Krause: Sprechen Sie mal mit dem Kind. Patient: Das klappt heute nicht mehr mit den Machtworten. Im Gespräch mit dem Patienten werden die unterschiedlichen Rationalitäten der Behandlung angedeutet, jedoch nicht expliziert. Herrn Kranz wird deutlich, dass er eigentlich nach Hause solle. Die Motive werden ihm jedoch nicht ersichtlich. Entsprechend antwortet dieser auf das Anliegen der Ärzte mit organisatorischen Einwänden, auf die der Oberarzt entsprechend mit Lösungsangeboten eingeht. Im Vordergrund des Gesprächs bleibt jedoch die offenkundige Schwäche des Patienten - viel an Eigenleistung scheint dem Patienten nicht mehr zumutbar. Eine Betreuungsalternative zum Sterben im Krankenhaus - etwa in Form einer Palliativstation oder eines Hospizes kann hier jedoch auch nicht verhandelt werden -, da der überlagerte organisatorisch-administrative Rahmen nicht offen kommuniziert werden kann. Einerseits fühlt sich die Station verantwortlich für die Betreuung des Patienten - nicht zuletzt auch aus der langen Interaktionsgeschichte wiederholter Therapieversuche -, andererseits können hier im Angesicht des baldigen Todes die ökonomisch-administrativen Grenzen der Betreuungsgeschichte nur schwerlich artikuliert werden. Implizit scheinen hier im Gespräch auch die Zeithorizonte des Restlebens in spielerischer Form verhandelt zu werden. Zehn Tage auf die Geburt zu warten, scheint fast ein zu langer Zeitraum zu sein. Arzt und Patient haben hier die Möglichkeit zu wissen, was gemeint ist, ohne allzu konkret zu werden. Knapp eine Woche später erklärt Dr. Kringe einer neuen Praktikantin während der Visite den Fall von Herrn Kranz. Der Stationsarzt bemerkt, dass es dem Patienten so schlecht gehe, dass er nicht mehr zu Hause versorgt werden könne. Die angehende Ärztin fragt, seit wann die Leukämie bekannt sei. Dr. Kringe antwortet, dass dies nicht so lange her sei, erst eineinhalb Jahre. Im Gespräch mit dem Patienten erklärt der Arzt, dass man die Medikation ein wenig reduzieren könne. Der Patient fragt daraufhin nach der Behandlung der Schmerzen im Mund. Der Arzt schaut sich die Stelle an und antwortet, dass er hierfür noch etwas geben werde. Abschließend bemerkt der Arzt, dass er zusätzlich noch Krankengymnastik verordnen würde, damit der Patient ein wenig durch den Gang gehen könnte: Dienstag, 15.1. 9:20 Visite, auf dem Gang (Dr. Kringe mit neuer Praktikantin) Dr. Kringe: ... nächster Patient ... Herr Paul ... trauriger Fall ... eine akute Leukämie ... jetzt refraktär ... keine Therapie spricht mehr an ... wird substituiert ... jetzt das Problem, dass es ihm so schlecht geht ... jetzt auch mit der Transfusionshäufigkeit ... geht ihm jetzt so schlecht, dass er nicht mehr zu Hause versorgt werden kann ... Dr. Kringe (hält ein paar Sekunden inne und schaut die Akte an). PJ-lerin: Seit wann ist die Leukämie bekannt? Dr. Kringe: Seit eineinhalb Jahren, nicht so lange. [...] 2. Behandlung palliativer Patienten 363 im Patientenzimmer Dr. Kringe: ... jetzt die Medikamentation ... der Blutdruck ist ja jetzt wunderbar ... da können wir die Medikation ein wenig reduzieren ... ein bisschen blutdrucksenkende Mittel müssen wir Ihnen aber noch lassen ... Patient: Jetzt mit dem Mund ... Dr. Kringe (schaut sich die schmerzende Stelle im Mund an): ... ja ... geben wir Ihnen noch was ... Patient: Ist jetzt dieselbe Stelle wie vorher ... Dr. Kringe: ... dann werden wir Ihnen noch mal den Krankengymnasten verordnen ... schreibe ich Ihnen auf, dass Sie ein wenig durch den Gang gehen ... Orientierungsrahmen: Diffuse Sozialbeziehung Die „soziale Indikation” ist nun doch zur Geltung gebracht. Wider die durch den Oberarzt benannte administrativ-organisatorische Logik, einen sterbenden Patienten nicht auf einer onkologischen Spezialstation32 zu betreuen, kann hier mit dem Verweis, dass der Patient zu Hause nicht mehr versorgt werden könne, doch noch die finale Betreuung seitens des bekannten Teams geleistet werden. Die Beziehungsgeschichte zwischen Patient und seinen Ärzten gestaltet hier einen tragfähigen Rahmen, der es erlaubt, auch einmal gegen die ökonomisch-organisatorische Rationalität zu handeln. Im Sinne einer starken ärztlichen professionellen Identität trägt hier auch die Beziehung im Kontext eines Universitätsklinikums. Man hat den Patienten lange betreut, weiß von ihm, tauscht sich auch über Privates aus und hat gemeinsam erfahren, gut miteinander „zusammenarbeiten” zu können33. Der Bewusstheitskontext ist offen. Alle wissen, um was es geht und man braucht sich nun nichts mehr vorzumachen, und die Verarbeitung und Bewältigung der Krankheit scheint hier sanft und von allen Beteiligten tragbar vonstatten zu gehen. Die diffuse Sozialbeziehung trägt und bildet den handlungsleitenden Rahmen. (e) Zusammenfassung, zugleich abschließende komparative Analyse Die Verhandlungen der vorgestellten Entscheidungsprozesse in den jeweiligen ärztlichen Teams stellen sich als komplizierte soziale Gebilde dar, in denen Verantwortlichkeiten verteilt, verschoben und (re-)attribuiert werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen in der Regel die Stationsärzte. Ihnen obliegt es, zwischen Angehörigen-, Patienten- und Organisationsinteressen eine Mitte zu finden, in der nicht nur die eigene ärztliche Identität, sondern auch die Identität medizinischer Organisationen reproduziert werden. Die Fähigkeit, die Last der Verantwortung zu schultern, aber auch wieder reattribuieren zu können, gehört zum entwickelten ärztlichen Habitus. Für die Medizin bleibt die Krankheit des Patienten - wider alle organisatorischen und ökonomischen Zwänge - instruktiv. Die diesbezügliche Verantwortung kann nicht abgewiesen, sondern nur überwiesen werden. Entwickelte ärztliche Kompetenz heißt, dies auch unter Bedingungen von Ambivalenz und Unsicherheit leisten zu können. Die Behandlung palliativer Patienten stellt die Ärzte nicht selten vor eine Reihe von Entscheidungsproblemen. Da es schließlich um Leben und Tod geht, sind manche Entscheidungen per se hoch prekär. Die Entscheidung, jemanden einfach sterben zu lassen, kann oftmals den Patienten und Angehörigen gegenüber nicht offen kommuniziert werden. Eine gewisse Diffusität in der Kommunikation – sich lieber dann doch nicht so genau festlegen zu lassen – ist entsprechend ein weit verbreiteter Modus, mit solchen Situationen umzugehen. Darüber hinaus zeigen 364 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse sich für die betreuenden Einrichtungen auch organisatorische Grenzen. Auf den Akutstationen soll Therapie laufen – die Sterbebegleitung wird hier von den Kassen nicht bezahlt. Dennoch kann die „soziale Indikation” auch verdeckt zur Geltung gebracht werden, etwa, indem Medizinisches – etwa akuter therapeutischer oder diagnostischer Bedarf – vorgetäuscht wird. Insbesondere in den Abteilungen der Allgemeinkrankenhäuser zeigen sich hier raffinierte Arrangements der Herstellung eines diffusen Rahmens, in denen sich die Ärzte Handlungsspielräume eröffnen, die dann – in welcher Form auch immer – eine Sterbebegleitung möglich werden lassen. In den Fallbeispielen zeigen sich unterschiedliche Modi der Entscheidungsfindung – die sich, wie die Analyse aufzeigt, unter Vorbehalt unter folgender Typik subsumieren lassen: (1) sterbeorientiert vs. therapieorientiert; (2) offener vs. geschlossener Bewusstheitskontext; (3) Kompetenzdefizite vs. ärztliche Kompetenz im Team: (4) beziehungsorientiert vs. medizinal. Im Fall von Frau Mohn und Frau Hof bleibt der Bewusstheitskontext für die Todessemantik teilweise geschlossen. Die Angehörigen werden zwar eingeweiht, dass der Tod zu erwarten ist, in die eigentlichen Entscheidungsprozesse – etwa ob man nun palliativ Morphium geben solle oder eben nicht – werden jedoch weder die Angehörigen noch die Patienten eingeweiht. Der Rahmen bleibt diffus, wobei die Diffusität in einem mehr oder weniger komplexen sozialen Prozess erst hergestellt wird. Man „hangelt” sich da eben ein wenig herum. Tendenziell zeigen sich hier Unterschiede zwischen den chirurgischen und den internistischen Disziplinen. Den Internisten scheint es leichter zu fallen, die Entscheidung für den Tod mit zu tragen. Fachspezifisch zeigen sich einige Varianten in der Onkologie. Die Besonderheiten des dort behandelten Krankheitsbildes, das deutlich sichtbare Therapieversagen, erlauben es weniger, auf Dauer einen diffusen bzw. geschlossenen Bewusstheitskontext aufrecht zu erhalten. Es besteht ein gewisser Zwang zur Offenheit, wenngleich auch hier nicht alles gesagt wird, und dann auch die organisatorischen Sachzwänge geschickt durch den Rekurs auf Medizinisches verschleiert werden können. Da der Patientenbetreung aus organisatorischen und ökonomischen Gründen deutliche Grenzen gesetzt sind, stellt sich die Frage, wie diesbezüglich mit kritischen Fällen umgegangen wird. Prinzipiell besteht die Möglichkeit, den Patienten auszulagern bzw. dem Patienten die Verantwortung für sein Problem zu attribuieren – wie dies im Fall Brugger geschieht. Demgegenüber kann sich jedoch unter bestimmten Bedingungen eine andere beziehungsorientierte Rahmung entwickeln. Wenn Ärzte und Patienten auf einen längeren gemeinsamen Erfahrungsraum zurückblicken können, ist die Beziehung so tragfähig, dass auch gegen die organisatorischen Interessen auf der Station die Sterbebegleitung geleistet werden kann. Homolog zu den komplexen Fällen zeigt sich am Beispiel des Falls von Herrn Brugger auch für die Palliation eine „Kompetenztypik”. Die jungen Ärzte auf der onkologischen Station können zwar (im Gegensatz zur Psychosomatik) ihre medizinischen Kernaufgaben erfolgreich bewältigen – d.h. Chemotherapien durchführen und begleiten. Im Hinblick auf die ganzheitliche Fallbetreuung erscheinen sie jedoch deutlich überfordert. Der professionelle ärztliche Habitus, der es einschließt, den Patienten im Sinne einer diffusen Sozialbeziehung als „ganzen Menschen” wahrzunehmen und zu behandeln, scheint hier noch nicht verwirklicht bzw. mündet 3. „Schwierige” Patienten 365 nicht in ein integratives Behandlungskonzept, das auch die Nachsorge des Patienten leisten kann. Demgegenüber scheint die internistische Station des Allgemeinkrankenhauses gelungener auf der Klaviatur sozialer und pflegerischer Betreuungsangebote spielen zu können. Probleme und Falldynamik können hier im Gegensatz zur Onkologie im Team ausführlich diskursiv verhandelt werden. Entsprechend zeigt sich hier ein breiteres Spektrum von Lösungsmöglichkeiten. 3. „Schwierige” Patienten In den bisherigen Fallbeispielen hat der Patient als Person eher eine randständige Position. Seine Eigenarten und Präferenzen können zwar mit berücksichtigt werden, spielen jedoch in den eigentlichen Entscheidungsprozessen eher eine untergeordnete Rolle. Demgegenüber werden in diesem Kapitel Beispiele gegeneinander gestellt, deren thematische Klammer darin besteht, dass der vermeintliche Patientenwille bzw. das Patientenverhalten im ärztlichen Team besonderen Entscheidungsbedarf weckt. Die routinierten Abläufe der Station werden hier sozusagen durch den Patienten irritiert und das Behandlungssystem muss hierauf eine Antwort finden. Die Bereitschaft, mit solchen „Verstörungen” umzugehen, hängt dabei wesentlich auch davon ab, welche Motivation dem diesbezüglichen Patienten attribuiert wird. Hier lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: All jene Fälle, deren Wünsche oder Verhalten in irgendeiner Form noch als legitim betrachtet werden, “poppen” gleichsam aus dem medizinischen Status eines objektivierten Körpers heraus und müssen nun vermehrt als Person betrachtet werden, mit deren Interessen und Präferenzen sich die Ärzte nun wohl oder übel auseinandersetzen müssen, auch wenn dies den medizinischen Handlungsrationalitäten manchmal zuwiderläuft. Den Patienten der anderen Gruppe spricht man die Legitimität ihres Wollens grundlegend ab. Sie werden als psychiatrische Fälle pathologisiert, als dumme unwissende Personen infantilisiert oder gar als mit böswilliger Absicht Handelnde dämonisiert. Entsprechend dieser Aufteilung spaltet sich dieses Kapitel zunächst in verschiedene Unterthemen auf. Zunächst wird mit den Fallbeispielen von Herrn Haase, Frau Zenker und Frau Zwinger aufgezeigt, wie Irritationen von Patienten, die ärztlicherseits als illegitim erachtet werden, durch Auslagerung behandelt und abgewehrt werden können. Demgegenüber werden mit den Fällen von Herrn Hardt und Frau Menzel zwei Entscheidungsprozesse dokumentiert, die aufzeigen, wie man Patientenirritationen in die stationären Abläufe integrieren kann, ohne sich allzu sehr mit den vermeintlichen Patientenwünschen auseinander setzen zu müssen. Mit dem Fall von Herrn Masur wird schließlich ein Beispiel vorgestellt, in dem die Patientenbedürfnisse explizit in die Behandlungsentscheidungen einfließen müssen. (a) Herr Haase, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) Ein neuer Patient wird vom Stationsarzt angekündigt. Herr Haase ist 37 Jahre alt und Morbus Crohn-Patient. Nachdem sich trotz jahrelanger Cortisonbehandlung sein Krankheitsbild erheblich verschlechtert hatte, wurde ihm vor gut einem Jahr ein Teil des Colons (Enddarm) durch einen chirurgischen Eingriff entfernt sowie ein künstlicher Darmausgang auf der Bauchdecke angelegt. Im Anschluss an den Eingriff entwickelte Herr Haase eine starke Depression und reagierte mit einem dramatischen Selbstmordversuch: Er stach sich mehrmals mit dem Messer in den Bauch, 366 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse musste operiert werden und verlor dabei die Milz. Anschließend wurde er in einer psychiatrischen Einrichtung stationär behandelt. Herr Haase möchte sich nun seinen künstlichen Darmausgang rückverlegen lassen. Dieser Eingriff ist prinzipiell möglich. Der Erfolg ist jedoch nicht garantiert. Die Psychiater formulieren im Arztbrief den Verdacht, dass der Patient bei Misserfolg der Operation erneut versuchen könnte, sich das Leben zu nehmen: Arztbrief: »[...] Schizoaffektive Depression, wenig gesellschaftsfähig. Wird langsam selbständiger. [...] der Patient ist nun weniger suizidal, da er nun eine Perspektive für sich sieht, den Anus praeter wieder zu verlieren«. Der Stationsarzt und die Stationsärztin klären den Beobachter über die operativen Möglichkeiten auf: Entweder wird ein Pouch angelegt, ein künstliches Reservoir, das dann als Ersatzspeicher für das verlorene Rektum bzw. den Enddarm dient, der Nachteil dieser Variante ist jedoch die Gefahr einer Pouchitis, d.h. Entzündung des Pouches. Oder es wird eine direkte Verbindung zum Anus angelegt. Aufgrund des fehlenden Darmstückes sei dann jedoch mit Inkontinenz, bzw. starkem Stuhldrang zu rechnen. Der Patient wäre dann jedoch kaum noch “gesellschaftsfähig”. Ein Anus praeter wäre in diesem Falle die angemessenere Lösung. Unangenehme Erinnerungen an einen vergangenen psychiatrischen Fall werden von den Stationsärzten aufgerollt. Beide überlegen, wie man jetzt am besten mit dem Patienten umgehen solle und schalten Dr. Peters, den leitenden Oberarzt, in den Entscheidungsprozess ein. Die Informationen aus der Patientenakte lassen bei den Ärzten die „Warnlampen” aufleuchten. Ohne den Patienten überhaupt gesehen zu haben, entsteht das Bild des hochproblematischen psychiatrischen Patienten34. Erinnerungen an andere psychiatrische Fälle werden hervorgerufen35. Der psychiatrische Patient erscheint hier per se als Störfaktor. Man kann nicht einfach im Sinne der in der Chirurgie üblichen heroischen Herangehensweise die Operation erst einmal wagen und dann schauen, was dabei herauskommt, sondern muss potenzielle Reaktionen antizipieren. Die Sache erscheint so prekär, dass sofort die Leitungsebene eingeschaltet werden muss. Während der Röntgenbesprechung am Nachmittag erklärt Dr. Peters vor versammelter Mannschaft, dass er Herrn Haase nicht operieren würde und stattdessen am morgigen Tag in der Untersuchung feststellen werde, dass man den Mann nicht operieren kann. Ein Altassistent bemerkt, dass jetzt bloß bei der Untersuchung heraus kommen brauche, dass der Schließmuskel zu schwach sei: Mittwoch, 13.2. 16:00 Röntgenbesprechung Dr. Altvetter (ein Altassistent): Herr Peters, warum ist der Haase nicht zurück in die Psychiatrie? Leitender Oberarzt Dr. Peters: Ich operiere den auch nicht. Wir müssen jetzt bloß rauskriegen, dass das nicht geht mit der Operation ... Dr. Altvetter: Braucht jetzt bloß in der Untersuchung rauszukommen, dass der Muskel zu schwach ist [...]. Auch der Oberarzt weigert sich hier, den schwarzen Peter der Verantwortung anzunehmen. Der Gefahr des potenziellen „Selbstmordes im Krankenhaus” muss vorgebeugt werden. Schnell und im kollektiven Einverständnis des Ärzteteams wird eine Strategie entwickelt, den Eingriff abzulehnen. Man braucht jetzt nur noch medizinische Gründe zu (er-)finden, dass die Operation nicht möglich sei. Die originären medizinischen Funktionsbezüge bieten hier den Rahmen für die Täuschung. Für den Laien, selbst für den fachfremden Mediziner ist die Inszenierung kaum zu durchschauen, denn wer ist schon in der Lage, das Urteil eines chirurgischen Spezialisten in Frage zu stellen. 3. „Schwierige” Patienten 367 Am nächsten Tag stellt der Oberarzt entsprechend der Vorabsprache während der Untersuchung fest, dass das Gewebe noch zu entzündlich sei, um jetzt die Operation schon durchführen zu können, und außerdem sei der Schließmuskel zu schwach. Der Arzt entnimmt eine Gewebeprobe und erklärt, dass man frühestens in einem halben Jahr an eine Operation denken könne. Dem Patienten wird jedoch ein Biofeedbackgerät versprochen, um den Schließmuskel trainieren zu können: Donnerstag, 14.2. 8:30 (im Untersuchungsraum) Patient: ... bekommt man die Rückverlegung des Darms mit einer Operation hin ... oder braucht man dazu zwei Operationen ... Dr. Peters: Ich muss es mir ansehen, ob es da Komplikationen gibt, ob wir das überhaupt machen können. Ich hatte noch ein Telefonat mit Prof. Bertram und der hatte mich gewarnt, leichtfertig einen Pouch einzubauen. Dr. Peters (untersucht zunächst „digital”, mit dem Finger tastend das Rektum und bemerkt): Der Muskel hält nicht und das hier ist sehr entzündlich ... das sehe ich schon während der digitalen Untersuchung. (Dr. Peters führt das Rektoskop ein und bläst den Bereich ein wenig auf.) Patient: Aua, aua. Stationsärztin Dr. Schneider: ... wird alles gut ...ist gleich vorbei. Dr. Peters: Jetzt müssen wir noch eine Probe entnehmen. Stationsärztin Dr. Schneider (hält die Probengläser in der Hand): Tun Sie es mir geben ... Leitender Oberarzt Dr. Peters: ... ist zu klein, besser noch eine Probe entnehmen, als wenn wir keine Aussage bekommen (zu Herrn Haase) es kann sein, dass es nachher noch blutet ... ich muß Ihnen jetzt sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir das jetzt machen können, äußerst gering ist. Die Untersuchung zeigt: Das ist eine Entzündung im Rektum und der Schließmuskel ist äußerst schwach, der ist ja auch nicht mehr benutzt worden. Die Voraussetzungen, dass wir das machen könnten, sind frühestens in einem halben Jahr gegeben. Sie müssten dann regelmäßig Zäpfchen nehmen, um die Entzündung runter zu bekommen und ein Biofeedbacktraining machen, um den Schließmuskel wieder zu stärken ... Sie brauchen dann so ein Biofeedbackgerät ... müssen wir Ihnen dann verschreiben ... also frühestens in einem halben Jahr ... Wenn wir das jetzt machen würden, dann würden wir Sie umbringen, und das wollen wir nicht. ... Sie können jetzt nach Hause oder zurück ins Krankenhaus. Patient: Kann ich das halbe Jahr in dem Haus [Name einer psychiatrischen Einrichtung wird benannt] bleiben? Dr. Peters: ... das müssen wir mit denen abklären ... Dr. Peters: ... der Dr. Braun, der Spezialist für den Analbereich, schaut sich das noch an ... und wird eine Sphinkterometrie machen, um den Schließmuskel zu testen. Zu Beginn der Sequenz wird deutlich, dass der Patient eine starke Motivation zeigt, den Eingriff bei sich durchführen zu lassen. Der Arzt bleibt geschickt im therapeutischen Rahmen, konfrontiert den Patienten nicht mit einer direkten Ablehnung seines Anliegens, sondern macht ihm die Hoffnung, dass man ihn vielleicht in einem halben Jahr noch operieren könne. Auch dieses Manöver lässt sich als eine Abwehrstrategie verstehen, sich mit dem problematischen Patienten und seinen enttäuschten Hoffnungen nicht weiter auseinandersetzen zu müssen. Als „echte” Untersuchung ist die Inszenierung kaum zu durchschauen. Alle Beteiligten arbeiten kollektiv an dem Manöver mit. Im Stationszimmer erzählt die Stationsärztin ihrem Kollegen von dem Ergebnis der Untersuchung. Der Arzt bemerkt, dass der Patient nicht gesellschaftsfähig sei und eine Betreuung brauche. 368 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Außerdem bestehe die Gefahr, dass man die Ärzte jetzt rechtlich belangen könne, falls der Patient sich nun umbringen würde. Dr. Schneider erwidert, dass der leitende Oberarzt für die getroffene Entscheidung die Verantwortung trage. Der Stationsarzt bemerkt, dass es wohl am besten sei, wenn der Patient wieder in die Psychiatrie gehe. Dr. Schneider erklärt, dass sie sich um die Organisation der noch anstehenden Untersuchung kümmern werde: 8:45 Im Stationszimmer Stationsärztin (erzählt dem Kollegen das Ergebnis): Entweder nach Hause oder in ein weiteres Krankenhaus ... der möchte aber wieder zurück ins [Psychiatrie X.]. Stationsarzt: Der ist ja noch nicht gesellschaftsfähig ... der braucht so was wie betreutes Wohnen ... wenn der sich jetzt umbringt, dann gehen wir in die Kiste. Stationsärztin Dr. Schneider: Dann geht der Herr Peters in die Kiste. Stationsarzt Scholz: Der sollte wieder in die Psychiatrie in [Stadtteil X.]. Dr. Schneider: Ich rufe noch Herrn Dr. Braun wegen der Sphinkterometrie an, die gemacht werden soll. Diese Sequenz lässt die dem Fall zugrunde liegende Legitimationsproblematik deutlich hervortreten. Im Vordergrund steht hier nicht die Frage, wie man diesen Patienten am besten zu behandeln habe – als Person kommt der Patient nicht vor -, sondern das vorrangige Problem liegt darin, wer die Verantwortung für einen potenziellen Selbstmord zu tragen habe. Einerseits zeigt sich hier die Befürchtung, für Fehlentscheidungen juristisch belangt zu werden. Andererseits kommt hier möglicherweise ein wenig Unsicherheit zum Vorschein, was denn passieren könne, falls das Täuschungsmanöver aufgedeckt würde. Entlastung aus dem Dilemma liefert zum einen der Hinweis, dass dann eben der leitende Oberarzt ins Gefängnis müsse, zum anderen die Hoffnung, den Patienten bald wieder in der Psychiatrie unterzubringen. Am folgenden Tag weicht die Oberärztin während ihrer Visite der persönlichen Begegnung mit dem Patienten aus: Freitag, 17.3.00 9:00 Oberarztvisite Dr. Puls: Wo ist denn der Osterhase ... (der Name des Patienten wird von der Oberärztin zum “Osterhasen” verfremdet). Stationsärztin Dr. Schneider: Der sitzt hier auf dem Gang. Oberärztin Dr. Puls: Da mache ich mich jetzt nicht ran (die Oberärztin läuft ohne Visite an ihm vorbei). Stationsärztin Dr. Schneider: Ist besser so, sonst bringt der das noch mehr durcheinander ... Vormittags telefoniert der Stationsarzt mit der psychiatrischen Station und erklärt, dass sie als Ärzte jetzt nicht einschätzen könnten, ob der Patient unter den aktuellen Bedingungen selbstmordgefährdet sei. Die Psychiatrie erklärt sich bereit, den Patienten aufzunehmen. Ein Krankentransport für Herrn Haase wird organisiert. Der Stationsarzt schreibt den abschließenden Arztbrief. Der Patient wartet vor dem Stationszimmer. Als sich der Arzt verabschieden will, fragt der Patient nach dem Biofeedbackgerät, das man ihm versprochen habe. Der Stationsarzt fragt diesbezüglich bei seiner Kollegin nach. Diese erklärt ihm, dass man ihm ein solches Gerät zum Training des Schließmuskels versprochen habe. Der Stationsarzt greift zum Telefonhörer und spricht kurz mit dem leitenden Oberarzt und erklärt anschließend, dass es nun doch kein Biofeedbacktraining geben würde. Schließlich wird der Patient ohne das Hilfsmittel verabschiedet: 3. „Schwierige” Patienten 369 9:50 vor dem Stationszimmer [...] Patient: Mir wurde noch gesagt, dass ich ein Biofeedbackgerät zum Muskeltraining bekomme. im Stationszimmer Stationsarzt Scholz: Was war da mit dem Biofeedbackgerät? Stationsärztin Dr. Schneider: Das hat ihm der Peters gesagt, dass er das bekommen würde ... für das Schließmuskeltraining. Stationsarzt (telefoniert mit dem leitenden Oberarzt Dr. Peters): Wie ist das mit dem Biofeedbacktraining für Herrn Haase? ... Wo bekommt man das Gerät? ... Stationsarzt Scholz: Dr. Peters sagt “kein Biofeedbacktraining!” Dr. Schneider: Gestern hat der ihm noch gesagt, das er Biofeedbacktraining bekommt ... 10:25 vor dem Stationszimmer (Der Stationsarzt verabschiedet sich von Herrn Haase ohne Biofeedbackgerät). Die Muster im Umgang mit dem Patienten reproduzieren sich. Der persönlichen Begegnung mit Herrn Haase wird ausgewichen. Der Patient wird auf der ganzen Linie nicht wahrgenommen. Man braucht sich weder mit ihm persönlich noch fachlich - etwa indem man sich mit dem betreuenden Psychiatern und Psychologen unterhalten würde – auseinanderzusetzen. Das Ziel des Manövers besteht einzig und allein darin, das Problem abwimmeln zu können. Im Sinne dieser Logik ist es folgerichtig, das Biofeedbackgerät nicht zu verschreiben, denn als Argument hat es seine Schuldigkeit getan und medizinisch besteht für seinen Einsatz ja keine Veranlassung. Orientierungsrahmen: Rechtliche Absicherung - Täuschungsmanöver Im Fall Haase wird ein medizinischer Rahmen vorgetäuscht, während eine vermeintlich juristische Fragestellung im Hintergrund steht. Die Funktion der Täuschung besteht in der Abwehr von Risiko und Überforderung, im Erhalt der Stationsordnung und in der Absicherung der Ärzte. Organisiert wird die Entscheidung auf der Leitungsebene bei Einweihung des ärztlichen Teams in das Täuschungsmanöver. Gehandelt wird hier im Sinne des ʻgesunden Menschenverstandesʼ – man lässt sich durch das Stigma der psychiatrischen Vorgeschichte leiten. Entsprechend wird der Patient auch am folgenden Tag nicht ernst genommen. Versprechungen brauchen ihm gegenüber nicht gehalten zu werden. Professionelle psychiatrische oder psychologische Hilfestellung zur Klärung des Suizidrisikos und vermeintlicher Patienteninteressen werden nicht in Anspruch genommen. Der prekäre Wunsch des Patienten, sich den Anus praeter zurück verlegen zu lassen, braucht nicht mit dem Patienten verhandelt werden. Die Problemlösungsstrategie des chirurgischen Teams besteht darin, den Patienten mit seinem Willen radikal aus dem Geschehen auszuklammern. (b) Frau Zenker, internistische Station (Allgemeinkrankenhaus) Frau Zenker, eine 65-jährige Patientin wird aufgrund einer schweren Bronchitis auf die internistische Station eingewiesen und wird dort einige Tage behandelt. Zudem hat die Patientin eine offene Wunde am Fuß, da sie vor einigen Tagen unglücklich gefallen ist. Die Patientin wirkt etwas nervös, schreit die Pfleger wegen Kleinigkeiten an und stört ab und zu die Nachtruhe. Der 370 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Stationsarzt erklärt die Frau für psychotisch und schaltet konsiliarisch einen Psychiater ein. Dieser untersucht die Patientin nachmittags und stellt fest, dass Frau Zenker zwar eine unangenehme Person, jedoch keinesfalls psychotisch sei. Auf der Chefvisite am folgenden Tag erklärt Dr. Martin seinem Vorgesetzten, dass man sich jetzt bemühe, die Frau in die Psychiatrie zu verlegen, denn sie habe eine Psychose. Nachmittags spricht der Beobachter den Arzt nochmals auf den Fall an. Der Stationsarzt erklärt, dass für ihn die Frau jetzt eine Psychose habe, auch wenn der Psychiater das anders sehe. Man habe ihre Persönlichkeitsveränderung wohl nicht so richtig mitbekommen, da sie sowieso immer mit ihrem Mann gestritten habe, deshalb würde man jetzt auch noch eine Computertomographie vom Kopf machen lassen, denn die Verwirrung könne ja auch von einem Tumor verursacht sein: Dienstag, 3.5. 11:10 Chefvisite Dr. Martin: Exzerpierte Cold ... und Psychose ... wird heute noch in die NKS (Nervenklinik Spandau) ... Chefarzt Prof. Marek: ... ist keine Cortison-Psychose? Dr. Martin: Nein, Cortison hat sie ja vorher nicht gehabt. [...] Dr. Martin (zur Patientin): Frau Zenker, wir wollen Sie dann heute in ein Krankenhaus für Nervenkrankheiten verlegen ... (Die Ärzte schauen sich die Wunde am Fuß an) Dr. Boller: ... ob man die jetzt so verlegen kann? Chefarzt: Denke schon, kann man jetzt einfach verbinden. 14:10 vor dem Stationszimmer Beobachter: Und Frau Zenker? Die ist doch jetzt eigentlich wegen einer Bronchitis hier gewesen? Dr. Martin: Ja, aber jetzt ist dann noch die Tumorabklärung zu machen... deswegen machen wir jetzt noch ein CT und jetzt ist die Psychose im Vordergrund ... für mich ist es jetzt eine Psychose, auch wenn der Psychiater das nicht so bezeichnet hat ... dann müssen wir sie in die Psychiatrie verlegen ... Beobachter: Die Psychose ist dann jetzt erst aufgetreten? Dr. Martin: Habe dann mit der Schwester gesprochen ... war dann wohl vor sechs Wochen aufgetreten ... der Hausarzt hat es wohl dann nicht bemerkt ... ist dann so, dass die sich dann mit dem Ehemann immer gestritten hat, dass das jetzt ihm gar nicht aufgefallen ist, dass sie jetzt verwirrt ist ... Beobachter: Und das CT? Dr. Martin: Jetzt müssen wir im Kopf nach einem Tumor oder Metastasen suchen. Die Verwirrung kann jetzt auch da herkommen. Am nächsten Tag wird Frau Zenker via Zwangseinweisung in die Psychiatrie verlegt. Der Beobachter fragt nach dem Ergebnis der CT-Untersuchung. Der Arzt antwortet, dass nichts Auffälliges zu finden sei: Donnerstag, 5.5. 11:25 (im Arztzimmer) Beobachter: Frau Zenker ... das CT gestern ist unauffällig gewesen? Dr. Martin: Ja, das war unauffällig. Beobachter: Und dann ist sie in die Psychiatrie? Dr. Martin: Ja, da wollte sie zuerst nicht bleiben und ist dann zwangseingewiesen worden ... kommt dann noch ein Amtsarzt. Beobachter: Und dann muss am nächsten Tag ein Richter ... Dr. Martin: Ja, innerhalb von 48 Stunden ... 3. „Schwierige” Patienten 371 Orientierungsrahmen: Organisatorische Überforderung – Auslagerung durch Psychiatrisierung Das Behandlungssystem ist mit dieser offensichtlich problematischen Patientin überfordert. Die zänkische Frau nervt und zudem scheint ihre Familienproblematik mit in die Station hineingetragen zu werden. Im Sinne dieser organisatorischen Grenzen – man hält die Patientin nicht aus - versucht der Stationsarzt das Problem auszulagern, muss man hierfür jedoch innersystemisch einen Grund finden. Hier bietet sich die Diagnose „Psychose” an, denn dieses Label gestattet die Auslagerung in die Psychiatrie. Der Psychiater – zu Hilfe gerufen, um diesen Prozess verfahrensmäßig abzusegnen – spielt hier jedoch nicht mit und entdeckt die erforderliche psychiatrische Krankheit nicht. Der Stationsarzt bleibt demgegenüber bei der Konstruktion der Psychose und strebt weiterhin die Auslagerung an. Schließlich gelingt ihm die Einweisung gegen den Widerstand der Patientin. Die Zurechnung einer psychiatrischen Krankheit erweist sich hier zudem als nützliches Konstrukt für das Verlegungsmanöver - denn erst die medizinische Diagnose der geschädigten Autonomie erlaubt die Zwangseinweisung gegen den Willen der Patientin. Komparative Analyse: Auslagerungsstrategien in der Chirurgie und inneren Medizin – Inszenierung medizinischer Gründe Auf beiden Stationen zeigen sich Strategien, vermeintlich psychiatrische Patienten auszulagern bzw. der Behandlung ausweichen zu können. Man ist mit der Behandlung der Patienten überfordert bzw. antizipiert, dass man überfordert sein wird. Die Psychiatrie erscheint für beide Disziplinen gleichsam als die Ultima Ratio, als die Instanz, die im Zweifelsfall diesbezügliche Fälle weiter betreuen kann. Hierdurch bleibt die Betreuung innermedizinisch gewährleistet – man handelt nicht verantwortungslos, sondern übergibt die Verantwortung an eine andere Einrichtung. Um den Übergang zu inszenieren, müssen Gründe erfunden werden. Formell bleibt man in beiden Fällen innerhalb eines medizinischen Rahmens, denn die Diagnose dient als die Begründung. Die Befundung wird inszeniert, um die Operation nicht durchführen zu brauchen. Eine Psychose wird angedichtet, um einen stichhaltigen Grund zu haben, die Patientin in die Psychiatrie überweisen zu können. In beiden Fällen bleibt der Patient als Person in diesem Entscheidungsprozess außen vor – er wird nicht gefragt bzw. seine Wünsche werden massiv missachtet. Gerade die Attribution „psychiatrischer Fall” erlaubt es, einen Handlungsrahmen zu etablieren, innerhalb dessen in legitimierter Form explizit gegen die Bedürfnisse des Patienten agiert werden darf. Die Probleme im Umgang mit den durch den Patienten ausgelösten Verstörungen lassen sich bearbeiten, indem der Patient innersystemisch depersonalisiert wird. Erst hierdurch gelingt, es einen Rahmen zu etablieren, in dem man sich weder fachlich noch persönlich näher mit dem Patienten auseinandersetzen muss. Dem Internisten dient die Einschaltung der psychiatrischen Fachkompetenz als Feigenblatt für die Auslagerung, nicht jedoch als Medium zur fachlichen Auseinandersetzung darüber, was denn nun mit der Patientin wirklich los sei. Die Chirurgen verzichten gar ganz auf externe Hilfe und rekurrieren auf die eigenen Inszenierungspotenziale. (c) Frau Zwinger, psychosomatische Station (Universitätsklinikum) Frau Zwinger, eine 19 Jahre alte anorektische Patientin, wird wegen nicht erreichter Gewichtszunahme aus einer norddeutschen psychosomatischen Klinik entlassen. Ihre Eltern 372 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse hatten daraufhin versucht, die Tochter in die Psychiatrie einzuweisen. Die Patientin kam der Zwangseinweisung jedoch zuvor und stellte sich selbstständig bei der psychosomatischen Station eines Universitätsklinikums vor, wo sie schließlich dann auch Ende September aufgenommen wurde. Auf der Station wird zunächst versucht, die Ernährung aufzubauen. Die Patientin nimmt jedoch nicht an Gewicht zu. Außerdem wird sie von einer Krankenschwester dabei erwischt, als sie abends abführende Nahrungsmittel zu sich nehmen wollte. Zwei Wochen später wird der Fall während der Oberarztvisite besprochen. In der Patientenkurve zeigt sich eine leichte Gewichtsabnahme. Der Einzeltherapeut bemerkt, dass er mit der Patientin auch nicht weiter komme. Der Oberarzt erklärt, dass man nun die Patientin entweder entlassen oder künstlich durch eine Sonde ernähren müsse. Im Patientenzimmer bemerkt die Patientin, dass sie wieder gebrochen habe. Der Oberarzt erklärt, dass die Patientin jetzt nur unter der Bedingung auf der Station bleiben könne, wenn sie sich durch eine Sonde ernähren lasse und zudem dann auch Bettruhe einhalten würde. Die Patientin meldet lautstark Protest gegen diese Intervention an. Der Oberarzt erklärt, dass sie jetzt bis 15 Uhr zu entscheiden habe, welche Alternative sie bevorzuge und verlässt nach einer kurzen Debatte den Raum: Donnerstag, 16.10. 12:00 Oberarztvisite (im Patientenzimmer) Oberarzt: Tag, wie geht’s? Patientin: Schlecht ... wieder gebrochen ... und dann mache ich mich selbst immer wieder runter ... Oberarzt: Wir sind auch nicht zufrieden (blättert in der Kurve) ... Gewichtsabnahme ... Oberarzt: Wenn Sie jetzt bei uns bleiben, dann beginnen wir mit Sonde und Bettruhe ... dann wenn sie 33 kg haben, können Sie wieder aufstehen .... oder wir müssen Sie entlassen ... sonst werden Sie sich selbst fragen, was es nutzt, hier zu sein, wenn Ihr Zustand und Ihr Gewicht sich nicht verbessern ... ich glaube, es hat hier keinen Sinn, außer mit der Sonde ... überlegen Sie es sich, sonst sage ich “entlassen”. Patientin (ein Aufschreien): Nein ... das ist ja schrecklich ... ich will keine Sonde ... Oberarzt: Überlegen Sie es sich bis 15 Uhr, entweder Sonde oder Sie werden morgen entlassen ... Patient: Aber mit Sonde, das geht doch nicht, dann werde ich doch auch erbrechen ... Oberarzt: Das wird eine Sonde durch die Nase, über den Magen in den Dünndarm sein ... von da aus können Sie nicht erbrechen ... Patientin (schluchzend): ... davor habe ich so Angst. Oberarzt: Das verstehe ich, aber alles andere hat keinen Sinn ... fünf bis sechs Wochen entweder die Sonde oder entlassen ... mit der Sonde können wir dann langsam Gewicht aufbauen ... Patientin (weinend): Aber ich wollte doch mit 40 kg nach Hause gehen ... das schaffe ich doch jetzt nie. Oberarzt: Dann sollten wir gleich um 14 Uhr mit der Sonde beginnen ... Patientin (Mischung zwischen Weinen und Schreien): Nein, nein, das will ich nicht. Oberarzt: Es gibt jetzt die Maßnahme Sonde, oder bis morgen Entlassung, tschüß (der Oberarzt verlässt schnell den Raum, die ganze Visitentruppe folgt hinter ihm her). Auf dem Gang hört man durch die Tür weiterhin das Schreien der Patientin. Ein Praktikant fragt, ob die Patientin denn jetzt überhaupt in der Lage sei, diese Entscheidung zu treffen und ob man dann auch eine Zwangsernährung durchgeführt werden könne. Der Oberarzt erklärt, dass man die Patientin dafür entmündigen müsse, aber die Zwangsernährung könne man auf dieser Station nicht durchführen. Deswegen solle man sie dann lieber jetzt entlassen und dann vielleicht mit einer Klinik in ihrer Heimatgegend Kontakt aufnehmen. Außerdem würde man natürlich die Eltern informieren. Schließlich bestehe jetzt keine andere Handlungsmöglichkeit mehr, denn 3. „Schwierige” Patienten 373 wenn die Patientin unter eine kritische Gewichtsgrenze fiele, würde man die Handlungsfähigkeit verlieren, da man sie dann nicht mehr entlassen könne: auf dem Gang Patientin (durch die verschlossene Tür zu hören): ... Nein ... ich will mich umbringen, ich will nicht mehr. Praktikantin: Die ist ja jetzt erst 19 Jahre, ist die denn in der Lage, diese Entscheidung jetzt zu treffen ... und kann da jetzt eine Zwangsernährung durchgeführt werden? Oberarzt: Dafür müsste sie entmündigt werden ... aber Zwangsernährung können wir hier nicht machen ... dann würden wir jetzt, wenn wir sie entlassen, mit ihrer Klinik in Stuttgart Kontakt aufnehmen, ob die sie jetzt nehmen würden und dann natürlich die Eltern informieren [...]. Oberarzt: Wir müssen das jetzt auch so machen, sonst sind wir nicht mehr handlungsfähig, wenn sie unter 30 kg ist, dann können wir sie nicht mehr entlassen, dann müssen wir sie behandeln ... Bemerkenswert erscheint hier, dass der Oberarzt seine Intervention nicht in einem therapeutischen, sondern in einem organisatorischen Rahmen begründet. Ausschlaggebend ist für ihn der Erhalt der Entscheidungsfähigkeit der Organisation, denn falls der Gesundheitszustand der Patientin ins Kritische abzudriften droht, darf das Krankenhaus sie nicht mehr ohne weiteres entlassen. Der Entscheidungsrahmen scheint hier primär durch die organisatorischen Interessen geformt zu sein. Man will nicht gezwungen sein, eine Problempatientin für längere Zeit auf der Station halten zu müssen, denn hierdurch verliert man die Möglichkeit, durch die Entlassungsdrohung Druck auf sie auszuüben und wird unter Umständen zu Interventionen gezwungen, die man - entsprechend dem, was auf einer psychosomatischen Station üblich ist - lieber nicht anwenden würde. In diesem Sinne wird es zum vorrangigen Ziel, die ärztliche Handlungsfreiheit und das therapeutische Setting zu erhalten - was hier besonders heißt, nicht von der Patientin erpressbar zu sein. Eine Stunde später entscheidet sich die Patientin, die künstliche Ernährung in Kauf zu nehmen und auf der Station zu bleiben. Am gleichen Tag noch wird die Sonde angelegt. Frau Zwinger hält sich nicht an die seitens der Ärzte verordnete strenge Bettruhe. Eine Woche später wird die Patientin sogar dabei erwischt, wie sie sich Süßstoff zum Abführen besorgen will. Der Einzeltherapeut möchte den Fall mit dem Oberarzt besprechen, da jedoch die Oberarztvisite kurzfristig ausfällt und sein Vorgesetzter Anfang der kommenden Woche für ein paar Tage nicht im Haus ist, verschiebt sich das Gespräch um eine Woche. Am Freitag schließlich entscheidet sich der Oberarzt, die Patientin zu entlassen. Der Stationsarzt fragt vor Ort bei einer psychiatrischen Klinik an, ob diese bereit sei, die Patientin aufzunehmen. Aufgrund von „fehlender Therapiemotivation” lehnt diese jedoch die Aufnahme ab. Die Ärzte entscheiden sich, die Patientin mit einem Krankentransport nach Hause in ihre Heimatstadt zu fahren. Um 9:30 Uhr wird die Patientin abgeholt und von dem Stationsarzt verabschiedet. Eine halbe Stunde später ruft der Hausarzt von Frau Zwinger auf der Station an. Die Stationsärztin berichtet ihrem Kollegen und dem Beobachter von dem Gespräch: Die Schwester habe mit der Patientin telefoniert und erfahren, dass diese sich umbringen wolle. Danach habe Frau Zwinger bei dem Arzt angerufen und erklärt, dass sie den Arzt wechseln wolle. Der Hausarzt habe erklärt, dass man vor dem Aufenthalt in der Psychosomatik ja die Absicht gehabt habe, die Patientin zu entmündigen und in die Psychiatrie einzuweisen. Außerdem sei der Vorwurf gefallen, dass auf der Station nur Stümper und Anfänger arbeiten würden, zudem sich die Ärzte schließlich noch nicht einmal bei ihm über die Vorgeschichte erkundigt hätten. Der Beobachter fragt, ob dies stimmen würde. Die Ärztin bejaht die Frage, ergänzt aber, dass man versucht habe, die Akten von dem vorigen Klinikaufenthalt zu bekommen: 374 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Freitag 29.10. 10:45 Arztzimmer Stationsärztin Frau Schnarrenberger: Der sagt, er hätte gerade mit ihrer Schwester gesprochen und die hätte von ihr am Telefon gehört, dass sie sich jetzt umbringen wolle. ... Dr. Meisner hat erzählt, dass Frau Zwinger vor dem Berlin-Aufenthalt auf die internistische Station sollte, um dort entmündigt zu werden, damit sie in die Psychiatrie [in Stadt Z.] eingewiesen werden könne. Das hat sie wohl spitz gekriegt und dann ist sie wohl nach Berlin ... wir haben dies jetzt gar nicht gewusst ... wir haben ihr ja jetzt gesagt, dass wir mit [Psychiatrie in Heimatstadt] Kontakt aufgenommen haben, und dass sie jetzt dahin könne ... und jetzt habe sie ihre Schwester angerufen, dass sie sich umbringen wolle und die hat dann sofort Dr. Meisner angerufen ... und dann hat Frau Zwinger heute morgen den Hausarzt angerufen, sie werde jetzt nicht mehr zu ihm und werde den Arzt wechseln ... und will uns jetzt aber auch keine Telefonnummer von einem Psychiater in Freiburg geben, sondern wolle heute abend nochmals direkt hingehen ... Dr. Meisner hat uns total Vorwürfe gemacht, dass wir Stümper und Anfänger seien ... hätten uns ja auch bei ihm mal erkundigen können. Beobachter: Habt ihr mit dem mal gesprochen? Stationsärztin: Nee, das haben wir bis jetzt noch nicht gemacht ... mit der Klinik in [Heimatstadt] ... da haben wir Kontakt aufgenommen, dass die uns die Akten schicken sollen, aber die sind bis jetzt noch nicht da ... Beobachter: Wie ist die hergekommen? Stationsärztin: Sie ist dann auch durch einen Freund hier, der auch hier in [Großstadt X.] junger Arzt ist, der hier die Psychosomatik empfohlen hat ... sie ist dann durch die Unabweisbarkeit aufgenommen ... Franz [Einzeltherapeut Dr. Klingsor] hat sie gesehen ... sind natürlich jetzt die Vorwürfe ... Sowohl die beiden Stationsärzte wie auch der die Patientin betreuende Einzeltherapeut befinden sich noch im Status des „Arztes im Praktikum” und verfügen zudem nicht über eine psychotherapeutische Ausbildung. Die aus der Vorgeschichte der Patientenkarriere angelegten Implikationen scheinen hier nicht realisiert worden zu sein. Die Dramatik der zuvor gelaufenen Flucht vor der Zwangseinweisung scheint weder erkannt noch thematisiert zu sein. Am Ende stehen Schuldvorwürfe, hier stümperhaft vorgegangen zu sein, die nicht einmal so ohne Weiteres entkräftet werden können. Die Überforderung liegt hier jedoch wieder – wie im Vergleich zum Fall von Herrn Beckenbauer aus dem Thema „medizinisch komplexe Fallproblematiken” – im System und stellt ein Merkmal der hier übersteilen Hierarchien einer universitären Einrichtung dar, innerhalb der die notwendige Betreuung der die Station führenden Berufsanfänger nicht geleistet werden kann. Den Ärzten bleibt auch bei diesem schweren Fall nichts weiter übrig, als routinemäßig das weiterzuführen, was man bei den leichteren Fällen tut und dann – falls es schwierig wird, die Anweisungen des Oberarztes abzuwarten, wenngleich die Entscheidung manchmal eine Woche auf sich warten lässt. Die Stationsärztin informiert den Oberarzt über die Geschehnisse. Dieser schlägt vor zu versuchen, den Krankentransport telefonisch zu erreichen und dahin gehend zu instruieren, die Patientin in der Psychiatrie abzuliefern. Die Ärztin telefoniert mit der Psychiatrie in der Heimatstadt und vergewissert sich, dass die Patientin am Abend noch aufgenommen werden könne. Der Stationsarzt wirft ein, dass dies möglicherweise zu einem Konflikt zwischen dem Fahrer und der Patientin führen könnte. Daraufhin telefoniert die Stationsärztin mit dem Vater der Patientin und bittet diesen um Mithilfe. Orientierungsrahmen: organisatorische und fachliche Überforderung - Auslagerung Innersystemisch offenbart sich auch in diesem Entscheidungsprozess eine Auslagerungsdynamik. Die Ärzte sind mit der Patientin überfordert und die weitere Zuspitzung des Geschehens scheint 3. „Schwierige” Patienten 375 organisatorisch nicht mehr verkraftbar. Die Handlungsfähigkeit der Station zu erhalten wird nun selbst zum vorrangigen Entscheidungsrahmen. Entsprechend muss gehandelt werden, bevor sich das Fallgeschehen dramatisch zugespitzt hat. Die Bemerkung des Oberarztes „unter 30 kg verlieren wir unsere Handlungsfähigkeit” lässt den organisatorischen Rahmen deutlich werden. Die psychische Dynamik des Geschehens tritt demgegenüber in den Hintergrund und wird nicht mehr explizit verhandelt. Psychisch kranke Patienten haben per definitionem eine geschädigte Autonomie, d.h. sie sind nicht mehr in der Lage zu sehen, wie sie ihr Leben autonom bewältigen. Ziel einer Therapie ist die Wiederherstellung der Autonomie, d.h. die Rückgabe der Verantwortung an den Patienten. Der therapeutische Prozess oszilliert zwischen Übernahme von und Ermächtigung zur Eigenverantwortung durch den Patienten. Beide Pole der widersprüchlichen Einheit müssen dabei immer gleichzeitig gedacht werden. Diese Balance zwischen Verantwortungsübergabe und Verantwortungsübernahme wird hier jedoch nicht mehr ausgehandelt - weder in der Arzt-PatientBeziehung, noch im Diskurs zwischen den Therapeuten –, sondern nur noch als stereotypes Ritual vollzogen. Formell wird der Patientin zwar die Entscheidungsmacht übertragen, praktisch wird das therapeutische Team jedoch von der Falldynamik überrannt. Die Ärzte sehen sich aufgrund der Androhung des Selbstmordes gar gezwungen, den Taxifahrer über Funk zu veranlassen, sein Fahrtziel in Richtung Psychiatrie zu verändern. Das therapeutische Paradoxon der Hilfe zur Selbsthilfe stellt sich in der psychiatrischen Zwangsbehandlung in seiner radikalsten Form. Die vollkommene Objektivierung des Patienten in der Zwangsbehandlung erscheint mit dem Ziel, eben die seelische Gesundheit, das heißt Subjektivität und Autonomie des Patienten, wiederherzustellen. Stellvertretend übernehmen Arzt und Therapeuten den wahren Willen des Patienten. Die vollkommene Fremdbestimmung erfolgt mit dem Ziel der späteren Wiederherstellung des Selbst. Legitimiert wird dieses Vorgehen damit, dass seelische Krankheit eben eine geschädigte Autonomie darstellt. Die psychiatrische Behandlung stellt sich hiermit als ein Drahtseilakt dar, auf den zwei Abgründe warten. Zum einen konstituiert jede Zwangsbehandlung auch geschädigte Autonomie, indem sie Willen bricht: Die Behandlung kann immer auch mehr schaden als nutzen. Zum andern schädigt – sich selbst überlassen - geschädigte Autonomie sich selber: Hilfe wird gebraucht. Die Bedingungen für das Gelingen dieses therapeutischen Hochseilaktes werden hier jedoch an keiner Stelle explizit reflektiert bzw. verhandelt. Der Primärauftrag der Psychosomatik, eine Behandlungsperspektive zu entwickeln, indem man Psychologisches und Medizinisches verbindet, steht hier hintenan. Der primäre Rahmen scheint hier organisatorischer Natur – eben in der Abwehr von Überforderung. Hieraus entfaltet sich– wenngleich nicht besonders geschickt inszeniert - eine Auslagerungsstrategie. Die Begriffe „Strategie” und „Inszenierung” sind jedoch nicht in einem subjetkphilosophischen Sinne zu verstehen. Die einzelnen Akteure verfolgen hier nicht die bewusste, intentionale Absicht, eine Problempatientin auszulagern. Vielmehr führt der Systemzusammenhang zu einer überindividuellen Dynamik, die schließlich zur Auslagerung der problematischen Patienten führt (vgl. auch den Fall von Frau Siegel in „Komplexe Fallproblematiken). Komparative Analyse: professionelle Auslagerungsstrategien vs. habituell unsichere Berufsanfänger Während die Chirurgie wie auch die internistische Abteilung von ihrem medizinischen Selbstverständnis nicht für die Behandlung psychischer Probleme zuständig ist und deshalb ohne Identitätsverlust diesbezügliche Patienten von sich weisen kann, muss der Behandlungsabbruch 376 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse für die Psychosomatik als Scheitern eines Behandlungsversuches gewertet werden. Dass die Auslagerung hier dennoch in dieser „unpsychologischen” Form geschieht, weist darauf hin, dass letztlich das Primat des Erhaltes der organisatorischen Identität Vorrang hat. Bestimmte Probleme überfordern hier das Behandlungssystem. Entsprechend heißt handlungsfähig bleiben, das Problem auslagern zu können. In diesem Sinne müssen die Ärzte hier von einem therapeutischen Rahmen zu einem Orientierungsrahmen wechseln, der sich primär durch eine Haltung der Problemabwehr auszeichnet. Sowohl bei Herrn Haase wie auch bei Frau Zenker und bei Frau Zwinger wird nicht mehr verhandelt, welcher therapeutische Weg aus der Sicht des Patienten am ehesten angebracht sei. Stattdessen drängt sich die Frage in den Vordergrund, wie man sich des Problems am geschicktesten entledigen kann. Wenngleich im Ziel Einigkeit besteht – der problematische Patient soll die Station verlassen –, bestehen in der Form, wie das geschieht, einige Unterschiede. Auf der Chirurgie wie auch auf der internistischen Station geschieht die Problemabwehr weit gehend reibungslos. Die Ärzte scheinen einen „professionellen” Habitus entwickelt zu haben, solche Dinge routiniert zu lösen. Demgegenüber geht der Prozess auf der Psychosomatik nicht so weich vonstatten. Wenn man es so nennen will: die jungen Ärzte beherrschen noch nicht die Kunst des eleganten Auslagerns. Im Sinne der schon in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeiteten Typologie klingt hier wieder der Unterschied zwischen den professionalisierten Assistenzärzten im Allgemeinkrankenhaus und den im ärztlichen Habitus noch unsicheren Stationsärzten eines Universitätsklinikums an. Man findet hier weder eine klare Behandlungs- noch eine überzeugende Auslagerungsstrategie. Bemerkenswerterweise erscheint für alle drei medizinischen Disziplinen die Psychiatrie als der Orientierungspunkt, auf den hin sich die Verlegungsbemühungen dann letztlich orientieren. Als medizinische Einrichtung, die – zumindest ideell – noch Heilung verspricht, erscheint die totale Institution Psychiatrie gleichsam als die Ultima Ratio, um es den besonders auffälligen Patienten dann doch noch beizubringen, falls sie es anders nicht verstehen wollen. Ob dieser Auftrag seitens der Psychiatrie wirklich eingelöst werden kann, ist natürlich eine andere Frage. (d) Herr Hardt, psychosomatische Station (Universitätsklinikum) Herr Hardt, ein 52 alter Patient, der vor elf Jahren eine Herztransplantation bekommen hat, wird aufgrund depressiver Verstimmungen auf die psychosomatische Station eingewiesen. Der Mann ist mittlerweile berentet und klagt darüber, dass er nicht mehr arbeiten könne. Durch die Transplantation hat sich sein Körperempfinden verändert. Er berichtet, dass er sein Herz nicht mehr spüren könne und aus Angst vor einem Herzinfarkt gäbe es für ihn seitdem keine Sexualität mehr. Aufgrund der immunsuppressiven Mittel, die er aufgrund des Transplantats einnehmen muss, befürchtet er, in Zukunft unter weiteren Krankheiten und Komplikationen zu leiden. Herr Hardt wollte zunächst auf eigenen Wunsch in die Psychiatrie gehen. Auf Anraten eines Arztes ließ er sich jedoch auf eine psychosomatische Station einweisen. Während seines Aufenthaltes auf der Station wirkt Herr Hardt zunächst auf das Behandlungsteam stark depressiv. Gegenüber der Einzeltherapeutin formuliert er mehrfach Selbstmordgedanken. Der Konsilpsychiater wird eingeschaltet und untersucht den Patienten, entscheidet sich aber gegen eine Einweisung in die Psychiatrie. Während einer Supervisionssitzung wird der Fall von der Einzeltherapeutin angesprochen. In dem Gespräch erklärt der Psychiater, dass er einen Kloß im Hals verspüre, da er auf seinem Konsilbericht „nicht suizidal” vermerkt habe, wenngleich er sich keinesfalls sicher wäre, ob der 3. „Schwierige” Patienten 377 Mann sich nicht dann doch noch etwas antun würde36. Im Gespräch kommen die Beteiligtem zu dem Schluss, dass es besser sei, nicht so tief in die Psychotherapie einzusteigen: Mittwoch, 23.7. 10:30 Supervisionssitzung Einzeltherapeutin: Herr Hardt ... die Schwester rief mich an ... er habe geweint ... ein Mitpatient hat dann mit ihm geredet ... wollte aber mit mir nicht reden ... auch eine halbe Stunde später nicht, als ich dann noch mal angerufen habe ... ist schwer depressiv ... eine Herztransplantation vor elf Jahren ... wollte sich eigentlich in die Psychiatrie in [Stadt X.] einweisen, die haben dann aber gesagt, das sei nicht indiziert ... und haben ihn auf die Psychosomatik geschickt ... ist zu Hause in Merseburg ... ist berentet, leidet drunter, dass er nicht mehr arbeiten kann ... die Frau ist berufstätig, ursprünglich war sie Bürofachkraft , arbeitet jetzt als Kassiererin ... sein Tagesablauf sieht jetzt so aus: Er steht auf ... setzt sich dann den ganzen Tag vor den Fernseher ... die Frau ist Alkoholikerin ... Sexualität gibt es seit elf Jahren nicht mehr, wegen seinem Herzen ... er spüre sein Herz nicht mehr und hat Angst vor dem Herzinfarkt, der dann kommen könnte. ... [...] Psychiater: Mir sitzt dann bei ihm ein Kloß im Hals bei der Frage der Suizidalität ... ich schreibe dann ein Konsil, wo drauf steht ‚keine Suizidalität‘ aber er ist dann jemand, das würde er dann nicht sagen, wenn er sich was antun würde ... die Geschichte mit dem Friedhof ... [...] Psychiater: Was würden Sie da sagen mit der Sexualität, gerade auch im Zusammenhang mit der drohenden Suizidalität ... ist das nicht so, dass wir da auf einem Vulkan sitzen und dann ... Einzeltherapeutin: Das ist auch mein Problem. Psychiater: ... oder ob wir dann lieber gar nichts machen, anstelle jetzt mit ihm Psychotherapie zu machen ... [...] Supervisorin: Gar nichts machen ... auch wenn er sich jetzt gar nicht traut mit der Sexualität ... er hat ja immer die Vorstellung, dass er es ist, der den Frauen was gibt, seiner Frau die Ressourcen, früher den Frauen kleine Geschenke ... auf jeden Fall ist er sehr kompliziert ... aber eigentlich können wir hier gar nichts machen. Anderer Einzeltherapeut: Er will doch gar nichts, gut, es geht ihm schlecht, aber damit hat er sich ja auch arrangiert. [...] Psychiater: Der Dr. Martiensen [aus der Psychiatrie] wollte ihm jetzt sicher etwas Gutes tun, aber Psychotherapie unter Risiko ist auch nicht jedermanns Sache ... frühe Störungen, manche arbeiten damit ... aber es ist riskant ... man kann ja auch nicht alles sagen und ansprechen ... Orientierungsrahmen: Psychotherapeutischer Rahmen – Therapie unter Risiko, ohne Risiko Aus psychiatrischer Sicht erscheint die Gefahr, dass Herr Hardt sich umbringen möge, durchaus vorhanden. Aus psychologischer Sicht würden jedoch die psychotherapeutischen Entwicklungschancen durch die Einweisung in die Psychiatrie radikal gestört. Der Psychiater entscheidet sich hier zunächst für den letzteren Rahmen. Er wird zum Verbündeten des Patienten im Sinne eines günstigen psychotherapeutischen Settings. Der Rahmenkonflikt wird zur ethischen Entscheidung37. In der Supervisionssitzung zeigt sich jedoch eine subtilere Kontextur des Behandlungsprozesses. Wenngleich auch hier Konsens darüber besteht, den Patienten weiterhin auf der Station begleitend zu unterstützen, entscheidet man sich, die brisante Thematik der Sexualität in der Therapie nicht mehr anzusprechen. Die Psychotherapie wird hier sozusagen wieder eingeklammert. In der Psychotherapie findet Psychotherapie nicht mehr statt. Man will den Vulkan nicht zum Ausbrechen reizen und schließlich habe der Patient sich auch in seinem Leiden ganz gut eingerichtet, lauten die Begründungsmuster für den Verzicht auf weiteren Einsatz. Aus 378 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse formeller Sicht wird der Patient behandelt – denn er nimmt ja an dem Therapieprogramm der Psychosomatik teil. Informell hat man sich nun darauf geeinigt, dass man hier lieber nicht zu viel macht, denn auch hier gilt die Maxime, dass man keine allzu großen Risiken eingehen sollte. Komparative Analyse: Ausblendung vs. Auslagerung Im Kontrast zum Fall Haase aus der chirurgischen Abteilung wird die Problematik der Suizidalität im Falle von Herrn Hardt in einer anderen Weise verhandelt. Institutionell kommt der Patient mit seiner Problematik vor – schließlich darf er bleiben und wird nicht in die Psychiatrie ausgelagert, auf einer subtileren Ebene wird sein Problem jedoch ausgeklammert. Im Gegensatz zum Fall von Frau Zwinger, ebenfalls einer Patientin der psychosomatischen Station, scheint das Behandlungssystem hier nicht überfordert. Die Verantwortlichkeiten werden zwischen Einzeltherapeuten und Psychiater aufgeteilt. Die Implikationen der Entscheidung werden diskursiv verhandelt und in der Supervisionssitzung abgestimmt. Die Entscheidung für eine Therapie unter Risiko erscheint als eine bewusste Entscheidung, die durch das Team getragen wird – unter der Voraussetzung eben, dass das eigentliche Risiko – nämlich eine Psychotherapie, die die offensichtlichen Punkte anspricht – nicht eingegangen wird. Im Sinne des originären Behandlungsauftrags einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Station wird hier der Patient im Sinne der widersprüchlichen Einheit einer geschädigten Autonomie gesehen, jedoch nur rudimentär behandelt. Entsprechend kann der Kurzschluss einer vorschnellen Einweisung in die Psychiatrie vermieden werden. Stattdessen oszilliert der therapeutische Prozess zwischen Übernahme von und Ermächtigung zur Eigenverantwortung durch den Patienten. In diesem Fall scheint dieser Prozess durch die beteiligten Akteure leistbar (im Gegensatz zum Fall von Frau Zwinger). Dies drückt sich im professionellen Habitus therapeutischer Verantwortungsübernahme aus. Die potenzielle Überforderung durch die Fallproblematik wird auch hier gesehen, mündet jedoch nicht in der institutionellen Auslagerung, sondern wird systematisch innerhalb des Behandlungsprozesses ausgeblendet. Auch hier findet gegenüber dem Patienten eine Inszenierung statt, die jedoch in ihrer subtilen Form kaum bemerkbar ist. Um mit Goffman zu sprechen: Der Patient ist das Publikum eines Theaterstücks, und je besser das Ensemble eingespielt ist, desto besser läuft die Inszenierung (s. Goffman 2000: 73ff.). Und hier gehört natürlich auch eine gewisse Erfahrung dazu, um dann den Eindruck entstehen zu lassen, als nehme man den Patienten wirklich ernst. Gerade hier zeigen sich im Sinne einer Kompetenztypik erhebliche Unterschiede zwischen Profis und Berufsanfängern. (e) Herr Masur, onkologische Station (Universitätsklinikum) Herr Masur wird am 4. Juni erneut auf der onkologischen Station aufgenommen. Der Patient leidet unter einer akuten lymphatischen Leukämie, die vor knapp neun Monaten aufgetreten ist. Trotz der chemotherapeutischen Behandlung sind relativ schnell wieder Rezidive aufgetreten. Da der Patient keine Geschwister hat, die als Spender für eine Knochenmarktransplantation in Frage kommen, bleibt für den Patienten als letztes kuratives Behandlungsrational nur noch die Möglichkeit der riskanten Fremdspende. Der Patient steht jedoch dieser Therapieoption ablehnend gegenüber. Die Ärzte entscheiden sich, diesbezüglich nochmals mit dem Patienten zu reden: 3. „Schwierige” Patienten 379 Mittwoch, 5.6. Oberarztvisite (auf dem Gang) Prof. Krause: ... ist jetzt 63 Jahre ... hat keine Geschwister ... ein Rezidiv ... dann ein Frührezidiv nach Anthrazyclin ... und dann für den [Therapieplan X.] die Studie ist ja jetzt zu ... können wir ihn jetzt nicht mehr rein ... bleibt dann doch nur der Fremdspender. Dr. Kringe: Das hat er ja abgelehnt. Oberarzt: Es gibt jetzt auch ein Rezidiv-OSHO Protokoll ... jetzt Anthrazyclin wieder zu überlegen, vielleicht, wenn ich dann nächste Woche weg bin, hat ja keinen Sinn ... müssen wir jetzt mit ihm reden wegen der Fremdspende. Im Patientenzimmer Oberarzt Prof. Krause: So Herr Masur ... (Der Patient wird untersucht und über seinen aktuellen Zustand befragt.) [...] Oberarzt: Sie haben ja jetzt Chemotherapie bei uns gehabt ... dreimal ... haben Sie ja gut vertragen. Patient: Ja, ging gut ... Oberarzt: Ist ja jetzt so gewesen, dass nach 3 Monaten die Leukämie wieder da war ... jetzt können wir ja sagen “haben wir schon dreieinviertel Jahr bei Ihrer schweren Krankheit gewonnen” ... aber dann müssen wir auch ernsthaft sagen “mit dreimal Chemo können wir die Leukämie nicht ernsthaft besiegen ... jetzt müssen wir überlegen mit der Fremdtransplantation ... Patient: Geschwister habe ich ja keine und von der Fremdtransplantation habe ich jetzt nur Schlechtes gehört ... habe es ja auch hier gesehen, wie es den Patienten geht ... Oberarzt: Letztlich können Sie das entscheiden ... jetzt mit der Chemo können Sie noch ein paar Monate gewinnen ... Patient: Kann es nicht sein, dass die Chemo dann doch anschlägt? Oberarzt: Gut, die Hoffnung hat man jetzt immer, aber die Chance ist jetzt ganz klein ... müssen Sie jetzt abwägen ... die Fremdtransplantation ist jetzt einfach im Moment das Beste, was wir anbieten können ... ist natürlich jetzt ein hohes Risiko ... aber das ist jetzt ein Abwägen ... Patient: Auch jetzt hier auf der Station ... habe ich nur Negatives gehört ... ist ja dann wie im Krieg: “diese Schlacht habe ich geschlagen und dann diese Schlacht, war dann da und da ...” Oberarzt: ... ist ja jetzt, dass hier nur die Patienten sind, wo das nicht klappt ... die, bei denen das geklappt hat, sind dann zu Hause ... Sie wissen ja, dass die Leukämie eine tödliche Krankheit ist ... ist dann ein Risikoabwägen ... Patient: ... habe dann einen Arzt gesprochen, der sagte mir wörtlich: “jetzt haben wir endlich einen Patienten gehabt, der die Fremdtransplantation überlebt hat und dann hat der ein Softeis gegessen und ist an Salmonellen gestorben“ ... Oberarzt Dr. Martiensen hat ja Ihnen auch damals gesagt, “es gibt jetzt die Option und dann die Option“ und jetzt ist die Leukämie dann doch wieder da. Oberarzt: Die Chemo hat ja dann doch bis jetzt geholfen ... und das wäre dann der nächste Schritt ... aber Sie müssen sich da entscheiden ... Während der Oberarzt hier anhand einer statistischen Logik argumentiert – prinzipiell eröffnet die Transplantation noch eine Heilungschance -, entscheidet der Patient aufgrund von Erfahrungsbildern: Er ahnt und erlebt, wie schlecht es Patienten gehen kann, bei denen die Therapie fehlschlägt. Er ahnt, was es bedeuten kann, wenn es zu der befürchteten draft vs. hostReaktion kommt, bei der die transplantierten Immunzellen den eigenen Körper angreifen. Der theoretischen Heilungschance steht ein Schreckensbild gegenüber, das nur durch die Metaphern des Krieges zu beschreiben ist („diese Schlacht”). Der Arzt stellt die Perspektive der Heilung heraus, der Patient die schwere Last eines grausamen Kampfes. Hier offenbaren sich zwei verschiedene Bewertungsmaßstäbe. Für die Ärzte scheint die Hoffnung auf eine Überlebenschance auch eine weitere Odyssee durch die Abgründe der Therapienebenwirkungen zu rechtfertigen. 380 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Der Patient möchte sich diesem Szenario nicht mehr stellen. Seine Entscheidung gegen die Transplantation bedeutet, sich dem Tod hinzugeben. Einen Tag später fragt der Stationsarzt den Transplantationsexperten Dr. Martiensen, ob dieser bereit sei, bei Herrn Masur eine Fremdtransplantation zu versuchen. Dieser erklärt sich grundsätzlich bereit. Dr. Kringe bespricht mit dem Patienten nochmals die Therapieoptionen. Dieser weigert sich jedoch weiterhin, eine Fremdtransplantation durchführen zu lassen. Der Arzt bemerkt dem Beobachter gegenüber, dass der Mann keine Krankheitseinsicht habe und erklärt nochmals die Chancen und Gefahren der Fremdtransplantation: Donnerstag, 6.6. 11:45 Stationszimmer Dr. Kringe: Herr Masur ... der hat dann keine Einsicht in das, was er hat ... wenn wir jetzt eine Fremdtransplantation machen, dann hat er zu einem Drittel eine gute Chance geheilt zu werden, zu einem Drittel ist er dann chronisch krank und zu einem Drittel verstirbt er während der Therapie ... ist eine gute Chance ... jetzt ist das natürlich altersabhängig ... in seinem Alter ist die Chance dann nicht mehr so gut ... mit 60 ist das dann schlechter als bei jungen Patienten ... hat er einfach ein höheres Risiko ... die Nebenwirkungen einer Hochdosischemotherapie sind ... er wird dann ja alle denkbaren Infektionen bekommen ... ist ja dann drei Wochen aplastisch bei der allogenen Transplantation ... die jungen verkraften das dann ... aber bei den Älteren hängt dass dann doch sehr von dem Allgemeinzustand ab ... er verdrängt das einfach, dass er jetzt in einem Jahr tot sein wird ... [...] ist dann irgendwann nur noch eine hochpalliative Therapie möglich ... kommt er dann zweimal die Woche her, um Blutprodukte zu substituieren ... bei Herrn X. ging das immerhin noch ein halbes Jahr so ... Im Interview erläutert der Oberarzt ebenfalls seine Haltung zu dem Fall. Emotional könne er verstehen, dass der Patient so und nicht anders entscheide. Rational sei dies jedoch nicht vernünftig, denn hierdurch vergebe er die Chance einer Heilung. Den Patienten jetzt zu der Fremdtransplantation überreden zu wollen, halte er jedoch auch nicht für sinnvoll, denn der Patient müsse letztlich diese Therapieentscheidung mittragen, ansonsten könnten leicht Vorwürfe entstehen, falls dann die Therapie nicht den erwünschten Erfolg habe: Beobachter: [...] also das hab ich ja auch so’n bisschen mitgekriegt bei Masur da waren Sie jetzt auch nicht ganz einverstanden, was er für eine Entscheidung getroffen hat. Prof. Krause: Richtig. Die nach meinem medizinischen Wissen nicht optimal ist, die ich aber emotional aus seiner Sicht sehr gut nachvollziehen kann. [...] Und ich natürlich die Sorge habe, dass er sich dann am Ende zu etwas überredet fühlt, was dann vielleicht nicht gut geht; und das wäre natürlich schlimm, wenn dann ein Patient, den man monatelang betreut hat, wenn der in dem Gefühl dann unter Umständen stirbt, ähm der schlechten ärztlichen Versorgung - weil er einer Therapieempfehlung gefolgt ist, ohne vielleicht komplett hinter ihr zu stehen - nur weil er auf mich vertraut hat und die Therapieempfehlung stellt sich dann eventuell als nicht erfolgreich heraus. [...]. Es hat, nee es hat keine Rationalität, es hat eine Emotionalität [...] weil die objektiven äh medizinischen Daten sind so eindeutig, dass man - ich hatte ja das ihm auch mal ganz bewusst in den dürren Zahlen genannt - wenn er sich meiner Therapieempfehlung nicht anschließt, hat er mittelfristig eine Prognose von null Prozent. Wenn er sich meiner Therapieempfehlung anschließt hat er mittelfristig eine Prognose von dreißig bis vierzig Prozent - und das wäre für mich bei aller Sorge und bei allen Ängsten vor so einer solchen Therapie Grund genug zu sagen ich versuche das. Orientierungsrahmen: Medizinalität vs. Beziehungsorientierung Die Ärzte empfinden die Entscheidung von Herrn Masur, auf die Transplantation zu verzichten, als irrational. Rational zu handeln heißt hier, jede mögliche Therapiechance anzunehmen. Das Überleben stellt hier den unhinterfragbaren letzten Wert dar. Kein Preis – nicht einmal die hohe Wahrscheinlichkeit eines langen Siechtums, falls dann doch der Körper immunologisch 3. „Schwierige” Patienten 381 mit Selbstzerstörung reagiert – scheint zu hoch, um auf die Chance einer Lebensverlängerung zu verzichten. Innerhalb dieses medizinalen Orientierungsrahmens erscheint das Verhalten des Patienten als Verdrängung bzw. als unvernünftig und emotional, jedoch keinesfalls als eine biografisch legitime Entscheidung darüber, unter welchen Bedingungen man bereit ist, sein Restleben noch weiter zu leben. Als unhinterfragbarer impliziter Wert der medizinischen Kultur erscheint hier das »Überlebens- und Leidens-Ideal« und die hieraus resultierende „Kampfkultur“ (Wettreck 1998: 47ff.). Das Verhalten des Patienten ist zwar „emotional nachvollziehbar”, wird jedoch als Schwäche ausgelegt. Dennoch entscheiden sich die Ärzte, den Patienten nicht zu seinem Glück zu zwingen, denn das Einverständnis des Patienten zu dem schwierigen Therapieprozess wird gebraucht. Ohne den Willen, die Strapazen der Behandlung tapfer auf sich zu nehmen zu wollen, kann man die Tortur der Fremdtransplantation nicht beginnen. Eine tragbare Beziehung zum Patienten ist die Grundvoraussetzung, um eine solche Therapie wagen zu können. Als zweiter Orientierungsrahmen müssen deshalb hier die Patientenwünsche und die Patientenbeziehung ernst genommen werden. Für den Oberarzt macht es entsprechend wenig Sinn, den Patienten zu einer Therapie zu überreden, die er gar nicht machen will. Hier den Patienten zu übergehen, bedeutet für ihn die Gefahr, im Falle des Therapieversagens mit Vorwürfen bombardiert zu werden. Die Beziehung zum Patienten könnte sich für ihn hier leicht zu einer Hölle entwickeln. Auch wenn man dem Patienten Unvernunft attribuiert, heißt es hier nicht, dass man ihn nicht ernst nehmen muss. Innerhalb der schwierigen und langwierigen Prozesse onkologischer Therapien stellen Medizinalität und Beziehungsorientierung zwei gleichberechtigte Standbeine einer Behandlungsentscheidung dar. Komparative Analyse: Entscheidungsautonomie vs. geschädigte Autonomie Wie auch im Fall von Herrn Hardt bildet auch bei Herrn Masur der therapeutische Prozess und weniger die organisatorische Rationalität den Rahmen des ärztlichen Handelns. Auch hier entfaltet sich im Gegensatz zu den weiter vorne beschriebenen Fällen keine Abwehrsemantik, sondern das Behandlungsteam versucht, sich vor Ort dem Problem zu stellen. Implizit entscheidet sich Herr Masur für das Sterben und erzeugt damit Widerspruch zur medizinischen Ideologie der Lebenszeitmaximierung. Seine Haltung wird jedoch nicht psychotherapeutisch bearbeitet, sondern im Sinne eines weiteren Arbeitsbündnisses einfach akzeptierend hingenommen. Der Patient scheint tragbar, wenngleich er auch nicht im Sinne der ärztlichen Vorstellung handelt und entscheidet. Da im Gegensatz zum Fall von Herrn Hardt dem Patienten selbst die Verantwortung für seine Entscheidung zugerechnet werden kann, brauchen die Ärzte die Verantwortung für den Therapieverzicht nicht zu übernehmen. Als nicht-psychiatrischer Fall bleibt der Patient entscheidungsfähig. Anders als beim Problem des suizidalen Herrn Hardt kann sich hier gar nicht die Frage stellen, ob man die Handlungsautonomie des Patienten zwangsweise einzuschränken habe, denn die Person wird hier für die Therapie gebraucht. Die Patientenbedürfnisse nicht zu beachten, kann sich hier schnell als Bumerang erweisen, denn in den üblicherweise mehrere Monate dauernden Behandlungszyklen müssen sich Arzt und Patient auch persönlich begegnen. Moralischer Druck – etwa in Form von Vorwürfen der Form „Sie haben mir doch gesagt” – hat hier genügend Raum, um sich wirksam zu entfalten38. Patienteninteressen kommen ins Spiel und müssen seitens der Ärzte – ob sie wollen oder nicht – mit verhandelt werden. Im Gegensatz zur Psychosomatik kann in der Onkologie Nicht-Therapie nicht als Therapie verkauft werden. Der Möglichkeit, Behandlungskontexte zu inszenieren, sind hier naturgemäß Grenzen gesetzt. 382 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse (f) Frau Menzel, chirurgische Station (Allgemeinkrankenhaus) Frau Menzel, eine 55 Jahre alte Patientin, kommt in die chirurgische Sprechstunde. Zu Beginn der Untersuchung legt sie dem Arzt eine lange Liste von etwa 20 kleineren und größeren Eingriffen vor, die im Laufe ihrer Patientenkarriere durchgeführt worden sind. Im Gespräch mit der Patientin stellt der Arzt fest, dass die Patientin in den letzten Jahren schon zwei Mal auf der Station gewesen ist. Einmal sei wegen Unterbauchbeschwerden sogar eine diagnostische Operation durchgeführt worden, wo man dann allerdings nichts gefunden habe. Der Arzt untersucht den Bauch der Patientin. Diese klagt über Schmerzen. Der Chirurg ordnet eine spezielle Ultraschalluntersuchung an und schickt die Patientin zur Röntgenabteilung. Nachdem die Patientin den Raum verlassen hat, liest der Arzt dem Beobachter von der Liste vor, die ihm die Patientin übergeben hatte. Er benennt einige kleinere Eingriffe (wie z.B. eine „Nervenendenentfernung”) und bemerkt, dass bei dieser Frau klinisch nichts zu finden sei. Allerdings würde bei solchen Patienten dann immer ein Arzt die Nerven verlieren und dann doch eine Operationsindikation stellen: Dienstag, 5.11. Untersuchungsraum Dr. Malek: Die ist richtig operationsgeil ... das ist einer von den undankbaren Fällen, wo dann irgendein Arzt die Nerven verliert und sagt, die muss operiert werden ... klinisch ist da nichts. In dem Ultraschallbefund ergeben sich keine klaren Hinweise für eine Operationsindikation. Dennoch entscheiden sich die Chirurgen auf Wunsch der Patientin für einen Eingriff. Im Interview berichtet der Chirurg, dass man während der Operation auch keine wirkliche Ursache für die Unterbauchschmerzen gefunden habe. Er wie auch ein Kollege, der zur zweiten Stellungnahme gebeten wurde, vermuten zwar, dass da jetzt nichts zu finden sei. Aber dennoch habe die Patientin nun den Eingriff gewünscht und da man letztlich nie wissen könne, ob jetzt nicht doch etwas sei, habe man ihrem Wunsch schließlich stattgegeben: Dr. Malek: [...] eigentlich muss man sagen, ist dabei nicht viel rausgekommen, was wir tatsächlich intraoperativ gefunden haben, waren die zu erwartenden Verwachsungen im Bereich des Dünn- und Dickdarms, die waren aber nicht dramatisch. Es gab einen Verwachsungsstrang [...] den haben wir gelöst. Hätten wir den nicht gelöst, hätten wir – glaube ich - ein genauso gutes Gewissen gehabt, zu sagen, da ist nichts Besonderes. Insbesondere dieser punktuelle Druckschmerz oberhalb der ehemaligen Blinddarmnarbe der ist nun genauestens inspiziert worden, da haben wir nichts gefunden. So haben wir das der Patientin auch vermittelt. Haben ihr auch gesagt, da ist nichts, was wir sehen können - also aus chirurgischer Sicht. So steht es auch letztlich im Abschlussbericht: sehen wir dort keine Möglichkeit der Hilfe, ja? Wobei die Patientin am ersten Tag nach der Operation durchaus zufrieden war, um bei Entlassung schon wieder über die gleichen Symptome zu klagen. [...] Also wenn man sich die Anamnese dieser speziellen Patientin angeguckt hat, hatte man schon gewisse Zweifel, nicht? Und also wegen der Indikationsstellung, aus diesen Gründen, äh, habe ich auch einfach nochmals, aus dem Blickwinkel der second opinion, einfach auch nochmals einen Kollegen hinzu gerufen. Habe gesagt: „Guck dir das mal an, was meinst du denn dazu”. Wir haben dann gemeinsam über den Fall gesprochen und haben gesagt: „Gut, äh, wir sehen es beide eigentlich relativ gleich. Äh, es ist nur so, dass manchmal die Patienten tatsächlich auf so einer diagnostischen Laparoskopie [einem minimal invasiven chirurgischen Eingriff] bestehen und dem haben wir stattgegeben in dem Fall, obwohl wir letztlich - muss man sagen - auch nicht ganz überzeugt waren, ne? Aber ich sag ja: der Mensch ist eine black box und bevor man wirklich nicht gekuckt hat, muss man davon ausgehen, dass man einem Patienten diese Beschwerdesymptomatik erst mal abnimmt . [...] Gut hinterher kann man immer sagen: „Na, ja, wir wussten es ja,” nicht? Aber: Die letzte Sicherheit hat man da ganz sicherlich nicht gehabt . 3. „Schwierige” Patienten 383 Orientierungsrahmen: rechtliche Absicherung – medizinische Routinen Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als sei hier im Sinne des Patienteninteresses gehandelt worden – Frau Menzel wollte ja schließlich den Eingriff –, offenbart das Interview mit dem Chirurgen einen tiefer liegenden Orientierungsrahmen: Man misstraut zwar der Patientin, hält sie für ein wenig verrückt, aber letztlich will man sich dann doch absichern. Zunächst wird der Kollege zur zweiten Meinung gerufen und zusätzlich wird dann doch sicherheitshalber operiert. Der Konfrontation mit der Patientin wird ausgewichen. Stattdessen wird auf die stationsüblichen medizinischen Routineabläufe rekurriert: Operieren gehört schließlich zum Alltag und ob der Eingriff dann wirklich Sinn macht, ist im Zweifelsfall eine sekundäre Frage. Gründe für eine Operationsindikation lassen sich hier im Zweifelsfall immer finden – es hätte ja was Ernstes sein können. Komparative Analyse: Kontaktvermeidung vs. Beziehungsorientierung Während im Fall von Herrn Masur die Therapieentscheidung zur Knochenmarktransplantat ion den Einsatz des und die Beziehung zum Patienten erfordert, lässt sich ein chirurgischer Routineeingriff ohne Beteiligung des Patientenbewusstseins durchführen und durchstehen. Die Ärzte orientieren sich hier weniger am Patienten bzw. an der Beziehung zum Patienten denn an den organisatorischen Routinen. Die offensichtlichen Eigenarten der Patienten werden zwar wahrgenommen – man mokiert sich über Frau Menzel -, fließen aber nicht in den Entscheidungsprozess mit ein. Wenngleich hier operiert und scheinbar auf die Patientin eingegangen wird, zeigt sich eher auch eine Homologie zum Fall von Herrn Haase: Man braucht die Patienten diesbezüglich nicht allzu ernst zu nehmen. Demgegenüber verlangt die Onkologie allein schon aufgrund der langen Behandlungszyklen einen guten Kontakt zum Patienten. Analog zu den Auslagerungsbeispielen lässt sich auch hier für die Außendarstellung immer eine plausible Begründung finden, warum man so und nicht anders gehandelt hat. (g) Zusammenfassung, zugleich abschließende komparative Analyse Patienten können durch ihre Erwartungen und Wünsche, aber auch durch ihre bzw. den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften das Behandlungssystem irritieren. Diese Verstörungen können mit den Funktionsbezügen der jeweiligen medizinischen Einrichtung übereinstimmen bzw. noch verkraftbar sein, können aber auch eine solche Überforderung bzw. Bedrohung darstellen, dass die Patienten abgewehrt werden müssen. Letzteres geschieht in allen beobachteten Stationen in Form der Auslagerung, wobei die Psychiatrie als medizinische Betreuungseinrichtung für viele Problemfälle gleichsam der Zielort der Auslagerungsbemühen darstellt. Da im Zentrum des Entscheidungsprozesses nun nicht mehr der Behandlungsprozess selbst steht, sondern die Abwehr des Patienten, können Gründe für die Überweisung bzw. Entlassung vorgetäuscht werden. In den verschiedenen Stationen kann dabei auf den jeweils durch die eigene Fachdisziplin geprägten Modus operandi zurückgegriffen werden. Bei Herrn Haas lassen sich medizinische Gründe (er-)finden, um den Patienten nicht zur Operation aufzunehmen. Frau Zenker wird eine Psychose angedichtet, wenngleich der beratend zu Hilfe gerufene psychiatrische Konsiliarius kein psychotisches Verhalten feststellen kann. 384 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Alle „Auslagerungsprozesse” zeichnen sich dadurch aus, dass nun die organisatorischen Prozesse im Vordergrund stehen. Man ist überfordert bzw. kann die Verantwortung für das möglicherweise zu erwartende Geschehen nicht übernehmen. Demgegenüber bleiben sowohl der Patient wie auch der eigentliche therapeutische Behandlungsauftrag mehr oder weniger außen vor. Weder wird das vermeintliche Behandlungsinteresse des Patienten verhandelt noch versucht, eine intensivere Beziehung zu diesem einzugehen. Diese Prozesse finden generell unter einem geschlossenen Bewusstheitskontext statt, d. h. die Patienten und in der Regel wohl auch nicht ihre Angehörigen können nicht in das Abschiebemanöver eingeweiht werden. Medizinische Gründe werden vorgetäuscht, während in Wirklichkeit organisatorische und legitimatorische Rahmen den Hintergrund für die ärztlichen Entscheidungen liefern. Demgegenüber wird in den „Integrationsprozessen” der ursprüngliche Auftrag der klinischen Einrichtung – nämlich Therapie oder Diagnose zu betreiben – trotz offensichtlicher Irritationen bzw. Dissonanzen zwischen Ärzten und Patienten zumindest formell aufrechterhalten. Zumindest prinzipiell können sich Ärzte und Patienten über ihre jeweiligen Handlungsmotivationen austauschen. Im Rahmen eines psychotherapeutischen Gesprächs kann man mit Herrn Hardt über die Frage der Suizidalität sprechen. Sowohl im Fall von Herrn Masur, als auch im Fall von Frau Menzel können zumindest rudimentär die divergierenden Perspektiven thematisiert werden. Die Integration des Patienten in das Behandlungssetting bedeutet jedoch nicht, dass auch Behandlung stattfindet. Wie die Beispiele von Frau Menzel und Herrn Hardt aufzeigen, kann man vernünftige Therapie und Diagnose auch innerhalb des Behandlungssettings vortäuschen, um andere Konflikte zu vermeiden. Erst der Fall von Herrn Masur bildet hier sozusagen den theoretisch interessanten Grenzfall eines Patienten, der wider die vorrangige ärztliche Behandlungslogik von den Ärzten in seinen Präferenzen und Bedürfnissen ernst genommen werden muss. Sich in störende und irritierende Patienten einzufühlen und hineinzudenken, braucht Zeit und Kraft. Die hier vorgeführten Auslagerungsstrategien, ebenso wie die verfahrensmäßigen Abkürzungen und der stereotype Rückzug auf den primären Funktionsbezug, stellen vor diesem Hintergrund eine mehr oder weniger innersystemische Notwendigkeit dar. Die Behandlung der Irritationen muss entsprechend wieder in systemeigene Routinen überführt werden. Zunächst steht dabei die Entscheidung an, ob das Problem intern bewältigt werden kann, oder ob die Auslagerungsroutinen anlaufen, um dann – solange das Problem intern bearbeitet wird – primär die ureigenen Funktionsbezüge anzuwenden. Analog zu den Ergebnissen der vorangegangenen Unterkapitel begründet sich aus den Fallanalysen folgende Typik: (1) Kompetenzdefizite vs. ärztliche Kompetenz im Team; (2) Chirurgisch-aktionistischer vs. internistisch abwartender vs. psychotherapeutischer Handlungsmodus; (3) beziehungsorientierter vs. verfahrensorientierter Modus; (4) offener vs. geschlossener Bewusstheitskontext. Im Hinblick auf die habituelle Sicherheit, mit der die Irritationen durch die Patienten seitens des ärztlichen Teams behandelt werden können, zeigen sich – wie in den komplexen und palliativen Fällen - insbesondere wieder Unterschiede zwischen der psychosomatischen Station und den Allgemeinkrankenhäusern. Während in den städtischen Einrichtungen die diesbezüglichen Anmerkungen 385 Manöver routiniert durchgeführt werden können, scheint im Fall von Frau Zwinger eine starke Unsicherheit zu bestehen, wie denn nun so ein Problem zu behandeln sei. Die Stationsärzte erscheinen hier überfordert. Die durch die besondere Ausbildungssituation an einer Universitätsklinik bedingte „Kompetenztypik” kommt hier wieder zum Vorschein: Die habituellen Muster, solche Herausforderungen bewältigen zu können, sind bei den Ärzten im Praktikum noch nicht vorauszusetzen. Demgegenüber ist zu erwarten – wie auch der Fall von Herrn Hardt zeigt -, dass erfahrene Psychiater und Therapeuten diesbezügliche Probleme eleganter lösen können. Des Weiteren zeigen sich Unterschiede zwischen den jeweiligen Disziplinen. Probleme werden üblicherweise im jeweils eigenen Modus operandi behandelt. Für die Abwehrsemantik heißt dies: Die Chirurgen inszenieren bei Herrn Haase eine rektoskopische Untersuchung, um zu demonstrieren, dass man nicht operieren könne. Die Internisten versuchen bei Frau Zenker, durch einen psychiatrischen Konsiliarius die Diagnose zu erhärten. In der Psychosomatik beruft man sich auf die psychotherapeutische „Ideologie”, dass eben der Patient zu wollen oder sonst zu gehen habe. Im Hinblick auf die Integrationsleistung bedeutet dies: Im Fall von Frau Menzel operieren die Chirurgen dennoch, wenngleich sie die Operation für unsinnig halten. Herr Masur bekommt wie erwünscht seine palliative Chemotherapie und bei Herrn Hardt wird Psychotherapie betrieben, ohne Psychotherapie zu machen. Eine weitere Typik zeigt sich im Hinblick auf die Medizinalität des ärztlichen Handelns. Während sich die Chirurgen und teilweise auch die Internisten primär auf biomedizinische Abläufe zurückziehen können – der vorrangige Handlungsrahmen besteht hier darin, einen therapeutischen und diagnostischen Eingriff zu vollziehen -, verlangen die langwierigen Therapien in der Onkologie eine stärkere Beziehungsorientierung. Der Patient muss auch in seinen Bedürfnissen und Irritationen ernst genommen werden. Der gute Kontakt zum Patienten wird zum zweiten Standbein innerhalb des ärztlichen Prozesses, denn Therapie lässt sich hier nicht nur auf die pharmakologische Beeinflussung der Organfunktionen reduzieren. Die Abwehrmanöver gegenüber den Irritationen durch die „schwierigen Patienten” können in der Regel nicht kommuniziert werden, verlangen also einen mehr oder weniger geschlossenen Bewusstheitskontext. Selbstverständlich können die Patienten ebenso wenig in ein Auslagerungsmanöver eingeweiht werden, wie in eine Integration, die nur zum Preis des nicht ernst Nehmens zu leisten ist. Die Ausnahme von dem geschlossenen Bewusstheitskontext liefert hier wieder das Beispiel von Herrn Masur aus der Onkologie. Da hier die Beziehung zwischen Ärzten und Therapeuten zum essenziellen Bestandteil des Behandlungssettings wird, müssen die jeweiligen Handlungsorientierungen in ausreichendem Maße offen gelegt werden. Demgegenüber bietet die Psychosomatik im Hinblick auf ihre weichen Zielkriterien in Bezug auf das, worin Psychotherapie besteht, mehr Spielraum für strategische Manöver. Anmerkungen 1 An dieser Stelle muss noch einmal betont werden, dass die Kriterien, die bestimmen, was denn das Wohl des Patienten sei, im Krankenhaus üblicherweise in paternalistischer Manier von ärztlicher Seite definiert werden. Ein shared decision making kommt in der Praxis des Krankenhauses de facto kaum vor. 2 Die Fallanalyse von Herrn Spondel erscheint mir aus verschiedenen Gründen besonders geeignet, einige Grundzüge der Dynamik ärztlicher Entscheidungsprozesse deutlich werden zu lassen: Frau Dr. Reif, die den Patienten zu Beginn der Beobachtung behandelnde Stationsärztin, hatte ehemals in einer medizinischen Leitungsposition einer geriatrischen Abteilung gearbeitet. Durch ihre Sonderrolle – ihre Berufserfahrung 386 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse und diesbezügliche Reflexionsformen, einen gewissen Leidensdruck und den sich hieraus ergebenden „Widerständigkeiten” – kommen einige Konflikte innerhalb der Institution Krankenhaus besonders deutlich ans Licht. Der Wechsel der Betreuung zu dem 30-jährigen Stationsarzt Dr. Schmidt im Behandlungsverlauf aufgrund eines Erholungsurlaubs erlaubt demgegenüber - gleichsam als innerer Kontrast -, von der besonderen Situation von Frau Reif abstrahieren zu können. Wenngleich sich hier eine andere Strategie im Umgang mit den Entscheidungskonflikten zeigt, so ergeben sich doch in wesentlichen Punkten strukturelle Ähnlichkeiten im Hinblick auf die Natur der Entscheidungsprobleme. Die hohe interaktive Dichte innerhalb des Beobachtungszeitraums - mehrere Chef- und Oberarztvisiten fanden statt, einige konsiliarische Untersuchungen wurden veranlasst und die Angehörigen zeigten sich regelmäßig auf der Station - erlaubt es, den Modus operandi der Entscheidungsfindung umfassend zu rekonstruieren, insbesondere auch im Hinblick auf die Rahmungen („framing” and „misframing”) sowie die sich hieraus entfaltenden Konflikte. 3 Auf der Ebene der persönlichen Identität würde diese Frage allerdings eine Rolle spielen. Hier würden sich dann auf der biografischen Ebene unter Umständen Brüche ergeben, die sich aus dem Wechselspiel von administrativer Pragmatik und ärztlicher Identität ergeben. Auch im persönlichen Interview mit dem Chefarzt taucht dieser Konflikt auf, findet hier aber durchaus eine identitätsstiftende Lösung. Indem der Chefarzt darauf besteht, die sorgfältige ärztliche Analyse als intellektuelle Arbeitsleistung auch in den Fällen zu vollziehen, wo aus administrativen Gründen eine Weiterbetreuung eines Patienten nicht mehr möglich scheint, bleibt für ihn der Kern der ärztlichen Identität gerade dadurch unberührt, dass die handlungspraktischen Probleme nach außen ausgelagert werden: Chefarzt: »Wenn ich jetzt nicht mehr aus Gründen der Fallpauschale [...] in der Lage bin, den Patienten so und so lange zu behalten, weil sich das nicht rechnet, ich kann ihn nicht zehn Tage behalten [...] das darf mich aber nicht entheben, so sehe ich es, dass ich trotzdem sorgfältig über diesen Patienten nachdenke, und dann schreibe ich dem Hausarzt das, und das gehört nach unserer Ansicht nach beobachtet oder gemacht, auch wenn wir das hier im Moment nicht mehr zurechtkriegen, das sind aber durchaus ambulant machbare Sachen, dann hat der Hausarzt einen Leitfaden, dann kann er zustimmen oder er kann es auch lassen, und wenn er sagt ja, das ist mir ganz vernünftig, was der da aufgeschrieben hat, dann kann ich das abarbeiten, dann bin ich beruhigt [...], wir machen vielleicht nicht mehr alles so, aber wir versuchen über alles nachzudenken, so dass der ganzheitliche Komplex erhalten bleibt [...], wenigstens intellektuell [...] aber wichtig ist das, das muss man deutlich machen, darum mache ich so weiter, theoretisch so weiter, als ob die Liegezeit keine Rolle spielt [...], das ist mehr ne intellektuelle Sache als ne Zeit konsumierende Sache, man wird von der Zeit Abstriche machen müssen [...], das will ich auch so beibehalten, weil ich die Kollegen auch äh ich muss sie auch ausbilden, die Jüngeren, ich hab AiPʼs, junge Kollegen, auchʼn paar, die müssen ja den Gedankengang lernen, und die müssen wissen, aha das wäre nötig, das können wir aus andern Gründen hier nicht machen, aber von der Medizin her ist es richtig, und das müssen die einsehen«. 4 Hier bietet sich weiterhin der Vergleich mit einigen Aufklärungsgesprächen in der Onkologie an, in denen gleichzeitig der Erfolg wie auch das mögliche Scheitern einer Therapie kommuniziert werden müssen (s. hierzu auch die Beispiele zur »Aufklärung« in Kapitel V.1.). 5 Theoretisch ließe sich ein idealtypischer Fall konstruieren, in dem all die administrativen, organisatorischen und medizinischen Dilemmata und Widersprüchlichkeiten den Patienten und Angehörigen gegenüber offen gelegt werden. Hierdurch würde sich ein Vertrauensverhältnis gestalten können, das Patient und Angehörige ermächtigt, gemeinsam mit den Ärzten über den weiteren Prozess mitbestimmen zu können. Als gewichtigster Einwand gegen die Praktikabilität des Modells erscheinen mir jedoch die Schwierigkeiten, die zu erwarten wären, wenn man versucht, einem Außenstehenden die selbst für den Fachmann nur schwer verstehbaren Komplexitäten medizinischer Versorgungssysteme zu vermitteln. 6 Der Arztbrief stellt, wie Berg (1992) herausstellt, nicht nur eine passive Dokumentation des Geschehens, sondern eine aktive Rekonstruktion und Neuformulierung des Fallgeschehens dar. Er stellt in gewisser Hinsicht ein medizinisches „Narrativ” dar. 7 Kurz vor der Fertigstellung des langen Arztbriefes rekapituliert Frau Dr. Reif im persönlichen Interview nochmals die Fallproblematik entsprechend ihrer Perspektive: Dr. Reif: »Der Fall Spondel, das war dieser Fall, wo ich denn gedacht habe [...] welchen Schritt machen, als erstes [...] wollen wir jetzt das MRT, noch den Urologen dazu ziehen [...] wieder die nächste Frage, wollen wir nun ihm den Dauerkatheter legen, weil [...] theoretisch hätte es sein müssen! Aber das sind solche Eingriffe in die Persönlichkeit, nicht, ein Dauerkatheter. Aber wenn Sie vom medizinischen Punkt das her sehen, hätte da jetzt eine Urinableitung sein müssen! [...]. Der Oberarzt sagt, das ist so ein massiver Eingriff in die Persönlichkeit, warten wir zu. [...] und man hat aber gemerkt, dass Herr Spondel es auch nicht wollte. [... Dann] löste sich das Ganze ja fast in Wohlgefallen auf, weil der Arzt [vom Universitätsklinikum] noch kurz vor meinem Urlaub sagte, er hat eine stabile Hinterkante, Sie können ihn aufstehen lassen. [...] Ein stehender Patient hat ja manchmal nicht diese Restharnbildung in diesem Ausmaß, dass man jetzt sagt „gut, das schiebt sich noch ein bisschen auf”, das war also so, wo ich dann einfach denke, willst mal einfach andere hören, obwohl meine Vorstellung eigentlich schon ganz klar ist [...] jetzt hat natürlich der Arzt, der drüben ihn weiterbehandelt die Entscheidung.[...] Das ist, hört sich eigentlich sehr banal an, aber das ist eine Entscheidung, die Anmerkungen 387 eigentlich bei ihm gefällt werden muss – Dauerkatheter oder Urinableitung: ja oder nein. [...]. Der Restharn, das sind immer wieder die drei Punkte, warum hat! er den Restharn. Prostata, äh Wirbelsäule oder Polyneuropathie? [und die] Wirbelsäule, ist sicherlich, ist sicherlich die Kombination von den dreien, die Wirbelsäule ist nicht schlimmer geworden, jetzt wird man sehen – wenn er wieder mobil ist und nicht liegend ist und so weiter - das hört sich sehr banal an, also ist so eine kleinste Entscheidung, aber für den Patienten ist es die Entscheidung, [denn] wenn er kein Antibiotikum mehr kriegt [und] dort ein Restharn [ist], wird er sicherlich wieder eine Urosepsis kriegen. [...] Und da hoff ich, dass also und es wird auch medizinisch sicherlich weiter beobachtet werden müssen. [...] Nur ich hab die Entscheidung tatsächlich in diesem Falle weitergegeben. Weil sich bei mir diese Wendung abzeichnete, er darf jetzt laufen und dann sieht es total anders aus, wenn jemand, im Stehen geht es unter Umständen wieder o.k. [...]. Deswegen kann man mit ruhigem Gewissen sagen, erstmal abwarten wie ist es jetzt, wo er wieder mobilisiert wird, wo er wieder im Stehen zur Toilette geht, hat er dort Restharnbildungen und so [weiter].« Bemerkenswert erscheint mir das hohe Reflexionsniveau auf fachlich medizinischer Ebene. Die Fallkomplexität wird differenziert dargelegt. Auch über die Phase der Abwesenheit hinausreichend wird der Fall von ihr zu einem runden Ganzen integriert. Die Zweifel und Unsicherheiten hinsichtlich der Gefahr einer erneuten Sepsis bleiben. Dennoch scheint auch für sie hier ein gangbarer Weg gefunden, um den Fall ruhigen Gewissens übergeben zu können. 8 Der Begriff »Aktionismus« ist hier nicht in einem umgangssprachlichen Sinne zu verstehen, sondern bezeichnet ein Bildungs- und Gestaltungspotenzial, das darin besteht, in zufälligen aber durchaus begründeten Suchbewegungen neue Wege zu entdecken, hier etwa administrative Logiken zu unterlaufen und für eigene Zwecke zu instrumentalisieren (s. a. Nohl/Bohnsack 2001). 9 Die Erfahrungen einer jungen Ärztin im Praktikum lassen als kontrastierender Vergleich deutlich werden, dass die Anweisung seitens der Oberärzte, den Patienten schnell zu entlassen, keinesfalls wörtlich zu nehmen sind. S. hierzu das Beispiel »Spannungslagen aushalten lernen: „ja, da muss man den Befund ja erst einmal abwarten, bevor man entlässt.”« in Kap. VI.2. 10 Als der Chef auf die Station kommt, ist ärztlicherseits nur der Arzt im Praktikum anzutreffen. Die Stationsärztin und die Oberärztin sind im OP und der Stationsarzt hat heute einen freien Tag, den er jedoch dafür nutzt, in einem Arztzimmer auf der Nachbarstation telefonisch Daten für eine wissenschaftliche Studie zur Katamnese laparoskopisch operierter Krebspatienten zu erheben. Der Chefarzt sucht den Stationsarzt in dem Arbeitszimmer auf und wirft ihm schreiend vor, dass dieser doch schließlich auf seiner Station zu sein habe. Ohne eine Antwort abzuwarten, verlässt der Chef den Raum und kündigt an, die Visite heute ausfallen zu lassen. 11 “Überflüssige” CT-Untersuchungen sollen auf Anordnung des Chefarztes unterbleiben. S. hierzu auch das Beispiel »Rahmenkonflikte als Konfliktlinien in der Hierarchie: „Wenn ein CT gemacht wird, gibtʼs eins aufs Dach vom Chef ... manchmal kann man die Bilder auch vorher rausnehmen”« aus Kapitel VI.2. 12 ERC: Abk. für endoskopische retrograde Cholangiopankreatikographie. Methode zur Darstellung des Gallengangsystems durch retrograde Einführung eines Endoskops und anschließende Kontrastmittelinjektion. 13 Aus dem Einzelinterview mit dem Oberarzt der Intensivstation lässt sich die Geschichte von Herrn Schmidt-Bauer wie folgt rekonstruieren: Dr. Mehring: »[...] und bei dem Schmidt-Bauer, das war dieser junge Mann mit der Pankreatitis, nicht? Da haben wir es auch richtig entschieden, nicht? Da ging es nur darum, da haben wir punktiert, ne? Die Zyste punktiert, nicht? Das war eine Entscheidung, wo man sagen konnte, okay wir machen jetzt erst mal gar nichts, beobachten das nur, nicht? Habenʻs aber punktiert, um zu wissen, was er hat und dadurch war eigentlich sehr früh klar, dass der keine Pankreatitis hat, sondern ne eingeblutete Pseudozyste, was man ja ganz anders [behandelt. [...] Ich hab dann an dem Aufnahmetag noch einen Ultraschall gemacht und unter Ultraschall so ein Gebiet, wo es also eingeblutet hat, da anpunktiert und dachte eben, das also blutig war und gleichzeitig noch hoher Gehalt auch an Fermenten, war klar um was es sich handelt, nicht? Das hat also die Diagnosefindung außerordentlich beschleunigt in dem Fall, ne?« 14 Eine ausführliche Rekonstruktion der Rolle des Chefarztes als “Meta-Entscheider” findet sich in Abschnitt »Ärztliche Hierarchie« in Kapitel VI.2. 15 Theoretisch hätte dies auf dem Wege einer anderen Kommunikation schneller und einfacher erreicht werden können, wie im anschließenden Interview mit dem Oberarzt der Intensivstation deutlich wird: Beobachter: »Und an der Entscheidung, dass er dann nochmals ERCpiert wurde, da waren Sie dann nicht dran beteiligt?« Dr. Mehring: »Nee, das hätte ich auch, glaub ich, das wäre aus meiner Sicht auch gar nicht nötig [gewesen]«. 16 Zum Begriff der Mikropolik s. Ortmann et al. (2000). 17 Externe Ärzte, Hausärzte, aber auch beratende Ärzte anderer Abteilungen stehen außerhalb der Entscheidungslinien der Stationen. Chef- und Oberärzte können sich über Diagnose- und Therapieentscheidungen der hinzugezogenen 388 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse Fachkompetenz hinwegsetzen. Stationsgrenzen stellen „Schnittstellen” dar, an denen jeweils selektiv entsprechend der eigenen medizinischen Kultur und Mikropolitik, Informationen gefiltert rezipiert werden. Vgl. hierzu auch Kapitel VI.3. 18 Die zwei folgenden kurzen Szenen verdeutlichen die tiefe habituelle Verankerung der Beziehung zwischen Chefarzt und den untergebenen Ärzten auf dieser Station: (1) Als Frau Dr. Schneider das Telefon mit dem Hinweis “Chef” überreicht bekommt, zuckt sie deutlich zusammen und bemerkt anschließend dem Beobachter gegenüber: “Früher habe ich immer einen Schreck gekriegt, wenn der Chef anruft.” (2) Die Oberärztin bittet den Stationsarzt, vor einer Chefvisite noch schnell ein großes Pflaster über die Narbe einer Patientin zu kleben, die sie operiert hatte, damit dieser nicht sehe, wie hässlich die Narbe geworden sei. 19 Die Patienten bekommen zu Beginn ihres Aufenthaltes einen Wochenplan ausgehändigt, in dem die therapeutischen Veranstaltungen auf einem Zeitplan vermerkt sind. Für Donnerstagmorgen steht auf dem Papier geschrieben „Chefarzt/Oberarztvisite”. Die Chefarztvisite hat seit Monaten nicht mehr auf der Station stattgefunden, zumindest auch nicht während des 14-wöchigen Beobachtungszeitraums. 20 Im juristischen Sinne wäre der Patient über die Kompetenz- bzw. organisatorischen Defizite des Krankenhauses aufzuklären (s. hierzu Hart 1999: 49). Im Sinne der Eigenlogik medizinischer Institutionen werden die strengen rechtlichen Vorgaben jedoch regelmäßig übergangen. 21 Die performative Botschaft der Aufforderung, den Chef fragen zu können, lautet natürlich „lasst mich in Ruhe”, denn wer vom Chef eine Entscheidung oder Stellungnahme einfordert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf der Inkompetenz bestraft zu werden. Zur Illustration, wie dies konkret vonstatten gehen kann, s. auch das Beispiel »Double Bindʼ in der Chefkommunikation: „Was machen Sie wieder für eine Hektik?” in Kap. VI.2. 22 S. hierzu auch den Widerspruch zwischen der erfahrungsmäßigen und der epidemiologischen Evidenz medizinischer Maßnahmen. Selbst vertraute und routinierte ärztliche Therapiemaßnahmen erweisen sich vielfach in der epidemiologischen Retrospektive als nicht wirksam. 23 Ärztliche Macht und Entscheidungsgewalt wird durch die Position im Feld bestimmt, nicht durch Fachkompetenz oder Wissen. Unabhängig davon, wie im Einzelfall ausgespielt, stellt Macht ein zentrales und konstitutives Moment des ärztlichen Feldes dar, das als originär soziale Dimension quer zu den Fragen medizinischen Wissens und Könnens liegen kann (s. hierzu auch Kapitel VI.2.). 24 Als konstrastierendes Beispiel aus der Onkologie s. hierzu den Abschnitt »Ärztlichkeit vs. Medizinalität: „ist ja ein Arschloch.”« in Kap. VI.3. 25 Der Oberarzt weist im Interview darauf hin, dass die Art, wie die Aufklärung zu laufen habe, in Hand eines jeden einzelnen Arztes liegen würde und nicht formal bestimmt werden könne – hierin läge ja schließlich auch ein Wesenskern der professionellen ärztlichen Kompetenz. 26 Im compassionate use wird das Medikament nicht von den Krankenkassen bezahlt, sondern von den Firmen oder anderen Gönnern gestellt. 27 Prinzipiell bietet sich natürlich noch die Weiterbehandlung auf einer Palliativstation an. In diesen Spezialstationen wird auf hohem medizinischen, pflegerischen und psychotherapeutischen Niveau versucht, die Lebensqualität in der letzten Lebensphase zu verbessern. In den beobachteten Einrichtungen konnte - mit Ausnahme eines Falles auf der internistischen Station des städtischen Krankenhauses – nicht beobachtet werden, dass eine diesbezügliche Behandlungsalternative seitens der Ärzte in Betracht gezogen wurde. 28 Entsprechend ist hier Deppe durchaus zuzustimmen, dass das zunehmende Eindringen ökonomischer Kalküle in die Medizin zu einer weiteren Entfremdung der Arzt-Patient-Beziehung führen wird (Deppe 2000: 253). 29 Experten für die Frage der abgestuften Sterbesematik sind natürlich die Onkologen. S. hierzu etwa das Beispiel: »Institutionelle Arrangements: “springen wir, verhalten oder schauen wir weg?”« in Kap. V.1. 30 Hierzu folgendes Beispiel: Ein 75 jähriger Patient liegt mit Metastasen auf der internistischen Station des Allgemeinkrankenhauses. (auf dem Gang) Dr. Reif: Er hatte bisher immer noch Hoffnung ... es wäre gut, wenn er sich für die Palliativstation entscheiden könnte. (im Patientenzimmer) (Zunächst sprechen der Patient und die Ärztin über die anstehende Punktion des Brustkorbs und den weiteren Verlauf der Krankheit.) Patient: Ich habe mich entschieden, jetzt auf die Palliativstation zu gehen. Dr. Reif: Das ist eine sehr gute Entscheidung, da können wir sie noch besser betreuen, als wir es hier können, da ist auch mehr Zeit für Sie, für das was jetzt bei Ihnen ansteht. Wir werden uns dann um die Verlegung kümmern. [...] Anmerkungen 31 389 Vgl. hierzu auch die Beispiele »Spiel der Täuschung: “kann es dann doch sein, dass die Krankheit noch mal wiederkommt.”« und »Arrangement der Hoffnung: „die Chemotherapie, das ist nur das Tüpfelchen auf dem ‚iʻ« in Kapitel V.1. 32 Der Oberarzt erklärt dem Stationsarzt die Logik der Spezialstation: Oberarzt Krause: ... jetzt müssen wir die Disziplin haben, nur die Patienten hierhin legen, die es brauchen ... heterogen transplantierte ... allogen transplantierte ... längere Aplasien ... HAM, TAT ... eine Station für hämatologisch-onkologische Hochrisikopatienten ... 33 Mittags erzählt die Ärztin im Praktikum, dass sie am Wochenende in einem ruhigen Moment mit Herrn Kranz geredet habe. Dieser habe gefragt, wie lange das mit den Infusionen so weiter gehen solle. Darauf hin habe sie geantwortet, dass der Patient jederzeit entscheiden könne, wann die Ärzte weniger machen sollen. Das Enkelkind sei jetzt mittlerweile auch schon auf die Welt gekommen: 12:40 in einem Laborraum Ärztin im Praktikum: ... dann am Wochenende mit Herrn Kranz geredet ... so ein ruhiger Moment, wo sich die anderen dann gerne vor drücken ... dann sagt er: “Wie lange soll das mit der Infusion so weiter gehen ... haben wir drüber geredet, dass er das entscheiden kann, wann wir weniger machen ... ist dann wirklich selten, dass man da drüber so reden kann ... er hat ja dann noch auf sein Enkelkind gewartet. Beobachter: Ist das jetzt da. Ärztin im Praktikum: Ja, vor ein paar Tagen ... In diesem Gesprächsabschnitt wird nochmals deutlich, dass die Interaktionsgeschichte zwischen Arzt und Patient über die rein medizinische Dimension der Krankenbehandlung hinausgeht. Die Ärzte wissen auch um die private Welt des Patienten, seine Wünsche und Hoffnungen auch in Bezug auf das Sterben. Die Möglichkeit eines Behandlungsabbruchs kann thematisiert werden, liegt jedoch in der Initiative des Patienten, der dies ansprechen muss. 34 Insbesondere auf der chirurgischen Station zeigt sich ein hochsensibles Frühwarnsystem, mittels dessen die Gefahr juristischer Belangbarkeit abgetastet wird, wie auch das folgende Beispiel illustriert: Frau Stark, eine 65-jährige Patientin, wird aufgrund einer rektalen Blutung auf die chirurgische Station eingeliefert. Vor 10 Jahren ist die Patienten im gleichen Hause aufgrund eines Darmkarzinoms operiert worden. Die Stationsärztin schaut sich die Patientenakte an und bemerkt, dass als erstes ins Auge springen würde, dass die Patientin schon einmal versucht, habe die Ärzte zu verklagen. Des weiteren sei auffällig, dass die Patientin von zwei verschiedenen Hausärzten eingewiesen worden sei. Ein wenig später erzählt die Stationsärztin der Oberärztin von dem Fall. Zunächst berichtet sie, dass die Frau schon einmal die Schlichtungsstelle eingeschaltet hat, um dann weitere Einzelheiten zum Fallgeschehen zu erzählen. Die Oberärztin erklärt, dass man diagnostisch zunächst eine Darmausstülpung ausschließen müsse. Die Stationsärztin ergänzt, dass die Symptomatik auch durch eine Leberzirrhose hervorgerufen werden könne. Die Oberärztin erwidert, dass alles Mögliche die Ursache sein könne und dass es gemein sei, so eine Frau ins Krankenhaus abzuschieben. Die Stationsärztin fragt, ob man die Patientin koloskopieren solle. Ihre Vorgesetzte lehnt den Vorschlag ab. Es könne ja sein, dass die Frau Metastasen habe, die man hierdurch anpieke. Besser sei es, nur eine Sonografie durchzuführen und die Patientin dann auf die Innere zu verlegen. 35 Fallbeispiele, in denen ein Patient einmal rechtlich gegen das Krankenhaus aufbegehrt hat, werden unter den Ärzten gerne in Form von Anekdoten weitererzählt. Durch wiederholtes Berichten verdichten sich diese dann zu einem „Narrativ”, das gleichsam paradigmatisch aufzeigt, wo Gefahren für die Ärzte liegen, und wie man diesen ausweichen kann. In diesem Sinne erzählt etwa die Oberärztin der chirurgischen Station: Oberärztin: Da war eine schöne Frau, mit einem eleganten Begleiter, die hatte einen Abszess am Po. Einen Abszess muss man aufschneiden, und eine offene Wundbehandlung muss erfolgen, damit der ausheilt, und das hat sie unterschreiben müssen, denn es ist klar, dass das keine schönen Narben gibt. Dennoch hat sie versucht, gegen uns zu prozessieren. Bei so Patienten schreibe ich in die Aufklärung jetzt rein, dass es größere Narben geben kann. 36 Im Einzelinterview erläutert der Psychiater nochmals seinen Entscheidungskonflikt. Er erklärt, dass durch die Einweisung in die Psychiatrie ein möglicherweise erfolgreich verlaufender psychotherapeutischer Prozess brutal abgebrochen werde. Aus diesem Grunde wäre es das Dümmste, was geschehen könne, einen Patienten einfach aus formalen Gründen in die Psychiatrie einzuweisen: Konsilpsychiater: »Ja, wobei diese Suizidalität ist eine ist eine wirklich eine fatale Entscheidung, weil in die Entscheidung gehen ein, ahm mein psychiatrisches Wissen so wenn jemand unter einer schizophrenen Psychose leidet, oder unter einer affektiven Psychose leidet, ja also im Sinne einer psychiatrischen Erkrankung dann ist das Suizidrisiko sehr viel höher, ja als wenn er im Rahmen einer neurotischen Entwicklung oder einer mangelnden Konfliktbewältigung äh sagt, ich bin suizidal oder ich habe Suizidgedanken, oder so. Also der erste Punkt, weshalb mir Leute vorgestellt werden, ist “liegt eine psychiatrische Erkrankung vor” [...] ja das ist das eine, wo ich relativ sicher sagen kann, besteht eine solche Krankheit oder nicht, und unter diesem Aspekt ist das Suizidrisiko hoch oder niedrig, und die zweite sehr viel problematischere Geschichte ist, wenn Patienten hier aufgenommen werden, in einer Krisensituation stehen und irgendwann an Suizid 390 VII. Rekonstruktion ärztlicher Entscheidungsprozesse denken, dann muss ich mir überlegen, in welche Dynamik geht das, in ihrer Neurose in ihrer Biografie, das abwägen, wieviel spricht für die Suizidaliät, ist die so hoch, dass man die Behandlung abbrechen muss und den Patienten möglicherweise auch gegen seinen Willen in die Psychiatrie bringen muss, oder ist die Suizidalität unter anderem ein Produkt der gut fortschreitenden psychotherapeutischen Behandlung, nee also, dass zum Beispiel irgendwelche Konstrukte, die man bisher in seinem Leben hatte, zerbrechen und manche so ein bisschen strukturlos und orientiert sind und dann kommt schnell so eine Idee, was passiert mit mir, sollte ich mich nicht umbringen [...]; die Suizidrate zum Beispiel bei Psychoanalysen ist in dem ersten halben Jahr sehr hoch, ja also wenn in der Psychotherapie ah erfolgreich prozessiert wird ja, kann es auch zu einer vorübergehenden Steigerung der Suizidalität einhergehen und da ist es für mich ne schwierige Entscheidung, ahm in dem Moment wo Sie rein formal entscheiden, der sagt “ich denke an Suizid” ah, und Sie sagen “gut, in die Psychiatrie” ah, dann haben Sie einen Entwicklungsprozess ganz roh unterbrochen, ne, der wird sich wahrscheinlich nie wieder auf eine Psychotherapie einlassen. Ja ah, das sind wichtige Entscheidungen, ne ja man grade so was sich entwickelt und instabil ist, ja aber vielleicht auf dem richtigen Weg ist, nicht, und dann dass man dann in der formalen, der reinen formalen Entscheidung: Suizidalität, also in die Psychiatrie, wo alles verschüttet wird, ne also ein Dialog wurde aufgenommen und abgebrochen das ist das Dümmste, was ich machen kann, und ah das ist schwierig, das wird also das ist das Schwierige, wenn da die neurotische Entwicklung davon abhängt«. 37 Ein Psychiater kann qua Amt die Verantwortung für die Entscheidung einer solchen Frage übernehmen. Ein Psychologe oder ein Krankenpfleger darf innerhalb des institutionellen Rahmens aus ihrer rechtlichen Position heraus eine solche Entscheidung nicht treffen. S. hierzu auch das Beispiel »Illegitime Verantwortungsübernahme: “Da muss ich mich schuldig fühlen, weil ich das mache und weil ich nicht sogleich Alarm schlage”« (Kap. V.2.). 38 So konnte etwa auf der onkologischen Station ein Fall beobachtet werden, in dem eine Frau in eine Studie zu einer aggressiveren experimentellen Chemotherapie eingeschleust wurde, emotional wie psychisch aber nicht in der Lage war, die Konsequenzen der Therapie zu verkraften. Während die Ärzte zu Beginn der Therapie eine Haltung einnahmen, die darin bestand, die Patientin nicht ernst zu nehmen, sahen sie sich später gezwungen, die Frau regelmäßig intensiver persönlich zu betreuen. 391 VIII. Diskussion In der abschließenden Diskussion werden die einzelnen Teile dieser Studie nochmals zueinander in Beziehung gesetzt. Zunächst werden die Implikationen der komparativen Analyse für eine Typologie ärztlicher Entscheidungsprozesse im Krankenhaus herausgearbeitet (1). Im Anschluss daran wird die soziale Organisation dieser Prozesse ausführlicher in den Blick genommen (2). Im dritten Teil der Diskussion stehen Fragen an die soziologische Entscheidungstheorie im Vordergrund. Die verschiedenen metatheoretischen Systeme werden nochmals hinsichtlich ihrer Erklärungskraft in Beziehung zu den Ergebnissen der empirischen Rekonstruktionen gesetzt (3). In der abschließenden methodologischen Reflexion stehen einige ungeklärte Fragen an die Empirie und mögliche Anschlüsse für weitere Forschungsprojekte im Vordergrund (4). 1. Typologie ärztlicher Entscheidungsprozesse Zu Beginn des letzten Kapitels (VII.), der Rekonstruktion der ärztlichen Entscheidungsprozesse wurde ein zentrales, gemeinsames Bezugsproblem identifiziert, das als Leitkonflikt auf allen Stationen und vorkommt und in verschiedener Ausprägung in allen Themen verhandelt wird. Im weitesten Sinne handelt es sich hier um die Balance zwischen der ärztlich-fachlichen und der ökonomisch-administrativen Logik. Diese sich in den verschiedenen Variationen zeigende Spannungslage liefert zunächst ein tertium comparationis für die weiteren Analysen des Beobachtungsmaterials, bietet sozusagen die Basistypik, von der aus weitere Phänomene erkundet und differenziert werden können. Zunächst lohnt es sich jedoch, die Natur dieses Bezugsproblems nochmals genauer anzuschauen. (a) Basistypik Offensichtlich treten in der Basistypik zwei unterschiedliche Handlungslogiken zutage und müssen zu einer gemeinsamen Praxis zusammengeführt werden. Es läge jetzt vielleicht nahe, diese Konfliktlinie durch Gegensatzpaare wie „Zweckrationalität vs. Systemrationalität“ oder „Lebenswelt vs. System“ zu charakterisieren. Auf der einen Seite würden dann die guten ärztlichen Tugenden stehen, das Patienten bezogene Handeln – eben die warme Lebenswelt -, der dann auf der anderen Seite eine kalte und abstrakte und menschlich unvermittelte Systemrationalität gegenüber stände. Bestätigt würde diese Polarität auch durch die üblichen Selbstreflexionen der ärztlichen Akteure, die sich ihrerseits regelmäßig über die Zustände in den Krankenhäusern beklagen, insbesondere über die Einflüsse seitens Verwaltung und Ökonomie. Würden nur mehr Ärzte eingestellt und hätte man mehr Ressourcen zur Verfügung, dann würde die Sache schon zu richten sein. In der Selbstattribution der Ärzte sind die Fronten klar – man steht auf der Seite des Helfers, der alles tun würde, wenn man nur gelassen würde. Die ärztliche Identität konstituiert sich hier gewissermaßen als reine professionelle Sphäre des Helfens. Genährt wird diese Position durch den unermüdlichen Arbeitseinsatz, der im ärztlichen Feld verlangt wird. Man tut ja sowieso schon mehr, als die Kräfte eigentlich zu lassen und auch um den Patienten würde man sich 392 VIII. Diskussion menschlich mehr kümmern, wenn nur mehr Zeit da wäre. Vergessen wird dabei jedoch, dass die hier proklamierte ärztliche Helferlogik selbst zum System gehört. Der Krankenhauspatient – das zeigen die Fallrekonstruktionen – kommt als Person in den ärztlichen Entscheidungsprozessen recht wenig vor und wenn, dann eher in Form von Irritationen, als „schwieriger Patient“. Der Patient wird hier überwiegend als Stereotyp konstruiert, eingespurt in die jeweiligen medizinischen Handlungslogiken der einzelnen Disziplinen. Der Patient kommt also als Person überwiegend in stereotypisierter Form ins Spiel. Verhandelt wird oftmals nur anhand der Patientenakte. Aufgrund der dort dokumentierten Sachlage ergeben sich dann die Anschlussmöglichkeiten für weiteres ärztliches Handeln. Anschlussfähig ist hier zunächst nur die Krankheit, aber gerade in dieser Hinsicht erzeugt das moderne Medizinsystem mit seinen vielfältigsten Programmen geradezu unendliche Anschlussmöglichkeiten. Man hat nie genug Diagnostik getrieben, um wirklich alle Eventualitäten auszuschließen. Die Altersgrenzen für Operationen können immer weiter noch oben gesetzt werden. Erhöhte Risiken verlangen dann eben eine besonders aufmerksame medizinische Betreuung. Therapien erzeugen nicht selten medizinische Folgeprobleme, die dann nur durch weitere Therapie (und Diagnostik) angegangen werden können. Wenn man schließlich auch die Psyche des Patienten – und als methodologisches Korrelat hierzu die ArztPatient-Beziehung – als immanente Sphäre ärztlichen Wirkens auffassen würde, dann ergeben sich schier unermessliche Wachstumspotentiale. Aus der medizinischen Eigenlogik heraus ist der Medikalisierung per se keine Grenze gesetzt. Die Überforderung wird hier zum Teil des Systems. Gerade auch in Hinblick, dass biologische Systeme in ihrem Verhalten letztlich niemals gänzlich vorhersehbar sind, bleibt die Überwachung, Kontrolle und Restabilisierung der Lebensfunktionen und Lebensqualität eine unauflösbare Sisyphosaufgabe. Prinzipiell kehrt hier niemals Ruhe ein. Die Grenzen der Behandlung sind immer auch Erschöpfungsgrenzen. Die Akteure und ihre Organisationen können einfach nicht mehr leisten. Die Einheit der Unterscheidung von krank und gesund erscheint aber gerade als der blinde Fleck, welcher diese Konstruktionsleistung verdeckt und den Arzt davon abhält, sich mit den Paradoxien seines Handelns zu beschäftigen, das heißt, den Sinn seines Tun zu hinterfragen. Man steht ja auf der guten Seite - selbst wenn man unter Ermangelung von Kompetenz die Überforderung einer Behandlung an nimmt, oder die pflegerisch-seelsorgerische Sphäre der Sterbebegleitung medikalisiert und darüber hinaus zunehmend Ressourcen für kostspieligere Therapien und diagnostische Prozeduren einfordert, dabei jedoch der Evidenz für den erbrachten Gewinn für die Verbesserung der Gesundheit schuldig bleibt. Da eben die Gesundheit abstrakt bleibt, Krankheiten sich aber in anschlussfähige Programme transformieren lassen, kann hier vom Arzt auch gar nichts anderes erwartet werden. So wie die Orientierung an der Krankheit dem Arzt eine genauso zwingende, wie überzeugende Handlungsorientierung zur Verfügung stellt, so kann hier die andere Seite der Unterscheidung leicht in Vergessenheit geraten – es braucht nicht gefragt werden, ob es „gesund“ ist, zwischen krank und gesund zu unterscheiden, also in einer spezifischen Art durch Diagnose Krankheit zu konstruieren und diese dann bestimmten Behandlungsprogrammen zuzuführen. Denn: wenn ein Arzt nichts tut, ist er kein Arzt mehr, also tut er lieber das, was er kann. Es gehört zu seinem Selbstverständnis, sich für das Leben und die Gesundheit seiner Patienten einzusetzen, während die Grenzen seiner Möglichkeiten üblicherweise der Außenwelt attribuiert werden. Es stehen eben zu wenige Ressourcen zur Verfügung, also bleibt nichts anderes übrig, als unter den Bedingungen der Rationierung zu arbeiten. Manifest wird dieses Problem allein schon in der knappen Ressource Arbeitszeit. Für die ausführliche Falldiskussion bleibt wenig Raum, noch weniger für das Arzt-Patient-Gespräch. Weitere Einschränkungen ergeben sich aus dem mittlerweile zunehmend eingeschränkten Gut 1. Typologie ärztlicher Entscheidungsprozesse 393 „Liegezeit“. Darüber hinaus kann selbst das medizinisch und diagnostisch für wichtig erachtete nicht immer mehr im von ärztlicher Seite wünschenswerten Maße geschehen, da auch hier die Kostenschraube angesetzt wird. Unsicherheiten müssen bleiben. So wie früher auch, als es die technischen Möglichkeiten tendenziell grenzenloser Diagnostik nicht gab, muss man Entscheidungen weiterhin auf vager Informationsbasis treffen - die Expertiseforscher sprechen hier von so genannten schlecht definierten Domänen. Gerne fordert man hier von den Ärzten eine Risikoabwägung, sie sollen mit Wahrscheinlichkeiten rechnen und dann entsprechend dem Modell des Rational-Choice ihre Entscheidung treffen. Die vorgelegten Rekonstruktionen geben allerdings kaum Hinweise dafür, dass Ärzte in ihrer Praxis mit Unsicherheiten und den damit verbundenen Wahrscheinlichkeiten rechnen. Unter dem Druck der Praxis wird kaum die Muße bestehen, Entscheidungsbäume mit den zugehörigen Eintrittswahrscheinlichkeiten aufzuzeichnen und zusammen mit den Patienten zu reflektieren. Entsprechend bilden sich hier eher handlungspraktische Abkürzungen heraus, die als habitualisierte Entscheidungsroutinen erscheinen. Andererseits – und dies scheint mir fast das gewichtigere Argument, folgen solche Risikosemantiken dem Gesetz der großen Zahlen. Es werden hier Aussagen für Populationen getroffen – was für Versicherungen die Entscheidungsgrundlage darstellt, nicht jedoch für Ärzte. Der Arzt richtet sein Handeln am konkreten Patienten aus. Dessen spezielle Krankheit ist für ihn instruktiv. Es gilt hier für den Einzelfall einen Behandlungsplan zu entwickeln und dies kann hier nicht in der Logik der Risikoabwägung geschehen – denn dann müsste sich der Arzt gegen seinen originären Funktionsbezug wenden, und die Einzelfalllogik zu Gunsten der den volkswirtschaftlichen Modellen näher stehenden Populationslogik aufgeben. Dies scheint jedoch gerade im Sinne seiner eigenen professionellen Identität nur schwer möglich. Entsprechend des eigenen Selbstverständnisses werden die ökonomischen Grenzen in der Regel nach außen projiziert. Das Problem wird vom Arzt ihm zur Umwelt der Medizin gerechnet, nicht zum Teil der Medizin. Entsprechend wird der schwarze Peter anderen zugeschoben, etwa den Krankenkassen, den Verwaltungen, oder der Politik. Ein soziologischer Beobachter muss dieser Selbstbeschreibung nicht folgen, sondern kann feststellen, dass in der ärztlichen Selbstbeschreibung solche Zuschreibungen gerne getroffen werden, in der beobachtbaren Handlungspraxis allerdings de facto die ökonomischen und administrativen Bedingungen permanent in die ärztlichen Entscheidungsprozesse mit einfließen, die Ärzte diese Rationalitäten handlungspraktisch sehr wohl vollziehen, wenngleich in modulierter Form - nämlich in einer Form, in der ihr Handeln nicht wirtschaftlich, sondern ärztlich begründet erscheint. Da man auf der Seite des Guten steht, ist es entsprechend durchaus legitim, die „gegnerischen“ Parteien auszutricksen und entsprechende Täuschungsmanöver zu fahren. Man denke hier nur an den Fall von Frau Mohn, bei der gegen alle ärztliche Rationalität noch diagnostische Interventionen geplant werden, um nach außen die Indikation für den Krankenhausaufenthalt zu legitimieren. Im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation kann schließlich alles, gar die schmerzhaftesten und teuersten Eingriffe dem Ziel untergeordnet werden, dass man dem Patienten doch helfen wolle. Das Diagnose-Therapie Schema erweist sich hier bei genauerem Hinsehen selbst als nützliche Konstruktion, um Fälle ins medizinische Feld auch dann einspuren zu können, wenn selbst offensichtlich andere Gründe vorherrschen. In den meisten Behandlungsprozessen fällt diese prinzipielle Konstruktivität medizinischer Programme nicht weiter auf und die Vorgänge laufen dann oft mehr oder weniger zur Zufriedenheit aller Beteiligten ab und auch der kranke Patient fühlt sich erfolgreich behandelt. Bekanntermaßen stellt die klinische Epidemiologie unter dem Programm der evidence based medicine die medizinische Evidenz 394 VIII. Diskussion dieser Geschehen zunehmend in Frage. Möglicherweise ist dann auch die moderne Medizin, weitaus mehr als man gemein hin erwartet, Inszenierung symbolischer Heilung. Erst die Fokussierung ärztlicher Entscheidungsprobleme, die ja per se als „Krisen“ aus dem klinischen Alltag heraus fallen, wird die Semantik dieser Prozesse deutlich. Man kann behandeln, um nicht zu behandeln (siehe etwa Herr Hardt und Frau Menzel). Man kann Diagnosen erfinden, um organisatorische Problem zu lösen (siehe Frau Zenker und Frau Siegel). Die Grenzen zwischen Behandlung, Therapie und sozialer Betreuung erweisen sich als fließend. Das Krankenhaus kann unter dem Deckmantel ihres medizinischen Behandlungsauftrags Sterbebegleitung leisten - und sich vergüten lassen - und bei Bedarf – etwa bei organisatorischer Überforderung, diesbezügliche Verantwortlichkeiten wieder von sich weisen (siehe das Kapitel „Behandlung palliativer Patienten“). Während in der Selbstbeschreibung der Ärzte der Patient Ziel und Zweck allen Bemühens darstellt, zeigt sich für den soziologischen Beobachter das Zweck-Mittel-Verhältnis auch von einer anderen Seite. Die Zweckrationalität ärztlichen Handelns ist nur eine Seite der Medaille, denn latent zeigen sich in der ärztlichen Praxis Systemrationalitäten – wenn man so will: paradoxe Effekte -, die als Selbstläufer Wirklichkeiten erzeugen, mit denen Ärzte sich nicht identifizieren, die aber dennoch von ihnen durch ihr Handeln erzeugt werden - man denke hier etwa an die Vielzahl diagnostischer Artefakte, die dann weiteren medizinischen Handlungsbedarf provozieren. Eine medizinische Einrichtung kann immer nur das tun, was in ihren jeweiligen Programmen angelegt ist, was gewissermaßen zu ihrem technischen Repertoire gehört. Ärztlichkeit – zumindest im Krankenhaus – heißt, den Patienten unter ein Schema zu subsumieren und entsprechend den hierzu passenden organisatorischen Routinen die diagnostischen und therapeutischen Prozeduren anschließen zu können. Patienten werden dabei in der Regel (auf die Ausnahmen ist noch gesondert einzugehen) auch als Person in Form von Stereotypen konstruiert und behandelt. Die viel diskutierte Arzt-PatientBeziehung ist hier in der Realität also weniger so zu verstehen, dass der jeweils andere als ganzer Mensch kennen gelernt wird oder gar ein gemeinsamer Erfahrungs- bzw. Beziehungsraum erschaffen wird, sondern heißt seitens der Ärzte, dass hier die Patientenperspektive in Form bewährter Typologien eingenommen wird. In der Praxis wird nur in Ausnahmefällen genug Zeit bestehen in Gesprächen zu eruieren, wie denn nun genau das Verhältnis des Patienten zum Leben und Sterben liegt, ob ein schwieriger Patient denn nun wirklich eine Psychose habe oder nicht, etc. Diese Dinge brauchen eine längere Auseinandersetzung und können selbst von anerkannten Experten (etwa Psychiatern oder Seelsorgen) oft nicht auf die Schnelle entschieden werden. Die Arbeit unter Routinebedingungen verlangt hier, die Arzt-Patient-Beziehung im Modus des „als ob“ abzuhandeln. Gerade erfahrene Ärzte mit einem hohen Fallverständnis verfügen über ausdifferenzierte Typologien, die auch psychosoziale Patientencharakteristika mit einbeziehen. Auch wenn die Kommunikation aufgrund von Stereotypen nicht ausschließt, dass ein Patient sich vom Arzt verstanden fühlt – auch rollenförmige Sozialbeziehung erlauben, dass Gefühle des Verstehens entstehen -, so darf hier nicht im Sinne des Alltagsverständnis von Beziehung gesprochen werden. Die der Wettreckschen (1999) Krankenhausstudie getroffene Leitunterscheidung zwischen Medizinalität und Ärztlichkeit scheint mir deshalb missverständlich. Der soziologische Beobachter würde in den von Wettreck zitierten Beispielen für den ganzheitlichen Handlungsmodus der Ärztlichkeit ebenso stereotype Routineformen entdecken können. Wenn etwa der anthroposophische Arzt regelmäßig die existenzielle Frage stellt, dann kann dies auch 1. Typologie ärztlicher Entscheidungsprozesse 395 als stereotype und routinierte Umgangsform mit der Todesbedrohung gesehen werden, beweist nicht, dass hier eine tiefere Beziehung zum Patienten eingegangen wird. Auch die innerhalb der Oevermannschen Professionalisierungstheorie (Oevermann 2000) getroffene Unterscheidung zwischen diffuser Sozialbeziehung und funktionaler Spezifität – wobei der professionelle Arzt in seiner Tätigkeit beide Sichtweisen zu vereinen habe und zugleich von Mensch zu Mensch, als auch von Mensch zu spezifischen Organobjekt zu agieren habe, führt hier ein wenig in die Irre. In beiden Positionen Auffassung findet eine Unterschätzung der Bedeutung professioneller Routinen innerhalb des sozialen Handelns statt, denn der erfahrene Arzt wird seine funktionale Spezifität, dass heißt seinen antrainierten medizinischen Blick auch dahingehend trainieren, Patiententypen und damit verbundene Probleme erkennen zu können. Auch der soziale Umgang wird hierdurch für ihn zunehmend zur Routine. Gegenüber dem Novizen, der oftmals noch berührbarer ist, wird der Profi auch hier über Abkürzungsstrategien verfügen, um schnell zur Sache zu kommen, um z. B. Ängste, die den Behandlungsprozess stören könnten, vorübergehend zu neutralisieren. Dass im Arzt-Patient-Kontakt viel geredet werden muss oder gar eine menschliche Beziehung gewagt werden braucht, entspricht weder der Logik der Praxis, noch scheint es per se für die Heilkommunikation vorteilhaft1. Dies bedeutet jedoch nicht, dass im Einzelfall dann doch Beziehung im landläufigen Sinne des Wortes geschehen kann. Insbesondere in der hausärztlichen Praxis können über die Jahre Vertrautheiten entstehen, aber auch die langen Behandlungszyklen der onkologischen Therapien können zu einem besonderen sozialen Raum zwischen Patient und Personal führen. Der Regelfall dürfte jedoch wider das Ideal einer verstehenden Medizin liegen, und stattdessen in der stereotypen Abhandlung des Beziehungsgeschehen bestehen. In Hinblick auf den Körper des Patienten können die jeweiligen medizinischen Abteilungen ihre jeweils eigenen Handlungsoptionen anschließen. Behandlung kann grundsätzlich auch dann stattfinden, wenn der Erfolg nicht garantiert ist. Die Überkomplexität des biologischen und psycho-sozialen Geschehens lässt per se keine definitiven Aussagen über den zukünftigen Verlauf zu. Es ist hier immer mit Überraschungen zu rechnen. Im Sinne der medizinischen Behandlungslogik bleibt also nichts anderes übrig, als es zu versuchen, denn die Alternative, es nicht zu versuchen, also auf Behandlung zu verzichten, kann in der Medizin nur schwer gedacht werden2. Ein Versuch ist es immer wert und im Falle des Scheiterns können andere Dinge versucht werden. Unter Umständen sind diagnostische Prozeduren zu wiederholen, da man einzelnen Ergebnissen misstraut und immer wieder stellt sich die Frage, ob man nicht doch noch konsilarisch einen andern Spezialisten einschalten solle. Das oftmals aufwendige Prozedere der Ausschlussdiagnostik legitimiert sich allein schon dadurch, dass man potentiellen Fehlentscheidungen zuvor kommen möchte. Gerade bei den komplizierten Fällen kann man lange auf der falschen Fährte sein und oftmals in die Falle eines „mehr des Selben“ geraten – die Programmroutinen erzeugen dann jeweils ihre eigenen Sachzwänge, die zum Weitermachen drängen. Ein hohes Maß an Misserfolgen ist in medizinischen Welten zwar üblich, stört jedoch in der Regel nicht das Behandlungsgeschehen, denn man orientiert sich ja an der Krankheit, während die Gesundheit nur den Reflexionswert darstellt, um weitere Bemühungen anzuschließen. Gerade die Behandlung von schwer zu therapierender Krankheit verlangt eine ausgefeilte Semantik der Kommunikation des Scheiterns – dies betrifft besonders viele der onkologischen Therapien. Zu Beginn der Therapie muss dabei zunächst die Heilungsperspektive in den Vordergrund gestellt werden, denn sonst würde sich der Patient nicht ohne weiteres in ein oftmals langwieriges und folgenschweres Therapieregime einfädeln lassen. Ist dieser dann erst einmal im medizinischen System sozialisiert und das aus medizinischer Sicht durchaus erwartbare Therapieversagen beginnt sich zu zeigen, dann wird „sanft“ von einem kurativen auf ein palliatives Behandlungsschemata gewechselt. Organisatorisch stellt ein solcher 396 VIII. Diskussion Wandel in den Erfolgsperspektiven für die jeweiligen medizinischen Disziplinen kein Problem dar, denn in beiden Fällen kann ja weiter behandelt werden. In Hinblick auf die Kommunikation mit dem Patienten – der zunächst Heilung erwartet hat – können sich hier erhebliche Rationalis ierungsschwierigkeiten zeigen (vgl. den Fall von Herrn Brugger). Das Motiv „Behandeln aber nicht Heilen“ zeigt sich in einer Reihe von Entscheidungsprozessen. In manchen Fällen wird gar mehr oder weniger explizit auf Therapie verzichtet, um noch behandeln zu können (vgl. auch Herrn Hardt). Die Medizin erfüllt hier verdeckte Aufträge aus Pflege, Psychotherapie, Sozialarbeit und Seelsorge: der chirurgische Eingriff dient als symbolischer Akt zur psychischen Stabilisierung des Patienten; Alkoholiker werden wieder aufgepäppelt, ohne ihren Alkoholismus zu behandeln; Akutstationen leisten Sterbebegleitung. All diese Prozesse lassen sich relativ leicht und unverdächtig medikalisieren, d. h. in Funktionsbezüge eines Akutkrankenhauses integrieren. Diese Einverleibung geschieht jedoch nicht deshalb, weil die Medizin in diesen Feldern besonderer Erfolge aufzeigen kann – etwa eine gute Sterbebegleitung, eine bessere Psychotherapie oder Alkoholikerbetreuung leistet -, sondern weil innerhalb des medizinischen Systems diesbezügliche Misserfolge recht gut ausgeblendet und verarbeitet werden können. Wenn etwa die psychosomatische Abteilung mit dem Anspruch antritt, durch ihr ganzheitliches psychosoziales Behandlungskonzept alle Patienten behandeln zu können, so bedeutet dies nicht unbedingt, dass hier im Sinne eines interdisziplinären Kompetenzzentrums schlüssige Therapiekonzepte entwickelt werden können, sondern heißt oftmals nur, dass der erneute Misserfolg diesmal auf den breiten Schultern eines holistischen Behandlungssettings getragen wird. Die Bewältigung bzw. Ausklammerung des Scheiterns gehört in all diesen Fällen sozusagen selbst mit zum Organisationssystem. Sie stellt aus Sicht des soziologischen Beobachters notwendige Systemrationalität dar. Allerdings darf die Unterscheidung zwischen Systemund Zweckrationalität nicht so verstanden werden, dass hier der einzelne Arzt mit seiner klar benennbaren Absicht Dinge tut, die Systeme dienen und nicht dem Patienten, sondern meint im Luhmannschen Sinne dass die Attribution der jeweiligen Rationalitäten selbst zur Systemrationalität gehören und eine Wirklichkeit erzeugen, die so komplex ist, dass sie in ihrer Dynamik und ihren Regeln nicht mehr vom Bewusstsein der einzelnen Akteure begriffen oder gesteuert werden können. Der einzelne, eine Position im Krankenhaus innehabende Arzt wird sich als zweckrationaler Akteur erleben und entsprechend sein Bestes versuchen. Die sich hieraus ergebenden Anschlüsse und Konsequenzen erzeugen jedoch ihrerseits Systemrationalität. Die im System erzeugten Konflikte bewirken dann selbst erzeugten Entscheidungsbedarf, der dann seinerseits innersystemisch durch ärztliche Entscheidung gelöst wird. Die jeweiligen Ärzte erleben dann ihr diesbezügliches Handeln und Entscheiden als rational – denn sie versuchen wiederum nur ihr Bestes. So besteht eine wesentliche Leistung der Ärzte darin, angesichts der komplexen Problemlagen, Lösungen aufzuspüren, sich Stück für Stück durchzuhangeln, wobei die ärztliche Kunst gegenüber der reinen Medizinalität gerade auch darin besteht, diesen Balanceakt elegant und überzeugend inszenieren zu können. System und Zweckrationalität dürfen hier nicht als Gegensatz betrachtet werden, denn der habitualisierte Arzt verkörpert zugleich System und Zweckrationalität. Den Arzt als Träger der Entscheidungsverantwortung zu konstruieren und sich als Arzt in der Leistungsrolle zu erleben, sind letztlich zwei Seiten einer Medaille. Das Taktieren, die Exklusion der Patienten, Angehörigen, Pfleger und anderen Berufsgruppen aus den Entscheidungsprozessen und die Aufrechterhalten diffuser und geschlos- 1. Typologie ärztlicher Entscheidungsprozesse 397 sener Bewusstheitskontexte, gehört mit zu den Konstitutionsbedingungen eines Systems, dass die Entscheidungsrationalität eben den Ärzten und nicht etwa dem Patienten attribuiert. Die Entscheidungslinie ärztlich vs. administrativ-ökonomisch, hier als Basistypik ärztlicher Entscheidungsprobleme identifiziert, kann deshalb von einem äußerem Blickwinkel auch so gelesen werden, dass hier die jeweils eigenen Funktionsbezüge als spezifische Beziehung zwischen System und Umwelt konstruiert, angepasst oder reaktualisiert werden. Der gesundheitspolitische Verhandlungsprozess über die jeweiligen Zuständigkeiten und Einflusssphären ist gerade hier im Gange. In diesem Sinne offenbaren sich gerade hier die Brennpunkte der aktuellen gesundheitspolitischen Auseinandersetzung. Die Frage etwa, ob man einen allein stehenden austherapierten Krebspatienten über Weihnachten auf der Station behält, oder wegen zu langer Behandlungsdauer zu entlassen habe, hätte sich den Ärzten vor wenigen Jahren noch nicht als ein Entscheidungsproblem gestellt (vgl. Herr Brugger und Herr Mertelsmann). Erst die ökonomisch sanktionierten Liegezeitbegrenzungen lassen die verdeckte soziale Indikation zu einem Konfliktfall werden, in dem die Gewohnheit der vergangenen Praxis und die aktuelle Systemrationalität aufeinanderprallen. Handlungspraktisch müssen die Ärzte in Hinblick auf die auch ökonomisch-administrative Rationalität eine neue Balance finden. Dies geschieht jedoch praktisch nie in expliziter Form, denn im Selbstbild der Ärzte würde sich in der offenen Reflexion des jeweiligen Gleichgewichts der wunde Punkt innerhalb der eigenen beruflichen Identität zeigen: Man hat als Arzt nicht aufgrund von Eigeninteressen zu handeln. In diesem Sinne ist die hier vorgestellte Basistypik in zweierlei Hinsicht tragend: Sie findet sich wieder in den Selbstbeschreibungen ärztlicher Akteure und stellt den archimedischen Punkt der vergleichenden Fallrekonstruktionen dar. Dieser Konflikt und seine Verhandlung sind konstitutiv für die Reproduktion der ärztlichen Identität als auch der organisatorischen Identität der jeweiligen medizinischen Teilsysteme. In diesem Sinne zeigt sich dieses Bezugsproblem mehr oder weniger explizit in allen untersuchten Fallbeispielen, ist gleichsam konstituierendes Merkmal ärztlicher Arbeit im Krankenhaus. (b) Ausdifferenzierung der Typologie Der Vergleich in der Behandlung unterschiedlicher Themen auf den verschieden Stationen ermöglicht die Herausbildung einer differenzierteren Typologie. Zunächst erscheint in der Gegenüberstellung der verschiedenen Fachdisziplinen eine Typik, die sich wohl am ehesten durch das Paar aktionistischer Entscheidungsmodus vs. diskursiv-abwartender Modus charakterisieren lässt. Für das Erstere stehen die Chirurgen. Hier werden schnelle Entscheidungen getroffen. Kritische Reflexivität in Form ausführlicher Diskussion von Diagnose und Behandlungsalternativen findet üblicherweise nicht statt. Die soziale Organisation von prekären Entscheidungsprozessen verläuft typischerweise über die Spitzenpositionen der ärztlichen Hierarchie. Das auf Chefebene gesprochene Machtwort hat als „Königsentscheidung“ unhinterfragbaren Geltungscharakter. Die Internisten stehen für den diskursiven Entscheidungsmodus. Unterschiedliche Meinungen (die „second opinion“) werden hier eher als Tugend, denn als Not gesehen. Man braucht den Diskurs, um intelligente Hypothesen zum Krankheitsgeschehen bilden und um mögliche Differenzialdiagnosen auszuschließen zu können. Während der Chirurg 398 VIII. Diskussion Fakten schafft, wird hier der Dialog mit der Krankheit gesucht. Das Suchen wird zum Kern der eigentlichen Arbeit und legitimiert geradezu den Einsatz des Internisten3. Die unterschiedlichen Handlungsmodi der Chirurgen und Internisten führen bekanntermaßen zu Animositäten zwischen den Disziplinen. Der Internist gibt einen Fall normalerweise nicht so schnell an den Chirurgen ab, da er dort in Hinblick auf die Option der konservativen Behandlung die hierfür notwendige sorgfältige diagnostische Reflexionsarbeit vermisst. Interessant erscheint jedoch der Befund, dass auch der Internist unter gewissen Entscheidungskonstellationen auf den heroischen Aktionsmodus der Chirurgen setzt. Dies geschieht entsprechend der Rekonstruktionen bei den „medizinisch komplexen Fallproblematiken,” nämlich dann, wenn man durch die eigenen „Operationen“ in die diagnostische Schleife der Unentscheidbarkeit gelangt und deshalb doch gerne auf die Entscheidungsfreudigkeit der Chirurgen rekurriert, um den gordischen Knoten zu durchschlagen (vgl. Herr Spondel und Herr Beckenbauer). Diese Verschiebungen der Entscheidungslasten sind dann weniger in dem Sinne zu deuten, dass man den Chirurgen eine höhere medizinische Kompetenz zutraut, denn als Versuch, ein vertracktes Entscheidungsproblem endlich einer Lösung zuzuführen, um hierdurch der selbst gestellte Kontingenzfalle zu entgehen. Aus dem Vergleich der beiden Allgemeinkrankenhäuser mit den zwei Universitätsklinika ergibt sich eine weitere typologische Differenzierung. Im städtischen Krankenhaus werden die Grenzen des Leistbaren in der Regel durch die ökonomischen Rahmenbedingungen gesetzt. Man bekommt nicht mehr jede Untersuchung finanziert, die vielleicht noch wünschenswert wäre. Ebenso wird ein zunehmend stärker werdender Druck in Richtung kürzerer Liegezeiten entfaltet. Demgegenüber stehen der universitären Einrichtung (zum Untersuchungszeitpunkt noch) wesentlich mehr Ressourcen zur Verfügung. Teure Spezialuntersuchungen zu veranlassen, verlangt zwar ein gewisses diplomatisches Geschick – da die entsprechenden Abteilungen chronisch überlastet sind, ist aber prinzipiell noch möglich. Der besondere Status des Universitätsklinikums gestattet grundsätzlich die Durchführung solcher Maßnahmen, wie auch die Finanzierung einer Reihe kostenintensiver experimenteller Therapien. Die ökonomischen Grenzen sind hier weniger stark spürbar, denn der Mangel an qualifiziertem ärztlichen Personal. Stationen werden in der Regel von Weiterassistenten oder gar nur von Ärzten im Praktikum betreut. Ärzte mit Facharztstatus finden sich meistens nur auf der Oberarztstelle. Entsprechend zeigt sich hier verbunden mit der steilen Hierarchie gleichzeitig ein starkes Kompetenzgefälle. Die Grenzen des Leistbaren werden hier tendenziell eher durch die dünne Personalstruktur bedingt. Dieses Dilemma wird noch dadurch verschärft, dass an den Universitäten ein Teil der Leistungspotentiale aus der Klinik in die mehr Reputation bringende Forschung abgezogen wird. Demgegenüber können die Allgemeinkrankenhäuser in der Regel auch auf der Stationsarztebene auf erfahrene Kollegen zurückgreifen, die nicht nur über eine reiche Fallerfahrung verfügen, sondern auch die sozialen Dynamiken im medizinischen Feld elegant beherrschen, das heißt genau wissen, wo Diplomatie und an welchen Stellen Konfrontation angesagt ist. Während in den Universitätskliniken sich viele Stationsärzte ihrer ärztlichen Rolle noch ungewiss sind und versuchen Unsicherheiten im Umgang mit Vorgesetzten über das reziproke Abtasten und Antizipieren von Erwartungserwartungen zu absorbieren, wissen erfahrenen Ärzte, welche Spiele hier gespielt werden (müssen), auf wen man rechnen kann und wen man in bestimmten Fragen besser nicht involvieren sollte (siehe hierzu etwa das Verhalten der Stationsärzte im Fall von Herrn Mertelsmann im Vergleich zum Fall von Herrn Spondel). Der „soziale Sinn,” die Kunst Wendepunkte rechtzeitig wahrzunehmen und Krisen geschickt vorzusteuern, ist bei den Berufsanfängern noch nicht habitualisiert. Man 1. Typologie ärztlicher Entscheidungsprozesse 399 verfügt noch nicht über das Verhaltensrepertoire, schwierige Patienten elegant und reibungslos auslagern zu können, Scheinbehandlungen zu inszenieren, in wenigen Worten ein Arrangement auszuhandeln und dabei die entscheidenden Personen mit ins Boot zu holen. Entsprechend kommt es hier öfters zu Brüchen und Reibungsverlusten, die dann zusätzliche Ressourcen binden, bzw. mehr Kraftaufwand bedeuten. Im Thema „palliative Fälle“ differenziert sich die Typik über die Frage der Öffnung und Schließung von Bewusstheitskontexten weiter aus4. Hier stellt sich das Problem, ob, wieweit und unter welchen Bedingungen man den Patient, bzw. seine Angehörigen, über das Krankheitsgeschehen aufklären oder gar an den Entscheidungsprozessen tiefer gehend beteiligen muss. In den „medizinisch komplexen Fallproblematiken“ bleibt dieses Konfliktfeld noch latent verborgen. Die Patienten werden üblicherweise nicht in die jeweiligen administrativen und organisatorischen Entscheidungslagen eingeweiht – sie würden dies wohl auch nicht verstehen – und auch medizinisch wird dann vieles simplifiziert. Vereinzelt mag zwar ein Verdacht geäußert werden, etwa dass man den Eindruck habe, dass die Ärzte hier einen Patienten nur abschieben wollen. Doch beweisen lassen sich solche Mutmaßungen in der Regel nicht und schließlich können die Ärzte immer wieder gute Gründe nennen, warum man so und nicht anders entscheide. Tendenziell bleibt hier der Bewusstheitskontext eher geschlossen. Zudem stellt sich bei einer Reihe der dokumentierten Entscheidungsprozesse die Frage, ob bei den handelnden Akteuren, etwa den Stationsärzten, davon ausgegangen werden kann, dass diese sich der Zielrichtung ihrer jeweiligen Manöver selbst bewusst sind, oder ob sich die Systemrationalitäten nicht eher als „latente“ und „ überintentionale“ Sinnstrukturen erweisen. So erscheint es etwa im Fall Beckenbauer kaum gerecht, den engagierten Stationsärzten und Therapeuten mangelnde Ernsthaftigkeit zu unterstellen. Gleiches gilt für die Fälle von Herrn Spondel und Herrn Schmidtbauer. Auch hier wäre es ein Fehlschluss, den Akteuren fehlendes Engagement zu attestieren. Vielmehr findet gerade in diesen komplexen Fällen von ärztlicherseits eine hohe Identifikation mit dem eigenen Handeln statt. Diesbezüglich gefragt, geben die Akteure eher an, eine hohe Verantwortungsübernahme zu erleben und empfinden einen hohen persönlichen Einsatz. Erst für den soziologischen Beobachter zeigt sich hier als latenter Sinn - als blinder Fleck - das Ausweichmanöver, denn innersystemisch lassen sich hier Verschiebungen von Entscheidungslasten rekonstruieren, die letztlich dahin führen, den Patienten unbehandelt aus dem eigenen Handlungssystem auszulagern. Am eigentlichen Konflikt – am Offenbarungseid hinsichtlich der eigenen Möglichkeiten - wird hier mehr oder weniger geschickt vorbei manövriert. Systemisch gesehen müssen diese verdeckten Prozesse jedoch als Leistung gesehen werden, denn die Organisation schützt sich hier selbst vor Überforderung und Dekonstruktion der ärztlichen Identität. Letztere wird gerade dadurch bewahrt, dass der latente Sinn des Geschehens nicht allzu sehr ins Bewusstsein tritt. Immunisierung heißt hier, sich mit dem ärztlichen Einsatz zu identifizieren und nicht mit dem latent angelegten Scheitern – man hat doch schließlich alles versucht. Besonders auch im Umgang mit den „schwierigen Patienten“ müssen wesentliche Teile des Manövers im Verborgenen bleiben - Nichttherapie als Therapie zu verkaufen verlangt ebenso wie die vorgetäuschten Begründungen für die Auslagerung nach der Installation eines geschlossenen Bewusstheitskontextes. In der „Behandlung palliativer Patienten“ muss die Geschlossenheit jedoch teilweise wieder durchbrochen werden. Auch hier ist natürlich regelmäßig zu beobachten, dass man den Patienten nicht alles sagt – die Studie von Glaser und Strauss (1974) bleibt diesbezüglich weiterhin aktuell. Allerdings bleibt die Frage der Öffnung virulent. Oftmals müssen die Angehörigen mit ins Boot geholt werden und entsprechend empfiehlt es sich hier hinsichtlich 400 VIII. Diskussion der Rahmung eine gewisse Diffusität zu inszenieren, also nach außen zu zeigen, dass man sich noch nicht so sicher sei, während intern dann anders gerechnet werden kann (vgl. den Fall von Frau Mohn und Frau Hof). Ein Sonderfall ergibt sich hier insbesondere für die internistische Onkologie. Auf Grund der langen Patientenkarrieren und oft Monate andauernden Therapiezyklen stellt sich die Frage der Aufklärung hier in besonders markanter Form. Die durch die gemeinsame Krankengeschichte dichter werdende Arzt-Patient-Beziehung erlaubt es nicht, die Dinge allzu sehr im Diffusen zu lassen, zumal die Krankheit an sich schon sichtbare Fakten schafft. Zudem wird hier auch vermehrt vom Patienten verlangt, aktiv am Therapieprozess mitzuwirken. Anders als in der Chirurgie, wo der Patient den Eingriff in Amnesie durchsteht, verlangen die intensiven Chemotherapien vom Patienten ein tiefes Einlassen auf den damit verbundenen Leidensprozess. Ohne die Mitwirkung des Patienten läuft hier nichts. Entsprechend muss dieser hier als Partner gewonnen werden. Aufgrund dieser besonderen Behandlungsdynamik ergibt sich eine weitere Subtypik, die sich durch das Paar beziehungsorientierter vs. verfahrensorientierter Modus charakterisieren lässt. Diese Unterscheidung lässt sich besonders im Umgang mit den so genannten „schwierigen Patienten“ aufzeigen. In der Mehrzahl der hier dokumentierten Entscheidungsprozesse bestimmen Verfahren das Behandlungsgeschehen. Die üblichen medizinischen Programme werden in Abstimmung mit den organisatorischen Möglichkeiten und Grenzen angewendet, um dann gegebenenfalls in modulierter Form dazu zu dienen, Problemfälle auslagern zu können. Der Patient selbst kommt in diesen Prozessen in der Regel nur als Stereotyp vor. Diese verfahrensmäßige Abkürzung, meistens schon durch die Patientenakte vorstrukturiert, erlaubt es Entscheidungen treffen zu können, ohne sich eingehender persönlich mit dem Patienten auseinandersetzen zu müssen. Diese schematisierten Vorgehensweisen sind selbst auf der psychosomatischen Station zu beobachten. Wenngleich hier entsprechend dem ärztlichen Selbstverständnis eine beziehungsorientierte Medizin vorherrscht, bestehen gerade auch hier eine Reihe von Verfahren, wenn man so will: Techniken, um Prozesse abzukürzen, sich nicht allzu stark auf gefährliche Beziehungsdynamiken einlassen zu müssen oder Erpressbarkeiten durch Patienten vorzubeugen. Sichtbar werden diese Verfahren insbesondere bei den vermeintlich psychiatrischen Fällen (vgl. etwa Frau Siegel und Frau Zwinger). Während der verfahrensorientierte Modus im ärztlichen Krankenhausalltag wohl die Regel darstellt, kann als Ausnahme von der Regel jedoch gerade in der internistischen Onkologie die Beziehung vermehrt an Bedeutung gewinnen. Orientierungen der Ärzte und des Patienten stattfinden muss. Selbst wenn die Ärzte die Sichtweise des Patienten für unsinnig bzw. für irrational handeln, können sie diese hier nicht mittels entsprechender (soziotechnischer) Verfahren übergehen, denn in diesem Falle könnte sich die später zu erwartende moralische Kritik des Patienten als ein gefährlicher Bumerang erweisen. Die Drohung „wenn Du mich nicht ernst nimmst, dann hast Du als Konsequenz einen noch schwierigeren Patienten,“ verlangt hier die Aushandlung des Geschehens von Person zu Person. Beziehung kann hier nicht nur in abstrakter Form gespielt werden. Das langwierige und komplexe Behandlungsgeschehen lässt beide Parteien weitaus mehr als in den anderen medizinischen Disziplinen voneinander abhängig werden5. Entsprechend ist in der Onkologie die Beziehung besonders anfällig. Wenn man ein Kontinuum zwischen Beziehung und Nichtbeziehung in den verschiedenen medizinischen Behandlungssettings beschreiben würde, stände die Chirurgie wohl am anderen Ende des Extrems. Der die Operation durchführende Chirurg braucht oftmals nicht einmal ein persönliches Gespräch mit seinem Klienten führen. 2. Organisation von Entscheidung 401 Ruppigkeit und schlechtes Benehmen seitens der ärztlichen Eliten haben in der Regel keine weitergehenden Konsequenzen, denn man muss sich diesbezüglich ja nicht in einer wiederkehrenden Beziehung verantworten. Die hier ausgearbeiteten Subtypiken stellen jeweils Themen-, bzw. problemspezifische Orientierungsrahmen dar. Als spezifische und regelmäßig wiederkehrende Problemstellungen innerhalb bestimmter medizinischer Disziplinen charakterisieren sie jedoch auch die hierdurch unterscheidbaren medizinischen Kulturen. Die Chirurgen denken und agieren anders als die Internisten. Das medizinische Feld eines Universitätsklinikums erzeugt einen anderen Habitus als das städtische Krankenhaus. Im Sinne der Charakterisierung dieser unterschiedlichen medizinischen Milieus sind die hier vorgestellten Ergebnisse – wenngleich unter Vorbehalt der Korrektur und Differenzierung durch weitere Kontraste - verallgemeinerbar. Das gemeinsame Bezugsproblem aller Abteilungen besteht darin, zwischen Ärztlichen- und ökonomisch-administrativen Aufgaben eine Balance finden zu müssen. In Hinblick auf die spezifischen Weichenstellungen, wie diese Probleme angegangen werden unterscheiden sich jedoch die Abteilungen. Ob man sich hier etwa weitestgehend auf Verfahren zurückziehen, die Bewusstheitskontexte geschlossen lassen kann, etc., ergibt sich nicht zuletzt aus den jeweiligen Spezifika des jeweiligen Behandlungsauftrags und der hieran anschließbaren Behandlungsprogramme. In diesem Sinne besitzt die hier vorgelegte Typologie einiges an sinngenetischer Erklärungskraft (zur Hinzuziehung weiterer Kontraste siehe die in Unterkapitel 4. folgende Diskussion). 2. Organisation von Entscheidung Entscheidungsbedarf, bzw. „echte“ Entscheidungen ergeben sich immer dann, wenn nicht von vornherein nach einem eindeutigen, bzw. rationalen Kalkül entschieden werden kann, was zu tun ist. Im Sinne der zuvor aufgespannten Basistypik handelt es sich dabei überwiegend um Dilemmata, in denen verschiedene Handlungslogiken bzw. Orientierungsrahmen gleichzeitig vorliegen, hier also abzuwägen ist, was im Einzelfall als primär und was als sekundär zu betrachten ist. Ist diese „Entscheidung“ innersystemisch erst einmal gefallen, dann lassen sich für die Außendarstellungen Inszenierungen (er-)finden, in denen andere Prioritäten vorgetäuscht werden. Rekonstruieren lassen sich diese Prozesse nur aus der Perspektive des ärztlichen Interaktions- bzw. Kommunikationssystems, denn das, was sich nach außen darstellt, kann hier in die Irre führen. So kann etwa im System Diffusität hergestellt werden, um nach außen nicht erkennbar werden zu lassen, nach welchem Rahmen die Akteure denn „wirklich“ entscheiden. Entscheidungsprozesse offenbaren Spielräume, denn sonst könnte man ja nicht entscheiden, und erzeugen zugleich Spielräume, denn die innersystemische Attribution von Entscheidungsfreiheit, wird selbst zu einer Variablen, die eine Intransparenz herstellt und hierdurch Freiheitsgrade erzeugt. Die Konstruktion der ärztlichen Entscheidungsfreiheit unterstellt und reproduziert, dass VIII. Diskussion 402 hier nicht entsprechend von Leitlinienstandards, bewährten Routinen oder gesetzlichen Vorgaben entschieden werden kann. (a) Mikropolitik ärztlichen Entscheidens Zunächst lohnt es sich, die diesbezüglichen Implikationen unter einem machtpolitischen Blickwinkel anzuschauen. Die im ärztlichen Selbstbild erfolgende Konstatierung einer professionellen Autonomie unterstellt, dass diesbezügliche Freiheitsgrade für die ärztliche Arbeit unverzichtbar sind. Von außen gesehen nährt sich natürlich der Verdacht, dass es sich hier (auch) um eine Inszenierung von Macht handele und dass sich die medizinischen Experten gerade deshalb nicht in die Karten ihrer Entscheidungen hineinschauen lassen, weil hier eben Willkür herrsche. Diese beiden Positionen formulieren eine Konfliktlinie, die sich in allen gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen wieder finden lässt. Ebenso lässt sich die recht kontroverse Diskussion um die ärztliche Professionalisierung unter diesem Blickwinkel sehen. Die Spielräume professioneller Autonomie stehen unter einem ständigen gesellschaftlichen Legitimationszwang und müssen entsprechend immer wieder neu ausgehandelt werden. In diesem Sinne offenbaren – wenn man in Bourdieuschen Begriffen denkt - die in meiner Arbeit aufgezeigten Entscheidungssituationen eine Kampfzone im medizinischen Feld: Eben weil die Beziehung zwischen Ökonomischen und Ärztlichen hier noch in einem Aushandlungsprozess besteht, kann hier noch entschieden werden. So würden sich etwa unter den Voraussetzungen einer stärker rationierten Medizin manche Entscheidungsprobleme gar nicht mehr in der beobachteten Weise stellen können. Hier würde etwa der Vergleich mit Großbritannien lohnen, da dort eine Reihe der sich in den bundesrepublikanischen Krankenhäusern manifestierenden Entscheidungsprobleme formal durch die Einrichtung von Altersgrenzen gelöst werden. Bestimmte Problemfälle werden schneller ausgelagert bzw. aufgeben und in Hinblick auf die Frage der Triage ergibt sich eine andere Balance. In diesem Sinne weisen die Entscheidungsprobleme auf die aktuell umkämpften Machtzonen innerhalb des medizinischen Feldes. Von ärztlicher Seite wird hier etwa gegenüber den Krankenkassen versucht abzutasten, inwieweit und durch welche Manöver noch eine verdeckte soziale Indikation abzuringen ist. In den Auseinandersetzungen mit schwierigen Patienten stellt sich die Frage, welche Zumutungen angenommen werden müssen oder abgewiesen werden können. Ärztliche Entscheidungsprozesse erscheinen hier auch als politische Auseinandersetzung über Erhalt und Ausdehnung der ärztlichen Einflusssphären. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Akteure im medizinischen Feld – den Verwaltungen, den Patienten und Angehörigen, den Kassen und nicht zuletzt der Politik mit ihren neuen gesundheitswissenschaftlichen Eliten – geht es hier auch um Macht, um die Aufrechterhaltung von Entscheidungsfreiheiten und um die Sicherung der eigenen Domänen. Die Aufrechterhaltung und Abgrenzung von Einflusssphären spiegelt sich auch in den mikropolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der Organisation Krankenhaus wider. So zeigte sich dem Beobachter beim Eintritt ins medizinische Feld zunächst der verwunderliche Befund, dass während der Röntgenbesprechungen die meiste Diskussionszeit nicht den medizinischen Fallbesprechungen gewidmet wird, sondern durch die Frage der gerechten Bettenbelegung adsorbiert wird. Ärztliche Vertreter von „benachteiligten“ Stationen meldeten oft lautstark Protest an, dass ihnen zu viele, bzw. zu schwierige Patienten zugemutet werden, oder dass zurzeit nur wenige Pflegekräfte auf der Station seien. Wenngleich diesbezügliche Auseinandersetzung nicht im Fokus meines Erkenntnisinteresses lagen – es handelt sich hier um organisatorische und nicht 2. Organisation von Entscheidung 403 um ärztliche Entscheidungsprozesse – so zeigen sich hier einige mikropolitische Strukturen der Arbeit im Krankenhaus: Insbesondere die Verteilung der Arbeitslasten zeigt sich als ein chronisches Entscheidungsproblem, dass nicht durch formale Lösungen bewältigt werden kann. Den betroffenen Akteuren bleibt hier nichts anderes übrig, als sich immer wieder selbst in die Diskussion zu bringen, um ihre Position zu wahren und um nicht mit weiteren Ansprüchen überhäuft zu werden. Im gleichen Sinne zeigen sich die schärfsten Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Pflegern nicht in Hinblick auf Fragen, welche die Patientenbehandlung betreffen – hier sind die Entscheidungsdomänen zwischen den Sphären längst abgesteckt -, sondern betreffen zusätzliche Arbeitszumutungen, die an den jeweils anderen Bereich gestellt werden. Die „gerechte“ Verteilung diesbezüglicher Bürden stellt auch hier ein permanentes Entscheidungsproblem dar. Im Sinne einer ähnlichen Dynamik lassen manche Auseinandersetzungen innerhalb der ärztlichen Hierarchie durchaus unter dem Blickwinkel von Kämpfen zur Abwehr von Entscheidungslasten sehen. Führungskräfte sind sicherlich gut beraten, einen Teil der an sie herangetragenen Entscheidungsprobleme prophylaktisch abzuwehren, denn eine allzu intensive Auseinandersetzung mit den Problemen der Niederungen würde nicht nur ihre Kräfte zehren, sondern zudem auch offenbaren, dass auch sie oftmals nur mit Wasser waschen können. Entsprechend stellt sich auch innerhalb der hierarchischen Linie die Frage, wie viel man wem aufbürden kann. Chefärzte entwickeln entsprechende Abwehrkommunikationen und inszenieren sich als ein Metaentscheider, der entscheidet, wann er entscheidet (vgl. Kap. VI.2.). Umgekehrt entwickeln die untergeordneten Ärzte ihrerseits Strategien, Lasten nach oben zu verweisen. Insbesondere in den steilen Hierarchien der Universitätsklinika können die Machtverhältnisse im Einzelfall jedoch so stark zementiert sein, dass einerseits seitens der Stationsärzte beinah alle Zumutungen zu ertragen sind und andererseits die Ordinarien sich vollkommen aus der Verantwortung für die Stationsarbeit zurückziehen können. In den Entscheidungsprozessen können sich auch andere organisationspolitische Auseinandersetzungen widerspiegeln. Innerhalb des Ärzteteams können etwa unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich von Behandlungskonzepten bestehen, die dann manchmal auf dem Rücken von Patienten oder den schwächsten Gliedern der ärztlichen Hierarchie ausgetragen werden. Der mikropolitische Fokus beleuchtet einige der Reibungen innerhalb der ärztlichen Entscheidungsprozesse und schärft den Blick für die Pathologien hierarchischer (und wohl auch heterarchischer) Systeme. Die ausführlichen Fallrekonstruktionen weisen darauf hin, dass solche Prozesse innerhalb der Organisation ärztlicher Entscheidungen eine wichtige Rolle spielen können (es sei hier nur auf das Beispiel von Herrn Schmidt-Bauer verwiesen). Die funktionelle Dynamik dieser Prozesse scheint mir hierdurch jedoch nur unzureichend begriffen. Innerhalb der Bourdieuschen Kategorien lassen sich zwar die Befindlichkeiten und Zwänge der betroffenen Akteure recht gut nachvollziehen (vgl. auch Kap. V. und VI.), die Fallrekonstruktionen weisen jedoch darauf hin, dass sich die meisten Phänome innerhalb der ärztlichen Entscheidungsprobleme nicht auf Machtfragen reduzieren lassen. (b) Entscheiden als Kontingenzbewältigung Hilfreicher erscheint es mir die Dinge unter dem systemtheoretischen Blickwinkel der Kontingenzbewältigung zu betrachten. Ausgangs- und Bezugspunkt des Entscheidungsproblems ist hier die Ungewissheit. Ärzte haben zwar in der Regel ausreichend Gewissheit über die eigenen Operationen, d. h. den ihnen zur Verfügung stehenden Diagnose- und Therapieprogrammen – all 404 VIII. Diskussion dies gehört schließlich zum eigenen System und erzeugt sich in Selbstreferenz als Funktionsbezug der jeweiligen medizinischen Institution. Demgegenüber stehen wesentliche Aspekte des Behandlungsgeschehens außerhalb der ärztlichen und pflegerischen Kontrolle. Prinzipiell zeigt sich schon der biologische Körper des Patienten als hyperkomplex, d. h. ist nie vollkommen berechen- und beherrschbar. Behandlungen können paradoxe Effekte hervorrufen. Diagnostische Prozesse können Komplikationen hervorrufen, beispielsweise in Form von Infektionen oder allergischer Abwehrreaktionen. Die Nebenfolgen einer therapeutischen Intervention lassen sich nie mit hundertprozentiger Sicherheit vorhersagen. Die zweite Unsicherheitssphäre stellt das Subjekt des Patienten dar, letztlich ist hier nie auszuschließen, dass sich dieses willentlich oder unwillentlich gegen die Ärzte wenden wird. Die dritte Kontingenzquelle stellen die externen Akteure im Medizinsystem dar. Eine Krankenkasse kann sich immer auch weigern, dass geplante oder gar schon durchgeführte Therapieregime zu übernehmen. Immer ist mit der Gefahr zu rechnen, dass eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Geschehens im Krankenhaus veranlasst wird. All diese Faktoren sind seitens des Krankenhauses nicht zu kontrollieren, denn aus systemtheoretischer Sicht gehören sie zur Umwelt der medizinischen Organisation. Diese Unsicherheiten sind für eine Organisation nur dadurch adsorbierbar, dass interne Strukturen aufgebaut werden, die auch ein Handeln angesichts solcher Ungewissheiten ermöglichen. Erst die Etablierung eigener Entscheidungsprogramme erlaubt es, unabhängig von potentiellen Irritationen durch die Umwelt zu entscheiden. Unter der Voraussetzung einer selbst gesetzten Handlungsrationalität kann man auch dann eine Therapie beginnen, wenn man weiß, dass sie möglicherweise dramatisch scheitern kann. Die Konstruktion von Patientenstereotypen erlaubt es, stabile Erwartungsmuster an die behandelnde Person zu stellen, ohne sich ausführlicher der Evaluation der damit verbundenen Annahmen widmen zu müssen. Die Patientenakte und der Arztbrief erlauben die formelle Herstellung der eigenen Handlungslegitimation, um dann in alltagspraktischen Dingen bei Bedarf dann trotzdem anders agieren zu können. Man kann über die Öffnung und Schließung von Bewusstheitskontexten disponieren. Das was nach außen dargestellt wird, braucht nicht mehr mit der inneren Wirklichkeit überein zu stimmen. Durch die Konstruktion interner Wirklichkeiten wird eine innere Komplexität erzeugt, die dann zunehmend als Handlungsfreiheit erscheint. Inwieweit mögliche Komplikationen antizipiert und prophylaktisch behandelt werden sollen und wie man im Einzelfall Ökonomisches und Ärztliches auszubalancieren hat, stellt sich durch diese gewonnenen Freiheiten nun selbst als Entscheidungsproblem dar. Ab einer gewissen Systemgröße werden die inneren Prozesse selbst hyperkomplex und verlangen nach weiteren Entscheidungen, über welche die intern erzeugte Komplexität wieder reduziert werden kann. Im System selbst erscheinen nun Entscheidungsstrukturen. Frei nach dem Diktum von v. Foerster (1994: 351), dass man nur die Dinge entscheiden kann, die prinzipiell unentscheidbar sind, muss man nun bestimmten Personen im System Entscheidungsfreiheit einräumen, bzw. unterstellen, denn die aufgeworfene Kontingenz muss wieder geschlossen werden – ansonsten droht Entscheidungs- und damit Handlungsunfähigkeit. Um es als Paradoxon zu formulieren: Umso differenzierter das Behandlungssystem Umweltirritationen (in Form von körperlichen Risiken, Patientenpersönlichkeit und ökonomisch-administrative Faktoren) intern repräsentieren kann, umso schwieriger wird es, die nun aufgeworfene interne Komplexität durch handlungspraktische Entscheidungen wieder zu reduzieren. Unter diesem Blickwinkel erscheinen ärztliche Entscheidungsprozesse deshalb primär als Problem der Kontingenzbewältigung. Machtstrukturen würden unter dieser Voraussetzung als sekundäres Phänomen erscheinen, während die Unsicherheitsabsorption der eigentliche Mechanismus zur Systembildung darstellt. 2. Organisation von Entscheidung 405 Hierdurch erscheinen die Entscheidungsstrukturen des Krankenhauses in einem vollkommen anderen Lichte als in der common sense Betrachtung. Die Inszenierung des Chefarztes als potenter Letztentscheider erklärt sich hier weder durch seine besonders hohe medizinische Rationalität oder Kompetenz, noch durch sein individuelles Machtstreben, sondern erklärt sich systemisch dadurch, dass in der langen Kette der Entscheidungen jemand gebraucht wird, der mit Autorität auch „unbegründete“ Entscheidungen treffen kann. Hierarchie wird gebraucht, um prekäre Entscheidungen abzusichern und um einer Paralyse der Handlungsstrukturen durch endloses Abwägen entgehen zu können. Als funktionale Alternative zu dem führungsorientierten Modus könnte theoretisch zwar auch ein demokratisches Verfahren – etwa eine Konsensuskonferenz diese Aufgabe übernehmen. Hier wäre man dann allerdings gezwungen, sich vermehrt auf die hierfür notwendigen Aushandlungsprozesse einzulassen - was in der Medizin aus Gründen des Zeitmangels sicherlich nicht immer leicht fällt. Formelle Gremien, wie Fallkonferenzen und Abteilungsbesprechungen dienen beim genaueren Hinsehen oftmals weniger der Erhöhung der medizinischen Rationalität einer Entscheidung, denn der rituellen Abkürzung eines Entscheidungsprozesses. Diese Gremien werden in der Regel nicht darum angerufen, weil man zu wenig über das Krankheitsgeschehen weiß, sondern dann, wenn bereits zu viel überlegt wurde und hierdurch die Handlungspraxis ins Stocken geraten ist (vgl. Kap. VI.4.). Nicht selten wird die Entscheidungskontingenz, d. h. die Möglichkeit gleichsam durch „Würfeln“ zum Ergebnis zu kommen, in diesen Sitzungen künstlich erhöht, um dann die Kontingenzlücke durch eine handlungspraktische und qua Verfahren legitimierte Lösung wieder schließen zu können – die Entscheidung muss ja richtig sein, wenn sie in solch einem hochkarätigen Team beschlossen wurde. Paradigmatisch für diesen Entscheidungsmodus ist das Fallbeispiel von Frau Siegel. Homologe Muster lassen sich aber auch in den onkologischen Fallkonferenzen aufzeigen. Im Sinne der hohen Kontingenzen, die im medizinischen Alltag oftmals auszuhalten sind, wundert es kaum, dass Abteilungsbesprechungen als Sekundärfunktion einen gleichsam seelsorgerischen, weil Identität stiftenden Charakter bekommen (vgl. Kap. VI.4.). Wenn Entscheiden nicht mehr wie in der Rational-Choice-Theorie bedeuten kann, rational begründete Lösungen für ein Problem zu finden, sondern gerade darin besteht, diesbezügliche Rationalisierungslücken über andere Wege als der Vernunft zu schließen, dann bekommt die Inszenierung von Entscheidungsautorität eine zentrale Bedeutung innerhalb dieser Prozesse. Im Zweifelsfall kann hier auf alles Mögliche rekurriert werden: Man kann Legitimation durch Verfahren suchen, etwa in dem man einen formalen Konsensus anstrebt und hierzu möglichst viele Parteien mit ins Boot holt. Man kann externe fachliche Berater zur Konsultation hinzuziehen. Dem Urteil des Konsilarius kann dann bei Bedarf Folge geleistet werden, muss aber nicht, falls die erwünschte Funktion nicht erfüllt wird (vgl. VI.3.). Man kann im Zweifelsfall dem Patienten die Entscheidungsverantwortung attribuieren, wenngleich dieser in dem eigentlichen Entscheidungsprozess nicht vorkommt (vgl. Herrn Spondel und Herrn Schmidt-Bauer). All diese Prozesse liefern Bausteine, um je nach Bedarf eine Legitimationsbasis zu konstruieren, die sowohl nach innen wie auch in der Außendarstellung trägt. Unter der Vorrausetzung, dass medizinische Institutionen unter Bedingungen einer außerordentlich hohen Unsicherheit agieren und in der Behandlungspraxis mit einer hohen Rate des Scheiterns zu rechnen ist, gewinnen solche Formen eine wichtige Bedeutung für die Rekonstitution der organisatorischen und ärztlichen Identität. Erfolgreiche Entscheidungsfindung darf hier deshalb nicht mehr nur im Sinne des common sense Auftrags des Krankenhauses gesehen werden. Aus systemischer Sicht geht es hier weniger um den Zweckauftrag Diagnose, Pflege und Therapie, denn um die geschickte Bewältigung von Irritationen und Krisen – schließlich muss man auch die unbehan- 406 VIII. Diskussion delbaren Fälle behandeln können. Virulent werden diese Probleme insbesondere in den drei herausgearbeiteten Entscheidungsfeldern. In den „komplexen Fallproblematiken“ kommen die diagnostischen und therapeutischen Programme selbst in eine ausweglose Endlosschleife. Bei den „palliativen Fällen“ lässt sich der Behandlungsauftrag nur vom Tode her, dem Nichtziel medizinischen Wirkens definieren und im Thema „schwierige Patienten“ wird das zentrale ärztliche Sinngebungsmoment, nämlich etwas Gutes für den Patienten tun zu wollen, eben durch diesen gestört. All diese Entscheidungsprozesse offenbaren grundlegende Muster, wie medizinische Wirklichkeit hergestellt wird. Üblicherweise verlaufen solche Vorgänge weit gehend unbemerkt, als Routinen ab. Oberflächlich scheinen hier System- und Zweckrationalität überein zu stimmen – zumindest solange man nicht zu sehr hinschaut. In den hier vorgestellten Problemkonstellationen wird jedoch das jeweilige Organisationssystem geradezu zu konstruktiven Eigenleistungen herausgefordert. Erst unter schwierigen Ausgangsbedingungen – denn hier geht es ja oft um Existenzielles -, offenbaren sich die Fähigkeiten zur Kontingenzbewältigung und die damit verbundenen Selbstimmunisierungsstrategien. Rationalitäten lassen sich post hoc immer konstruieren. Es liegt gleichsam in der Eigenart psychischer Systeme, das eigene Handeln als ein rational Begründbares zu reformulieren. Gute Gründe lassen sich schließlich immer finden. Im Sinne der Watzlawickschen Paradoxien kann man gar Nichts-Tun als Psychotherapie verkaufen (vgl. Watzlawick 1994). Im Netzwerk unendlicher Kausalitäten kann alles seine Wirkungen, seinen Sinn haben, dennoch zeigen die Rekonstruktionen auf, dass die erfolgten Zurechnungen nicht beliebig verlaufen, sondern sich an dem in der Basistypik formulierten Ausgangsproblem abarbeiten, bzw. in den Subtypiken weitere Bahnung finden. Die leitenden Orientierungsrahmen und ihre Modulationen wiederholen sich hier als mehr oder weniger regelmäßiges Muster. Echte Entscheidungen sind per se kontingent, denn man hätte man ja mit gutem Grunde auch anders entscheiden können. In der Medizin kann ärztliche Willkür aber nur schwer kommuniziert werden. Sowohl die Zielakteure als auch die ausführenden Akteure tun gut daran, hier gewisse Kommunikationsschranken – die Ethnologen würden sagen: Tabus – aufrechtzuerhalten. Um mit Bateson zu sprechen: Im Sinne der Systemlogik erscheint es manchmal funktionaler, wenn die rechte Hand nicht weiß, was die Linke tut (Bateson/Bateson 1993: 103ff.). Der Patient ist im Sinne eines erfolgreichen Arrangements der Hoffnung gut beraten, es nicht so genau wissen zu wollen. Was aus aufgeklärter Bürgerperspektive befremdlich erscheint, macht innersystemisch weiter Sinn. Anstelle weithin die Fiktion demokratischer und transparenter Verhältnisse im Krankenhaus zu pflegen, lohnt es sich hier, sich möglicherweise intensiver mit der Rolle des Vertrauens für die Reduktion von sozialer Komplexität im Krankenhaus zu beschäftigen. Der Begriff Vertrauen wäre hier allerdings im Sinne von Luhmann (2000c) als soziologische und nicht als psychologische Kategorie zu verstehen – auch die Parsonsche Patientenrolle ließe sich unter diesem Blickwinkel reaktualisieren. 3. Implikationen für eine Soziologie des (ärztlichen) Entscheidens Die Entwicklung dieser Arbeit beruht auf einem spiralförmigen Prozess, in dem die Beobachtung der Praxis, die Befragung der Praxis durch die Theorie und schließlich die Befragung der Theorie durch die (rekonstruierte) Praxis sich wechselseitig inspirieren. Ohne auf die erkenntnistheoretischen Implikationen dieses Vorgehens einzugehen (siehe hierzu Kap. IV.1.), soll dieser Prozess 3. Implikationen für eine Soziologie des (ärztlichen) Entscheidens 407 hier nochmals vollzogen werden: Zum einen ist die soziologische Entscheidungstheorien abschließend in Beziehung zur rekonstruierten Praxis zu setzen: Die zitierten Theorien müssen sich hier von der empirisch-rekonstruktiven Forschung auf Plausibilität und Brauchbarkeit befragen lassen. Zum anderen muss sich die empirische Forschung nach abschließender differenzierter Reflexion fragen lassen, was durch das hier entfaltete Vorgehen erreicht ist, welche Kontraste fehlen und wo die Grenzen der hier angewendeten Methodologie liegen. Ein wichtiger Ausgangspunkt der metatheoretischen Überlegungen zu Beginn dieser Studie bestand in der Überlegung, dass eine akteurstheoretische Beschreibung ärztlicher Entscheidungsprozesse auf Basis der Rational-Choice Theorie nicht ausreichen kann, um die Dynamik ärztlichen Entscheidens unter den Bedingungen des modernen Krankenhauses angemessen beschreiben zu können. Angeregt durch die Ergebnisse des neurobiologischen Konstruktivismus stellte sich zudem die Frage, ob Rationalität per se nicht nur als eine post hoc hergestellte Konstruktionsleistung psychischer Systeme begriffen werden kann, die dazu dient, eine eine Kohärenz zwischen Bewusstsein und erlebtem Handeln herzustellen. Entscheidungsfreiheit muss hier als eine Fiktion erscheinen, die nur als Zurechnungskonstrukt Sinn macht, während sich bei genauerem Hinsehen andere Gesetzlichkeiten zeigen. Entsprechend der Leithypothese der sozialen Konstruktion von Entscheidung – eine Vorstellung, die dem common sense massiv zu wider läuft – wurde nach metatheoretischen soziologischen Konzeptionen gesucht, die ein gewisses Erklärungspotential für solche Prozesse liefern können, namentlich Goffmans Rahmenanalyse, Oevermanns Theorie der sozialen Deutungsmuster, Bourdieus Konzeption von Habitus und Feld und nicht zuletzt die Luhmannsche Systemtheorie. Bevor im Folgenden ausführlicher auf die Leistungen und Grenzen dieser Konzeptionen für die Rekonstruktion von Entscheidungsprozesse in einer sozialen Organisation wie dem Krankenhaus eingegangen wird, sollten einige Implikationen der RationalChoice Theorie nochmals in Beziehung zu den empirischen Ergebnissen gesetzt werden. Selbstverständlich ließen sich die Beobachtungsprotokolle, sowie die durchgeführten Interviews in Hinblick auf die hier zu Wort kommenden Inhalte immer auch unter dem Blickwinkel des Rational-Choice betrachten und analysieren. Bei vielen Entscheidungen könnte man dann auch Kosten-Nutzen Abwägungen anstellen - unter der Voraussetzung, dass man den jeweiligen Ärzten eine einheitliche und konstante Wertepräferenz unterstellen würde. Dieses Vorgehen hätte zwar im Einzelfall durchaus einige Plausibilität und wäre dann auch nicht unbedingt „falsch.“ Dennoch muss man sich dann die Frage stellen, was hierdurch in Hinblick auf die Aufklärung der Entscheidungsdynamik gewonnen wäre, denn gerade das Umschalten zwischen unterschiedlichen Handlungsrationalitäten, die Wechsel zwischen Entscheidungsrahmen kommen hier nicht in den Blick. Man könnte jetzt die Rational Choice Theorie im Sinne der Esserschen Situationslogik erweitern, indem man die Situationseinschätzung selbst als einen Entscheidungsprozess versteht und könnte auch wieder das Rationalitätskalkül unterlegen (vgl. IV.2.). Aus Sicht des RationalChoice mag dies zwar theoretisch plausibel erscheinen. In Hinblick auf die empirischen Fallrekonstruktionen wäre man dann jedoch gezwungen, den Akteuren hinsichtlich der von ihnen vollzogenen Rahmungen eine bewusste oder unbewusste Intentionalität unterstellen. Diese Zurechnung ist jedoch in den wenigsten Fällen durch das empirische Material gedeckt – bleibt also Unterstellung und hilft entsprechend nicht weiter, das empirische Material aufzuschließen. Auch Colemans Versuch, den korporativen Organisationen ein gewisses Eigenleben zuzugestehen, das dann in Agonie zu den Interessen und Zielen der handelnden Akteure steht, hilft hier nicht weiter. Man mag zwar hierdurch die paradoxen systemischen Effekte in den Blick bekommen, baut aber dafür einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen System- und Lebenswelt auf. Das empirische Material – die Kommunikationen und Erzählungen – müssten dann so gelesen werden, als seien 408 VIII. Diskussion sie von einem gespaltenen oder gar gleichsam schizophrenen Akteur formuliert, der eigentlich immer anderes wolle, als er tue. Vereinzelt kann zwar durchaus beobachtet werden, dass Akteure aufgrund von Zwängen anders handeln, als es den von ihnen offenbarten Wertvorstellungen entspricht. Doch bei den meisten der von mir rekonstruierten Entscheidungsprozesse lässt sich nur wenig Evidenz dafür finden, dass die jeweiligen Akteure nicht als Einheit von Erkennen und Handeln agieren. Außerdem verschleiert die Annahme einer solchen Polarität wiederum den Blick auf die organisationsinternen Realitäten. Man führt hier von außen wieder eine Reihe von Zurechnungskonstrukten ein – unterstellt etwa, dass hier die Akteure etwas tun, was sie nach zweckrationaler Betrachtung nicht wollen können. Dieses Vorgehen verstellt jedoch den Blick auf die Zurechnungen, die seitens der Akteure im empirischen Feld selbst getroffen werden und verhindert den Blick auf die sozialen Wirklichkeiten, die durch diese Zurechnungen erzeugt werden. Der Mikro-Makro Übergang, der hier in eindimensionaler Form erklärt werden soll, führt unweigerlich zu Paradoxien. Der Rational Choice Blickwinkel macht nur Sinn, wenn über die jeweilige Systemreferenz a priori entschieden ist. Selbstverständlich wird ein bewusster Akteur, auf die Gründe seines Verhaltens befragt, Gründe und persönliche Wertepräferenzen benennen können. Ebenso lassen sich einem Arzt von außen Motive und Gründe für sein Verhalten unterstellen. Ein solches Vorgehen mag bei bestimmten Fragestellungen sinnvoll sein, eignet sich jedoch kaum, die vielschichtigen Kontexturen sozial organisierter Entscheidungsprozesse in den Blick zu bekommen. Es kann hier nicht ausreichen, auf ein eindimensionales Kausalitätsschema zu rekurrieren, das nur eine Ursache-Wirkung Relation zulässt. Benötigt wird hier stattdessen ein metatheoretisches Modell, in dem die Attribution und Zurechnung von Autonomie selbst als Teil der Wirklichkeitserzeugung verstanden werden kann. Innerhalb der Fallrekonstruktionen hat sich als hilfreiches Instrument insbesondere die Goffmansche Rahmenanalyse erwiesen. In dem hier explizit zwischen Sicht und Prozess, Rahmen (frame) und Rahmung (framing) unterschieden wird, gelingt es, das Augenmerk auf die soziale Konstruktivität der Herstellung sozialer Wirklichkeiten zu lenken. Mittels dieses Metaschemas gelingt es auch, weitgehend von den inhaltlichen Details des medizinischen Alltags zu abstrahieren und stattdessen die grundlegenden Orientierungsmuster der Fallbearbeitung in den Vordergrund zu stellen. Mit dem Konzept der Modulation von Rahmen eröffnet sich zudem ein systematischer Blick auf die vielfältigen Inszenierungsleistungen im medizinischen Alltag. Wirklichkeit braucht nicht mehr als eine konsensuell erfahrbare Realität begriffen werden, sondern kann sich in unterschiedliche soziale Sphären aufsplittern, in denen dann jeweils Anderes der Fall ist. Indem begriffen wird, dass der Krankenhausalltag durch bestimmte Klassen von Täuschungsmanövern durchzogen ist (was im Prinzip schon seit den Arbeiten von Glaser und Strauss bekannt ist 1974), kann weitergehend gefragt werden, was dies für die Organisation medizinischer Entscheidungen bedeutet. Das heißt zu fragen, welche Sachzwänge hierdurch erschaffen werden, welche Rahmen gebraucht werden, um die verschiedenen Fiktionen unter einen Hut zu bringen, etc. Goffmanns Analysekategorien erweisen sich gerade hier als ein wertvolles Hilfsmittel, um solche Prozesse in einfacher Form beschreiben zu können. Analytisch lässt sich hiermit recht gut auseinander halten, ob innerhalb eines medizinischen Rahmen „zweckrational“ entschieden wird, oder ob in einem administrativen Rahmen, medizinische Zweckrationalität vorgetäuscht wird; ob Uneindeutigkeit per se in der Situationsdefinition begründet liegt, oder ob Diffusität auch sozial hergestellt wird, um in Bezug auf die Rahmung des Geschehens, Freiheitsgrade offen zu halten. Rationalitäten können in ihrem Geltungscharakter eingeklammert und kontextualisiert werden und vor allem kann die Logik und Eigendynamik dieser Einklammerungsprozesse betrachtet werden. Das, was zunächst als Sach- und Entscheidungszwang erscheint, kann sich beim zweiten Blick auch 3. Implikationen für eine Soziologie des (ärztlichen) Entscheidens 409 als sozial konstruiert erweisen. Die sich hieraus ergebenden Rationalitäten brauchen nicht mehr nur im Sinne eines eindimensionalen Kausalitätsverhältnisses verstanden werden. Freiheitsgrade werden nun als kommunikative Eigenleistung sichtbar, ohne sich jedoch nun in postmoderner Beliebigkeit verlieren zu müssen. Denn welche Klassen von Rahmen und Modulationen möglich sind, zeigt sich gerade auch im Krankenhaus als eine stabile soziale Realität. Während Goffmans Rahmenanalysen metatheoretische Kategorien liefern, um die Herstellung sozialer Wirklichkeiten zu beschreiben, also einerseits formal abstrakt und anderseits deskriptiv zu verstehen sind, neigt der Oevermansche Ansatz der sozialen Deutungsmuster tendenziell etwas zur normativen Verkürzung. Oevermanns Leistungen bestehen sicherlich in der Beschreibung der durch die Interaktionsordnung hervorgerufenen Sozialisationsdynamik. Im Zusammenhang ärztlicher Entscheidungsprozesse heißt dies, dass gerade ärztliche Berufsanfänger in eine Interaktionsdynamik gestellt sind, die von ihnen verlangt, Entscheidungen zu treffen und Rationalitäten zu verfolgen, die sie de facto noch nicht beherrschen können. Besonders im Oberarzt-Novizen Verhältnis zeigt sich eine Dynamik, die dann wohl auch einige strukturelle Parallelen zur Eltern-Kind-Beziehung aufzeigt, also der Interaktionsstruktur anhand der Oevermann seine Theorie der latenten Deutungsmuster entwickelt hat. In diesem Interaktionszusammenhang wird der Lernende in eine Rolle gedrängt, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, ohne über die Bewusstheit der diesbezüglichen Regeln zu verfügen. Es bleiben ihm also hier nur zwei Wege offen: Entweder die Zuschreibung von Autonomie und diesbezüglicher Verantwortlichkeiten anzunehmen, also schwimmen zu lernen, oder zu regredieren – also der ihm zugeschriebenen Verantwortung auszuweichen. Diesbezügliche Entscheidungsdilemmata können mittels der Oevermannschen Konzeption gut beschrieben werden. Der junge Arzt sieht sich hier oftmals vor Anweisungen gestellt, die ihm widersprüchlich erscheinen, da er die impliziten Gesetze ärztlichen Handelns noch nicht verinnerlicht hat. Entsprechend bleibt ihm in der Regel nichts anderes übrig als handlungspraktische Lösungen auszuprobieren, um sich diesen überfordernden Aufgaben zu stellen (vgl. auch Vogd 2003). Solche Entscheidungskonflikte stellen jedoch nur einen Teil der ärztlichen Entscheidungsprozesse dar, treten im Sinne der herausgearbeiteten „Kompetenztypik“ beispielsweise vermehrt auf Stationen auf, die überwiegend von Berufsanfängern betreut werden. In Hinblick auf diese speziellen Problemfelder zeigt die Theorie der Deutungsmuster durchaus ihre Berechtigung. Insbesondere die Oevermannsche Professionalisierungstheorie zeigt jedoch in Hinblick auf die anderen empirischen Phänomene wenig Erklärungskraft. Vor allem scheint hier die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung für die ärztliche Professionalisierung überbewertet. In Hinblick eines normativen Modells ist es zwar nachvollziehbar, dass im Sinne einer diffusen Sozialbeziehung der Patient als ganzer wahrgenommen werden sollte, de fakto kommt jedoch gerade dies in den meisten Krankenhauskontexten nicht vor, darf also nicht generell als empirisch rekonstruiertes Kriterium für ärztliche Professionalität gelten. Vielmehr scheinen gerade erfahrene Ärzte über ein ausdifferenziertes Arsenal von Patiententypen zu verfügen, d. h. ihr professionelles Handeln zeigt sich gerade dadurch aus, nicht mehr allzu tief auf den Patienten eingehen zu müssen und stattdessen im Sinne einer Sozialtechnologie routiniert bewährte Formen anbieten zu können. Im Gegensatz zum Oevermannschen Ansatz bedeutet Professionalität zu erlangen hier weniger ein Gleichgewicht zwischen diffuser Sozialbeziehung und Medizinalität zu gewinnen, denn das Spiel zu beherrschen, was heißt im Sinne der in dieser Arbeit herausgearbeiteten Basistypik die Balance zwischen Ärztlichkeit und ökonomisch-administrativen Interessen inszenieren zu können. Die Eigenlogik der inneren Sphäre ärztlichen Handelns - wenn man so will: die Wissenssoziologie der Medizin – erschließt sich durch Oevermanns konstitutionslogischen Ansatz nur unzureichend. 410 VIII. Diskussion Insbesondere die Vorstellung, dass im Zentrum der Ärztlichkeit die Arzt-Patient Beziehung stehen muss, scheint mir ein kaum zu haltender bias zu sein, und in diesem Sinne stehen die Ergebnisse dieser Arbeit durchaus in einer Reihe mit den neueren krankenhaussoziologischen Arbeiten, welche in Hinblick auf die ärztliche Professionalität eher die patientenfernen Faktoren betonen - etwa die Bedeutung der innermedizinischen Wissensorganisation (Atkinson 1995), den Einfluss der Patientenakte auf das ärztliches Denken und Handeln (Berg 1992, 1996) oder die Abklärung der Frage, welchen Informationen man innerhalb des medizinischen Systems vertrauen kann (Cicourel 1990). Darüber hinaus lassen sich die organisatorische Realitäten einer Institution wie dem Krankenhaus nicht nur auf Interaktionszusammenhänge reduzieren. Die Referenz des Handelns besteht hier oftmals weniger im konkreten kommunikativen Gegenüber, denn zum einen in den abstrakten Bezügen angekoppelter Systemzusammenhänge, deren konkrete Akteure man in der Regel nie persönlich zu Gesicht bekommt, zum anderen in der permanenten Konfrontation mit einer Reihe durch die ärztliche Arbeit erzeugten medizinischen Artefakten, etwa den Laborberichten, Patientenakten etc. Auch wenn Oevermann strukturelle Bedingungen für eine überindividuelle Entscheidungsdynamik formuliert, so bleibt aus den benannten Gründen der Nutzen seiner Konzeption für eine Untersuchung der Entscheidungsdynamik im Krankenhaus auf die wenigen benannten Bereiche begrenzt. Goffmans Rahmenanalyse eröffnet hier ein wesentlich differenzierteres Beschreibungspotential. Allein schon die innersystemischen Möglichkeiten von Modulationen und Selbstinszenierungen eröffnen den Akteuren Handlungsspielräume, die in dem tendenziell eher rationalistischen Modell von „Entscheidungszwang und Begründungsver pflichtung“ nicht vorgesehen sind. Bourdieus Konzeption von Rahmen und Feld lenkt – wie schon zuvor angedeutet – die Aufmerksamkeit auf die Mikropolitik des ärztlichen Handelns. In der Pointierung der damit verbundenen Machtkonstellationen liegen zugleich ihre Stärken, aber auch die Grenzen für das Verständnis ärztlicher Entscheidungsprozesse. Die Leistungen dieser Konzeption liegen dabei einerseits in der Nachzeichnung der Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der ärztlichen Handlungszusammenhänge. Sie erklären die Reproduktion ärztlicher Hierarchien als wechselseitige Konditionierungen der Akteure durch Karrierehoffnungen bzw. der Angst aus dem Feld ausgeschlossen zu werden. Zudem entwickelt Bourdieu mit dem Habitusbegriff einen nicht intentionalen Rationalitätsbegriff. Ärztliches Handeln und Denken braucht hier nicht mehr nur als kognitive Leistung eines seiner selbst bewussten individuellen Akteurs begriffen werden, sondern dürfen auch als tief in die soziale Praxis eingelassene Handlungsschemata begriffen werden, die den Auszuführenden nicht einmal in den Bedingungen ihrer Herstellung bewusst sein brauchen. Professionalität kann anders als bei Oevermann – und als es wohl dem Selbstbild des aufgeklärten Intellektuellen entspricht – als Routinehandeln begriffen werden (als „praktischer Sinn“). Auch den innerhalb der ärztlichen Entscheidungsprozesse oft zu beobachtenden Wechsel zwischen den Rahmen, den Rahmenmodulationen, braucht hier nicht mehr eine intentionale Absicht unterstellt werden. Man muss den Ärzten nicht mehr zu unterstellen, hier in guter oder schlechter Absicht, täuschen zu wollen, sondern darf annehmen, dass die diesbezüglichen Kommunikationsformen habituelle Muster darstellen, die unreflektiert, aber Praxis bewährt zur Anwendung kommen. Diskrepanzen zwischen ärztlichen Selbstbild und Handeln dürfen hier bestehen, ohne die jeweiligen Akteure gleich der Lüge bezichtigen zu müssen. Hierdurch würde sich etwa auch der oft feststellbare Befund erklären, dass Ärzte im Interview gefragt, oft der Meinung sind, dass sie 3. Implikationen für eine Soziologie des (ärztlichen) Entscheidens 411 ihre Patienten gut und ernsthaft über das Krankheitsgeschehen aufklären, demgegenüber in der Beobachtung ihrer Handlungspraxis jedoch oftmals Ablenkungs- oder Täuschungsmanöver zu entdecken sind. Latente und offensichtlichere Agonien – welcher Arzt klagt nicht über die aktuellen Verhältnisse im Gesundheitswesen? – können durch die Bourdieuschen Kategorien in anschaulicher Form herauspräpariert werden, ohne auf eine plumpe Machtsemantik reduziert zu werden. Die Konzeption des symbolischen Kapitals und den jeweils feldspezifischen Währungen erlaubt etwa die Herausarbeitung der komplexen Selektionsbedingungen eines Universitätsklinikums im Spannungsfeld von medizinischem und wissenschaftlichem Feld. Bourdieus Leistung besteht hier speziell in der Fokussierung der dynamischen Wechselbeziehung zwischen Akteur und Institution und den hiermit verbundenen Konditionierungsmechanismen. Die Systemdynamik der ärztlichen Entscheidungsdynamik selber wird dabei jedoch nur ungenügend abgebildet, da sich diese nicht auf die Regeln der ärztlichen Mikropolitik reduzieren lässt. Dies bedeutet zwar nicht, dass Machtstrukturen keine Einflüsse auf ärztliche Entscheidungsprozesse haben– diesbezügliche Deformationen lassen sich durchaus in einigen Fallbeispielen aufzeigen. Macht kann jedoch hier nur als ein Faktor unter anderen gesehen werden. Die Machtverteilung im medizinischen Feld ist nicht identisch zu sehen mit der Herstellung und Verteilung der Entscheidungslasten. Erst mittels systemtheoretischer Kategorien lässt sich die Organisation von Entscheidungsprozessen in einem differenzierteren Bild nachzeichnen. Hierarchien erscheinen hier nicht (nur) als Machtstrukturen sondern auch als Antwort auf medizinische Entscheidungsprobleme. Erst unter der Voraussetzung, dass die Aufgabe, Kontingenz zu bewältigen, und nicht die Willkür das Ausgangsproblem vieler ärztlicher Entscheidungsprozesse darstellt, lassen sich eine Reihe der empirischen Befunde erklären. So scheinen die Akteure aus den leitenden Positionen nicht unbedingt wirklich erpicht zu sein, allzu oft die Entscheidungsrolle anzunehmen. Gerade in den steilen Hierarchien lassen sich eine Reihe von Mechanismen identifizieren, die dazu dienen, Entscheidungslasten abzuwehren. Chefärzte inszenieren sich in der Regel als Meta-Entscheider. Potentiell verfügen sie zwar über die Entscheidungsmacht, sind aber als solche nicht direkt ansprechbar. Als letztes Glied in der Kette können sie qua Amt Entscheidungsunsicherheit durch Entscheidung lösen. Von dieser Autorität empfiehlt sich allerdings nicht allzu viel Gebrauch zu machen, denn sonst besteht die Gefahr der Dekonstruktion ihrer Entscheidungsmacht – man sieht, dass der Chef auch nur mit Wasser wäscht und außerdem birgt zuviel Kontakt mit der Basis die Gefahr, durch Diskussionen herausgefordert zu werden, welche die Rationalität der getroffenen Entscheidungen hinterfragen könnten. Die Chefentscheidung muss eine gewisse Außeralltäglichkeit behalten, ansonsten verbraucht sich ihre Aura. Der Chefarzt dient innersystemisch sozusagen als Joker. Man kann hoffen, dass er bei prekären Entscheidungen anspringt, um hier die offensichtliche Kontingenz zu schließen. Im Hinblick auf die Kontingenzbewältigung erscheinen Machtverhältnisse nützlich, denn sie asymmetrisieren die Kommunikation von Entscheidungen und vermeiden hierdurch ihre Dekonstruktion - es empfiehlt sich nicht die Königentscheidung post hoc durch einen kritischen Diskurs in Frage zu stellen. Im Krankenhaus bestehen eine Vielzahl von Verfahren, um Kontingenzen und die damit verbundenen Unsicherheiten zu bewältigen. Fallkonferenzen, Teamsitzungen und Supervisionsgruppen erzeugen vielfach nicht unbedingt eine höhere medizinische Rationalität, jedoch eine höhere Legitimität. Im gleichen Sinne werden externe Konsilarien oftmals weniger gebraucht, um medizinische Sachkompetenz einzuholen, denn um eine hiebfeste Begründung für eine Entscheidung zu beschaffen. Falls ein Untersuchungsergebnis dann wider erwarten doch in die „falsche“ Richtung weist, kann es seitens des Behandlungsteams still und leise wieder verworfen werden. 412 VIII. Diskussion Aus organisatorischer Hinsicht können sich ärztliche Entscheidungsprozesse aus zweierlei Gründen zu Problemlagen entwickeln, die ihrerseits besonderen Entscheidungsbedarf provozieren. Im einen Fall herrscht zu hohe Kontingenz, die Unsicherheitslücken im Fallverständnis müssen hier durch Entscheidung geschlossen werden. Hier geht es also primär um Kontingenzreduktion. Im anderen Fall lassen die bestehenden Orientierungsrahmen zu wenig Handlungsfreiheit zu. Man ist zu stark in eine Patientenproblematik verwickelt und das Fallverständnis lässt keine Handlungsalternativen zu. Es droht die Gefahr, durch das Geschehen zu sehr gefangen bzw. gelähmt zu werden. In solchen Fällen dient die forcierte Entscheidungsfindung überwiegend dazu, in den Prozess wieder Handlungsfreiheiten einzuführen, auch wenn dies oftmals nur heißt, den Patienten „begründet“ auslagern zu können, oder ihm eine weitere experimentelle Therapie anzubieten, deren Erfolg höchst unwahrscheinlich ist. In dem Behandlungsprozess muss dann zunächst die Kontingenz „künstlich“ erhöht werden, um sie dann durch Entscheidung wieder schließen zu können. Auch hier ist der entscheidungsfreudige, vielleicht sogar manchmal irrational entscheidende Chefarzt willkommen, ebenso das wilde Brainstorming einer Fallkonferenz - denn schließlich geht es nun darum, eine lähmende Situation zu überwinden. Wenn man ärztliches Entscheiden unter dem Blickwinkel der Kontingenzbewältigung betrachtet, erhellen sich eine Reihe von Phänomenen im Krankenhaus. Da Kontingenz in medizinischen Fragen - da es ja schließlich um Existenzielles geht - besonders prekär erscheint, anders als der beim schöpferischen Modedesigner kann der schöpferischer Eigenwille hier nicht so leicht als Tugend verkauft werden, verlangt es besonders subtiler Mechanismen, um die Rationalitätsdefizite der gefundenen Lösungen zu verdecken. Gerade auch in anbetracht der Tatsache, dass medizinische Behandlungen nicht selten scheitern, lassen sich viele der innerorganisatorischen Manöver dahingehend lesen, dass man versucht, auch unter schwierigen medizinischen und sozialen Bedingungen eine brauchbare Legitimationsbasis für die Behandlung oder deren Abbruch herzustellen. Da der besondere Funktionsbezug der Medizin verlangt, auch unter widrigen Bedingungen Behandlung anbieten zu können, müssen medizinische Organisationen komplexe interne Arrangements entwickeln, um die damit verbundenen Paradoxien bewältigen zu können. Frei nach dem Motto: „je mehr Verstörung, desto mehr Beschwörung“ entfalten sich diese Lösungen als soziale Semantiken, die man je nach theoretischem Blickwinkel, als Inszenierungen, Paradoxieentfaltungen, manchmal auch als Rituale bezeichnen würde. Erst der systemtheoretische Blick erlaubt es jedoch, diese Dinge unter dem Leistungsaspekt zu sehen: Organisationen bleiben hierdurch handlungs- und entscheidungsfähig, erzeugen sich innere Freiheitsgrade, die sie dann durch eigenen Entscheidungen und ohne Verlust an Identität abarbeiten können. Entscheidungen können nun als Attributionsleistungen verstanden werden, die auf bestimmte Bezugsprobleme eine Antwort geben können. Entscheidungen erscheinen hier weder als pure Willkür, noch als Rationalitätsleistung eines einzelnen Subjektes. Die Entscheidungsdynamik reduziert sich hier aber auch nicht auf eine Interaktionsdynamik oder eine Machtstruktur, sondern stellt auch Systemrationalität dar, was hier besonders bedeutet, dass Organisationen handlungs- und überlebensfähig bleiben müssen. Erst hierdurch werden - im Kontext qualitativer Forschung leider oft vernachlässigt – Organisationen in ihrer Eigendynamik ernst genommen. Aus diesem Blickwinkel braucht die ärztliche Entscheidung nicht mehr länger mystifiziert werden, sondern kann als etwas verstanden werden, was gebraucht und deshalb konstruiert wird, um Unsicherheiten in Handlungsfähigkeit zu überführen. Die systemtheoretischen Annahmen brechen zwar mit dem common sense, dass medizinische Entscheidungen auf einer hohen Reflexivität der entscheidenden Akteure beruhen. Die Befunde der empirischen 3. Implikationen für eine Soziologie des (ärztlichen) Entscheidens 413 Rekonstruktionen legen jedoch nahe, dass diese – aus Patientenperspektive zugegebener Maßen befremdliche Sicht, durchaus einiges Licht auf die Natur ärztlicher Entscheidungsprozesse werfen kann. In verschiedener Hinsicht stellt die Systemtheorie (der Luhmannschen Provenienz) den weitestgehenden theroretischen Rahmen. Aus diesem Grunde lohnt es sich, nochmals ihr Verhältnis zu den anderen hier zitierten metatheoretischen Konzeptionen zu reflektieren, insbesondere zum Goffmanschen Rahmenbegriff und dem Bourdieuschen Habitus. Die Systemtheorie formuliert auf recht abstrakter Ebene selbstreferenzielle Reproduktionszusammenhänge. Wirtschaftliche, medizinische, organisatorische und andere Systeme gestalten jeweils ihren eigenen Funktionsbezug, der zugleich die Strukturen erschafft, die eben diesen Funktionsbezug herstellen. Erst hierdurch erscheinen Systeme dem soziologischen Beobachter als mit sich selbst identisch beschreibbare Prozesse. Verschiedene Systemzusammenhänge bestehen dabei gleichzeitig in einem Raum, sind einander überlagert, irritieren und ignorieren sich wechselseitig. In der Luhmannschen Weltbeschreibung herrschen polykontexturale Wirklichkeiten. Im weitesten Sinne können diese Kontexturen auch als Rahmen verstanden werden, die als systemrelevante Semantiken, die Basis für eine handlungsleitende Logik und die damit verbundenen Programme zur Verfügung stellen. Im Goffmannschen Rahmenbegriff werden diese abstrakten semantischen Bezüge auf die Akteursebene, also auf konkrete Handlungsorientierungen herunter gebrochen. Gerade in Organisationen wird die Verbindung dieser beiden Abstraktionsebenen sichtbar. So tritt etwa der abstrakte wirtschaftliche Funktionsbezug als konkret erlebbarer Druck durch die Kassen in die ärztliche Wirklichkeit ein und erscheint nun als Bezugsproblem, das nach einer Antwort verlangt. Doch erst die jeweiligen Akteure bringen diesen Konflikt zur Geltung, erwecken ihn zum Leben, indem sie ihn interpretieren und in gemeinsamer Koproduktion (unterschiedliche) Antworten als Lösungen erschaffen. Die Interpenetration der verschiedenen Systemebenen verläuft dabei nicht zufällig, aber auch nicht determiniert. Akteure lassen sich zwar durch Karriereerwartungen und Befürchtung von Sanktionen konditionieren – hier zeigen sich Anknüpfungspunkte zur Bourdieuschen Feldtheorie. Das ärztliche Feld kultiviert dabei jedoch einen besonderen Habitus, nämlich den der ärztlichen Freiheit, denn die moderne Organisation des Krankenhauses verlangt ein gewisses Maß an Autonomie von ihren Akteuren. Sie kann nur Überleben, wenn sie interne Freiheitsgrade konstruieren kann, um hierdurch eigene Handlungsspielräume aufrechterhalten zu können. Medizinische Organisationen befinden sich in einer Umwelt starker rechtlicher, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Kontexturen, müssen aber ihr Handeln entsprechend der jeweils eigenen Funktionsvollzüge ausrichten. Dies bewältigen zu können, verlangt nach einer selbst erzeugten trickiness, einer Raffinesse, die nach ärztlichen Interpreten verlangt, deren besonderer Habitus jedoch nur im medizinischen Feld kultiviert werden kann. Ärztliche Autonomie ist deshalb weder Willkür noch zufällige Beliebigkeit, sondern stellt ein habitualisierter Verfahrensmodi, medizinischer Institutionen dar. Je nach dem, ob man eher eine Akteursperspektive einnimmt, oder mehr die systemischen Zusammenhänge betrachtet werden, ergänzen sich die Konzeptionen der Goffmannschen Rahmen, des Bourdieuschen Habitus und der Luhmannscher Kontexturen komplementär. System- und Lebenswelt müssen und dürfen hier nicht mehr als Widerspruch verstanden werden, sondern können als zwei Blickwinkel auf eine Wirklichkeit verstanden werden. Was auf Systemebene als Kontingenz und Unsicherheit erscheint, lässt sich aus der Akteursperspektive durch Goffmanschen Inszenierungsleistungen bewältigen. Der Habitus stellt hier das Bindeglied zwischen diesen beiden Ebenen dar, denn er formuliert die Selektions- und Sozialisationsbe VIII. Diskussion 414 dingungen für die Durchdringung (Interpenetration) dieser beiden Ebenen. Feld und Habitus stellen hier - ebenso wie Organisation und Entscheidung - zwei Seiten einer Medaille dar6. Gerade der erfahrene Arzt hat den Spielsinn seines Feldes tief habitualisiert. Er erlebt er sich selbst als entscheidender Akteur, der entscheidet, erlebt sich als player und beherrscht die Klaviatur verschiedener Rahmen und derer Modulation. Er bewältigt die innermedizinischen Konfliktlinien weit gehend reibungslos, verkörpert die impliziten Regeln der jeweiligen medizinischen Disziplin und bedient intuitiv die vielfältigen Semantiken einer polykontexturalen Wirklichkeit. Dabei wird er zum Entscheider, ohne letztlich allzu viel entscheiden zu können - denn die meisten Konflikte innerhalb des medizinischen Systems können zwar verarbeitet, nicht jedoch gelöst werden. In diesem Sinne geben besonders die Entscheidungskonflikte der Berufsanfänger Aufschluss über die Dynamik innerhalb der medizinischen Handlungssphäre. Hier stimmen die rollenförmigen Erwartungsmuster der Novizen und der feldtypische ärztliche Habitus noch nicht überein. Die Systembeziehungen liegen hier noch in abstrakter Form vor, sind noch nicht in Orientierungsrahmen übersetzt, die durch die Akteure in gemeinsamer Praxis hergestellt worden sind. Die Annäherung von Systemtheorie und rekonstruktiver Sozialforschung – so die abschließende These – stellt kein methodologisches Kuriosum dar, sondern ist unabdingbar für das Verständnis dessen, was in Organisationen vor sich geht. Qualitative Organisationsforschung darf sich nicht auf „Organisationskultur“ beschränken, sondern muss sich in ihren Analysen gerade den Bezugsproblemen stellen, auf deren Grund sich Organisationen reproduzieren. Ein wichtiges Bindeglied zwischen Theorie und Empirie ist dabei der Rahmenbegriff mit seinen vielfältigen Schattierungen und theoretischen Implikationen. 4. Fragen an die Forschungspraxis So wie die soziologische Entscheidungstheorie in Hinblick auf die rekonstruierte Praxis einer kritischen Reflexion bedarf, muss auch die Forschungspraxis befragt werden, welche Dinge unbeantwortet geblieben sind, wo die methodologischen Grenzen des hier vorgestellten Ansatzes liegen und wo sich Anschlüsse für sinnvolle weitere Forschungsvorhaben bieten. Die sich abschließend ergebenden Fragen lassen sich dabei zu den zwei Themenkomplexen Krankenhausforschung und Professionalisierung zusammenfassen. (a) Krankenhausforschung Im Sinne der Logik der diesem Projekt zugrunde liegenden Methodologie stellt sich zunächst die Frage einer weiteren Ausdifferenzierung der hier vorgestellten Typologie. Es muss also gefragt werden, welche zusätzlichen Kontraste im Sinne einer weiteren komparativen Analyse zur Validierung hinzugezogen werden müssten. In Hinblick auf weitere Variationen des in der Basistypik benannten Bezugsproblems, also der Aufgabe zwischen ärztlichen und ökonomisch administrativen Arbeitsanforderungen eine Balance zu finden, lohnt sich der Rekurs auf Krankenhäuser, in denen sich dieses Verhältnis in grundlegend anderer Form stellt. Auf der einen Seite stehen hier die gut ausgestatteten Privatkliniken, welche ein recht finanzkräftiges Klientel betreuen, auf der anderen Seite die wesentlich stärker rationierten Krankenhäuser. In diesem 4. Fragen an die Forschungspraxis 415 Sinne erscheint etwa der Blick in britische Einrichtungen lohnenswert, denn hier herrscht eine wesentlich stärkere Rationierung der medizinischen Versorgung. Da die medizinischen Leistungen zudem steuerfinanziert sind, bekäme man hier auch die diesbezüglichen Systemeinflüsse eines anderen Finanzierungsmodus mit in Blick. Darüber hinaus könnte das Geschehen im Krankenhaus zusätzlich nochmals unter der Brille des interkulturellen Kontrastes betrachtet werden7. Die aktuellen strukturellen Veränderungen innerhalb der bundesdeutschen Versorgungslandschaft produzieren ihrerseits eine Reihe von Kontrasten, die dazu beitragen können, weitere Modulationen des durch die Basistypik aufgezeigten Spannungsfeldes aufzuzeigen. Zu nennen ist hier einerseits die Umstellung der Krankenausfinanzierung auf das Fallpauschalensystem der diagnose related groups (DRG), sowie die andererseits in vielen Kommunen anstehende Privatisierung der städtischen Krankenhäuser. In Berlin sind derzeit in Zusammenhang mit den hiermit verbundenen Rationalisierungsmaßnahmen massive Veränderungen in der Organisation der Krankenhausarbeit zu beobachten. So werden beispielsweise Apotheken, eine Vielzahl von Laboreinrichtungen und sogar die pathologischen Institute in der Regel nur noch in zentralisierter, das heißt häuserübergreifender Form vorgehalten. Nicht selten finden Ärzte unter den neuen Bedingungen vor Ort weder einen Pathologen mehr, noch einen Apotheker noch einen Histologen. Hierdurch verändert sich die Organisation medizinischer Prozesse: Beispielsweise kennt man den Pathologen nicht mehr persönlich und kann ihm nicht mehr schnell zwischendurch einen Schnitt zur Begutachtung ins Labor reichen. Solche Aufgaben lassen sich nur noch formell, das heißt auf dem Dienstweg angehen. Die informellen Wege der Informationsgewinnung – etwa zwischendurch auf dem Weg zur Kantine dem Experten eine Frage zu einem Befund zu stellen oder beim Apotheker abzutasten, ob man ein Medikament noch heute besorgen könne – können nicht mehr in gewohnter Form angegangen werden (vgl. hierzu den Bericht über den Berliner Klinikkonzern Vivantes; Golkowski 2003). All dies lässt vermuten, dass sich hier auch die soziale Organisation ärztlichen Entscheidens verändern wird. Bewährte Formen der Kontingenzbewältigung sind durch neue funktionale Äquivalente zu ersetzen, denn die bestehenden Routinen gelangen hier vermutlich erst einmal in die Krise. Ebenso ist zu erwarten, dass die angestrebten kürzeren Liegezeiten und die zunehmende Bedeutung ambulanter chirurgischer Eingriffe andere Entscheidungsflüsse hervorbringen werden. Um diese Wandlungsprozesse zu erhellen, erscheint eine Replik der Untersuchungen in einigen Jahren lohnenswert. In Hinblick auf die Differenz zwischen chirurgischem und internistischem Behandlungsmodus sei auf zwei laufende Studien verwiesen, die ihrer Tendenz nach im Einklang mit der hier getroffenen Unterscheidung stehen. Hermann (2003) untersucht die „Lebenswelten“ innerhalb der chirurgischen Onkologie eines Universitätsklinikums, Schubert (2003) die Kooperationen zwischen Medizintechnik, Anästhesisten und Chirurgen im Operationssaal8. In einigen, hier nicht berücksichtigten, medizinischen Disziplinen sind weiterhin Modulationen in der Entscheidungsdynamik zu erwarten. Bereiche mit einer besonderen Klasse von Entscheidungsproblemen stellen zum einen die Intensivmedizin, möglicherweise aber auch die Unfallmedizin dar. Auf den Intensivstationen bekommt die Kooperation zwischen dem ärztlichen Bereich und der Pflege eine herausragende Bedeutung. Möglicherweise kann hier letztere – im Gegensatz zu den hier vorgelegten Ergebnissen – auch in medizinischen Fragen vermehrt entscheidungsrelevant werden9. Im Hinblick auf das Verhältnis von Sterbebegleitung, Palliation und Kuration geben einerseits Untersuchungen in palliativmedizinischen, in geriatrischen Stationen sowie in Einrichtungen der anthroposophischen Medizin10 weiteren Aufschluss. Anderseits bietet sich für einen weiteren Kontrast die Beobachtung der Verhältnisse auf den internistischen Stationen in den Niederlanden VIII. Diskussion 416 an. Denn hier wird durch die Option der Sterbehilfe eine grundlegende Variante in die diesbezüglichen ärztlichen Entscheidungsprozesse einführt. In Hinblick auf die Subtypologie Beziehungsorientierung vs. Medizinalität lohnt sich der Blick auf weitere Disziplinen, in denen Patient oder Angehörige stärker in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden müssen. Ein Sonderfall stellt die pädiatrische Onkologie dar (vgl. Hedenigg 200311), ebenso wohl auch die psychiatrischen Disziplinen, wie schon Strauss et al. (1963) in ihrer »negotiated order« Perspektive aufgezeigt haben (vgl. auch Koepsell 2003). Zur weiteren Einschätzung der Relevanz der Arzt-Patent-Beziehung für den ärztlichen Entscheidungsprozess muss zudem der ambulante Bereich ausführlicher in den Blick genommen werden, da hier grundsätzlich andere Kontingenzen herrschen, wie etwa Rohde aufzeigt12. Feldnahe Studien in diesem Bereich existieren kaum. In Hinblick auf die hausärztliche Behandlung ist nur Ortmann (2001) zu nennen. In Hinblick auf die ambulante psychiatrische Versorgung sei auf die aktuelle Studie von Terzioglu (2003) verwiesen. (b) Professionalisierung Jede Methodologie hat ihre Grenzen. Bestimmte Phänomene fallen dem Forscher durch die Maschen und andere bekommt er nicht einmal in den Blick, da er am falschen Ort zu fischen begann. Die Frage der ärztlichen Sozialisation und Professionalisierung taucht zwar implizit mit der Kompetenztypik auf, lässt sich jedoch mit dem hier vorgestellten Untersuchungsdesign nicht in befriedigender Form fassen. Um dieses leisten zu können, müsste weitaus mehr der Entwicklungsprozess des einzelnen Arztes in den Blick genommen werden. Methodologisch zu leisten wäre dies etwa durch Langzeitbeobachtung einzelner Akteure, bzw. dem Versuch der Rekonstruktion von Entwicklungen auf der Basis von biografisch orientierten Interviews. Wenngleich es durchaus gute Gründe gibt, hier von einem Mischungsverhältnis aus Disposition und Sozialisation auszugehen, kann die Frage, ob die ärztliche Persönlichkeit, die der Rollenanforderung von Entscheidungsautonomie genügt, auf der feldspezifischen Generierung dieses Habitus beruht, oder ob das Feld diesbezügliche Charaktere aus einer Anzahl möglicher Kandidaten selegiert, aufgrund des hier vorgelegten Materials nicht beantwortet werden. Im Sinne der hier vorgelegten Organisationsanalysen spielt es keine Rolle, warum die Akteure zu diesbezüglichen Leistungen fähig sind, sondern nur dass sie hierzu in der Lage sind. Medizinische Organisationen sind zudem in der Lage, größere Kompetenzdefizite innerhalb des ärztlichen Behandlungsteams zu überbrücken. Sie verfügen also selbst über Mechanismen, diesbezügliche Funktionsdefizite in gewissen Rahmen zu adsorbieren, etwa indem ihre Akteure im Modus des „als ob“ agieren, wie besonders die zitierten Beispiele aus der Psychosomatik aufzeigen. In Hinblick auf die Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse macht die Ausblendung des Psychischen durchaus Sinn, denn die Analysen zeigen auf, dass die Dynamik des Entscheidens eher unter dem Blickwinkel der Kontingenzbewältigung, bzw. der Legitimation der unter diesen Bedingungen getroffenen Entscheidungen verstanden werden muss, denn als kognitive Meisterleistung einzelner Subjekte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Prozesse für den Krankenhausalltag keine Relevanz haben. In Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Krankenhauses – etwa in Hinblick auf die Organisationsqualität, Behandlungsfehler, diagnostischer Sicherheit etc. – haben diese Prozesse selbstverständlich eine hohe Bedeutung, weniger jedoch für die Bewältigung von Kontingenz durch Entscheidung. 4. Fragen an die Forschungspraxis 417 Die Dissoziation zwischen individueller ärztlicher Logik und organisatorischer Logik birgt eine Reihe interessanter Fragestellungen. Zum einen muss gefragt werden, ob das, was in der klassischen Professionalierungstheorie und in der durch Oevermann (1996b) revidierten Form als Kennzeichen ärztlicher Professionalität benannt wird13, noch für den Arzt im modernen Krankenhaus gilt. Oder müsste nicht vielmehr Stichwehs Vermutung nachgegangen werden, ob nicht »manches dafür spricht, dass gerade Organisationen in ihrem internen Prozessieren, die Grenzen zwischen Professionen auflösen, also der Verdacht eines Bedeutungsverlustes der Professionen durch den Hinweis auf Organisationen eher noch gestützt wird« (Stichweh 1996: 50)? Die Definitionsmacht für organisatorische Belange gelangt zunehmend in nicht-medizinische Hände. Der Klientelbezug verschwindet hinter Dienstleistungsaufträgen, die im Sinne eines mittlerweile hochgradig arbeitsteilig organisierten Versorgungsbetriebes durch andere Einrichtungen gestellt wurden. Gerade die „tayloristische“ Ausdifferenzierung lässt die Bedeutung des einzelnen Arztes zunehmend verschwinden, zudem seit einiger Zeit vermehrt auch gesundheitswissenschaftliche Eliten nichtärztlicher Provenienz, den Anspruch auf Machtpositionen innerhalb der Organisationen des Gesundheitssystems erheben (vgl. Hafferty/Light 1995; Hafferty/McKinlay 1993; Vogd 2002). Man müsste hier gar von Deprofessionalisierung14 sprechen und in diesem Sinne wäre nach Kontrasten zu suchen, in denen sich die professionelle Autonomie noch eher zeigt als im Krankenhaus. Auch hier lohnt sich der Rekurs auf den ambulanten Bereich. Wenngleich auch hier arbeitsteilig vorgegangen wird, bestehen hier noch mehr Domänen, welche die klassische Professionslogik repräsentieren. Zu nennen sind hier die Hausärzte, aber auch die „patientennahen“ Fachärzte, etwa Gynäkologen, Kinderärzte und Psychiater. Die klassische Professionalisierungstheorie hätte dann – so die These - einen auf diese Felder eingeschränkten Geltungsbereich, während man beim Krankenhausarzt dann wohl eher von einem medizinischen Experten sprechen müsste. Hier ergeben sich einerseits Anschlüsse an die moderne Expertiseforschung, die den jeweiligen sozialen Handlungskontexten und den damit verbundenen impliziten Wissenformen einen breiteren Raum gibt (vgl. Gruber 1999), andererseits zu einigen neueren wissenssoziologischen Krankenhausstudien, in denen mehr die arbeitsteiligen Prozesse in den Blick genommen werden (vgl. insbesondere Atkinson, 1995 und Berg 1992; 1996). Die Vorstellung vom Arzt als captain of the ship - auch wenn dieses Image seitens der Ärzteschaft gerne gepflegt wird - lässt sich unter den Bedingungen des modernen Medizinsystems kaum noch aufrechterhalten. Vieles, was heutzutage den Ärzten an Kritik vorgehalten wird, meint bei genauerem Hinsehen eigentlich nicht mehr den Arzt als proffessionelle Autorität, sondern richtet sich gegen die abstrakteren und weniger leicht zu fassenden (bürokratischen) Organisationsvollzüge medizinischer Institutitionen. Auch seitens der Ärzte wird dieser Verlust an Macht erlebt und als Folge bilden sich in den gesundheitspolitischen Debatten bisher ungewohnte neue Allianzen zwischen Medizinern, Patienten und Vertretern der pharmazeutischen Industrie. Gleich dem Übergang des Adels vom Feudalismus zur Moderne scheint auch das ärztliche Selbstbild einem tief greifenden Wandel unterworfen. Denn selbst die Chefärzte müssen heute erfahren, dass sich ihre Macht nur noch auf bestimmte Rollensegmente reduziert und sie sich im Kontakt mit dem Verwaltungsdirektor nicht selten in der Position des Gedemütigten wieder finden15. Im Sinne dieser Wandlungsprozesse müsste die empirische Sozialforschung innerhalb der Ärzteschaft eine Reihe von habituellen Inkongruenzen aufspüren können. Auch für die Analyse der Arzt-Patient-Beziehung hätte dies weit reichende Konsequenzen. Wenn die Leittypik ärztlichen Handelns nicht mehr zwischen der Spannung von Klientelbezug vs. Medizinalität aufgespannt wird, sondern durch das Paar Ärztlichkeit vs. organisatorische Interessen, dann beschreibt Oevermanns professionsethische Rekonstruktion nur noch den VIII. Diskussion 418 Spezialfall von Behandlungsprozessen, die ohne die Einbeziehung des Patienten nicht laufen würden. Die gerade im Krankenhaus vielfach zu beobachtende Verkürzung der Patientenperspektive auf Stereotype, die entsprechend organisationsüblicher Routinen bearbeitet werden können, stellt in diesem Sinne keine technokratische Regression dar, sondern entspräche vielmehr der Logik rationaler Arbeitsbewältigung moderner Organisationen. Die Spielräume ärztlicher Autonomie würden sich dann weniger im Feld der Arzt-Patient-Beziehung zeigen, als in der trickiness der Bewältigung fachlicher, organisatorischer und administrativer Interessen. Anders als in der individualmedizinischen Betreuung durch einen Arzt, den man persönlich kennt und dem man vertraut, etwa dem family doctor, tritt hier der Vollzug komplexer medizinischer Dienstleistungen durch Organisationen in den Vordergrund. Diesbezügliche Unsicherheitsadsorption von Vertrauenslücken kann nicht mehr durch persönliche Beziehung vermittelt werden, sondern müsste dann auf andere Mechanismen zurückgreifen. In diesem Zusammenhang würde die Bedeutung von Zertifizierungen von Einrichtungen im Gesundheitswesen16 nochmals unter einem anderen Licht erscheinen – nämlich weniger als Qualitätssicherung denn als vertrauensbildende Maßnahme. Die hier aufgeworfenen professionstheoretischen Fragen sind bisher nicht einmal im Ansatz durch empirisch begründete Rekonstruktionen angegangen. Der Blick auf die Konfliktlinien der aktuellen gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen lässt jedoch vermuten, dass diesbezügliche Untersuchungen möglicherweise in zweierlei Hinsicht aufschlussreich sein könnten: Zum einen zeigen sich hier habituelle Dissonanzen zwischen einer sich als professionellem Stand empfindenden Ärzteschaft und einer modernen Gesellschaft, die ihre medizinischen Funktionsvollzüge zunehmend über Organisationen regelt. Zum anderen weisen sie auf Rationalitätsdefizite innerhalb funktional differenzierter Gesellschaften, die gerade auch im Gesundheitssystem in besonders markanter Form auftreten. Die Spannung zwischen Zweck- und Systemrationalität und der damit verbundene Verzicht auf eine gesamtgesellschaftliche Rationalität erscheinen in Hinblick auf die existenziellen Fragen von Krankheit und Gesundheit besonders schmerzhaft, zumal die empirische Rekonstruktion dieser Verhältnisse noch keine Antwort bereit hält, wie man es besser machen kann. Anmerkungen 1 Gerade ethnomedizinische Studien zeigen auf, dass stereotype und ritualisierte Kommunikationsformen eine wirksame Heilkommunikation inszenieren können. Siehe hierzu etwa Dows Studie zu den Bedingungen symbolischer Heilung (Dow 1986). 2 Diesbezügliche Handlungsfelder – etwa die aktive und passive Sterbehilfe - verlangen einen besonderen, außermedizinischen Rahmung. Man spricht hier etwa von Grenzgebieten der Medizin und beruft sich dann gerne auf medizinfremde Handlungsnormen, etwa philosophisch-ethische Argumente bzw. juristische Vorgaben. 3 Den Psychosomatikern sind noch ausschweifendere Suchbewegungen gestattet. Insbesondere die Psychodiagnostik gibt Anlass zu weiten Spekulationen. Hier verschwimmt dann zunehmend die Grenze zwischen Diagnose und Therapie, denn das Patienten-Gespräch soll ja zugleich auch therapeutisch wirken, Beziehungsmuster erkennen und dabei durch die bewusste Reflexion rekonfigurieren helfen. 4 Ansatzweise ergeben sich aus dem rekonstruierten Material einige Hinweise für eine weitere Subtypik unter dem Gegensatzpaar therapieorientiert vs. sterbeorientiert. Auf der einen Seite stehen hier medizinische Kulturen, in denen man sich mehr dem „alles noch Versuchen“ verschrieben hat, also Maximaltherapie bis zum letzten betrieben wird, während auf der anderen Seite hier auch dem Sterbeprozess mehr Raum gegeben werden kann. Die Chirurgie und die Universitätsmedizin würden in diesem Kontinuum eher auf der linken Seite stehen, während die mit den aussichtlosen Fällen vertrauten Internisten eines Allgemeinkrankenhauses eher auch mal auf eine Intervention verzichten können. Anmerkungen 419 Weitere Kontraste, etwa die von Wettreck (1999: 272ff.; 310ff.) angeführte Palliativmedizin und anthroposophischen Medizin liegen demgegenüber auf dieser Achse noch weiter rechts, denn hier wird ansatzweise gar eine aktive Kultur des Sterbens entwickelt. 5 Die Psychosomatik verfügt demgegenüber über eine Reihe von Routineformen, um Patienten die sich ihrem Setting nicht unterwerfen, wieder auszugliedern. Die psychologische Form lautet: „Der Patient ist noch nicht bereit zur Psychotherapie.“ Die psychiatrische Form lautet: „Der Patient ist nicht zur Einsicht fähig, muss also gezwungen werden.“ Die Balance zwischen diesen Formen stellt seinerseits Rahmen zur Verfügung, in denen ausgehandelt werden kann, was denn nun der Fall ist (vgl. auch Strauss et al. 1963). Beziehung kann hier zwar auch stattfinden, es besteht jedoch kein Zwang zur Beziehung. Im Gegensatz zur Onkologie muss der Patient hier nicht unbedingt ernst genommen werden. Dieses therapeutische Paradoxon einer von ihrem Anspruch her beziehungsorientierten Medizin stellt sich noch stärker in der psychiatrischen Arbeit (vgl. Rosenhan 1990; Vogd 2001b). 6 Um mit Wittgenstein zu sprechen: »Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Problem problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann Dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische« (Wittgenstein, zitiert nach Kroß 1993: 108). 7 Wenn man es in Polaritäten ausdrückt, so wird der englischen Medizin eher eine empiristische der deutschen eine rationalistische Herangehensweise nachgesagt. In England sei man zudem offener im Umgang mit Fehlern und sei zudem diskursfreudiger, während in Deutschland eine individualistische Medizin herrsche. Zudem sei das Ausbildungssystem in den britischen Kliniken tutorial, dass heißt durch eine dichte persönliche Betreuung ausgezeichnet, während in hiesigen Häusern die jungen Ärzte mehr auf sich gestellt seien. 8 Vgl. hierzu auch Janning et al. (2000). 9 In Hinblick auf die Kooperation zwischen Pflege und Medizin lohnt auch der Vergleich mit den angloamerikanischen Verhältnissen. Hier werden den professionalisierteren Teilen der Pflege durchaus eine Reihe medizinischer Aufgaben, wie etwa der Durchführung kleinere operative Eingriffe übertragen. 10 Wettrecks (1999: 310ff.) Versuch der Rekonstruktion anthroposophischer ärztlicher Praxis auf Basis eines Einzelinterviews gibt zwar einige diesbezügliche Hinweise. Diese reichen aber nicht aus, um valide Aussagen über die in der Praxis üblichen Entscheidungsprozesse zu treffen. Es ist auch hier zu Erwarten, dass Verfahren und Abkürzungen zur Kontingenzbewältigung bestehen. Ebenso ist von einer Diskrepanz der von den jeweiligen medizinischen Akteuren vorgelegten Selbstbeschreibungen und der durch den Forscher rekonstruierbaren Praxis auszugehen. So wie in dieser Studie aufgezeigt werden kann, dass gerade auch innerhalb der psychosomatischen Medizin eine Vielzahl von Systemrationalitäten bestehen, die dem Selbstverständnis einer ganzheitlichen patientenorientierten Medizin zuwiderlaufen, muss sich auch die Anthroposophie und Palliativmedizin an den für alle medizinischen Einrichtungen geltenden Bezugsproblemen abarbeiten. Die Feldforschung bleibt deshalb auch hier ein unerlässliches Instrument der Datenerhebung. 11 Hedenigg, Silvia (2003) Der Umgang mit dem Tod eines lebensbedrohlich erkrankten Kindes im familialen Diskurs. Habiliationsprojekt, FU-Berlin 12 »Der Subinstitution der Freien Praxis und folglich der Rolle des frei praktizierenden Arztes kommt so eine Aufgabe zu, die wir als Mittlerfunktion zwischen dem medizinisch-professionellen Subsystem und der „Laienwelt“ bezeichnen möchten. Freilich ist diese Funktion Eigentümlichkeit der Arztrolle überhaupt. Sie findet sich auch bei den Krankenhausärzten und bei Trägern dieser Rolle, die in anderen institutionellen Zusammenhängen tätig sind. Doch ist die Notwendigkeit, sie intensiv wahrzunehmen und sie in der Rückbesinnung als das „Eigentliche“ des Arztberufs zu akzentuieren, offenbar nirgendwo so hoch wie in der freien ärztlichen Praxis, insbesondere in der Allgemeinpraxis. Das bedingt, daß der frei praktizierende Allgemeinarzt, der in der Regel immer zuallererst in Anspruch genommen wird, stärker als jeder andere Arzt darauf verwiesen ist, sich in seiner Tätigkeit vor allem am Patienten zu orientieren. Wie für den Kaufmann der Kunde, ist für den frei praktizierenden Arzt der Patient „König“! Seine Klientel ist ihm vorrangige Bezugsgruppe« (Rohde 1974: 442f.). 13 Carr-Saunders und Wilson (1933) definierten in den 30er Jahren Professionen dadurch, dass ihre Akteure eine spezialisierte intellektuelle Techniken beherrschen, die durch Natur- oder Rechtswissenschaften begründet werden und in einer längeren Ausbildung erlernt wird. Der Professionelle habe dabei ein Bewusstsein der Verantwortlichkeit gegenüber seinem Klienten und der Gesellschaft und handele überwiegend im Interesse des Gemeinwohls und nicht aufgrund individueller Profitinteressen. Die Professionen würden hier eine gesellschaftliche Sonderstellung begründen, sozusagen einen dritten Stand, der eine eigene Machtsphäre bilde. Parsons (1968) Begriff des „professionellen Komplexes“ schließt an diese Überlegungen an, in ähnlichem Sinne später auch Abbott (1988). Insbesondere mit dem Namen Freidson verbunden, änderte sich die Form des professionstheoretischen Diskurses jedoch in den folgenden Jahren grundlegend (Freidson 1979). Aus dem Blickwinkel einer ideologiekritischen Position wurde nun die Gemeinwohlorientierung des Professionellen prinzipiell in Frage gestellt. In dem institutionell verfassten Mediziner sah man nun jemanden, der seine Macht über geschickte Verbandspolitik auf möglichst viele gesellschaftliche Felder ausdehnen wolle und dabei dem Laien die Fähigkeit absprach, selbst über seine gesundheitlichen Belange zu entscheiden. Unter dieser gesellschaftskritischen 420 Perspektive bedeutete die Professionalisierung der Ärzteschaft gleichzeitig die Entmündigung des Bürgers. Oevermann greift in seinem professionstheoretischen Ansatz zunächst auf das Anliegen der klassischen Positionen zurück. Anders als in der Freidsonschen Ideologiekritik werden Professionen nicht mehr als oligarchisches Kartell machtbewusster Akteure angesehen, sondern stellten die Antwort auf ein Grundproblem der medizinischen Behandlungslogik dar, welches sich aus der spezifischen Strukturlogik der Arzt-Patient-Beziehung ergebe (vgl. auch Oevermann 1996b/2000). 14 In Stichwehs Analyse stellen »Professionen ein Phänomen des Übergangs von der ständischen Gesellschaft des alten Europa zur funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne« und haben »vor allem darin ihre gesellschaftliche Bedeutung« (Stichweh 1996: 50). 15 Siehe hierzu den Beitrag in DIE ZEIT zur neuen Managementstrategie in dem Berliner Klinikkonzern Vivantes (Sußebach/Willeke 2002). 16 In diesem Zusammenhang sei hier noch mal auf die Studie von Iding (2000) hingewiesen, in welcher aufgezeigt wird, dass Beratungsprojekte zur Verbesserung der Prozessqualität im Krankenhaus in Hinblick auf die eigentlichen Zwecke scheitern, in Hinblick auf den Reputationsgewinn aber dennoch das leisten können, was sie versprechen. 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Zeigt sich möglicherweise – beim genaueren Hinsehen – vieles, was vermeintlich rational und überlegt erscheint, als habituelle Routine, als Systemrationalitäten oder überindividuelle Gesetzlichkeiten, deren Regeln man bestenfalls erahnen kann? Sind nicht oftmals die Verhältnisse „klüger“ als die Individuen und werden nicht viele Behandlungsentscheidungen durch die vielfältigen sozialen Prozesse innerhalb des Behandlungssystems vorstrukturiert (Patientenakte, diagnostische Routinen, Tagesablauf des Krankenhauses etc.), so dass die ärztliche Entscheidung gleichsam dann nur noch das Tüpfelchen auf dem „i“ darstellt? Wie gelingt es Ärzten angesichts von medizinischer, psychischer, ökonomischer, sozialer und rechtlicher Unsicherheit zu entscheiden? Oder anders herum: Wie gewinnt medizinische Praxis ihre Sicherheit des Handelns auch unter der Voraussetzung von Nicht-Wissen? Kann es weiterhin sinnvoll sein, Entscheidungen einem Individuum zuzurechnen, oder kommt man in der Analyse ärztlicher Entscheidungsprozesse weiter, wenn man diese Phänomene als ein überpersonales bzw. „transpersonales“ Phänomen auffasst? Methodik Die oben genannten Fragen ernsthaft angehen zu wollen, verlangt tief in die Welt der Praxis einzudringen. Dabei kann es nicht ausreichen, sich auf die Schilderungen und Reflexionen der Akteure zu verlassen - sondern die Feldforschung muss hier die Methode der Wahl darstellen, denn die Prozesse der Praxis müssen unter Realbedingungen verfolgt werden können. Insbesondere den Beobachtungsprotokollen kommt damit die Aufgabe zu, die realen Zeitverhältnisse dieser Abläufe widerzuspiegeln, denn erst hierdurch gelingt es, die Spannung zwischen der Praxis einerseits und den Begründungen und Reflexionen über die Praxis andererseits für die Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse nutzen zu können. Vier Feldforschungsaufenthalte in unterschiedlichen medizinischen Abteilungen (Chirurgie, psychosomatische Medizin, zwei internistische Stationen) liefern das Ausgangsmaterial für die Rekonstruktion der ärztlichen Entscheidungsprozesse. Mit den ärztlichen und einigen nichtärztlichen Mitarbeitern der untersuchten Stationen wurden darüber hinaus Leitfaden-Interviews durchgeführt. Die Auswertung des empirischen Materials erfolgt anlehnend an die dokumentarische Methode von Bohnsack in den drei Schritten „formulierende Interpretation“, „reflektierende Interpretation“ und „komparative Analyse“. Diese wissenssoziologisch ausgerichtete Methodologie erlaubt es, X. Zusammenfassung 434 die sozialen Prozesse, und weniger die Personen, in den Vordergrund der Analysen zu stellen. Hierdurch wird es möglich, die Differenz zwischen Handlungspraxis und den Akteurstheorien über diese Handlungspraxis weitaus mehr als üblich ernst zu nehmen. Darüber hinaus werden verschiedene für diese Arbeit relevant erscheinende Kandidaten einer soziologischen Theorie des Entscheidens dahingehend abgeklopft, inwieweit sich hieraus sinnvolle Fragen an das empirische Material stellen lassen (im Einzelnen: die Rational-Choice-Theorie, die Goffmanʼsche Rahmenanalyse, die Bourdieuʼsche Konzeption von Habitus und Feld, die Oevermannʼsche Theorie der sozialen Deutungsmuster und die Luhmannʼsche Organisationstheorie). Die Spannung zwischen soziologischer Theorie und (untersuchter) Praxis soll hier genutzt werden, um eine vorschnelle Typenbildung, die dann letztlich nur wenig über das Verständnis des common sense hinausgeht, zu vermeiden. Die eigentliche Rekonstruktion der ärztlichen Entscheidungsprozesse verläuft in einer mehrstufigen komparativen Analyse, innerhalb der die Be- und Verhandlung verschiedener Themenkomplexe in den unterschiedlichen Abteilungen gegenübergestellt werden. Ergebnisse Auch wenn sich die empirische Realität überaus komplex zeigt und entsprechend auch in den Beobachtungsprotokollen die vielfältigsten Fassetten aufscheinen, so kristallisiert sich dennoch auf allen untersuchten Stationen ein Leitproblem heraus, das die Entscheidungsdynamik in vielen Fällen prägt - nämlich der Konflikt zwischen ärztlichem Ethos und der ökonomisch administrativen Rationalität. Auf der einen Seite steht der ärztliche Wunsch, bestmöglich dem Wohle des Patienten zu dienen, ihn gut betreut zu wissen, seine Krankheit ausführlich zu untersuchen und ihm schließlich die bestmögliche Therapie anbieten zu können. Auf der anderen Seite steht die Organisation Krankenhaus mit ihren institutionellen Grenzen. Wünschenswerte Betreuungsangebote können ärztlicherseits nicht immer geleistet werden - sei es deshalb, weil deren Finanzierung durch die Kassen nicht mehr geleistet werden kann, oder auch eben nur, weil man sich aus Gründen begrenzter Leistungskapazität nicht noch mehr um den Patienten kümmern kann. Auf allen Stationen stellt sich die Aufgabe, eine geschickte Balance zwischen dem Ärztlich-Fachlichem und dem Ökonomisch-Administrativen zu finden. In diesem Sinne stellt dieses gemeinsame Bezugsproblem eine Schlüsselkategorie für die vorgelegten Analysen dar, denn jede medizinische Organisation muss sich diesem Balanceakt stellen und entsprechende Lösungswege (er-)finden. Gewissermaßen besteht die organisatorische Eigenleistung einer Station bzw. einer Abteilung gerade dann darin, funktionell äquivalente Antwort(en) auf dieses Leitproblem hervorzubringen. Aus dem Vergleich der Abteilungen ergeben sich dann Hinweise für die Entwicklung einer differenzierteren Typik, denn je nach Thema, medizinischer Disziplin und Kultur werden diese Probleme unterschiedlich verhandelt und bearbeitet. Die empirisch rekonstruierten Fallbeispiele lassen sich zu drei unterschiedlichen Themenkomplexen zusammenfassen. In den medizinisch komplexen Fallproblematiken stellt sich der medizinische Gegenstand dem ärztlichen Team selbst in solch komplizierter Form dar, dass dieser das Behandlungssystem zu überfordern droht. Beim Thema Behandlung palliativer Fälle steht das Krankenhaus vor dem Problem, eine angemessene Betreuung von sterbenden bzw. unheilbar kranker Patienten zu leisten, und hinsichtlich des Themas „schwierige“ Patienten wird das Behandlungssystem dadurch irritiert, dass sich Patienten – aus welchen Gründen auch immer – nicht entsprechend der üblichen Rollenerwartungen verhalten. Ereignisse aus diesen X. Zusammenfassung 435 drei Themenfeldern können – wenngleich in unterschiedlicher Ausformung und Charakteristik - die normalen Abläufe auf der Station gefährden und verlangen deshalb vom Behandlungsteam besondere Aufmerksamkeit und Beachtung. Sie stellen „Verstörungen“ dar, die Entscheidungen provozieren bzw. Entscheidungsbedarf wecken. Da diese Geschehnisse ihrerseits keineswegs selten auftreten, entwickeln die Stationen spezifische Modi Operandi, um mit solchen Irritationen umzugehen. Es entstehen mehr oder weniger routinierte Muster, wie denn nun in solchen Fällen vorgegangen werden kann. Gerade hier kann eine soziologische Entscheidungsanalyse ansetzen: Wie organisieren sich die Entscheidungsprozesse in diesen Problemfeldern? Wem wird die Entsc heidungsverantwortung zugeschrieben und welche (latenten) Strategien und Systemrationalitäten lassen sich aufzeigen? Über den Vergleich der unterschiedlichen Bearbeitungsformen auf den verschiedenen Stationen ergeben sich bezüglich dieser Fragen Hinweise zu einer differenzierteren Typik, in der die jeweiligen Bewältigungsformen in Beziehung zum spezifischen Behandlungssetting gesetzt werden können. Entgegen dem in den ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen häufig verwendeten Modell des „Rational-Choice” muss entsprechend Luhmanns These von „Entscheidung als Reaktion auf eine gerichtete Erwartung” davon ausgegangen werden, dass auch medizinische Entscheidungen weitaus mehr als allgemein angenommen „soziale Konstruktionen” darstellen.