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Domänen des Subjekts von Babu Thaliath Domänen des Subjekts1 Der anfängliche Briefwechsel zwischen Prinzessin Elizabeth von Böhmen und René Descartes behandelt den historisch bekannten Leib-Seele-Dualismus. Bereits in den ersten Briefen stellt die Prinzessin die Frage nach der Natur des Verhältnisses zwischen dem materiell ausgedehnten Leib und der immateriellen und nicht ausgedehnten Seele. Zu dieser Frage wurde sie durch das Hauptwerk Descartes, nämlich die Meditationen – insbesondere durch die sechste Meditation, veranlaßt. In diesem Werk unterscheidet Descartes den Existenzmodus der Seele von dem des Leibes. Die völlige Differenziertheit der Seele vom Leib, wie sie von Descartes vorgestellt wird, ist zwar primär eine ontologische Bestimmung, die allerdings unabdinglich der Entwicklung der neuzeitlichen Erkenntnistheorien zugrunde lag. Daß bereits der erste Brief von Prinzessin Elizabeth an Descartes diese grundlegende Fragestellung zum Gegenstand hat, beweist zum einen das aktive Interesse der Prinzessin an dem so genannten cartesischen Dualismus, und zum anderen die Bedeutung und den Potential dieser Lehre Descartes selbst, daß sie von vornherein als eine entscheidende Problemstellung in der Epistemologie identifiziert wurde: „In October 1642 Descartes had learnt that Princess Elizabeth of Bohemia, in exile at the Hague, had read his Meditations with enthusiasm. He offered to visit her to explain any difficulties she encountered; but she put her questions in writing in a letter of 6 May 1643. ‘How can the soul of man’, she asked, ‘being only a thinking substance, determine his bodily spirits to perform voluntary actions?’ Descartes’ reply began a correspondence which lasted until his death.”2 1 Folgende Abhandlung ist eine Überarbeitung eines Vortrags (mit dem Titel: „Domains of Mind. Reflections on the early correspondence between Princess Elisabeth of Bohemia and René Descartes on Mind-Body-Dualism“), den ich am 27. April 2006 am National Institute of Advanced Studies, Indian Institute of Science in Bangalore gehalten habe. Sie basiert u.a. auf meiner Dissertation sowie einer früheren Untersuchung, verfaßt und veröffentlicht im Rahmen meiner Promotion an der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Da es in der Abhandlung mehrmals auf diese Werke bezogen wird, verwende ich im Text die folgenden Abkürzungen: PMS: Perspektivierung als Modalität der Symbolisierung. Erwin Panofskys Unternehmung zur Ausweitung und Präzisierung des Symbolisierungsprozesses in der Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer (Dissertation); erschienen im Jahr 2005 bei dem Verlag Königshausen & Neumann in Würzburg. PGPVR: Der Prozeß der Geometrisch-Optischen Perspektivierung in der Visuellen Raumwahrnehmung; veröffentlicht im Jahr 2001 beim FreiDok (Freiburger Dokumentenserver), Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., unter: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/271. 2 Descartes, René: Philosophical Letters, hrsg. von Anthony Kenny, Oxford 1970, S. 136. Prinzessin Elisabeth von Böhmen / von der Pfalz war die älteste Tochter von Pfalzgraf Friedrich V, König von Böhmen, und Pfalzgräfin Elisabeth, geborene Prinzessin von Stuart. Die königliche Familie ging 1620 in der niederländischen Stadt Hague im Exil. Prinzessin Elisabeth wurde im Jahr 1618 in Heidelberg geboren und verbrachte dort ihre Kindheit. Sie war zu ihrer Zeit eine außergewöhnlich gebildete Prinzessin in Europa – bekannt vor allem für ihre Sprachbegabung und Vertrautheit mit verschiedenen Fachgebieten, nämlich Theologie, Mathematik, Philosophie, Astronomie und Physik. Descartes lernte sie vermutlich im Winter von 1634/5 kennen, als er den Wohnsitz ihrer Mutter in Hague besuchte. Allerdings erwähnte Descartes ihren Name zum ersten Mal in einem Brief vom 6. Oktober 1642 an seinen Freund und eng Vertrauten Alphonse Pollot. (vgl. 2 Auf diese Frage antwortete Descartes in einem Brief vom 21. Mai 1643: “There are two facts about the human soul on which depend all the things we can know of its nature. The first is that it thinks, the second is that it is united to the body and can act and be acted upon along with it. About the second I have said hardly anything; I have tried only to make the first well understood. For my principal aim was to prove the distinction between soul and body, and to this end only the first was useful, and the second might have been harmful. But because your Highness’ vision is so clear that nothing can be concealed from her, I will try now to explain how I conceive the union of the soul and the body and how the soul has the power to move the body.”3 Bevor ich auf den in diesem Zitat angedeuteten Lösungsversuch eingehe, möchte ich gerade in dieser Betrachtung Descartes eine besondere Implikation der Struktur des menschlichen Subjekts betonen.4 Das Subjekt – als das res cogitans – betrachtet Descartes nicht einheitlich hierzu Gaukroger, Stephan: Descartes. An Intellectual Biography, Oxford 1995, S. 385). Nach einem Jahr begann die historisch bekannte Korrespondenz zwischen der Prinzessin und dem Philosophen. Ihr erster Brief an Descartes (vom 16. Mai 1643) beinhaltete eine klare Polemik gegen die cartesische Lehre der Unterscheidung zwischen Leib und Seele: „How can the soul of a man determine the spirits of his body so as to produce voluntary actions (given that the soul is only a thinking substance)? For it seems that all determination of movement is made by the pushing of a thing moved, either that it is pushed by the thing which moves it or it is affected by the quality or shape of the surface of that thing. For the first two conditions, touching is necessary, for the third extension. For touching, you exclude entirely the notion that you have of a soul; extension seems to be incompatible with an immaterial thing. This is why I ask you to give a definition of the soul more specific than the one you gave in your Metaphysics, that is to say of its substance as distinct from its thinking action. For even if we suppose the two to be inseparable (which anyway is difficult to prove in the womb of the mother and in fainting spells), like the attributes of God we can, in considering them separately, acquire a more perfect idea of them“(vgl. Nye, Andrea: The Princess and the Philosopher. Letters of Elisabeth of the Palatine to René Descartes, Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 1999, S. 9-10). In deutscher Übersetzung sind die Briefe der Prinzessin Elisabeth an Descartes bisher nicht erschienen. Zu der französischen Originalausgabe vgl. Beyssade, Jean-Marie: Correspondance avec Elisabeth et autres lettres / René Descartes, Paris 1989). 3 Descartes, Philosophical Letters, a. a. O., S. 137-138. 4 Im angelsächsischen Sprachraum wird der cartesische Leib-Seele-Dualismus bekanntlich als „Mind-BodyDualism“ übersetzt. Auch im deutschsprachigen Raum wird beliebig der Begriff „Geist“ im Kontext dieser cartesischen Lehre als Synonym für den Begriff „Seele“ im Gebrauch. Daher haben wir verschiedene Begriffspaare, die den cartesisch-neuzeitlichen Dualismus ausdrücken, nämlich Leib-Seele, Geist-Körper, MindBody etc.. Offensichtlich sind die Begriffe Seele, Geist und Mind miteinander weder semantisch noch epistemologisch gleichzusetzen. Ebenso unterscheidet sich der Leib vom Körper, indem er – als beseeltes organisches Wesen – nur menschlichen oder tierischen Körper bedeutet. Während das „Mind“ bloß eine Sphäre der rein subjektiven Funktionen, wie Erkennen, Denken, Willensakt, Empfinden, Einbilden, Erinnern etc., bildet, scheint sich die Seele über diese mentale Operationen hinaus auf die streng genommen vor-subjektiven und rein organischen Prozesse im Leib zu beziehen (was auch in der scholastischen Differenzierung zwischen beseelten und nicht beseelten bzw. anorganischen Körpern zum Ausdruck kommt). Allerdings bezieht sich die cartesische Differenzierung zwischen res cogitans und res extensa nicht ausschließlich auf den menschlichen Leib, sondern auf den ausgedehnten Körper im allgemeinen; als solche bezeichnet sie die grundlegende Differenz zwischen zwei Sphären der Wirklichkeit, die unsere Welt ausmachen. In dieser Hinsicht scheint mir der Ausdruck „MindBody-Dualism“ die cartesische Lehre der Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa im allgemeinen zu kennzeichnen. Denn das „Mind“ schließt in sich alle rein mentale Operationen, die sich – nach der cartesischen Epistemologie – von bloß physikalischen Prozessen im Körper unterscheiden lassen. Ich orientiere mich aber nach einer späteren Terminologie in der Geschichte der neuzeitlichen Epistemologie, nämlich nach der kantischen Differenzierung zwischen dem (erkennenden) Subjekt und dem (erkannten) Gegenstand. In der kantischen Epistemologie schließt das Subjekt gegenüber dem in der empirischen Anschauung bloß gegebenen Gegenstand alle mentale bzw. transzendental-ästhetische und transzendental-logische Operationen (wie Empfinden, Wahrnehmen, Verstand und Erkennen) in sich ein. Daher läßt sich das (kantische) Subjekt – ebenso wie das „Mind“ – epistemologisch der cartesischen Grundvorstellung von res cogitans analogisieren. Ein 3 – im scheinbaren Widerspruch zu seiner Auffassung in Meditationen, nämlich einer bloß denkenden und unausgedehnten Substanz –, sondern eher kompositorisch. Dem Subjekt schreibt Descartes zweierlei Modi der Existenz und Wirkung zu: „The first thing is that it thinks, the second that, being united to the body, it can act and be acted upon with it. “ Hier differenziert Descartes innerhalb der Sphäre des Subjekts zwei Domänen voneinander, nämlich eine Domäne des Denkens und eine Domäne der körperlichen Handlung und Sinnlichkeit. Die Frage der Prinzessin bezieht sich prinzipiell auf die körperliche Ausdehnung eines handelnden Subjekts: „How can the soul of a man, being only a thinking substance, determine his bodily spirits to perform voluntary actions?“ Descartes Antwort verweist auf drei bestimmte Funktionen des Subjekts, die die drei Modi der Subjektivität ausmachen, nämlich das reine Denken, Empfinden und Handeln bzw. die Willensakte. Den Ausdruck „rein“ benutze ich, um hauptsächlich eine saubere Trennung zwischen diesen Modi der Subjektivität auszudrücken. Während das reine Denken allein zu der Domäne eines logischen Subjekts gehört, schließt eine vor-logische ästhetische Domäne des Subjekts, die körperlich ausgedehnt ist, die Funktionen der sinnlichen Empfindungen und der Willensakte in sich ein. Aber das „Ich“ als eine bloß denkende Substanz, die keine Materialität und Ausdehnung hat, wurde von Descartes nicht einheitlich aufgefaßt. Das Vermögen des rein subjektiven Denkens beschränkt sich bei Descartes nicht auf das bloß sprachliche Denken; es wird in verschiedenen Modi vorgestellt, nämlich als Erkennen, Verstehen, Fühlen, Wollen, Bejahen, Verneinen, Empfinden etc.5 Hier kann man die Funktionen des logischen Subjekts, die Sprache als ein Medium des Denkens haben – nämlich das Verstehen, Erkennen, Bejahen oder Verneinen –, von den nicht-sprachlichen subjektiven Funktionen wie Empfinden, Fühlen oder dem leiblichen Handeln differenzieren. Offensichtlich gehören alle Modi des Denkens, die sich sprachlich ereignen, zu der rein logischen Domäne des Subjekts. Aber die anderen nicht-sprachlichen Modi des Denkens sind eindeutig auf eine vor-logische Domäne der ästhetischen Subjekts, die unbedingt leiblich ausgedehnt ist, eingegrenzt. Wie können die subjektiven Funktionen wie Empfinden, Fühlen oder Handeln, die leiblich zustande kommen anderer Beweggrund für diese Orientierung ist nämlich, daß diese Abhandlung neben den Grundlagen der cartesischen Epistemologie vorzüglich auf der kantischen Lehre einer Transzendentalphilosophie – insbesondere auf der Transzendentalen Ästhetik – aufbaut. 5 Descartes, René: Meditationen, übersetzt und herausgegeben von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1972, S. 145. 4 bzw. durch ihn und in ihm entstehen und wirken, einem immateriellen und nicht ausgedehnten Subjekt, das bloß denkt, zugeschrieben werden? Diese Fragestellung veranlaßt uns zu einer weiteren und wesentlichen Differenzierung innerhalb des Grundmodus des Subjekts, nämlich die Differenzierung zwischen Ursprung und Domäne des Subjekts. Wenn Descartes das reine Empfinden, Fühlen oder Handeln einem nicht ausgedehnten Subjekt, das von dem Leib völlig verschieden und abgetrennt ist, zuschreibt, wird dabei nur der Ursprung dieser subjektiven Funktionen berücksichtigt. Dagegen zeigen sich ihre Domänen unbedingt als leiblich ausgedehnt. Wenn Descartes dem denkenden Subjekt eine vom Leib völlig verschiedene Existenz zuerkennt, bezieht er sich streng genommen allein auf den Ursprung des Subjektiven im Menschen, und kaum auf die Domänen eines Subjekts, das neben dem sprachlichen Denken die leiblichen Sinnesempfindungen und Willensakte als dessen Funktionen hat. Descartes kann es nicht annehmen, daß die Willensakte sowie die Sinnesempfindungen, die leiblich zustande kommen, zu dem bloß denkenden Subjekt – dem res cogitans – gehören, obwohl er das Empfinden oder Handeln als Modi des Denkens betrachtet und demnach dem Subjekt zuordnet: „Unter dem Namen ‚Bewußtsein‘ (cogitation, pensée) befasse ich alles das, was so in uns ist, daß wir uns seiner unmittelbar bewußt werden. In dem Sinne sind alle Operationen des Willens, des Verstandes, der Einbildung und der Sinne Bewußtseinsinhalte (cogitationes, des pensées). Das Wort ‚unmittelbar‘ habe ich aber hinzugefügt, um all das auszuschließen, was aus ihnen erst erfolgt. So hat die freiwillige Bewegung zum Beispiel zwar das Bewußtsein als Ausgangspunkt, ist aber doch nicht selbst Bewußtsein.“6 6 Ebd. An dieser Stelle ist ein semantischer Unterschied zwischen der geläufigen englischen Übersetzung des cartesischen Begriffs cogitation und seiner – oben zitierten – deutschen Übersetzung zu erwähnen. Während Artur Buchenau den Begriff Bewußtsein verwendet, ist im englischsprachigen Raum bekanntlich den Begriff „thought“ im Gebrauch. Eine englische Übersetzung dieses Zitats lautet: „Thought is a word that covers everything that exists in us in such a way that we are immediately conscious of it. Thus all the operations of will, intellect, imagination, and the senses are thoughts. But I have added immediately, for the purpose of excluding that which is a consequence of our thought; for example, voluntary movement, which, though indeed depending on the thought as on a causal principle, is yet itself not thought.“ (Descartes: Key Philosophical Writings, übersetzt von Elizabeth S. Haldane und G. R. T. Ross, Wordsworth Classics of World Literature, Hertfordshire 1997). Wie der oben zitierten Betrachtung zu entnehmen ist, scheint Descartes einen bloßen Seelenzustand von einem bewußten Seelenzustand zu unterscheiden. Die freiwillige Bewegung ist in diesem Sinne ein unmittelbarer leiblicher Ausdruck eines Seelenzustands, der als solcher von einem Bewußtseinzustand zu differenzieren ist. Ebenso sind die bloße Tast- oder Farbempfindung als leiblich-seelische Empfindungszustände an sich keine Bewußtseinzustände. Die Einmischung unseres Bewußtseins in diesen leiblich-seelischen Willens- und Empfindungszuständen ist demnach der Moment, in dem uns die von Descartes vorgestellte Differenz zwischen dem Modus der Seele und dem des Leibes am klarsten einleuchten wird, oder, in anderen Worten: in dem wir der Differenziertheit der Seele vom Leib (als Wirkungssphäre der Seele) am ehesten bewußt werden. Auch das bloße Denken oder Erkennen – als Operationen eines logischen Subjekts – scheint sich von dem Denken und dem Erkennen als Bewußtseinzustände – bzw. dem Bewußtsein des Denk- und Erkenntnisprozesses – zu unterscheiden. In Hinsicht darauf scheint mir fragwürdig, ob der Begriff „Bewußtsein“ eine (epistemologisch) adäquate Übersetzung des cartesischen Grundbegriffs cogitation sein kann. 5 Diese Betrachtung könnte eine adäquate Antwort auf die von Prinzessin Elizabeth gestellte Frage sein. Elizabeth sieht im leiblich ausgedehnten Willensakt des Subjekts die leibliche Ausdehnung des Subjekts selbst.7 Ihre Frage läßt sich folgendermaßen umformulieren: Wie kann ein immaterielles und nicht ausgedehntes Subjekt einen leiblich ausgedehnten Willensakt zustande bringen? Wie in der oben zitierten Betrachtung angedeutet ist, differenziert Descartes das unmittelbare Bewußtsein der Operationen des Subjekts – wie z. B. das Bewußtsein der Operation des Willen, des Intellekts oder der Imagination – von deren Folgen, wie dem leiblich erfahrbaren Willensakt (dargestellt meistens durch eine leibliche Bewegung). Ein derartiges Bewußtsein der rein subjektiven Operationen impliziert eindeutig das Bewußtsein des Ursprungs dieser Operationen im Subjekt, das an sich vom Leib, auf den es wirkt, autonom ist. Während der leibliche Willensakt hier die Wirkung ist, bildet dessen Ursprung im Subjekt die Ursache. In Wahrheit gehört nur diese Ursprünglichkeit des Denkens bzw. der subjektiven Operationen zu dem Cartesischen res cogitans, also dem rein denkenden Subjekt, das immateriell und ohne Ausdehnung ist, und sich als solches vom ausgedehnten Leib völlig unterscheidet. Im Vergleich dazu gehört der merkliche Willensakt offensichtlich zu der Domäne des Leibes, die, der von Descartes selbst vorgestellten Verbundenheit zwischen Subjekt und Leib (bei Willensakten sowie bei sinnlichen Empfindungen) entsprechend8, die Domäne des Subjekts selbst bildet. Wir merken hierbei, wie Descartes in seiner Erläuterung der Differenzierung zwischen dem ausgedehnten Leib und dem immateriellen Subjekt stillschweigend eine weitere und grundlegende Differenzierung zwischen dem vom Leib autonomen Ursprung der Operationen (wie Willensakte oder Empfindung) im Subjekt und deren leiblichen bzw. leiblich ausgedehnten Domänen zuläßt. Die Lehre des Leib-Seele- (oder Geist-Körper-) Dualismus führt Descartes in seinem Hauptwerk Meditationen ein. Bereits in der ersten Meditation wurde die völlige Differenzierung zwischen Leib und Seele zu axiomatisieren versucht. Es war allerdings die sechste Meditation, in der der Leib-Seele-Dualismus ausführlich behandelt wird, und die die Prinzessin anscheinend zu einer Polemik gegen diese wichtigste Grundlage der cartesischen Philosophie brachte: „Daraus also, daß ich weiß, ich existiere und daß ich inzwischen bemerke, daß durchaus nichts anderes zu meiner Natur oder Wesenheit gehöre, als allein, daß ich ein denkendes Ding bin, schließe ich mit Recht, daß meine Wesenheit allein darin besteht, daß ich ein denkendes Ding bin. Und wenngleich ich vielleicht – oder 7 Siehe Anhang, S. 53. 6 vielmehr gewiß, wie ich später auseinandersetzen werde – einen Körper habe, der mit mir sehr eng verbunden ist, so ist doch, – da ich ja einerseits eine klare und deutliche Idee meiner selbst habe, sofern ich nur ein denkendes , nicht ein ausgedehntes Ding bin, und andererseits eine deutliche Idee vom Körper, sofern er nur ein ausgedehntes, nicht denkendes Ding ist – soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.“9 Descartes versucht, die völlige Differenzierung zwischen Leib und Seele anhand eines Gedankenexperiments zu beweisen: „Nun bemerke ich hier erstlich, daß ein großer Unterschied zwischen Geist und Körper insofern vorhanden ist, als der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist. Denn, in der Tat, wenn ich diesen betrachte, d. h. mich selbst, insofern ich nur ein denkendes Ding bin, so vermag ich in mir keine Teile zu unterscheiden, sondern erkenne mich als ein durchaus einheitliches und ganzes Ding. Und wenngleich der ganze Geist mit dem ganzen Körper verbunden zu sein scheint, so erkenne ich doch, daß, wenn man den Fuß oder den Arm oder irgendeinen anderen Teil des Körpers abschneidet, darum nichts vom Geiste weggenommen ist. Auch darf man nicht die Fähigkeiten des Wollens, Empfindens, Erkennens als seine Teile bezeichnen, ist es doch ein und derselbe Geist, der will, empfindet und erkennt. Im Gegenteil aber kann ich mir kein körperliches, d. h. ausgedehntes Ding denken, das ich nicht in Gedanken unschwer in Teile teilen und ebendadurch als teilbar erkennen könnte, und das allein würde hinreichen, mich zu lehren, daß der Geist vom Körper gänzlich verschieden ist, wenn ich noch nicht anderswoher zur Genüge wüßte.“10 Die Verbundenheit zwischen Leib und Seele, wie dieser Betrachtung Descartes zu entnehmen ist, läßt sich ihrer Differenziertheit voneinander kaum entgegensetzen. Die Trennung eines Körperteils – wie die Hand oder der Fuß – hat praktisch keine Wirkung auf die Existenz der Seele. Die Autonomie der Seele vom Leib wird hier betont; aber zugleich wird der Seele eine leibliche Ausdehnung zugesprochen. Die leibliche Ausdehnung der Seele, in der die Verbundenheit zwischen Leib und Seele zum Ausdruck kommt, bildet eine Domäne der Seele oder des ästhetischen Subjekts. Eine derartige Ausdehnung der leiblichen Domäne des ästhetischen Subjekts ist allerdings nicht konstant, sondern variable. Durch die Trennung eines Körperteils oder durch das Wachstum des Leibes ändert sich die Ausdehnung der leiblichen Domäne des ästhetischen Subjekts. Aber diese Änderungen haben keine Wirkung auf die Existenz des Subjekts, was uns unmittelbar bewußt ist. Unser Bewußtsein ist hier genau genommen auf eine ursprüngliche und als solche unveränderliche Existenz der Subjektivität bezogen. Demnach wird hier zwischen der leiblich ausgedehnten Domäne des (ästhetischen) Subjekts und seinem vom Leib autonomen Ursprung differenziert. 8 Vgl. Anmerkung 3. Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 67. 10 Ebd., S. 74. 9 7 Die leibliche Domäne des Subjekts ist, wie vorher erwähnt wurde, zugleich eine Domäne des subjektiven Handelns und Empfindens. In der Physiologie des Handelns und des sinnlichen Empfindens führt man jeder Willensakt bzw. Bewegung des Leibes sowie jede sinnliche Empfindung der innerleiblichen Phänomene – wie Hunger oder Schmerz – sowie die der Außenwelt – wie das Sehen, Hören, Tasten, Schmecken oder Riechen – gewöhnlich auf das Gehirn. Die im ganzen Leib verbreiteten Nerven übertragen die sinnlichen Empfindungen von verschiedenen leiblichen Sinnesorganen zum Gehirn. Ebenso haben sie bei jedem subjektiven Willensakt eine gewisse übertragende Funktion zwischen ihrem physiologischen Initiieren im Gehirn11 und ihrer leiblichen Realisation. Dennoch bildet das Gehirn nach Descartes keinen Ursprungsort der Seele. Denn die Seele hat einen vom Leib wesentlich verschiedenen Existenzmodus, und das Gehirn ist letzten Endes bloß ein Teil des Leibes. Allerdings ist die Seele am nächsten mit dem Gehirn verbunden, indem sie zum einen die sinnlichen Empfindungen zuletzt vom Gehirn empfängt und zum anderen die Willenakte zunächst in ihm initiiert: „Sodann bemerke ich, daß der Geist nicht von allen Teilen des Körpers unmittelbar beeinflußt wird, sondern nur vom Gehirn, oder sogar nur von einem ganz winzigen Teile desselben, nämlich von dem, worin der Gemeinsinn seinen Sitz haben soll. So oft dieser Teil nun in gleicher Weise gestimmt ist, stellt er dem Geiste dasselbe dar, wenn sich auch inzwischen die übrigen Teile des Körpers auf verschiedene Arten verhalten mögen, wie unzählige Erfahrungen beweisen, die ich hier nicht anzuzählen brauche.“12 In seinem nächsten Hauptwerk Die Prinzipien der Philosophie, gewidmet an Prinzessin Elizabeth, erläutert Descartes eingehend die Differenzierung zwischen Leib und Seele in bezug auf den wahren Ursprung der leiblichen Empfindungen. Die sinnlichen Empfindungen haben ihren Ursprung und ihre Existenz allein im Subjekt. Die gesehene Farbigkeit eines Gegenstands ist ursprünglich eine bloß subjektive Empfindung. Aber gewöhnlich neigen wir in unserer unmittelbaren Erfahrung dazu, die Farbigkeit dem Gegenstand zuzuerkennen. Ebenso empfinden wir den Schmerz im Fuß ursprünglich allein im Subjekt, sind allerdings von der Täuschung kaum befreit, daß der Schmerz sich in dem Körperteil befindet bzw. die Schmerzempfindung ihren Ursprung im Fuß hat: „Es bleiben noch die Wahrnehmungen, die Affekte und die Gefühle, die man zwar auch klar erfassen kann, wenn man sich genau vorsieht und gerade nur das über sie aussagt, was in unserem Vorstellen darüber enthalten 11 Der Ursprung der Willensakte – ebenso wie der Ursprung der Sinnesempfindungen – im Gehirn ist nach Descartes streng genommen als ein physiologisches Initiieren zu bestimmen und als solche von dem epistemologischen Ursprung dieser Operationen im Subjekt zu unterscheiden. 8 ist, und dessen wir unmittelbar bewußt sind. Indes ist es sehr schwer, dies innezuhalten, wenigstens in Bezug auf unsere Empfindungen, weil wir alle von Kindheit auf angenommen haben, daß alle die Dinge, die wir empfinden, eine Existenz außerhalb unseres Bewußtseins hätten, und daß sie den Empfindungen oder Ideen, die wir von ihnen bei Gelegenheit ihrer Wahrnehmung hatten, ganz ähnlich seien. Wenn wir z. B. eine Farbe sahen, meinten wir eine außer uns befindliche und eine der Idee dieser von uns wahrgenommenen Farbe ganz ähnliche Sache zu sehen, und infolge der Gewohnheit, so zu urteilen, glaubten wir diese Sache so klar und deutlich zu sehen, daß sie uns für gewiß und zweifellos galt. Ganz ebenso verhält es sich mit allen übrigen Wahrgenommenen, auch mit der Lust und dem Schmerze. Denn wenn auch diese letzten nicht außerhalb unsrer selbst verlegt werden, so werden sie doch nicht in den Geist oder in unsere Vorstellung allein gesetzt, sondern in die Hand oder in den Fuß oder in einen anderen Teil unseres Körpers. Es ist aber durchaus nicht sicherer, daß der z. B. in dem Fuße gefühlte Schmerz etwas außerhalb unseres Geistes ist und in dem Fuße sich befindet, als daß das in der Sonne gesehene Licht auch in der Sonne sich befindet; vielmehr sind beides Vorurteile aus unserer Kindheit..“13 Versuchen wir, die oben zitierten Beispiele Descartes, die uns über die Differenzierung zwischen Leib und Seele aufklären sollen, näher zu betrachten. Zunächst untersuchen wir den Fall der Schmerzempfindung, denn sie bezieht sich unmittelbar auf die Fragestellung der Prinzessin nach der leiblichen Ausdehnung der Seele. Zwar geht es hier nicht um eine leiblich handelnde Seele (worauf die Frage der Prinzessin verweist), sondern um eine leiblich empfindende Seele. Aber in der Schmerzempfindung – ebenso wie in der haptischen Empfindung der Kälte, Wärme oder des Drucks – taucht das Problem der Einheit oder (wenigstens) der Verbundenheit der Seele mit dem Leib auf. Der Schmerz wird im Fuß empfunden, aber es ist nicht der Fuß, der ihn empfindet. Der Ort des Schmerzes im Leib wird mit dem Gehirn durch die Nerven verbunden. Die Empfindung des Schmerzes entsteht letztendlich aus der Ganzheit des Nervensystems, das das Gehirn und die mit ihm verbundenen und auf den ganzen Leib verbreiteten Nerven in sich einschließt. Rein physiologisch wird die Schmerzempfindung im Gehirn bearbeitet. D.h. ein Gehirnteil ist der physiologische Ursprungsort des Schmerzes, der aber im Fuß empfunden wird. Wie Descartes betont, ist es wiederum nicht das Gehirn, sondern die Seele bzw. das Subjekt, das den Schmerz empfindet, indem es unmittelbar vom Gehirn beeinflußt wird. Hier kann man eine deutliche Trennung zwischen dem Ursprung und der Domäne der subjektiven Sinnesempfindung erkennen. Der Schmerz wird innerhalb der Domäne des Leibes empfunden. Aber der Ursprung der rein subjektiven Schmerzempfindung ist nicht im Gehirn (der ein Teil des Leibes ist), sondern in dem vom Leib völlig verschiedenen Subjekt. Denn die 12 Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 74. Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt und erläutert von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1965, S. 24-25. 13 9 wahre subjektive Schmerzempfindung und die leiblichen Prozesse – im Gehirn und im gesamten Nervensystem – sind zwei voneinander absolut verschiedene Existenzmodi oder Modi der Wirklichkeit. Die Schmerzempfindung läßt sich auf verschiedene neuronale Prozesse im Gehirn zurückführen, aber diese Gehirnprozesse – mag es im biologischen, im chemischen oder sogar im elektrischen Modus sein – sind modal und ontisch von der unmittelbaren subjektiven Schmerzempfindung absolut verschieden. Aber gerade in bezug auf die leibliche Domäne der Empfindung (der Schmerzempfindung oder der haptischen Empfindung der Kälte, Wärme oder Antastung) kann man – in Anlehnung an Prinzessin Elizabeth – das Subjekt für leiblich ausgedehnt halten. Hierbei läßt sich das cartesische Verfahren der methodischen Isolierung des Subjekts vom Leib umdrehen. Zwar empfindet allein das Subjekt, das vom Leib völlig different ist, den Schmerz, aber er (bzw. der Schmerz) wird im Fuß empfunden. Dies besagt, daß in der Realität der Schmerzempfindung das cartesische Verfahren ihrer methodischen Ableitung – bzw. die Progression des Empfindungsprozesses von dem Ort der Empfindung (nämlich dem Fuß) durch die Nerven und durch das Gehirn zum Subjekt – umgedreht werden. An dieser Stelle ist neben dem absoluten Ursprung der Schmerzempfindung im Subjekt ihre Verortung oder Lokalisation in der Domäne des Leibes zu berücksichtigen. Die Wirklichkeit unserer Schmerzempfindung ist, daß wir den Schmerz im Fuß lokalisiert empfinden, und nicht im Gehirn, in dem er rein physiologisch bearbeitet wird. Daraus läßt sich folgern, daß wir in der Gesamtheit unserer ästhetischen Subjektivität, die den Ursprung und die Domänen der ästhetisch-subjektiven Operationen in sich einschießt, auf das Faktum des Raumes bzw. der räumlichen Ausdehnung kaum verzichten können. Unsere ästhetische Subjektivität, indem sie sich notwendigerweise auf eine Domäne oder Wirkungssphäre erstreckt, erweist sich in ihrer Gesamtheit als räumlich ausgedehnt, worauf die Fragestellung der Prinzessin verweist. Bevor wir das Beispiel der Farbempfindung erörtern, untersuchen wir erneut die bereits eingeführte Differenzierung zwischen einer rein logischen und einer rein ästhetischen Domäne des Subjekts. Bereits vorher haben wir angedeutet, daß die von Descartes bestimmten Modi des Denkens kaum einheitlich sind. Erkennen, Verstehen, Bejahen oder eine (logische) Schlußfolgerung, die das sprachlich-begriffliche Denken als Basis haben, unterscheiden sich vom bloßen Fühlen, Empfinden oder Willensakt. Mit Kant zu reden, handelt es sich bei den sprachlich-begrifflichen Modi des Denkens um eine logische Synthese, genauer, eine Synthese im Modus eines logischen Nexus. Wir haben die Domäne des 10 Subjekts, das bloß sprachlich denkt bzw. versteht, erkennt, bejaht oder verneint, als eine rein logische Domäne des Subjekts bestimmt. Dagegen zeigt sich die räumlich bzw. leiblich ausgedehnte Domäne des Subjekts, das bloß empfindet, sich fühlt oder handelt, als eine vorlogische rein ästhetische Domäne des Subjekts. Diese Domänen bilden die Grundstruktur unserer Subjektivität, wobei die rein logische Domäne einer logischen Subjektivität und die rein ästhetische Domäne einer vor-logischen und rein ästhetischen Subjektivität zu entstammen scheinen. Die andere und zwar grundlegende Differenzierung zwischen dem Ursprung und der Domäne des Subjekts wird die Differenzierung zwischen der logischen und der ästhetischen Subjektivität verschiedenartig betreffen. Wir haben bereits innerhalb der ästhetischen Subjektivität einen nicht ausgedehnten Ursprung und eine räumlich bzw. leiblich ausgedehnte Domäne des Subjekts aufgewiesen. Aber innerhalb der logischen Subjektivität scheint eine derartige Differenzierung kaum möglich zu sein. Denn dem sprachlichbegrifflichen Denken – als Verstehen, Erkennen, Bejahen oder Verneinen – läßt sich keine räumliche Ausdehnung zuordnen; seine Domäne scheint ebenso wie sein Ursprung keine Ausdehnung zu haben. Das Verfahren des Verstehens, des Erkennens oder der Schlußfolgerung beziehen sich – im Vergleich zum Empfinden, Fühlen oder Handeln – streng genommen nicht auf eine leiblich ausgedehnte Domäne. In diesen und ähnlichen Modi des sprachlich-begrifflichen Denkens scheint der Ursprung der logischen Subjektivität mit ihrer Domäne vereinheitlicht zu sein. Dies erschwert eine klare Differenzierung zwischen dem Ursprung und der Domäne des Subjekts im Kontext des sprachlich-begrifflichen Denkens. Die methodische Isolierung der Seele vom Leib ist in der cartesischen Epistemologie offensichtlich eine klare Trennung des Ursprungs der Subjektivität, genauer, der subjektiven Operationen wie Verstehen, Erkennen, Empfinden, Handeln etc. von deren Domänen. Zunächst aber werden bei Descartes die leiblichen Domänen eines ästhetischen Subjekts zugunsten seines nicht-leiblichen Ursprungs vernachlässigt, was die Prinzessin Elizabeth zu ihrer berühmten Problemstellung bezüglich der leiblichen Ausdehnung des Subjekts veranlaßte. Aber im Kontext der logischen Subjektivität wäre eine derartige Problemstellung kaum möglich. Denn die verschiedenen Modi des sprachlich-begrifflichen Denkens, nämlich das Verstehen, Erkennen, Bejahen oder Verneinen, erstrecken sich nicht auf eine leibliche Domäne. Oder, in anderen Worten: die Prinzessin kann ihre Problemstellung bezüglich der leiblichen Ausdehnung des Subjekts nicht auf das sprachlich-begriffliche Denken beziehen. 11 Der cartesische Grundsatz „ego cogito, ergo sum“ (ich denke, also bin ich), anhand dessen Descartes seine Grundannahme einer völligen Differenzierung zwischen der immateriellen Seele und dem räumlich ausgedehnten Leib zu begründen sucht, bezieht sich streng genommen bloß auf den Ursprung der Subjektivität, und nicht auf die Domänen des Subjekts – insbesondere eines vor-logischen rein ästhetischen Subjekts. Die leiblich ausgedehnte Domäne eines ästhetischen Subjekts kann einen derartigen Grundsatz kaum beanspruchen. Da im Kontext des rein logischen Subjekts der Ursprung des begrifflichen Denkens mit seiner Domäne zu koinzidieren scheint (so daß sie sich voneinander kaum differenzieren lassen), kann man davon ausgehen, daß dieser cartesische Grundsatz sich vorrangig auf die logische Subjektivität bezieht. Ebenso bezieht er sich auch im Kontext einer rein ästhetischen Subjektivität allein auf den Ursprung des ästhetischen Subjekts bzw. auf den Ursprung der ästhetisch-subjektiven Funktionen (oder Operationen) wie Empfinden oder Handeln, und nicht auf seine Domänen, die räumlich ausgedehnt existieren. Die Problemstellung von Prinzessin Elizabeth verweist auf eine derartige Einschränkung des (oben zitierten) cartesischen Grundsatzes. Die Differenzierung zwischen der logischen und der ästhetischen Domäne des Subjekts läßt sich nicht auf die cartesische Epistemologie beschränken; sie betrifft darüber hinaus die Transzendentalphilosophie Kants. Nach der kantischen Epistemologie sind die Gegenstände in der empirischen Anschauung gegeben, und sie werden durch einen logischen Verstand zu begrifflichen Erkenntnissen synthetisiert. Hier gehört die empirische Anschauung, die die Sinnlichkeit als Basis hat und in der die Gegenstände im Modus der sinnlichen Empfindungen gegeben werden, offensichtlich zur Domäne (oder Sphäre) der ästhetischen Subjektivität, und der logische Verstand, der die in der Anschauung gegebenen Gegenstände begrifflich erkennt, zur Domäne der logischen Subjektivität. Daher kann man annehmen, daß wenn Kant in der begrifflichen Erkenntnis eine Synthese zwischen Begriff und Anschauung sieht, die epistemologisch bzw. im Erkenntnisvorgang eine Synthese zwischen dem logischen Verstand und der Gegebenheit der Gegenstände in der Anschauung impliziert, bezieht er den Prozeß der Synthetisierung prinzipiell auf eine logische Subjektivität. Denn der logische bzw. sprachliche Begriff kann allein einer logischen Subjektivität entstammen. In seiner Transzendentalen Logik behandelt Kant nur die Möglichkeit einer derartigen logischen Synthese. Die rein ästhetische Domäne des Subjekts, in der die sinnlichen Empfindungen der Gegenstände zustande kommen, wird dagegen kaum erörtert. Die Funktion 12 einer solchen vor-logischen Domäne (die aber von Kant als solche nicht genannt wird) ist für Kant allein die Veranlassung der bloßen Gegebenheit der Gegenstände. Kant gibt auch keine Mühe, diese Gegebenheit der Gegenstände in der empirischen Anschauung im Einzelnen zu spezifizieren bzw. den in der Anschauung gegebenen Gegenstand als einen gesehenen, gehörten, gerochenen, geschmeckten oder getasteten Gegenstand zu bestimmen. Die sinnliche Gegebenheit der Gegenstände scheint gerade im Rahmen einer rein ästhetischen Subjektivität eine ästhetische Synthese zwischen dem rein empfindenden Subjekt und dem empfundenen Gegenstand zu implizieren. Diese rein ästhetische Synthese innerhalb der Empfindung läßt sich der oben erörterten logischen Synthese innerhalb des begrifflichen Erkennens analogisieren, indem beide einen synthetischen Nexus zwischen der Domäne des Subjekts und der des Gegenstands aufweisen. In der vor-logischen rein ästhetischen Synthese, die das sprachliche Denken nicht mit einbezieht, bildet die bloß subjektive – bzw. visuelle, haptische, auditive, geschmackliche oder geruchliche – Empfindung eines Gegenstands mit dem empfundenen Gegenstand eine Einheit, die als Synthese allerdings kein compositio, sondern ein nexus ist. Kurzum Wenn wir in Anlehnung an Kant bestimmen, daß die Gegenstände in der empirischen Anschauung gegeben werden, reden wir letztendlich von einer rein ästhetischen Synthese – im Modus eines Nexus – zwischen dem bloß empfindenden ästhetischen Subjekt und dem bloß empfundenen Gegenstand. Eine derartige vor-logische, rein ästhetische Synthese kann man als ein ursprüngliches Ereignis innerhalb der ästhetischen Domäne des Subjekts bezeichnen. Nun untersuchen wir, in wieweit das Beispiel der Farbwahrnehmung im äußeren Gegenstand eine ästhetische Synthese zwischen der Domäne des (ästhetischen) Subjekts und der des Gegenstands deutet. Nach Descartes nehmen wir einen äußeren Gegenstand farbig wahr, nicht weil die Farbe gegenständlich ist bzw. im Gegenstand existiert, sondern weil der Gegenstand die Farbwahrnehmung im Subjekt verursacht. Ob der Gegenstand an sich farbig ist, entzieht sich unserer subjektiven Wahrnehmung. Dies besagt, daß das Subjekt überhaupt keinen Zugang zu der Objektivität der Farbe hat.14 Die Farbwahrnehmung ist zwar subjektiv, aber die 14 Bekanntlich versuchen die Wissenschaftler, der Farbwahrnehmung eine physikalische Objektivität zuzuordnen. Diese Objektivität basiert auf zweierlei Fakten – einem rein physikalischen und einem physiologischen. Das rein physikalische Faktum ist nichts anders als bestimmte Wellenlängen des Lichts, die der Gegenstand reflektiert, und die, wenn vom Auge empfangen werden, bestimmte Farbwahrnehmungen verursachen. Das physiologische Faktum besteht aus den neuronalen Prozessen im Gehirn, die aus der retinalen Abbildung (die aber keine Farbe hat) die Farbwahrnehmung zustande bringt. Aber beide dieser Fakten sind letztendlich der Epistemologie der Farbwahrnehmung untergeordnet. D. h. die physikalischen und physiologischen Aspekte der Farbwahrnehmung, die in Wirklichkeit eine rein subjektive Wahrnehmung ist, den Kontext einer Epistemologie der Farbwahrnehmung nicht übertreffen. Während die Farbe im Objekt nur subjektiv wahrgenommen werden kann, bleibt die ursächliche Objektivität der gegenständlichen Farbigkeit dem 13 Farbe wird im Objekt wahrgenommen. Die Farbigkeit des Objekts ist hier im Vergleich zur Tastempfindung keine bloß leibliche, sondern außerleibliche und freiräumlich entfernte Sehempfindung. D.h. das farbige Objekt wird visuell in einer freiräumlichen Entfernung und in räumlich-perspektivischer Ausdehnung wahrgenommen. Dies impliziert, daß man gerade in der visuellen Farbwahrnehmung eines äußeren Gegenstands das Faktum des unmittelbaren Zwischen- oder Freiraumes sowie das der räumlich-perpektivischen Ausdehnung des Gegenstands unbedingt miteinbeziehen muß. Aber an dieser Stelle taucht das Problem der visuellen Raumwahrnehmung auf. Sowohl der visuell wahrgenommene Freiraum als auch die ebenso visuell wahrzunehmende Solidität des Gegenstands wird auf der Augennetzhaut nicht abgebildet.15 Darüber hinaus erscheinen die Gegenstände in ihrer Abbildung auf der Netzhaut sehr winzig, zweidimensional und umgedreht sowie – gemäß der sphäroidischen Krümmung der Netzhaut – sphäroidisch-konvex verzerrt. Auch wenn wir annehmen, daß die Umdrehung und Konvexität der Netzhautabbildung bloß neuronal korrigiert werden, bleibt uns ein Rätsel, wie aus dem zweidimensionalen Netzhautbild, dem die oben erwähnten Fakten der freiräumlichen Entfernung und räumlichen Ausdehnung der Gegenstände fehlen, ein dreidimensionaler Sehraum entstehen kann, in dem die Gegenstände räumlich ausgedehnt und in freiräumlicher Entfernung gesehen werden. Ebenso wie die visuelle Lagewahrnehmung – bzw. die visuelle Wahrnehmung der freiräumlichen Entfernung der Gegenstände – bleibt uns auch die visuelle Größenwahrnehmung der Gegenstände ein Rätsel. Eine riesige Erscheinung wie ein Berg wird auf der Netzhaut relativ sehr klein abgebildet. Wie vermag das Subjekt aus diesem winzigen Netzhautbild, das im Kontext der rein physiologischen Optik das einzige Input ist, die visuelle Wahrnehmung einer riesigen Erscheinung in großer Entfernung – im unmittelbaren Sehraum – zu entwickeln? Die winzige Abbildung des Berges auf der Netzhaut enthält streng genommen keine Daten, aus denen das Subjekt die richtige Größen- und Distanzwahrnehmung dieses Gegenstands entwickeln kann. Die geschichtlich bekannten Probleme der visuellen Raumwahrnehmung, nämlich die Korrektur der umgedrehten Netzhautabbildung und die Größen- und Distanzwahrnehmung der Gegenstände, weisen visuell wahrnehmenden ästhetischen Subjekt ewig abgesagt. D.h. das Subjekt kann die objektive Ursache der Farbigkeit des Gegenstands visuell nicht wahrnehmen. Diese Unmöglichkeit könnte man im Rahmen der Epistemologie der Farbwahrnehmung als eine rein ästhetische Aporie bezeichnen. 15 Wenn wir von einer Abbildung der Gegenstände auf der Netzhaut reden, müssen wir unbedingt mitberücksichtigen, daß die Netzhautabbildung an sich bzw. rein objektiv nicht farbig ist. Denn sie besteht objektiv aus farblosen Lichtzonen – entstanden durch die Lichtwellen (oder Lichtpartikeln) von verschiedenen Wellenlängen, die auf die Netzhaut prallen. Unsere Vorstellung von einer farbigen Abbildung der sich im Sehraum befindenden Gegenstände auf der Augennetzhaut ist – in klarer Analogie zu der Abbildung in einem camera obscura – grundsätzlich eine bloß subjektive Wahrnehmung. In Wirklichkeit sehen wir das Netzhautbild nicht; wir sehen nur die Gegenstände farbig in unserem Sehraum, mit dem die Augennetzhaut durch die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen verbunden ist. Indem das Netzhautbild nicht gesehen wird, bildet es mit dem Sehraum, in dem die Gegenstände farbig wahrgenommen werden, eine Einheit (PMS, S. 210). 14 darauf hin, daß allein das Input eines winzigen Netzhautbildes – zusammen mit der neuronalen Bearbeitung dieses Inputs – nicht reicht, das Phänomen der unmittelbaren visuellen Raumwahrnehmung zu erklären. Neben dem Netzhautbild muß man notwendigerweise die unmittelbar zu erfahrende Einheit des Auges mit dem Sehraum (in dem sich die gesehenen Gegenstände befinden) in Betracht ziehen.16 Der Prozeß des Sehens – der visuellen Raumwahrnehmung – scheint sich demnach nicht in einer isolierten neuronalen Bearbeitung des Netzhautbildes, sondern in einer Einheit des Auges mit dem unmittelbaren Sehraum zu ereignen. In dieser unmittelbar subjektiv zu erfahrenden Einheit des Sehvorgangs wird das Netzhautbild durch die physikalischen Lichtstrahlen (die, von den Gegenständen reflektiert, auf den Augenpunkt konvergieren) mit den Gegenständen im Sehraum verbunden. Exkurs: „Object Size Consistency“ Das Rätsel der Größenwahrnehmung im Prozeß des Sehens bezieht sich prinzipiell auf zwei Problemstellungen, mit denen sich die Philosophen und Wissenschaftler der Optik in der Neuzeit auseinandersetzten. Sie sind nämlich: 1. Wie entwickelt der Geist aus den relativ sehr winzigen Netzhautabbildungen die visuelle Größenwahrnehmung der Sehobjekte in annähernder Richtigkeit? 2. Wie verhält sich die unmittelbar erfahrene Konsistenz in der Größenwahrnehmung eines Sehobjekts in unterschiedlichen Entfernungen zu der erheblichen Verkleinerung seiner Abbildung auf der Netzhaut? Die neuzeitliche Auseinandersetzung mit diesen Problemen der visuellen Größenwahrnehmung – insbesondere im Gebiet der philosophischen Epistemologie – erörtert Prof. Michael M. Morgan in seinem Werk Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception. Morgan betont den Irrtum in der Lockschen Lehre des „inference“ im Phänomen der visuellen Größenwahrnehmung, wie es besonders bei ihrer Rezeption in Frankreich von dem Philosophen Condillac problematisiert wurde. Nach Locke entwickelt der Geist die richtige visuelle Größenwahrnehmung aus einer gegebenen Netzhautabbildung durch einen Bewußtseinsprozeß des „inference“. Hierbei wird das Netzhautbild als das wichtigste Input im Prozeß der visuellen Wahrnehmung – in Anlehnung an die Kamera-Analogie in der Wissenschaft der Augenoptik – anerkannt. In seiner Polemik gegen die Locksche Lehre des „inference“ stützt Condillac sich auf das oben erwähnte object size consistency – bzw. die Konsistenz in der Größenwahrnehmung eines Sehobjekts unabhängig von der erheblichen Variation seiner Abbildungsgröße auf der Netzhaut: „Locke’s error, as Condillac clearly points out, was to think that we see the retinal image at all. If we first see the flat image and then later perceive, Locke’s argument (and Helmholtz’s) follows: some process of inference must have go on. But if we never see the image – and Condillac correctly points out that we are never conscious of so 16 Zur Einheit des Auges mit dem Sehraum vgl. PMS, S. 209-212. 15 doing – then the ‘inference’ is gratuitous. We do not and cannot see the retinal image: we see objects in the outside world. The Lockean and Helmholtzian language of ‘unconscious inference’ is an undesirable relic of the ‘camera’ theory of vision. In some respects Condillac thought more clearly about this problem than many contemporary psychologists. Take the question of ‘object consistency’ for example. Condillac knew that ‘If a man four feet away ... steps backward to eight feet, the image of him on the retina is halved in size.’ Because of this it has seemed even to some contemporary theorists to be a problem that objects do not shrink rapidly in size as they go away. Originally, the descriptive term ‘object size consistency’ was used to refer to the non-shrinkage phenomenon. Its use in that way is unexceptionable. But some people now use the term ‘consistency’ as if it applied to a process which set to work on the retinal image: they speak of consistency ‘scaling things up’ or ‘scaling them down’. What exactly do they think is being altered in size by constancy? The size of objects? Obviously not. The retinal image? Still less so. The size of an image in the brain? Possibly: but for what purpose? A moment’s thought shows the problems in treating constancy as a magnifying/minifying process. The cause of the fallacy is the belief that we see the retinal image. Condillac disposes of the fallacy. For one thing, he makes the very just remark that ‘If perception is an inference involving a link between the idea of a man and a height of about five feet, either I should not see the man at all, or I should see him five feet tall’ – whereas in fact objects seem to decrease insensibly in size as they move into the middle distance. He ends with the remark ‘Nature determines that the sight of these objects should tell me how far the man is away; it is impossible that I should not have this impression every time I see them.’ In other words, we see things as we do, not because we make inferences, but because we are as we are. As modern jargon would have it, the system is hard-wired“17 Figur 2 Figur 2 zeigt die von Morgan erwähnte Halbierung der Abbildungsgröße auf der Netzhaut, wenn das Sehobjekt in einer doppelten Entfernung nach hinten tritt. Wenn Condillac betont, daß wir nicht das Netzhautbild im Auge, sondern die Objekte in der Außenwelt sehen, wird darin die vorher erörterte Einheit des Auges mit dem Sehraum impliziert. Das Beispiel des “object size consistency” ist demnach eine weitere und präzisere Beweisführung für eine derartige optische Einheit im Sehprozeß, anhand deren das Subjekt die visuelle Größen- und Distanzwahrnehmung des Sehobjekts nicht allein aus einer bloß rezeptiven Netzhautabbildung entwickelt, sondern grundsätzlich in einem perspektivisch-projektiven Sehvorgang realisiert. Denn das Auge sieht das Objekt nicht in seiner retinalen Abbildungsgröße, sondern in der realen Erscheinungsgröße; man hat dabei den Seheindruck, daß das Sehobjekt in richtiger Erscheinungsgröße und Entfernung mit dem Augenpunkt 17 Vgl. Morgan, Michael J.: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception, Cambridge 1977, S. 78-79. 16 unmittelbar durch lineare Lichtstrahlen verbunden ist. Dieser reale Seheindruck verdeutlicht, daß sich das Subjekt bei der Konstruierung eines Sehraumes nicht auf das winzige und umgedrehte Netzhautbild – als das einzige Input im Sehvorgang – beschränken kann, sondern notwendigerweise die von Sehobjekten reflektierenden und auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen in einem geometrisch-optischen Sehvorgang miteinbeziehen muß (wie bereits erörtert wurde). Dies würde bedeuten, daß das sehende Subjekt sich über die Bearbeitung eines bloß rezeptiven Netzhautbildes hinaus projektiv über die orthogonalen Lichtstrahlen erstrecken soll. Denn im Vergleich zu der Netzhautbildung, die allein das leibliche Input im Sehvorgang betrachtet werden kann, bilden die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen ein außerleibliches physikalisches Phänomen. Hier soll die Physiologische Optik, die nur das Netzhautbild als das Input im Sehvorgang anerkennt, mit der Geometrischen Optik, die über die Netzhautabbildung hinaus die physikalischen Lichtstrahlen zum Gegenstand hat, eine Einheit bilden. Im Fall des oben beschriebenen “object size consistency” kommt uns diese Tatsache viel klarer vor. Falls der subjektive Sehvorgang ausschließlich auf der neuronalen Bearbeitung des Netzhautbildes basiert, ist es unbegreiflich, warum die Halbierung der Abbildungsgröße des Sehobjekts auf der Netzhaut keine entsprechende Halbierung der Erscheinungsgröße im unmittelbaren Sehraum zur Folge hat. Das optische Phänomen des “object size consistency” verweist auf eine Tatsache, daß das Subjekt bei der visuellen Wahrnehmung der Größe und Entfernung der Sehobjekte letztendlich nicht das Netzhautbild, sondern – über es hinaus – die wirklichen Erscheinungen im Sehraum als Referenz hat bzw. sich unmittelbar darauf bezieht. Denn die oben dargestellte Konsistenz in der visuellen Größenwahrnehmung des Sehobjekts läßt sich scheinbar auf die Tatsache zurückführen, daß beim Zurücktreten das wirkliche Sehobjekt sich im Gegensatz zu seiner retinalen Abbildung (mit der es in einer geometrischoptischen Struktur der Lichtstrahlen unmittelbar verbunden ist) nicht verkleinert. Demnach scheint sich die Konsistenz in der visuellen Größenwahrnehmung aus der wirklichen Konstanz der Größe des Sehobjekts erklären zu lassen. Unabhängig davon, ob der unmittelbare Seheindruck durch ein bloßes “inference” des Subjekts oder durch einen außerleiblichen geometrisch-optischen Prozeß zustande kommt, scheint seine Realität – wie sie von uns erfahren wird – unweigerlich in der vorher erörterten geometrisch-optischen Einheit zwischen dem (leiblichen) Auge und dem physikalisch-objektiven Sehraum fundiert zu bleiben. Beachtenswert ist hierbei vor allem, daß Prof. Michael J. Morgen, ein renommierter Wissenschaftler der Ophthalmologie und der Experimentellen Psychologie, die Aktualität des “object size consistency” als ein grundlegendes Problem in der philosophischen Wahrnehmungstheorie anerkennt – zwar im Rahmen eines ebenso aktuellen wissenschaftlichen Diskurses, nämlich der bekannten Molyneux Frage (aus dem 17. Jahrhundert). Dies beweist, daß derartige Probleme in der Wissenschaft der Augenoptik letztendlich von einer wissenschaftlichen aber auch von einer epistemologischen Aporizität kaum loslösen können. Wie läßt sich eine derartige Einheit des Sehraumes mit dem Auge, die die oben erwähnten Probleme der visuellen Raumwahrnehmung auflöst, epistemologisch legitimieren? In der Epistemologie der visuellen Wahrnehmung deutet die Einheit des Sehraumes mit dem Auge nichts anders als die Gesamtheit des subjektiven Sehens selbst, indem der unmittelbare Sehraum als eine räumliche bzw. außerleibliche Extension der ästhetischen Subjektivität zu bestimmen ist. Denn im Sehen erlangt das Auge keine Autonomie; es ist der Geist, der durchs 17 Auge sieht, wie es von Platon – und von vielen anderen Philosophen – nachdrücklich betont wurde. Die Einheit des Sehraumes mit dem Auge ist daher letzten Endes seine Einheit mit dem bloß sehenden ästhetischen Subjekt. Hierbei werden wir mit einer Problematik konfrontiert: Bildet der unmittelbare ästhetischsubjektive Sehraum mit dem wirklichen physikalischen Lichtraum eine Einheit, genauer, einen einheitlichen Nexus? Anders ausgedrückt: Erlangt der ästhetisch-subjektive Sehraum in der visuellen Wahrnehmung eine gewisse Objektivität? Diese Fragestellung ist doppelschneidig: wenn wir sie bejahen und demnach annehmen, daß der subjektive Sehraum mit dem physikalisch-objektiven Lichtraum eine Einheit bildet, bedeutet es grundsätzlich eine Extension des ästhetischen Subjekts über eine leibliche Domäne hinaus im Raum, der als Sehraum visuell wahrgenommen wird. Eine derartige Annahme scheint sich unserem rationalen Verstand entziehen. Wenn wir diese Frage verneinen und folglich feststellen, daß der unmittelbare ästhetische Sehraum von dem physikalischen Lichtraum völlig getrennt ist oder existiert, schreiben wir unserer visuellen Wahrnehmung bloße Virtualität bzw. virtuelle Existenz zu. Eine derartige Annahme wird notwendigerweise zu der Vorstellung von Doppelexistenz der Gegenstände, nämlich die Gegenstände als subjektiv-immateriell und zugleich als objektiv-materiell seiend, führen. Aber jede sinnliche Empfindung muß in Wirklichkeit – d.h. nicht im Traum – unbedingt durch einen äußeren Gegenstand verursacht werden. Diese notwendige Verursachung impliziert unweigerlich eine Verbindung der subjektiven Empfindung mit dem objektiven Gegenstand, die wir im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie als eine ästhetische Synthese – im Modus eines Nexus – bestimmt haben. Die ästhetische Synthese zwischen dem sinnlich empfindenden Subjekt und dem empfundenen Gegenstand drückt sich verschiedenartig aus. Wenn wir mit barem Fuß im Schnee treten, fühlen wir uns sofort die Kälte im Fuß. Diese Tastempfindung, die dem vorher erörterten cartesischen Beispiel der Schmerzempfindung im Fuß analog ist, ist der unmittelbare Beleg dafür, wie die sinnliche Empfindung durch einen äußeren Gegenstand verursacht wird. Die Kälteempfindung hier ist eine haptische Empfindung im Fuß, der mit dem Schnee in Berührung kommt. Zwar empfinden wir Kälte im Fuß, aber es ist letztendlich nicht die Kälte des Fußes, sondern die des äußeren Gegenstands bzw. des Schnees, die wir haptisch wahrnehmen. Daraus läßt sich folgern, daß in der Tastempfindung die leibliche Domäne der ästhetischen Subjektivität mit einem äußeren 18 Gegenstand, der mit dem Leib in Berührung kommt, einen unmittelbaren Nexus – eine unmittelbare ästhetische Synthese – bildet. Ein anderes, der Tastempfindung analoges Phänomen ist die leibliche Geschmacksempfindung. Uns schmeckt ein Gericht, indem es mit der Zunge in Berührung kommt. Die Geschmacksempfindung ist ebenso wie die Tastempfindung eine im Leib lokalisierte subjektive Erfahrung. D.h. wir empfinden den Geschmack des Gerichts in der Zunge, die mit dem Gericht in unmittelbarer Berührung kommt, und nicht irgendwo im Leib – auch nicht im Gehirn, wo diese Empfindung ihren physiologischen18 bzw. neuronalen Ursprung hat. Diese Lokalisierung der Empfindung in der leiblichen Domäne des Subjekts ist ein klarer Beleg dafür, daß das ästhetische Subjekt eine räumlich ausgedehnte leibliche Domäne hat, durch die es sowohl die inneren Empfindungen wie Hunger, Durst, Schmerz etc. als auch die äußeren bzw. durch äußere Gegenstände verursachten Empfindungen haben kann. Aber zugleich zeigt sich in dieser Lokalisierung der subjektiven Empfindungen, die durch äußere und mit dem Leib in Berührung kommende Gegenstände verursacht werden, ein – bereits erörterter – synthetischer Nexus zwischen dem Gegenstand und der leiblichen Domäne des ästhetischen Subjekts. Dieser rein ästhetisch-synthetische Nexus läßt sich mit Recht als eine Extension der Domäne des ästhetischen Subjekts zu dem vom Subjekt völlig autonomen Gegenstand betrachten. Eine derartige Extension der ästhetisch-subjektiven Domäne führt aber nicht zu einem compositio, indem sie den äußeren Gegenstand in sich materiell19 einschließt bzw. ihn einverleibt, sondern nur zu einem Nexus, also zu einer bloßen Verbindung, die die Autonomie des empfundenen Gegenstands gegenüber einem bloß empfindenden Subjekt nicht gefährdet, sie dagegen aufbewahrt. Die Wirklichkeit der Extension der Domäne des ästhetischen Subjekts in den oben erörterten sinnlichen Empfindungen basiert auf der Wirklichkeit des Leibes selbst, den vom ästhetischen Subjekt unmittelbar erfahren wird. Denn die Tast- und Geschmacksempfindungen setzen voraus, daß der zu empfindende Gegenstand in unmittelbarer Berührung mit der subjektiven Domäne des Leibes kommt. Eine derartige Sicherheit eines ästhetisch-synthetischen Nexus scheint der Gesichtssinn kaum zu beanspruchen. Denn das Sehen setzt notwendigerweise eine Distanz des Gegenstands von dem (leiblichen) Auge voraus – und zwar eine freiräumliche 18 Damit ist die bereits erörterte ontische Differenz zwischen dem rein physiologischen bzw. neuronalen und dem bloß subjektiven Ursprung der Empfindungen erneut aufzuweisen. 19 Entfernung,20 die allerdings erst durch die vom Gegenstand reflektierenden und auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen erfolgt. Der Gegenstand wird immer in einer freiräumlichen Entfernung geschaut; er kann mit dem leiblichen Augenpunkt nicht in Berührung kommen. Während die Schmerz- oder Kälteempfindung im Leib lokalisiert ist, wird die visuelle Farbempfindung immer in einem vom Augenpunkt entfernten Gegenstand verortet.21 Da der Augenpunkt mit den gesehenen Gegenständen nicht in Berührung kommen kann, bleibt die visuelle Empfindung – vorzüglich die Farbempfindung – streng genommen nicht leiblich, sondern gegenständlich, also in einem vom Augenpunkt entfernten Gegenstand lokalisiert. Hierbei stellen wir die entscheidende Frage: Kann man die Lokalisation der Tast- oder Geschmacksempfindung im eigenen Leib der Lokalisation der Farbempfindung in einem äußeren bzw. vom Leib freiräumlich entfernten Gegenstand analogisieren?22 Wenn ja; was wären die Grundlagen einer derartigen Analogisierung (der Lokalisierbarkeit verschiedener Sinnesempfindungen) im Kontext der rein ästhetischen Subjektivität? Wir versuchen, diese Fragestellung anhand der oben erörterten Beispiele zu erweitern. Kann man die Lokalisation der Schmerz- oder Kälteempfindung im Leib mit der Lokalisation der visuellen Farbempfindung in einem äußeren Gegenstand epistemologisch bzw. wahrnehmungstheoretisch gleichsetzen? In dem oben zitierten cartesischen Beispiel wird die Farbe zwar bloß subjektiv empfunden; demnach hat die Farbempfindung, wie in der cartesischen Epistemologie angedeutet ist, keine objektive bzw. gegenständliche Realität. Aber im Sehen empfindet das Subjekt die Farbe nicht im Augenpunkt lokalisiert, sondern wie wir es bereits erörtert haben - im Gegenstand, also in einer freiräumlichen Entfernung. Der Sehraum, in dem die sichtbaren Gegenstände gegeben werden, ist offensichtlich eine Domäne des ästhetischen Subjekts, die im unmittelbaren Sehen zustande kommt. Daher läßt sich die leibliche Domäne des ästhetischen Subjekts in der Tast- oder Geschmacksempfindung der außerleiblichen Domäne des Sehraumes, die die Domäne des ästhetischen Subjekts in der unmittelbaren Sehempfindung ist, analogisieren. Eine solche 19 Die ästhetisch-subjektive Domäne kann offensichtlich den materiellen Gegenstand nicht in sich einschließen, denn sie hat – gegenüber dem Gegenstand – keine Materialität. 20 Der hier angedeutete Freiraum ist ein visueller Freiraum, der an sich nicht angeschaut, aber visuell wahrgenommen wird. Gegenständlich ist der visuelle Freiraum nicht leer, sondern unbedingt mit Licht gefüllt. D.h. der visuelle Freiraum ist objektiv ein Lichtraum. 21 Auch die Farbe des eigenen Leibes ist in einer freiräumlichen Entfernung gesehen. Im Verhältnis zu dem Augenpunkt (der unmittelbar nicht gesehen werden kann) ist der eigene Leib im Kontext der visuellen Wahrnehmung ein äußerer Gegenstand. 20 Analogie besagt eindeutig, daß sich in der Sehempfindung der äußeren Gegenstände die rein ästhetische Subjektivität über deren leibliche Domäne hinaus in einem außerleiblichen Sehraum ausdehnt. Als Domäne des ästhetischen Subjekts ist der materielle Leib grundsätzlich ein Medium, durch das die ästhetische Subjektivität räumlich ausgedehnt ist. Ebenso bedingt die außerleibliche Ausdehnung der Domäne des bloß sehenden Subjekts in einem Sehraum ein materielles Medium, durch das sich diese Domäne zu den vom Augenpunkt entfernten Gegenständen im Sehraum ausweitet. Dieses materielle bzw. physikalische Medium kann nur das Licht sein, das, von den Gegenständen reflektiert, auf den Augenpunkt konvergiert und folglich auf der Netzhaut im Auge fällt. Die Vorstellung vom Leib als Domäne eines rein ästhetischen Subjekts haben wir ursprünglich aus dem Diskurs zwischen Prinzessin Elizabeth von Böhmen und René Descartes abgeleitet. Auch wenn wir von dieser Grundvorstellung in unserer Untersuchung leicht überzeugt werden (denn der Leib ist der unmittelbar ästhetisch erfahrene Gegenstand), wird uns die oben eingeführte Erweiterung dieser Vorstellung, nämlich die Ausdehnung der Domäne des ästhetischen Subjekts in einem außerleiblichen Sehraum, anscheinend große Schwierigkeiten bereiten. Hierbei stehen wir vor einer grundlegenden Fragestellung: Kann unser unmittelbarer Sehraum eine analoge Materialität bzw. physikalische Phänomenalität wie die unseres Leibes beanspruchen, so daß sich die leibliche Lokalisation der Schmerzoder Tastempfindung mit der außerleiblichen Lokalisation der Farbempfindung (im Gegenstand) epistemologisch gleichsetzen läßt? Um derartige Frage- oder Problemstellungen zu lösen, müssen wir zunächst den ontischen Status unseres Sehraumes näher untersuchen. 22 Anders formuliert: Kann man zwischen der leiblichen Lokalisation der Tast- oder Geschmacksempfindung und der außerleiblichen bzw. freiräumlich entfernten gegenständlichen Lokalisation der visuellen Farbempfindung eine Analogie aufweisen? 21 Figur 2 Figur 2 23 zeigt ein Sehmodell, das das geometrisch-optische Verfahren des Sehens darstellt. Die Sehpyramide (wie die Theoretiker der Renaissance sie bezeichnete) DOD ist im Prinzip ein physikalischer Lichtraum. D. h. der Sehraum DOD besteht aus Lichtstrahlen, die auf den Augenpunkt konvergieren. Dieses Sehmodell ist ein theoretisches bzw. geometrisch-optisches Konstrukt, in dem das Verfahren des Sehens geometrisch objektiviert wird. Aber wenn man sich in diesem Sehmodell ein richtiges bzw. leibliches Auge vorstellt, erlebt man keinen bloß theoretischen, sondern einen ästhetischen, genauer, einen ästhetisch-subjektiven Sehraum. D.h. die Einbeziehung eines leiblichen Auges in diesem Sehverfahren hat die Entstehung eines unmittelbaren subjektiven Sehraumes zur Folge.24 Der ästhetisch-subjektive Sehraum und der physikalisch-objektive Lichtraum (dargestellt durch eine physikalische Seh- oder Lichtpyramide) haben eine Eigenschaft gemeinsam; beide haben eine perspektivische Struktur. Daß wir die Erscheinungen im Sehraum perspektivisch sehen, läßt sich letztendlich auf die perspektivische Struktur des geometrisch-optischen Lichtraumes zurückführen. Ansonsten hat der ästhetisch-subjektive Sehraum einen anderen ontischen Status als der physikalische Lichtraum. Der ästhetisch-subjektive Sehraum wird unmittelbar erfahren und ist als solcher subjektiv real, aber seine Realität widerspricht in manchen Aspekten der strukturellen Funktionalität des geometrisch-optischen Lichtraumes. Z. B: Objekte von verschiedenen Größen und in unterschiedlichen Entfernungen vom Augenpunkt (AA, BB, CC und DD) werden in einem theoretischen Sehmodell – wie es dargestellt ist – gleich groß auf der Netzhaut abgebildet. Wenn wir allein von diesem theoretischen bzw. geometrisch23 PMS, S. 199. 22 optischen Sehverfahren ausgehen, bleibt uns unbegreiflich, wie die fast identisch groß auf der Netzhaut abgebildeten Objekte in richtigen bzw. in unterschiedlichen Größen und Entfernungen unmittelbar gesehen werden. Auf diese Problematik verweist auch das bereits erörterte object size consistency im Sehen.25 Dieses und ähnliche Probleme26 in der geometrisch-optischen Darstellung des Sehvorgangs deuten darauf hin, daß der unmittelbar erfahrene ästhetisch-subjektive Sehraum einen wesentlich anderen Funktionsmodus hat. Obwohl in dieser Darstellung des Sehvorgangs die Gegenstände auf der Netzhaut umgedreht und fast identisch abgebildet werden, werden sie in unmittelbarer ästhetisch-subjektiver Seherfahrung aufrecht und in richtiger Größe und Entfernung wahrgenommen. Die Basis einer derartigen visuellen Wahrnehmung kann nicht (allein) das Netzhautbild sein, das im starken Kontrast zu den wirklichen Erscheinungen sehr winzig, umgedreht und sphäroidisch verzerrt ist, und in dem die (in der Figur dargestellten) Erscheinungen fast identisch abgebildet sind. Daß das Subjekt allein aus diesem Input, nämlich dem Netzhautbild, das wirkliche Sehbild (oder die wirkliche Seherfahrung) entwickelt, läßt sich kaum vorstellen. Die Entstehung des ästhetisch-subjektiven Sehraumes, in dem die Erscheinungen aufrecht und in annähernd richtigen Größen und Entfernungen gesehen werden, setzt notwendigerweise die bereits erörterte Einheit des Sehraumes mit dem Auge voraus. Die oben erörterten Probleme des geometrisch-optischen Sehvorgangs deuten darauf hin, daß der wirkliche ästhetischsubjektive Sehraum nicht bloß aus einer rezeptiven Netzhautabildung (neuronal) konstruiert wird, sondern erst durch eine projektive Extension der Domäne des ästhetischen bzw. des unmittelbar sehenden Subjekts in den Raum (der als Sehraum eine perspektivische Struktur hat) zustande kommt. Die oben erörterten Probleme der visuellen Größen- und Entfernungswahrnehmung sowie der Umdrehung der retinalen Abbildung im Sehvorgang veranlassen uns zu der Annahme, daß in der unmittelbaren visuellen Wahrnehmung neben dem bloßen Input einer Netzhautabbildung die Lichtstrahlen, die das Netzhautbild mit den wirklichen Erscheinungen im Raum verbinden, berücksichtigt bzw. einbezogen werden sollen.27 Diese Lichtstrahlen, die auf den 24 Ebd., S. 195ff. Vgl. Anmerkung 17. 26 Gemeint ist hier hauptsächlich das historisch bekannte Problem der Umdrehung der Netzhautabbildung. Vgl. dazu PGPVR, S. 71-75. 27 Daß die Erscheinungen auf der Augennetzhaut umgedreht abgebildet werden, bleibt bis Heute in der Geschichte der Augenoptik ein Rätsel. Im allgemeinen wird behauptet, daß die Umdrehung sowie die sphäroidische Verzerrung der Netzhautabbildung neuronal bzw. im Gehirn korrigiert werden. Aber hier taucht unweigerlich ein epistemologisches Problem auf. Die Umdrehung der Erscheinungen bei der retinalen Abbildung ist grundsätzlich eine relative Bestimmung. D. h. das Subjekt – oder das Gehirn, wenn wir den Sehvorgang bloß auf einen Gehirnprozeß reduzieren – braucht eine Referenz, um festzustellen, daß die 25 23 Augenpunkt konvergieren, füllen den Freiraum in der physikalischen Sehpyramide. Sie konstruieren das Netzhautbild im Auge, das ein zweidimensionales und sphäroidisch verzerrtes Bild ist. D. h. die Lichtstrahlen vermögen weder den (dreidimensionalen) Frei- oder Zwischenraum noch die Solidität der Erscheinungen auf der Augennetzhaut abzubilden.28 Daß das ästhetische Subjekt aus diesem Netzhautbild, das streng genommen keine Daten der Größen- und Entfernungswahrnehmung der Gegenstände enthält, einen Sehraum – mit seiner riesigen Breite, Höhe und Tiefe – entwickelt, besagt eindeutig, daß der subjektive Sehvorgang nicht nur die winzige Netzhautabbildung, sondern unbedingt die orthogonalen Lichtstrahlen, die das Netzhautbild29 mit den wirklichen Erscheinungen im Sehraum verbinden, als Basis hat. Diese Tatsache wird uns klarer vorkommen, wenn wir unseren unmittelbaren Sehraum näher betrachten. Wir haben den wirklichen Seheindruck, daß die Erscheinungen im Sehraum – von kleineren, wie eine Uhr auf dem Schreibtisch, bis größeren und riesigen, wie ein Baum oder ein Berg – mit uns bzw. mit unserem Augenpunkt durch ein geometrisch-optisches Gerichtetsein des Blicks30 verbunden sind. Ein Baum in Entfernung erscheint uns so, als ob die Form seiner Erscheinung im Sehraum durch die an sich unsichtbaren Orthogonalen, die sie (bzw. die räumliche Ausdehnung des Gegenstands) mit dem Augenpunkt linear verbinden, geometrisch-perspektivisch konstruiert wird. Allein die Perspektivität unseres ästhetischsubjektiven Sehraumes bildet einen hinreichenden Beleg dafür, daß unsere visuelle Erscheinungen im Sehraum auf der Netzhaut umgedreht abgebildet werden. Aber diese Referenz kann allein die im Sehraum aufrecht existierenden Gegenstände sein. Die Unabdingbarkeit einer derartigen Referenz begründet auch, daß die visuelle Wahrnehmung der Objekte in ihrer richtigen bzw. aufrechten Erscheinungsweise im Sehraum kein Ergebnis einer bloß neuronalen Bearbeitung des umgedrehten Netzhautbildes ist, sondern erst durch die bereits erörterte Einheit des Sehraumes mit dem Auge (eine optische Einheit, der die durch Lichtstrahlen erfolgende direkte Verbindung zwischen Netzhautbild und den Erscheinungen zugrunde liegt) zustande kommt (vgl. dazu PMS, S. 231-233). In der Einheit des Sehraumes mit dem Auge benötigt die Umdrehung der Netzhautabbildung keine neuronale Korrektur; statt dessen erweist sich eine derartige geometrisch-optische Umdrehung als ein natürliches Phänomen im Sehvorgang. Indem das Netzhautbild im Auge nicht gesehen wird, bildet es, wie vorher erörtert wurde, im Sehvorgang eine Einheit mit dem visuell unmittelbar zu erfahrenden Sehraum. In einer solchen Einheit des Auges mit dem Sehraum (die wir im weiteren Sinne als eine Einheit des ästhetischen Subjekts mit dem Sehraum bestimmt haben) bildet die Umdrehung der Netzhautabbibldung ein der Gesamtstruktur des Sehvorgangs entsprechendes natürliches Phänomen; sie wird nicht zu einem Problem in der Augenoptik, das neuronal korrigiert werden soll. D. h. die Umdrehung der Netzhautabbildung scheint in der Einheit des Auges mit dem Sehraum bloß integriert zu sein (vgl. Anmerkung 26). 28 Man merke hierbei ein deutliches Paradoxon: der Freiraum wird (gegenständlich) nicht angeschaut, aber visuell wahrgenommen. Denn die Lichtstrahlen werden nur von Gegenständen – und nicht vom Freiraum, den sie bloß durchdringen – reflektiert. Das Netzhautbild enthält nur die planen Abbildungen (die, wie vorher erörtert wurde, an sich farblos sind), die durch die von Gegenständen reflektierenden Lichtstrahlen zustande kommen. Aber die den Freiraum durchdringenden und an sich farblosen und unsichtbaren Lichtstrahlen werden auf der Netzhaut nicht abgebildet. Daher nehmen wir gewöhnlich an, daß das im Netzhautbild völlig fehlende Faktum des visuellen Frei- oder Zwischenraumes allein aus der neuronalen Bearbeitung des Netzhautbildes entwickelt werden kann. Aber die Realität einer derartigen neuronalen Konstruktion des Sehraumes soll die Medialität bzw. die mediale Funktion der Lichtstrahlen, die das umgedrehte Netzhautbild mit den richtigen Erscheinungen im Sehraum verbinden, in sich einschließen. 29 Hier ist erneut zu merken, daß das Netzhautbild an sich kein Bild, sondern eine bloße Komposition von nicht farbigen Lichtzonen ist. 24 Wahrnehmung ursprünglich auf der perspektivischen Struktur der Orthogonalen bzw. der von den Gegenständen reflektierenden und auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen aufbaut. Daß wir die Gegenstände in perspektivischer Entfernung und Formhaftigkeit (d.h. in perspektivischer Verzerrung) sehen, ist darauf zurückzuführen, daß unserem unmittelbaren Seheindruck die geometrisch-perspektivische Struktur des physikalischen Lichtraumes – genauer, der physikalischen Lichtpyramide – zugrunde liegt. Exkurs: Perspektivität des Sehens Allein die perspektivische Struktur des unmittelbaren Sehraumes verdeutlicht, wie sich die Domäne des Gesichtssinns in einem mit dem Auge verbundenen Lichtraum – in der Form einer Lichtpyramide - ausdehnt. Wenn wir die Netzhautabbildung als das Input des Sehvorgangs bestimmen, bildet der perspektivische Sehraum sein einziges Output, also das Endergebnis aller physikalischen und physiologischen Sehvorgänge. Zwischen der Netzhautabbildung und dem perspektivischen Sehraum besteht ein struktureller Unterschied. Das Netzhautbild ist nur ein zweidimensionaler und sphäroidischer bzw. konvexer Durchschnitt der winzigen Lichtpyramide im Auge, die durch die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen konstruiert wird. Demnach besteht das Netzhautbild – wie bereits erörtert wurde – bloß aus planen Lichtzonen. Dieses Netzhautbild ist weder farbig noch perspektivisch. Wenn wir feststellen, daß das Netzhautbild in Analogie zu der Abbildung in einem camera obscura, die wir unmittelbar sehen können, farbig und perspektivisch ist, basieren diese Eigenschaften nicht auf dem objektiven oder gegenständlichen Netzhautbild, sondern allein auf unserem subjektiven Sehen. Wir setzen hier stillschweigend voraus, daß das Subjekt die Netzhautabbildung sieht, wie es die Erscheinungen auf einem äußeren Bild farbig und perspektivisch wahrnimmt. Die Farbigkeit und Perspektivität sind streng genommen keine objektiven Eigenschaften des Bildes; sie werden vom Auge – vom sehenden Subjekt – zu einem Bild, genauer, zu einer bloß belichteten Bildebene hinzugefügt. Die Fähigkeit, in einem perspektivischen Bild die Tiefe eines Sehraumes und die Solidität der abgebildeten Erscheinungen visuell wahrzunehmen, entwickelt das Subjekts offensichtlich aus seiner Gewöhnung an unmittelbarer wirklicher Seherfahrung. Das perspektivische Bild erweckt im Subjekt den (virtuellen) Anschein der freiräumlichen Tiefe und der Solidität der Erscheinungen, weil es ein annähernd genaues Netzhautbild (wie das des wirklichen Sehraumes) im Auge entstehen läßt. Falls diese Gewöhnung fällt, vermag das Auge in einem perspektivischen Bild nur plane Farbzonen – ohne perspektivische bzw. orthogonale Tiefe und Solidität der Erscheinungen – wahrzunehmen (was der historisch bekannte Fall des Cheselden´s Patients verdeutlicht).31 Das wirkliche Sehbild unterscheidet sich von dem Netzhautbild nicht nur in seiner Farbigkeit, sondern auch in seiner dreidimensionalen Struktur, die mit der physikalisch-wirklichen Struktur der Lichtpyramide eine Einheit zu bilden scheint. Die unmittelbar visuell wahrzunehmende perspektivische Formhaftigkeit der Erscheinungen – des Sehraumes im allgemeinen – läßt sich 30 31 PMS, 211-212. Ebd., S. 236-240. 25 prinzipiell auf die geometrisch-optische Orientierung der Erscheinungen gegenüber dem Betrachtenden, der die Struktur der Lichtpyramide zugrunde liegt, zurückführen. Wir sehen die Gegenstände – besonders in der nahen Umgebung – in richtiger perspektivischer Größe, Entfernung und Solidität, als ob sie mit unserem Augenpunkt durch wirkliche Lichtstrahlen unmittelbar verbunden sind. (Die geometrisch-optische Struktur – oder die Geometrisierbarkeit – des Sehraumes wird in dieser Weise zu einem Beleg für die Objektivität des subjektiven Sehraumes in seiner synthetischen Verbundenheit mit dem physikalischen Lichtraum). Eine derartige Seherfahrung als Endergebnis des Sehvorgangs hat strukturell mit der Netzhautabbildung wenig gemeinsam, außer daß das Netzhautbild eine bloße Verbindungsebene zwischen dem Leib bzw. der Augennetzhaut und dem außerleiblichen Licht, das von Erscheinungen reflektiert wird und sich auf den Augenpunkt konvergiert, bildet. Die Perspektivität – oder die perspektivische Struktur – des wirklichen Sehens läßt sich daher kaum auf ein ursächliches Netzhautbild zurückführen. Im perspektivischen Sehen haben wir die unmittelbare Erfahrung, daß die Gegenstände perspektivisch erscheinen und sie sich allesamt in einer wirklichen und perspektivisch strukturierten Seh- und Lichtpyramide befinden (oder daß sie mit unseren Augen – wie oben kurz erwähnt ist – durch die an sich unsichtbaren, den Freiraum durchdringenden und auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen verbunden sind). Diese unmittelbare Seherfahrung kann nicht bloß aus dem Netzhautbild, das keine hinreichenden strukturellen Züge der Perspektivität in sich einschließt, entwickelt bzw. konstruiert werden; sie scheint eher äußerlich oder projektiv in einer wirklichen Synthese zwischen dem Seh- und Lichtraum, genauer, zwischen der Seh- und Lichtpyramide zustande zu kommen. Wie aus dem zweidimensionalen Netzhautbild ein dreidimensionales Sehbild entsteht, bildete in der Geschichte einen wichtigen Gegenstand der Untersuchung nicht nur im Bereich der Ophthalmologie oder experimentellen Psychologie, sondern auch – und zwar in erster Linie – in der neuzeitlichen Epistemologie. Während der Philosoph Berkeley in seiner Abhandlung „An Essay Towards a New Theory of Vision“ ganz explizit auf diese Problematik eingeht und sie durch seine Theorie der Verschwommung der Erscheinungen in unterschiedlichen Entfernungen zu erklären versucht,32 schien sie in der Transzendentalphilosophie Kants eher implizit durch eine transzendental-epistemologische Untersuchung der subjektiven Raumvorstellung bewältigt zu werden. In der Transzendentalen Ästhetik erklärt Kant Raum als eine notwendige Vorstellung a priori, die sowohl unserer empirischen Anschauung als auch den Erscheinungen zugrunde liegt. Nach Kant sind Raum und Zeit reine Formen der Sinnlichkeit a priori, die als solche subjektive Vorstellungen (a priori) bilden. Die kantischen Begriffe wie Sinnlichkeit und empirische Anschauung beziehen sich auf alle Modi der Sinneswahrnehmung. D. h. Raum als subjektive Vorstellung oder Formen der Sinnlichkeit a priori betrifft im einzelnen den Seh-, Hör- und den (leiblichen) Tastraum sowie die räumliche Ausdehnung des Geschmacks- und Geruchssinns. Davon behandeln wir repräsentativ den Seh- und Hörraum (denn beide zeigen eine außerleibliche Ausdehnung der Domäne der 26 Sinnlichkeit bzw. der ästhetischen Subjektivität). Wie bereits erläutert wurde: wenn der Sehvorgang rein physiologisch oder psychophysiologisch untersucht wird, bleibt einem ein Rätsel, wie aus dem zweidimensionalen, winzigen, umgedrehten und sphäroidisch verzerrten Netzhautbild einen dreidimensionalen Sehraum – in großer Breite, Höhe und Tiefe – subjektiv entsteht. Während John Locke, der (nach Descartes) diese Problematik eingehend zu behandeln sucht, die Entstehung der visuellen Raumwahrnehmung in erster Linie auf eine psychologische Gewöhnung zurückführt – eine Unternehmung, die auch von Berkeley weitergeführt wurde –, versucht Kant, das Problem des fehlenden Faktums des Raumes in der Gegebenheit der Netzhautabbildung – in dem bloß sinnlichen Input im Sehvorgang – durch eine transzendental-epistemologische Bestimmung, nämlich: Raum als eine Form der Sinnlichkeit bzw. Visualität a priori, zu bewältigen. Die Apriorisierung (oder Subjektivierung) des Raumes war daher die Lösung, die Kant ganz implizit für das Problem der visuellen Raumwahrnehmung – der sinnlichen Raumwahrnehmung im allgemeinen – anbietet. Alle Beispiele, die Kant in der Transzendentalen Ästhetik zum Beleg für die Apriorität des Raumes gibt, stammen allerdings aus der Geometrie, die als Wissenschaft der räumlichen Formen und Gebilde a priori vielmehr einer theoretischen Subjektivität ihren Ursprung verdankt.33 Der geometrische Raum ist ein theoretisches Konstrukt, das – als imaginärer Raum – gegenüber dem unmittelbar visuell wahrzunehmenden ästhetisch-perspektivischen Sehraum einen anderen ontischen Status hat. Streng genommen bezieht sich die Kantische Vorstellung von der Apriorität der Raumvorstellung bloß auf einen theoretischen Raum der Geometrie, und nicht auf einen ästhetisch-perspektivischen Sehraum, der für uns grundsätzlich eine Erfahrung a posteriori ist. Während der theoretische Raum der Geometrie ein Ergebnis der produktiven Einbildung (a priori) ist, die als solche unbedingt zu der Domäne der theoretischen Subjektivität gehört, scheint unser unmittelbar empfundener perspektivischer Sehraum eine Raumerfahrung – genauer, eine Raumempfindung – a posteriori zu sein. Die Perspektivität oder die perspektivische Struktur des unmittelbaren Sehraumes ist primär nicht vom Subjekt apriorisch konstruiert, sondern eher als eine 32 Vgl. PGPVR, S. 26ff. Nach Kant entstehen die Formen der Geometrie in unserer produktiven Einbildung a priori (vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1990, S. 217-218; A 162-163, B 203-204). Die apriorische Konstruktion der geometrischen Formen und Strukturen in der produktiven Einbildung impliziert zwar das unabdingbare Faktum der ästhetischen Visualität in geometrischen Erkenntnissen (die sich daher in gewisser Hinsicht als visuelle Erkenntnisse betrachten lassen), aber deren Prinzipien sind – wie Kant es nachdrücklich betont – nicht aus der unmittelbaren Erfahrung zu gewinnen. Sie gehören zu der Sphäre 33 27 Raumempfindung oder als eine Raumerfahrung a posteriori gegeben.34 Denn die Perspektivität des unmittelbaren Sehraumes ist keine Folge einer produktiven Einbildung; das Subjekt muß sie empfinden, wie sie gegeben ist. Die Perspektivität der Erscheinungen – die perspektivische Struktur des Sehraumes im allgemeinen – ändert sich gemäß dem Stand- oder Blickpunkt des Betrachters sowie gemäß der Orientierung der betrachteten physikalischen Gegenstände im Sehraum. Beide dieser räumlichen Orientierungsmodi sind empirische Gegebenheiten a posteriori, und keine apriorischen Konstrukte des Subjekts.35 Allerdings ist die Differenzierung zwischen einem theoretischen und einem ästhetischen Raum – im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie – primär als eine epistemologische Unterscheidung nachzuvollziehen. Zwar werden dabei der theoretischgeometrische Denkraum zu der theoretischen Domäne und der ästhetisch-perspektivische Sehraum zu einer vor-logischen rein ästhetischen Domäne des Subjekts angehörig gedacht, aber gerade in bezug auf den ontischen Status des subjektiven Raumes (im allgemeinen) erweist sich eine derartige modale Differenzierung als wenig bedeutend. Denn sowohl der theoretisch-geometrische Denkraum – als Raumvorstellung a priori – als auch der ästhetischperspektivische Sehraum – als Raumerfahrung a posteriori – sind letztendlich subjektive Raummodi, die als solcher gegenüber dem objektiv-physikalischen Raum einen wesentlich anderen ontischen Status haben. Der geometrisch-theoretische Denkraum ist offensichtlich eine bloße Raumvorstellung a priori. Aber unsere visuelle Erfahrung des perspektivischen Sehraumes, obwohl er ihre Struktur ursprünglich aus dem physikalischen Lichtraum zu gewinnen scheint, ist prinzipiell im subjektiven – und nicht im objektiv-gegenständlichen – Modus. Der subjektive Sehraum hat demnach gegenüber dem physikalischen Lichtraum, der die Erscheinungen objektiv enthält, eine wesentlich andere Existenz bzw. einen wesentlichen anderen ontischen Status. Diese Tatsache wird uns klar vorkommen, wenn wir die Befindlichkeit der Erscheinungen in unserem Sehraum näher untersuchen. Wir sehen einen Gegenstand, eine Pflanze im Garten, als bloße Erscheinung. D. h. unser Sehbild dieses Gegenstands hat keine Materialität; es ist ein bloß subjektives oder mentales Bild eines objektiv-physikalisch existierenden Gegenstands. Zwischen diesem mentalen Bild und dem realen Gegenstand ist daher eine ontische Differenz – eine Differenz in der Seinsweise – aufzuweisen. Eine derartige der logisch-theoretischen Subjektivität, obwohl ihrer Apriorität – im Vergleich zu der des sprachlichen Begriffs – unweigerlich ein Element der Sinnlichkeit bzw. Visualität zugrunde liegt. 34 Vgl. PMS, S. 294-297. 28 Differenzierung wird uns klarer einleuchten, wenn wir zugleich in Betracht ziehen, daß die Empfindung der visuellen Eigenschaften des Gegenstands – insbesondere der Farbigkeit – kein gegenständlicher, sondern bloß subjektiver Ursprung ist. Diese ontische Differenz wurde bereits im Mittelalter als eine Differenz zwischen der physikalischen und der mentalen Existenz der Gegenstände vorgestellt, was schließlich zu einer über Mittelalter hinaus bis in die cartesische Neuzeit angedauerte Debatte über eine Doppelexistenz der Gegenstände veranlaßte. Nun betrachten wir eine andere wesentliche Komponente unseres Sehraumes, nämlich den Frei- oder Zwischenraum. Im Vergleich zu den Erscheinungen wird der Freiraum nicht angeschaut, aber visuell unmittelbar wahrgenommen. Denn der visuelle Freiraum hat keine Materialität, die der Gegenstand der Sehempfindung (wie die Empfindung der Farbe oder Helligkeit) sein kann.36 Wenn der Freiraum im Vergleich zu den Erscheinungen nicht empfunden wird, wie kann ein subjektiv-visueller Freiraum zustande kommen, der mehr oder weniger dieselbe perspektivische Struktur des physikalischen Lichtraumes hat? Wenn wir hierbei im Sinne der kantischen Transzendentalphilosophie eine Gegebenheit des Gegenstands und demnach der Empfindung, die der Gegenstand im Subjekt verursachen (als Ergebnis einer Affektion), annehmen, müssen wir notgedrungen eine Gegebenheit des Freiraumes – im Modus einer leeren aber perspektivischen Ausdehnung – im Sehen anerkennen. Aber eine derartige Gegebenheit läßt sich zwischen den oben erörterten ontischen Modi des Raumes – d.h. zwischen einem rein subjektiven und einem rein objektiven Raummodus – kaum differenzieren. Denn der Freiraum hat nur eine Eigenschaft, nämlich die bloße Ausdehnung, die im Vergleich zu allen anderen sinnlich-visuellen Eigenschaften – wie Farb- oder Helligkeitsempfindung – epistemologisch unreduzierbar ist bzw. sich zwischen einem subjektiven und einem objektiven Existenzmodus nicht differenzieren läßt.37 Gerade in diesem Bezug scheint eine Einheit zwischen dem visuell 35 Zur Aposteriorität der perspektivischen Raumempfindung vgl. PMS, S. 261-265. Der visuelle Freiraum ist rein physikalisch ein Luft- oder Lichtraum. Aber beide dieser physikalischen Phänomene werden vom Auge nicht gesehen. Da der freiräumliche Luft- oder Lichtraum an sich nicht gesehen wird, bleibt er im Kontext der visuellen Wahrnehmung ein leerer Raum, der keine visuell zu erfahrende Materialität hat. 37 Eine derartige epistemologische Unreduzierbarkeit des Raumes – insbesondere der räumlichen Ausdehnung der Gegenstände – bildet die Grundlage der epistemologischen Isolierung dieses fundamentalen Existenzmodus durch eine Methode der Negation (oder Absonderung), die wir öfter in der neuzeitlichen Epistemologie von Descartes bis Kant sehen. Während bei Descartes die methodische Negation aller subjektiven Attribute und Eigenschaften eines Körpers letztendlich zu einem objektiven res extensa führt, das das Wesen oder den wesentlichen Existenzmodus des Körpers ausmacht, erlangt eine derartige residuale Entität der bloß räumlichen Ausdehnung, die der methodischen Negation aller subjektiven Attribute und Eigenschaften im Gegenstand übrig bleiben soll, bei Kant keinen gegenständlichen, sondern eher einen subjektiven, genauer, einen transzendentalsubjektiven Existenzmodus – als eine Form der Sinnlichkeit a priori (vgl. Kant, a. a. O., S. 65; A 22, B 36). Man 36 29 wahrgenommenen perspektivischen Freiraum und dem physikalisch existierenden und ebenso perspektivischen Lichtraum zustande zu kommen. Daß ein perspektivischer Freiraum objektiv – als perspektivischer Lichtraum – gegeben werden soll, um ihn subjektiv im Sehvorgang wahrgenommen zu werden, besagt implizit, daß sich die Domäne des ästhetischen bzw. bloß sehenden Subjekts in den objektiv-perspektivischen Lichtraum ausdehnt. Denn aus dem gegebenen freiräumlichen und perspektivischen Lichtraum wird nichts auf der Augennetzhaut abgebildet (wie vorher erörtert wurde). D.h. es fehlt im Netzhautbild die notwendigen Daten des visuellen Freiraumes, aus denen das Subjekt bloß physiologisch bzw. neurologisch die freiräumliche Tiefenwahrnehmung entwickeln könnte. Aber lassen wir diese Tatsache beiseite. Wir nehmen an – in Anlehnung an Kant –, daß das Subjekt imstande ist, die gesamte visuelle Raumwahrnehmung allein apriorisch zu entwickeln (denn Raum ist eine Vorstellung a priori). Demgemäß vermag das ästhetische Subjekt aus dem alleinigen Input eines winzigen und zweidimensionalen Netzhautbildes den zu unermeßlichem Ausmaß ausgedehnten merke an dieser Stelle eine historische Entwicklung der Apriorisierung des Raumes. Allerdings scheint die Unreduzierbarkeit – bzw. die Unnegier- oder Unwegdenkbarkeit – des Raumes als eine rein transzendentalsubjektive Form der Sinnlichkeit a priori – wie Kant es vorstellt – letzten Endes auf der Unreduzierbarkeit oder Unwegdenkbarkeit der rein objektiven Extension des Gegenstands – also auf dem cartesischen res extensa – zu basieren. Darüber hinaus bildet das res extensa des Gegenstands – sowohl in der cartesischen Objektivierung als auch in der kantischen Apriorisierung – keine bloße Ausdehnung (die nichts materielles enthält), sondern notwendigerweise eine Behausung aller ursächlichen materiellen Elemente, die die Empfindungen im Subjekt verursachen und folglich das Subjekt zu jener logischen Synthese des begrifflichen Attributs des Gegenstands veranlassen. Denn wenn wir eine Empfindung – wie die Farb- oder Wärmeempfindung – bloß subjektiv erklären und sie als solche negieren bzw. vom Gegenstand wegdenken, negieren wir nur eine Wirkung des Gegenstands im Subjekt und nicht deren Ursache im Objekt. Wenn – in Anlehnung an Descartes und Kant – alle subjektiven Eigenschaften und Attribute vom Gegenstand weggedacht werden, bleiben alle Ursachen – oder ursächliche Elemente – dieser subjektiv empfundenen Eigenschaften und ebenso subjektiv gedachten Attribute im Gegenstand übrig. Diese residuale Existenz des Gegenstands ist keineswegs im Modus einer leeren räumlichen Ausdehnung, sondern unbedingt eine Urform der Materialität, die sich aber subjektiv nicht wahrnehmen läßt. Die bloß räumliche Ausdehnung des Gegenstands ist hier prinzipiell eine Behausung dieser vom erkennenden Subjekt völlig autonomen Urform der gegenständlichen Materialität, die das Subjekt affiziert und in ihm folglich Empfindungen und begriffliche Erkenntnisse erweckt. Hier kann man den unreduzierbaren und als solcher unwegdenkbaren Raum als Garant der dinglichen Existenz betrachten. Denn er behaust und bewahrt die ursprüngliche und ursächliche Materialität im Gegenstand, die das Subjekt zu Empfindungen und zu begrifflichen Erkenntnissen bloß veranlaßt. Diese Betrachtungen werden besonders in bezug auf die vorher erörterte ästhetische Synthese im Modus eines Nexus – zwischen der Domäne des rein ästhetischen Subjekts und der des objektiven Gegenstands – an Bedeutung gewinnen. Wenn ein Gegenstand farbig wahrgenommen wird, kommt sofort eine ästhetische Synthese zwischen der bloß subjektiven Wahrnehmung und dem farbig wahrgenommenen Gegenstand, an dem diese bloß subjektive Wahrnehmung verortet ist, zustande. Diese rein ästhetische Synthese im Modus eines Nexus könnte durch eine Metapher besser erklärt werden. Die Farbigkeit eines Gegenstands ist eine bloß subjektive Wahrnehmung. Ob die Gegenstände an sich farbig oder farblos sind, entzieht sich daher unserer ästhetisch-subjektiven Wahrnehmung. Daß das Subjekt einen Gegenstand farbig sieht, gleicht einem Prozeß, in dem es im Sehvorgang die Oberfläche des rein objektiven Gegenstands farbig malt – ein Prozeß, der in äußerster Spontaneität mit dem Sehvorgang geschieht. Die bloß subjektiv empfundene Farbe im Gegenstand ist hier wie eine Tinte, die das ästhetische Subjekt zu der Oberfläche des Gegenstands hinzufügt. Eine derartige subjektive Färbung des Gegenstands verdeutlicht die ästhetische Synthese im Sehvorgang zwischen der subjektiven und der objektiven Domäne im Modus eines Nexus. Aber um bloß subjektiv gefärbt zu werden, braucht der Gegenstand eine materielle Oberfläche – wie das Schreiben oder Malen einer materiellen Basis wie eines Blattes oder einer Tafel bedarf. Eine bloß räumliche Ausdehnung – das cartesische res extensa – kann nicht gefärbt werden. Hier kommt auch eine klare ontische Differenzierung 30 Sehraum zu entwickeln. Aber woher soll sich unser unmittelbarer und riesiger Sehraum ausdehnen – wenn nicht in den wirklichen bzw. objektiven Lichtraum selbst? Denn Raum bildet, wie bereits erörtert wurde, sowohl als ein bloß subjektiver als auch als ein objektiver Existenzmodus ein unreduzierbares Phänomen. Wenn aber der subjektiv-perspektivischer Sehraum und der objektiv-perspektivischer Lichtraum, die unterschiedliche ontische Existenzmodi aufweisen, voneinander völlig getrennt vorgestellt werden; d.h. wenn wir zwischen ihnen keinen rein ästhetisch-synthetischen Nexus anerkennen, nehmen wir stillschweigend an, daß wir gegenüber der uns gegebenen physikalischen Realität – dargestellt durch die wirklichen Erscheinungen im ebenso wirklichen bzw. physikalischen Lichtraum – völlig blind sind, und daß wir folglich unsere ganze visuelle Wahrnehmung der umgebenden Welt von vornherein virtuell konstruieren. Im folgenden wird untersucht, in wieweit eine derartige Betrachtungsweise epistemologisch plausibel ist. Nehmen wir an, daß der gesamte subjektive Sehraum ein Konstrukt des Subjekts ist, indem unsere visuelle Wahrnehmung allein aus dem geometrisch-optischen Input, nämlich der Netzhautabbildung (in beiden Augen) bloß neuronal – bzw. allein im Gehirn – entwickelt wird. Diese Netzhautabbildung, wie vorher erörtert wurde, kommt durch die Lichtstrahlen zustande, die, von den physikalischen Gegenständen reflektiert, auf den Augenpunkt konvergieren und auf die Netzhaut fallen. Die Netzhautabbildung ist daher ein rein physikalisches Phänomen; als physisch wirkliches Phänomen besteht sie aus bloß belichteten Zonen, die an sich keine Farbe haben. Daher entsteht streng genommen kein Netzhautbild aus diesem geometrisch-optischen Phänomen im Sehvorgang, denn das Bild, das sich als farbig und perspektivisch zeigt, setzt das subjektive Sehen voraus. Wir sehen nicht unsere Netzhautabbildung, sondern nur die Erscheinungen im Sehraum. Demnach nehmen wir visuell nicht die Farbigkeit und Helligkeit der Netzhautabbildung, sondern die der Erscheinungen im Sehraum wahr, die im starken Kontrast zu deren Abbildung auf der Netzhaut aufrichtig und in annähernd richtiger Entfernung, Größe und (perspektivischer) Solidität gesehen werden. Vorher haben wir eine derartige Phänomenalität des Sehvorgangs auf eine grundlegende Einheit oder einheitliche Verbundenheit zwischen dem Auge und dem Sehraum zurückgeführt, in der die Lichtstrahlen rein physikalisch die Netzhautabbildung (die allein neuronal bearbeitet zu werden scheint) mit den wirklichen Erscheinungen in einem einheitlichen optischen System verbindet. Das Ergebnis einer derartigen systematischen Vereinheitlichung der verschiedenen Komponenten im Sehvorgang ist eindeutig die zwischen einer bloß räumlichen Ausdehnung – wie dem visuellen Freiraum – und einer gegenständlich31 Entstehung eines Sehraumes als die unmittelbare visuelle Domäne des ästhetischen Subjekts. Wenn aber nur die Netzhautabbildung als Input des geometrisch-optischen Sehvorgangs angenommen wird, verzichten wir auf andere physikalische Phänomene, die sich an der Wirklichkeit des Sehvorgangs beteiligen, nämlich die Lichtstrahlen, die von den Gegenständen reflektiert werden und den äußeren Freiraum und den Innenraum des Auges durchdringen, und die wirklichen Erscheinungen im Sehraum. D. h. die Annahme der Netzhautabbildung als das einzige Input im geometrisch-optischen Sehvorgang setzt wahrnehmungstheoretisch eine Trennung der Netzhautabbildung von den anderen Phänomenen (Lichtstrahlen und die Erscheinungen), die sie zustande bringen, voraus. Wenn allein die Netzhautabbildung – unabhängig von Licht und Gegenständen, die sie zustande bringen –, neuronal bearbeitet wird, und folglich das Subjekt die gesamte visuelle Wahrnehmung aus diesem einzig gegebenen Input entwickelt, führt es unweigerlich nicht nur zu einer ontischen Differenz, sondern auch zu einer vollkommenen Abgetrenntheit des subjektiven Sehraumes von dem physikalischen Lichtraum, der die Erscheinungen enthält. Demnach – bzw. dieser ontischen Differenz und Getrenntheit entsprechend – ist der subjektive Sehraum gegenüber dem physikalisch wirklichen Lichtraum in gewisser Hinsicht für virtuell zu halten. Denn im subjektiven Sehraum – oder in der visuellen Domäne des rein ästhetischen Subjekts – sehen wir die Gegenstände als farbige Erscheinungen, die an sich und im Unterschied zu den wirklichen Gegenständen keine Materialität haben. Aber unser subjektiver Sehraum zeigt sich – ebenso wie der uns umgebende physikalische Lichtraum – eine riesige Ausdehnung. Darüber hinaus entsteht seine perspektivische Struktur ursprünglich aus der Struktur der Lichtpyramide, die dem visuellen Lichtraum zugrunde liegt. Falls der subjektive Sehraum, der gegenüber dem physikalischen Lichtraum einen wesentlich anderen ontischen Status hat, von der physisch wirklichen Welt völlig abgetrennt ist, müssen wir uns einen anderen, von dem physikalischen Lichtraum verschiedenen Raum vorstellen, in dem die visuelle Domäne des Subjekts ausgedehnt ist. Aber der Existenzmodus des Raumes – nämlich die unreduzierbare Ausgedehntheit – erlaubt es nicht, daß der subjektive und der objektive Raum ontisch für nebeneinander existierend gehalten und zugleich sinnlich und aposteriorisch ineinander verflochtet erfahren werden. materiellen Ausdehnung, die die Basis aller subjektiven Empfindungen ist, zum Vorschein. 32 In Wahrheit erfahren wir die Gegenstände im unmittelbaren Sehvorgang nicht virtuell, sondern real, obwohl unser subjektives Sehbild keine physikalische Materialität beanspruchen kann. Aber in Phänomenen wie Spiegelung oder Fata Morgana sehen wir die virtuellen Erscheinungen. Sind sie dann – in Anlehnung an unsere Auslegung, daß das unmittelbare subjektive Sehbild gegenüber den physikalisch-materiellen Gegenständen für virtuell zu halten ist – Virtualitäten von Virtualitäten? Hier müssen wir uns notwendigerweise über das bloße Sehen hinaus auf andere Sinneswahrnehmungen – vorzüglich auf den Tastsinn – stützen. Eine virtuelle Erscheinung unterscheidet sich von einer realen Erscheinung, indem wir sie nicht antasten können. Einem Baum am Ufer eines Flusses, den wir unmittelbar sehen, können wir annähern und ihn schließlich antasten; seine Spiegelung im Wasser können wir dagegen weder annähern noch antasten. Die auf der Frisierkommode und vor einem Spiegel liegenden Objekte – den Kamm, die Puderdose oder das Parfüm – vermögen wir mit der Hand zu berühren, ihre Spiegelungen sind dagegen virtuelle Erscheinungen, die sich nicht antasten lassen. Die physikalisch materielle Existenz dieser Objekte, auch wenn wir sie im bloßen Sehen nicht absichern können, wird uns hierbei allein durch das Antasten gewiß. Denn die Hände, die die Härte, Grob- und Weichheit sowie die Undurchdringlichkeit der oben erwähnten Objekte unmittelbar fühlen, gehören zum Leib, der die unmittelbare haptische Domäne unserer ästhetischen Subjektivität bildet.38 In beiden diesen Beispielen sehen wir, wie unsere Hände den wirklichen Gegenständen nähern und sie antasten. Der Moment des Tastens wird zugleich visuell und haptisch wahrgenommen. Die Sicherheit unserer haptischen Wahrnehmung – in der sichersten Domäne unserer rein ästhetischen Subjektivität, nämlich im Leib – wird in dieser Weise unmittelbar auf die Domäne unserer Visualität übertragen, so daß wir feststellen können, daß unser subjektives Sehbild (eines Gegenstands) mit dem physikalisch wirklichen Gegenstand eine Einheit bildet. 38 Ein viel einfacher experimenteller Beweis für die physikalische Realität und Materialität der unmittelbar gesehenen Gegenstände wäre der Fall, in dem wir unsere eigenen Hände – den Leib im allgemeinen – unmittelbar sehen können. Wenn ich meine eigenen Hände ansehe, bin ich spontan seiner Wirklichkeit und Materialität – bzw. seiner wirklichen und materiellen Existenz – bewußt, indem meine Hände, wie ich unmittelbar erlebe, zu meinem Leib gehört, dessen Wirklichkeit ich als ein bloß sinnlich wahrnehmendes ästhetisches Subjekt bewußt bin. 33 Exkurs: Virtualität und Realität Die sinnliche Virtualität betrachtet man gewöhnlich als hinreichenden Beweis dafür, daß die Sinnesempfindungen bloße Konstrukte des Subjekts sind, die als solche keine Objektivität beanspruchen können. Denn die virtuellen Sinnesempfindungen sind subjektiv real, aber objektiv irreal. Am ehesten erlebt man die sinnliche Virtualität im Gesichtssinn – im Phänomen der Spiegelung. Das Spiegelbild – oder die Spiegelung im Wasser sowie das Phänomen Fata Morgana – ist keine reale, sondern eine virtuelle Erscheinung. Hier müssen wir näher untersuchen, wie sich eine virtuelle Erscheinung von einer realen unterscheidet. Diesbezüglich könnte uns ein naiver Realismus zu Hilfe kommen, indem wir feststellen können, daß sich die virtuelle Erscheinung nicht antasten bzw. haptisch empfinden läßt. Dagegen vermögen wir die materielle Existenz einer realen Erscheinung vorzüglich durch unseren Tastsinn abzusichern. Epistemologisch bzw. wahrnehmungstheoretisch entsteht eine virtuelle Erscheinung im Gesichtssinn immer aus einer räumlichen Trennung des bloß subjektiven Sehbildes von dem objektiven Gegenstand. Daher sehen wir unser eigenes Spiegelbild sowie die Spiegelung unserer Umgebung getrennt von den realen Erscheinungen. Figuren 3 & 4 zeigen das Prinzip der Spiegelung.39 Figur 3 Figur 4 Das Auge sieht zugleich die reale Erscheinung und ihr virtuelles Spiegelbild, das hinter der Spiegelebene in einem ebenso virtuellen Sehraum erscheint. Das Spiegelbild des realen Gegenstands wird nicht auf der Spiegelebene, sondern in einer virtuellen Tiefe visuell wahrgenommen. Die virtuelle Erscheinung, die sich in einem virtuellen Sehraum befindet, hat keine objektive Existenz; sie ist offenbar ein subjektives Konstrukt. Das Phänomen der Spiegelung zeigt in dieser Weise die vorher erörterte ontische Differenz zwischen der ästhetischsubjektiven Domäne der Sinnlichkeit und der objektiven Domäne des empfundenen Gegenstands in aller Klarheit und Deutlichkeit. Daß die virtuelle Seherfahrung eine vom Gegenstand abgetrennte bloß subjektive Existenz hat, besagt, daß das Subjekt imstande ist, eine nicht materielle bzw. vom Gegenstand völlig losgelöste Realität zu konstruieren. Aber in einem wesentlichen Faktum werden die objektive Existenz des Gegenstands und die subjektive Realität seiner virtuellen Erscheinung (bzw. des Spiegelbildes) nicht übereinstimmen, nämlich in der räumlichen Lokalisation der Sehempfindung. Das virtuelle Spiegelbild erscheint immer getrennt 39 PMS, S. 207. 34 vom realen Gegenstand. Anders ausgedrückt, ist es unmöglich, daß das virtuelle Spiegelbild mit dem realen Gegenstand koinzidiert. Denn die Koinzidenz zwischen dem subjektiven Sehbild und dem objektiven Gegenstand ist nicht anders als der bereits erörterte ästhetisch-subjektive und synthetische Nexus zwischen der Domäne des subjektiven Gesichtssinns und der des gesehenen Gegenstands, aus dem sich die Realität der subjektiven Seherfahrung ergibt. Im Vergleich zu der virtuellen Erscheinung wird der objektive Gegenstand in seiner Realität gesehen, indem das bloß subjektive Sehbild mit ihm räumlich, genauer, räumlich-perspektivisch koinzidiert. Daraus läßt sich ein allgemeines Prinzip der Realität in der visuellen Wahrnehmung ableiten: die Realität der unmittelbaren Seherfahrung besteht darin, daß das subjektive Sehbild, das von vornherein zu der subjektiven Domäne des Gesichtssinns gehört, mit dem objektiven Gegenstand räumlich-perspektivisch koinzidiert bzw. einen ästhetisch-synthetischen Nexus bildet. Das virtuelle Sehbild – der virtuelle Sehraum im allgemeinen – kommt immer dann zustande, wenn dieser der Realität der Seherfahrung zugrunde liegende ästhetisch-synthetische Nexus abgebaut wird, bzw. wenn das subjektive Sehbild sich vom objektiven Gegenstand trennt. Von dieser räumlichen Trennung zwischen dem realen und dem virtuellen Sehbild ausgehend, läßt sich die oben eingeführte Betrachtung, nämlich die visuelle Virtualität als Beweis für die ontische Differenz oder Andersheit der subjektiven Empfindungen, methodisch umdrehen. Das Spiegelbild ist zwar ein hinreichender Beweis dafür, daß das Subjekt sein Sehbild bloß konstruieren kann. Aber diese Seherfahrung besteht nicht nur aus einem Spiegelbild, sondern auch aus dem realen Sehbild des Spiegels selbst. D. h. bis zum Spiegel ist unser Sehraum für real zu halten. Das wirkliche Sehobjekt befindet sich in diesem wirklichen Sehraum. Daher trennt die Spiegelebene einen wirklichen Sehraum von dem virtuellen. Indem wir den wirklichen Gegenstand und sein virtuelles Spiegelbild sehen, nehmen wir die vom physikalischen Gegenstand getrennte Existenz der subjektiven Domäne des Gesichtssinns und zugleich deren reale räumlichperspektive Koinzidenz mit dem objektiven Gegenstand – im Modus eines ästhetisch-synthetischen Nexus – visuell wahr. In dieser Weise bildet das Phänomen der einfachen Spiegelung nicht nur ein Beispiel für die durchaus autonome Existenz der subjektiven Domäne des Gesichtssinns, sondern auch – umgekehrt – ein treffendes Beispiel für den ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen der subjektiven Domäne des Sehens und der objektiven Domäne des gesehenen Gegenstands, dem die Sehempfindung ihre Realität verdankt. Nun stellen wir uns anstatt des Planspiegelbildes (Figur 3) ein perspektivisches Bild vor. D. h. wir photographieren das Spiegelbild und ersetzen es durch eine vollkommene Abbildung. Das perspektivische Bild erweckt nur einen Anschein der Tiefe eines Sehraumes sowie der Solidität der abgebildeten Erscheinungen, auch wenn es in der Augennetzhaut des Betrachtenden dieselbe Abbildung (wie die im Falle des Spiegelbildes) entstehen läßt. Anders ausgedrückt: das perspektivische Bild kann die Virtualität eines Spiegelbildes nicht erzeugen; es zeigt keinen eingerahmten Hohlraum, in dem die wirkliche Tiefe des Freiraumes und die wirkliche Solidität der Gegenstände virtuell gesehen wird. Dies besagt, daß die vollkommene Seherfahrung – sowohl in ihrer Realität als auch in ihrer wahren Virtualität – die Existenz eines wirklichen oder objektiven Freiraumes und die der ebenso wirklichen Erscheinungen voraussetzt. Auch wenn ein vollkommenes perspektivisches Bild ein vollkommenes Netzhautbild, das mit der Abbildung eines wirklichen Sehraumes auf der Netzhaut durchaus identisch ist, entstehen läßt, erzeugt es keine richtige virtuelle Wahrnehmung der perspektivischen Tiefe eines Sehraumes und Solidität der Erscheinungen. Denn die subjektive Domäne des Sehraumes erreicht nur bis zu einer gegenständlichen Bildebene; d. h. sie dringt nicht einen wirklichen perspektivischen Freiraum (oder 35 Lichtraum) durch und erreicht keine objektiv soliden Gegenstände, sondern nur ihre flachen Abbildungen.40 Daß das Spiegelbild als eine virtuelle Erscheinung hinter der Spiegelebene und in unmittelbarer – d.h. unabgelenkter – Gerichtetheit des Sehens zustande kommt, könnte auf die Gewöhnung des ästhetischen Subjekts an die Geradheit oder Richtungskonstanz des Blicks in wirklicher und unmittelbarer Seherfahrung zurückgeführt werden. Denn im Alltag sehen wir die Gegenstände meistens nicht virtuell-gespiegelt, sondern real in einem unmittelbaren Gerichtetsein des Blicks, das prinzipiell aus der direkten Verbindung zwischen dem Netzhautbild und den Erscheinungen durch gerade Lichtstrahlen entsteht 41 Eine ähnliche Gewöhnung scheint die von Descartes selbst thematisierte Virtualität im leiblichen Tastsinn zu verursachen. In Meditationen erwähnt Descartes den Fall, wie das Subjekt einen amputierten Körperteil – eine Hand oder einen Bein – als existierend empfindet: „Gleichwohl habe ich früher einmal von Menschen gehört, denen man ein Bein oder einen Arm abgeschnitten hatte, und die trotzdem bisweilen in dem ihnen fehlenden Körperteile Schmerz zu empfinden vermeinten, und daher schien es auch bei mir nicht durchaus sicher zu sein, ob ein Glied mich wirklich schmerzte, selbst wenn ich Schmerz in ihm empfand.“42 Descartes gibt dieses Beispiel, um hauptsächlich zu erklären, wie unsere inneren Sinne uns täuschend wirken. Aber es verdeutlicht in erster Linie die Virtualität in der leiblichen Domäne des Subjekts, die am nächsten mit der (leiblichen) Domäne des Tastsinns verbunden ist. Denn Scherz ist hier eine im Innen des Leibes lokalisierte Empfindung, die mehr oder weniger einer schmerzhaften Wärmeempfindung – beim Antasten eines überhitzten Gegenstands – analog ist. Wir fassen die leibliche Wirkungssphäre verschiedener Empfindungen, die nach Descartes sowohl durch die äußeren Sinnesvermögen wie Tast-, Geschmacks- oder Geruchssinn als auch durch die inneren Zustände wie Schmerz, Hunger oder Durst entstehen, im allgemeinen als die Domäne des Leibes auf (die aber grundsätzlich die leiblich ausgedehnte ästhetisch-subjektive Domäne ist). Die Schmerzempfindung in einem Körperteil, die bereits amputiert ist bzw. physikalisch nicht existiert, ist eine Virtualität in der leiblich ausgedehnten Domäne des ästhetischen Subjekts, weil ihre Lokalisation außerleiblich ist. Hier ist das bereits erörterte Prinzip der Virtualität, nämlich die Trennung der rein subjektiven Domäne der Empfindung von einer gegenständlichen bzw. leiblichen Domäne oder Wirkungssphäre, zu erkennen. Wie die visuelle Virtualität eines Spiegelbildes auf eine räumliche Trennung dieses bloß subjektiven Sehbildes von dem gesehenen Gegenstand zurückzuführen ist, basiert die Virtualität eines Phantomlimbs auf der Trennung der Lokalisation seiner subjektiven Empfindung (dargestellt am Beispiel des Phantomschmerzes in einer amputierten bzw. nicht existierenden Hand) von dem physikalisch-gegenständlichen Leib. Das Phänomen des Phantomlimbs ist ein klarer Beleg dafür, daß die innerleibliche Schmerzempfindung ursprünglich eine bloß subjektive Empfindung ist bzw. von vornherein zu der Domäne des ästhetischen Subjekts gehört. Aber zugleich beweist es, daß die Domäne des ästhetischen Subjekts in ihrer Wirklichkeit leiblich ausgedehnt ist – oder mit dem Leib in einem synthetischen Nexus verbunden ist. Denn im Vergleich zu der virtuellen Schmerzempfindung im (nicht existierenden) Phantomlimb bilden die leiblichen Empfindungen bis zu der leiblichen Grenze der amputierten Hand eine Realität, die wir unmittelbar erfahren. Die Schmerzempfindung im amputierten Körperteil ist nur objektiv irreal; in der Domäne des ästhetischen Subjekts ist sie für subjektiv real zu halten. Daher ist Virtualität jener Art der Sinnesempfindung zugleich objektiv irreal und subjektiv real; die Wirklichkeit der Sinnesempfindungen setzt dagegen eine Verbundenheit – einen synthetischen Nexus – zwischen der Domäne des ästhetischen Subjekts und der des 40 41 PGPVR, S. 80ff. Zur visuellen Virtualität und Realität vgl. PMS, S. 204-212. 36 empfundenen Gegenstands vor. Während die sinnliche Realität unweigerlich durch diese ästhetische Synthese gekennzeichnet ist, zeigt die sinnliche Virtualität ihr Fehlen – ihre Abwesenheit bzw. die räumliche Abgetrenntheit der Domäne des ästhetischen Subjekts von der des Gegenstands. Das Phänomen des Phantomlimbs veranlaßt uns dazu, daß wir dieses Prinzip sowohl in der Realität als auch in der Virtualität der unmittelbaren leiblichen Empfindungen erkennen – und zwar deutlicher als in der Realität und Virtualität der außerleiblichen Seh- und Hörempfindungen. Denn das ästhetische Subjekt ist der Wirklichkeit des Leibes am ehesten bewußt. Eine derartige Einheit zwischen dem subjektiven Sehbild und seinem physikalischen Gegenstand kann nur im Modus einer ästhetisch-subjektiven Synthese zustande kommen. Diese ästhetisch-subjektive Synthese – zwischen einer bloß subjektiven Empfindung und einem objektiven Gegenstand – ist aber kein compositio, sondern unbedingt ein nexus, wie vorher erörtert wurde. Eine ästhetisch-synthetische Komposition (im Modus einer Vereinheitlichung) ist hier nicht möglich, denn die subjektiven Empfindungen und die objektive Gegenständlichkeit durchaus verschiedene Existenzen – oder Seinsmodi – aufweisen. Vorher haben wir den ästhetisch-subjektiven und synthetischen Nexus zwischen einer subjektiv-haptischen Empfindung und ihrem objektiv-ursächlichen Gegenstand erläutert. Wir sind der Realität einer derartigen ästhetisch-subjektiven Synthese – zwischen Subjekt und Gegenstand – vor allem gewiß, indem die Gegenstände mit unserem Leib in unmittelbarer Berührung kommen. In den oben erläuterten Beispielen ist zu erkennen, wie eine ästhetische Synthese in der unmittelbaren visuellen Domäne unserer ästhetischen Subjektivität – zwischen dem subjektiven Sehbild und dem objektiven Gegenstand – zustande kommt, die der bereits erörterten ästhetischen Synthese zwischen einem bloß haptisch empfindenden Subjekt und dem haptisch empfundenen bzw. angetasteten Gegenstand analog ist. Allerdings unterscheidet sich diese ästhetische Synthese in der Domäne der Visualität – in der Domäne des Sehraumes – von der in der Domäne des Leibes darin, daß das unmittelbare Sehen im Gegensatz zum leiblichen Antasten notwendigerweise eine Distanz zwischen dem Augenpunkt und dem Gegenstand voraussetzt, wie bereits erwähnt wurde. Wenn wir unmittelbar sehen, daß unsere Hand einen Gegenstand antastet, koinzidieren sich zeitlich und räumlich unsere visuellen und haptischen Wahrnehmungen dieses Vorgangs. Demnach ist die leibliche Lokalisation der haptischen Empfindung der außerleiblichen Lokalisation der visuellen Empfindung im Sehraum für analog zu halten. D. h. ebenso wir das Tasten in unserem Leib lokalisiert empfinden, empfinden wir die Sicht eines sich in unserem 42 Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 66. 37 Sehraum befindenden Gegenstands, die in Wirklichkeit die visuelle Empfindung der Farbigkeit, Helligkeit und Ausdehnung des Gegenstands ist, im Gegenstand selbst lokalisiert. Daraus läßt sich eine grundlegende Analogie zwischen der leiblichen Domäne des Tast- oder Geschmackssinns und der außerleiblichen Domäne des Gesichtssinns, die in Wirklichkeit einen ästhetisch-subjektiven Nexus zwischen dem subjektiven Sehraum und dem objektivphysikalischen Lichtraum (der die ebenso physikalischen Gegenstände enthält) bildet, ableiten. Eine derartige Analogisierung hat zur Folge, daß wir es annehmen müssen, daß sich die rein ästhetische Subjektivität in einem objektiven bzw. physikalisch wirklichen Sehraum ausdehnt, ebenso sie im Rahmen des Tast- oder Geschmackssinns im objektiven Leib ausgedehnt ist. Das materielle Medium, durch das sich die ästhetische Subjektivität im physikalisch wirklichen Sehraum ausdehnt, kann allein das Licht sein, das als solches dem Leib, der Domäne des Tast- und Geschmackssinns, analog ist. Denn das Licht ist der einzige fremde Gegenstand, der beim Sehvorgang im Auge zugelassen wird, und der folglich das Netzhautbild mit den wirklichen Erscheinungen verbindet. Wenn das Licht fehlt, hört man auf zu sehen. Kurzum: wie der Leib das physikalisch-materielle Medium ist, in dem die Domäne des ästhetischen bzw. haptisch oder geschmacklich empfindenden Subjekts ausgedehnt ist, bildet das außerleibliche Licht das materielle Medium, in dem sich die visuelle Domäne des ästhetischen Subjekts ausdehnt. In dem bereits erörterten ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Sehraum und dem objektiven Lichtraum ist ein Sehbild, das in Wirklichkeit von bloß subjektiven Empfindungen wie Farben, Gradation der Helligkeit etc. zusammengesetzt ist, mit den räumlich ausgedehnten Gegenständen verknüpft. Die Basis dieses subjektiven ästhetischsynthetischen Nexus ist offensichtlich die bloße Materialität der Gegenstände, die räumlich ausgedehnt ist, und die an sich nicht die vom Subjekt empfundenen sinnlichen Eigenschaften, sondern nur ihre materiellen Ursachen besitzt.43 Wie vorher erörtert wurde, wird das res extensa des Gegenstands, dem Descartes einen vom wahrnehmenden Subjekt völlig autonomen ontischen Status zuschreibt, hierbei zum Träger aller materiellen Ursächlichkeiten im Gegenstand, die im Subjekt sowohl die rein ästhetischen Empfindungen als auch die logisch-begrifflichen Erkenntnisse verursachen, und mit denen die theoretischen oder begrifflichen Attribute und sinnlichen Empfindungen des Subjekts im Modus eines subjektiv43 Vgl. Anmerkung 37. 38 synthetischen Nexus bloß verbunden sind. Die räumliche Ausdehnung – das res extensa – des Gegenstands ist demnach der Träger und als solcher das Garant der gegenständlichen Existenz gegenüber einem sinnlich empfindenden und logisch-begrifflich erkennenden Subjekt. Der ästhetisch-synthetische Nexus der Empfindungen mit der bloßen Materialität des Gegenstands ist unter verschiedenen Modi der Sinnesempfindungen ein analoges Phänomen. Wir haben bisher in diesem Zusammenhang zwei leibliche Sinnesvermögen, nämlich den Tast- und Geschmackssinn, und ein außerleibliches oder über den Leib hinausgehenden Sinnesvermögen, nämlich den Gesichtssinn, erörtert. Wie wir die Kälte der Schnee leiblich in der Berührungsebene zwischen dem baren Fuß und der Schnee lokalisiert empfinden, empfinden wir visuell die Weiße der Schnee oder die Farbe einer Blume im Gegenstand selbst lokalisiert. Bei der Berührung zwischen dem leiblichen Fuß und der Schnee kommt epistemologisch eine rein ästhetische Synthese zwischen einer gegenständlich-materiellen Ursächlichkeit und einer bloß subjektiven Empfindung – nämlich die haptische Kälteempfindung, die die Wirkung einer bestimmten materiellen Ursächlichkeit im Subjekt ist – im Modus eines Nexus. Ebenso wird unsere subjektive Farbempfindung mit der bloß materiellen Oberfläche des Gegenstands – der Schnee oder der Blume –, die an sich nicht farbig ist (sondern nur eine potentielle objektive Ursächlichkeit der subjektiven Farbempfindung trägt), im Modus eines ästhetisch-synthetischen Nexus verknüpft. Hier gehört die Farbigkeit des Gegenstands zu der Domäne des ästhetischen Subjekts, aber deren gegenständliche Basis, nämlich die räumlich ausgedehnte materielle Oberfläche zu der Domäne der vom Subjekt völlig verschiedenen objektiven Wirklichkeit oder Phänomenalität. Die Analogie zwischen der Tast- und Sehempfindung verdeutlicht, wie unser bloß subjektives und räumliches Sehbild mit dem objektiven bzw. physikalisch wirklichen Gegenstand, sowie unsere unmittelbare Tastempfindung mit dem angetasteten Gegenstand im analogen Modus eines ästhetisch-synthetischen Nexus verknüpft sind. Aber diese Analogie setzt eine Erkenntnis voraus, daß die Ausdehnung der Domäne des Tastsinns im Leib der Ausdehnung der Domäne des Gesichtssinns im physikalischen Lichtraum für analog zu halten ist (wie bereits erörtert wurde). Hier taucht ein wesentliches Problem auf: wie kann sich unsere ästhetische Subjektivität in einem außerleiblichen und bloß physikalischen Medium des 39 Lichtraumes44 ausdehnen – in ähnlicher Weise wie der Tastsinn im organischen Leib ausgedehnt ist? Unser Leib ist im Vergleich zum physikalischen Licht ein lebendiger organischer Gegenstand. Die Domäne des Tastsinns kann nur der lebendige Leib und kein anorganischer physikalischer Gegenstand sein. Wir empfinden Kälte, Wärme oder Druck eines materiellen Gegenstands, entweder wenn der Gegenstand in unmittelbarer Berührung mit dem Leib kommt, oder dieser Gegenstand durch ein materielles Medium – wie Stahl, durch den die Kälte, Wärme oder der Druck vom Gegenstand auf den Körper übertragen werden können – verbunden ist.45 Aber eine derartige Mediation ist mit der leiblichen Ausdehnung des Tastsinns nicht gleichzusetzen, denn das Subjekt hat die Empfindung wiederum in einer Berührungsebene zwischen dem lebendigen Leib und dem anorganischen materiellen Medium. Aber auch als ein organisches Wesen ist der Leib ein physikalisches Phänomen, das gegenüber der subjektiven Tastempfindung einen wesentlich anderen ontischen Status hat, wie vorher erörtert wurde. Hierbei müssen wir erneut auf die cartesische Betonung stützen, daß der Schmerz im Fuß – ebenso wie die Sensation der Kälte im Fuß – nicht vom Fuß, sondern vom Subjekt empfunden wird. D. h. der Fuß selbst bildet keinen Ursprung bzw. Urheber der Scherz- oder Kälteempfindung. Wenn wir annehmen, daß der Schmerz oder die Kälte durch das Gehirn, das mit dem Fuß durch zahlreiche Nerven verbunden ist, empfunden wird, bleibt die Lokalisation der Schmerz- oder Kälteempfindung im Fuß ein physiologischphysikalisches Rätsel – ebenso wie es ein rätselhaftes epistemologisches Problem bildet. Denn der Fuß schließt in sich kein Teil des Gehirns, das die Sensation der Kälte oder des Schmerzes am Ort bearbeiten kann. Die mit dem Gehirn verbundenen Nerven sind im ganzen Leib verbreitet, aber sie füllen nicht lückenlos die gesamte Ausdehnung des lebendigen Leibs. Dennoch vermögen wir die haptischen Sensationen wie Kälte, Wärme oder Druck an jedem Punkt auf der Haut genau lokalisiert wahrzunehmen. Wir stellen aber in Anlehnung an Descartes fest, daß es letztendlich nicht das Gehirn, sondern das Subjekt, das durchs Gehirn die haptischen Sensationen im Leib lokalisiert empfindet. Die ästhetisch-subjektive Sensation und der physikalische Leib, der die Domäne der subjektiven Sensationen ist, sind zwei voneinander völlig verschiedene Existenzmodi (oder ontische Realitäten). Daher ist die 44 Hier kann man nicht annehmen, daß die ästhetische Subjektivität bloß im Sehraum – ohne die Medialität des Lichts – ausgedehnt ist. Denn der physikalische Sehraum ist notwendigerweise ein Lichtraum – also ein Raum, der durch Licht gefüllt ist. Darüber hinaus ist das Licht ein notwendiges physikalisches Phänomen, das allein vom Außen im Auge zugelassen wird, und erst durch dessen Medialität (zwischen Gegenständen und dem Auge – im weiteren Sinne dem Subjekt) das Sehen sich ereignet. 45 In diesem Fall bildet das materielle Medium, das der Leib mit dem zu empfindenden Gegenstand verbindet, eine Einheit mit dem Gegenstand. 40 leibliche Ausdehnung des ästhetischen Subjekts ist ein ebenso rätselhaftes Phänomen wie die von uns vorgestellte Ausdehnung des ästhetischen Subjekts in einem visuellen und physikalischen Lichtraum. Rein physikalisch oder physiologisch läßt sich das Phänomen der Subjektivität nicht entschlüsseln. Denn das Subjekt ist, wie Descartes es nachdrücklich betont, dem physis nicht unterworfen; d.h. es hat gegenüber den physikalischen Phänomenen einen wesentlich anderen Existenzmodus.46 Daher wäre es ungereimt, wenn wir einerseits die Ausdehnung des subjektiven Tastsinns im organischen Leib anerkennen und zugleich die Ausdehnung des ebenso subjektiven Gesichtssinns in einem physikalischen Lichtraum ablehnen. Sowohl der organische Leib als auch das anorganische Licht sind letztendlich physikalische Phänomene. Es scheint auch ungereimt zu sein, wenn wir das Licht als ein bloß physikalisches Phänomen bestimmen und es als solches gegenüber dem organischen Leib epistemologisch herabsetzen. Denn wir wissen nicht genau, wie das Wesen des Lichts ist, das das Subjekt zur Sicht der Außenwelt veranlaßt. Rein physiologisch haben wir das Licht, das ein physikalisch-anorganischer Gegenstand ist, in dem ophthalmologischen Prozeß des Sehens zugelassen, da das Licht die Erscheinungen auf der Netzhaut abbildet. Daß das Gehirn die Netzhautabbildung als Input hat, besagt auch, daß der physiologische Vorgang des Sehens das physikalische Licht als sein Hauptgegenstand hat, oder daß das physikalische Licht in der Physiologie des Sehens unmittelbar einbezogen ist. Diese Tatsache deutet darauf hin, daß der Gesichtssinn mit dem Licht verbunden ist – wie der Tastsinn mit dem Leib; oder, anders ausgedrückt, zwischen der Verbundenheit der Domäne des Sehens mit dem Licht und der der Domäne des Tastens mit dem Leib eine Analogie aufzuweisen ist. Ein anderes Problem, das in unserer Untersuchung auftaucht, wenn wir die Ausdehnung der Domäne des Gesichtssinns im physikalischen Lichtraum annehmen, ist die riesige Ausdehnung dieser Domäne des ästhetischen Subjekts selbst. Es wird uns schwer fällen, sich vorzustellen, daß die Domäne oder Sphäre unserer Subjektivität eine unermeßlich große Ausdehnung erlangen kann. Theoretisch soll dann in der ästhetischen Domäne des Gesichtssinns alle Erscheinungen in richtiger Größe und Entfernung wahrgenommen werden, 46 Darauf verweist eine Bemerkung der Prinzessin Elisabeth über die Natur der Seele (in ihrem Brief vom 1. Juli 1643 an Descartes), die im Prinzip ihre Reaktion auf die Ansicht Descartes über die sinnliche Erkennbarkeit der Union zwischen Leib und Seele ist, die aber letztendlich ein Argument gegen die cartesische Grundvorstellung von einer nicht ausgedehnten Seele bildet: „I see also that the senses show me that the soul moves the body, but that they do not show me really (any more than the Understanding or the Imagination does) the way in which it does. For that, I think, there are properties of the soul, unknown to us, which could, perhaps, overturn what your Meditations persuaded me of with such good arguments: that is, the nonextension of soul.“ (vgl. Anhang, S. 54). 41 denn sie alle werden durch die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen mit dem Auge verbunden. Aber eine derartige visuelle Wahrnehmung entspricht kaum unserer wirklichen Seherfahrung. Wir sehen die uns nahen Erscheinungen mehr oder weniger in richtiger Größe und Entfernung; diese Seherfahrung entspricht auch der perspektivischen Struktur des Lichtraumes, der als solche annäherungsweise eine Identität mit dem unmittelbar erfahrenen Sehraum zu bilden scheint. Aber die weit entfernten Erscheinungen, wie die Bäume auf einem Berg, Wolken bis zu den im Nachthimmel sichtbaren Himmelskörpern wie Mond, werden nicht in richtiger Entfernung und Größe visuell wahrgenommen. Man sieht diese Gegenstände demnach nicht in ihrer Realität, sondern in ihrer Virtualität – als virtuelle Erscheinungen. Dies besagt, daß unser unmittelbarer Sehraum von realen und virtuellen Erscheinungen zusammengesetzt ist, und daß seine Struktur gerade in der Größen- und Tiefenwahrnehmung eine Gradation der Realität aufweist. Man kann eine derartige Gradation der Realität des Sehraumes, durch die wir die nahen Erscheinungen viel realer bzw. in annähernd richtiger Größe und Entfernung wahrnehmen als die weit entfernten, als eine Gradation der Intensität des Sehraumes betrachten. Demnach variiert die Intensität des Sehraumes bzw. sie vermindert sich gemäß der Entfernung des Gegenstands vom Augenpunkt. Diese Gradation der Realität oder Intensität des Sehraumes läßt sich im Kontext des bereits erörterten ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem räumlichen Sehbild – der Domäne des Gesichtssinns – und der physikalischen Domäne der Erscheinungen im Lichtraum leicht erklären. Wir haben vorher erörtert, wie die Virtualität entsteht, wenn dieser synthetische Nexus aufhört bzw. wenn das subjektive Sehbild sich von seiner gegenständlichen Basis trennt. Wie wir unmittelbar visuell erfahren, ist dieser ästhetischsynthetische Nexus – zwischen dem subjektiven Sehbild und dem physikalisch objektiven Gegenstand – im Fall der uns nahen Erscheinungen viel vollkommener als im Fall der fernen Erscheinungen. D. h. der Tiefe unserer wirklichen Sehraum entsprechend, entsteht eine graduelle Trennung zwischen dem subjektiven Sehbild und dem objektiven Gegenstand – bis zu dem Ausmaß, daß wir eine in Wirklichkeit riesige Erscheinung wie Mond in extrem unwirklicher Größe und Entfernung sehen. Immerhin wird diese virtuelle Erscheinung des Monds durch dieselbe Lichtstrahlen mit unserem Augenpunkt verbunden, die, von dem wirklichen Mond reflektiert, auf unsere Augen fallen. Die winzige Erscheinung des Monds oder der Sonne in der Himmelsebene (bzw. auf der Grenzebene unseres Sehraumes) wird auch dadurch veranlaßt, daß der Mond oder die Sonne von uns weit entfernt ist, und folglich die Mond- oder Sonnenstrahlen (bzw. vom Mond reflektierten oder von der Sonne ausgesandten) einen sehr winzigen Winkel mit dem Augenpunkt bilden. Hier kann man annehmen, daß die 42 Domäne unseres Gesichtssinns sich nur bis zu einer Himmelsebene ausdehnt, wo der Mond virtuell erscheint. Die Erscheinungen, die uns sehr nahe liegen, vermögen wir aufgrund der hohen Intensität des Sehraumes sehr präzis bzw. in richtiger Größe, Entfernung und Solidität47 wahrzunehmen. Dagegen erscheinen uns die vom Augenpunkt entfernten Gegenstände kaum in ihrer richtigen Größe und Solidität; ebenso ungenauer wird die visuelle Wahrnehmung der zwischenräumlichen Distanzen bzw. der horizontalen Abstände und orthogonalen Tiefen zwischen den Erscheinungen. Schließlich sehen wir die weitesten Erscheinungen – wie die Himmelskörper – im Vergleich zu ihrer richtigen Größe und Entfernung extrem klein und flach auf einer ebenso zweidimensional gewölbt erscheinenden Himmelsebene, die die Grenze unseres Sehraumes und demnach die Grenze der visuellen Domäne unserer ästhetischen Subjektivität ist. Die Gradation bzw. orthogonale Verminderung der Intensität des Sehraumes ist ein unmittelbar visuell zu erfahrendes Phänomen, das auf den Grad der Verbundenheit oder des ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Sehbild und dem objektiven Gegenstand im Lichtraum zurückzuführen ist. Neben dem Sehraum erweist sich unser Hörraum als eine außerleibliche Ausdehnung der Domäne der ästhetischen Subjektivität. Wie der Gesichtssinn dehnt sich der Gehörsinn über unseren Leib hinaus in dem uns umgebenden Raum aus. Wir nehmen die Stimmen, Klänge oder Geräusche wahr, als ob sie aus den wirklichen Ursprungsorten bzw. den Gegenständen in 47 Hierbei ist wichtig zu erwähnen, daß wir in unserem Sehraum die Ausdehnung der Erscheinungen nicht an sich wahrnehmen, sondern sie kommt uns nur in ihrer perspektivisch modulierten Größe und Solidität vor. Die perspektivische Größe, Entfernung und Solidität der Erscheinungen sind durch die perspektivische Struktur der Lichtpyramide, deren Spitze im Augenpunkt liegt, bestimmt; sie entsprechen fast der geometrisch-optischen und perspektivischen Struktur des uns nahen Sehraumes – aber nicht ganz. In Figur 1 (durch die wir das object size consistency bei der Größen- und Entfernungswahrnehmung im Sehen erklärt haben) sollten wir im Prinzip – gemäß der perspektivischen Struktur des Sehraumes - das Sehobjekt in beiden ihren Positionierungen (X1 und X2) in derselben Größe wahrnehmen. Denn die Lichtstrahlen verbinden dieselbe Erscheinung mit dem Augenpunkt. Aber der Gegenstand in der Position X2 wird ein bißchen kleiner als der Gegenstand in der ursprünglichen Position (X1) erscheinen. Denn in der Position X2 wird der Gegenstand in Relation zu einem größeren Sehbild wahrgenommen, so daß er uns im Vergleich zu seiner Erscheinung in der ersten Position ein bißchen verkleinert vorkommen wird. Allerdings kommt die erhebliche Reduktion der Erscheinungsgröße des Gegenstands in großer Entfernung (wie die des Baumes auf einem weit entfernten Berg) durch die bereits erörterte Trennung des Sehbildes vom Gegenstand – oder, in anderen Worten, aufgrund der erheblich verringerten Intensität des Sehraumes – zustande. In diesem Fall erreicht das Sehbild den wirklichen Gegenstand nicht; es erscheint perspektivisch bzw. in perspektivischer Formhaftigkeit vor und in einem Abstand von dem Gegenstand. Die Grenze der Erreichbarkeit des wirklichen Sehbildes ist zugleich die Grenze unseres Sehraumes bzw. die Grenze der Domäne unseres Sehens selbst, die wir gewöhnlich an den Erscheinungen der Himmelskörper erfahren. Hier ist erneut zu betonen, daß die Größen- und Entfernungswahrnehmung der Gegenstände in dieser Weise unabhängig von den Abbildungsgrößen auf der Netzhaut zustande kommt, indem der Sehvorgang sich in einer Einheit zwischen dem Auge und dem Sehraum ereignet, oder indem die Gegenstände von einem in einer Domäne des unmittelbaren Seh- und Lichtraumes ausgedehnten Subjekt wahrgenommen werden. 43 einem Hörraum stammen. Die Stimme eines Menschen – bei einem Gespräch oder einer Rede – wird an seinem Mund lokalisiert empfunden. Die außerleibliche Lokalisation der Hörempfindung ist ein Phänomen, das wir stets in unserem Alltag erfahren. In unserem Garten oder im Wald hören wir die Stimme der Vögel aus verschiedenen Richtungen und Ursprungsorten. Wenn ein Vogel singt und zugleich vorbeifliegt, hören wir den Gesang des Vogels im freien Luftraum wandernd bzw. im fliegenden Vogel lokalisiert. Ebenso hören wir den Galopp eines Pferds in ihren rapiden Fußstapfen lokalisiert und demnach in einem Hörraum bewegend. In diesen und in ähnlichen Fällen kann die Lokalisation der Stimmen und Geräusche nicht nur im Gehörsinn, sondern auch im Gesichtssinn empfunden bzw. unmittelbar gesehen werden. Wenn wir die Stimme eines uns frontal stehenden Menschen hören, empfinden wir sie an seinem sichtbar beweglichen Mund lokalisiert. In gewisser Hinsicht wird hier die Stimme zugleich auditiv und visuell – am Mund des Sprechenden lokalisiert – empfunden. Zwar trägt die unmittelbare Sichtbarkeit des Ursprungsortes der Stimme oder Geräusche zu unserer präzisen Wahrnehmung ihrer außerleiblichen Lokalisation wesentlich bei, aber diese Eigenschaft des Gehörsinns bedarf einer derartigen Begleitung des Gesichtssinns nicht. Wir empfinden Stimmen und Geräusche in ihren Ursprungsorten lokalisiert, auch wenn wir die gegenständlichen Quellen unserer Hörempfindung nicht sehen bzw. wenn sie außerhalb unseres perspektivischen Sehraumes liegen oder von unserer Sicht versteckt bleiben. Unser Hörraum ist im Vergleich zu unserem Sehraum nicht perspektivisch; er dehnt sich um uns herum prinzipiell in einem Luftraum. Wenn wir aber die Quellen der Stimmen und Geräuche sehen, wird dadurch unsere ästhetisch-subjekitve Wahrnehmung ihrer gegenständlichen Lokalisation viel präziser. Denn in diesem Fall schneiden die Domänen von zwei Sinnesvermögen miteinander, so daß das Subjekt einen vollkommeneren und präziseren ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen ihnen (bzw. den Domänen des Gehör- und Gesichtssinns) und dem empfundenen Gegenstand zu leisten vermag. Nun untersuchen wir, wie und wieweit die außerleibliche räumliche Lokalisation der Hörempfindung zu der der Sehempfindung eine Analogie bildet. Eine einfache und unmittelbare Analogie zwischen dem Gesichts- und Gehörsinn in diesem Bezug wäre, daß wir die Farbe eines Gegenstands am Gegenstand selbst lokalisiert sehen, wie wir die Stimme eines Menschen oder den Klang eines Gegenstands am Gegenstand selbst – an dem bewegenden Mund oder an einem klingelnden Telefonapparat am Schreibtisch – lokalisiert 44 hören. Wie der gesehene Gegenstand durch das Licht mit dem sehenden Auge verbunden ist, fungiert vorzüglich ein Luftraum als Medium zwischen dem gehörten Gegenstand und dem Ohr. Wiederum läßt sich zwischen der Augennetzhaut, die die von Gegenständen reflektierten Lichtstrahlen – oder Lichtwellen - empfängt, und der Ohrtrompete, die die von vibrierenden Gegenständen ausgesandten Luftwellen empfängt, eine Analogie aufweisen. Wie das bloß aus Lichtzonen bestehende Netzhautbild im Sehvorgang bildet die durch verschiedene Luftwellen verursachten Vibrationen der Ohrtrompete das einzige Input im Vorgang des Hörens. Dieses Input enthält streng genommen keine Daten der Richtung der Luftwellen sowie der räumlichen Distanz des gehörten Gegenstands, von dem die Luftwellen ausgesandt werden. D. h. die rein mechanische Vibration der Ohrtrompete schließt in sich wesentlich nichts von der freiräumlichen Richtung und Distanz der am Gegenstand lokalisierten Hörempfindung. Hierbei brauchen wir die bereits eingeführten epistemologischen Auslegungen nicht zu wiederholen, um zu bestimmen, wie sich die Domäne unseres ästhetisch-subjektiven Gehörsinns in einem Luftraum ausdehnt – ebenso wie die subjektive Domäne des Sehens in einem perspektivischen Lichtraum ausgedehnt ist. Zwischen dem subjektiven Hörraum und dem objektiven Luftraum – ebenso wie zwischen dem Sehraum und dem Lichtraum – läßt sich eine ontische Differenz aufweisen. D. h. der rein subjektive Hörraum hat einen anderen Seins- oder Existenzmodus als der physikalische Luftraum. In Analogie zu dem bereits erörterten Sehvorgang kommt auch im Hörvorgang ein subjektiv-synthetischer Nexus zwischen dem Hörraum und dem Luftraum – demgemäß zwischen der gegenständlichen Lokalisation der Hörempfindung und dem Gegenstand selbst – zustande.48 Versuchen wir wie vorher, diese Vorstellung, die uns unsere unmittelbare Erfahrung liefert, zu bekämpfen. Nehmen wir an, daß die Vibration der Ohrtrompete das einzige Input im physiologischen Hörvorgang ist, die als solches von den Luftwellen völlig getrennt bearbeitet wird. Wenn unsere Hörempfindung aus diesem Input allein bloß neuronal – im Gehirn – entwickelt wird, hat ein derartiger Hörvorgang theoretisch mit dem außerleiblichen Luftraum nichts zu tun. Aber das Ergebnis unseres Hörvorgangs, nämlich einen Hörraum, erfahren wir 48 Den (ästhetisch-subjektiven) synthetischen Nexus zwischen dem Sehraum und dem Lichtraum kann man noch präziser – von der analogen perspektivischen Struktur des Seh- und Lichtraumes ausgehend – als eine Einheit (im Modus eines Nexus) zwischen den physikalischen Lichtstrahlen und den subjektiven Sehstrahlen vorstellen (hierzu vgl. PMS, S. 204ff.; PGPVR, S. 78ff.). Ebenso kann man den synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Hörraum und dem objektiv-medialen Luftraum als einen einheitlichen synthetischen Nexus zwischen den physikalischen Luftwellen und den subjektiven Hörwellen vorstellen. 45 ebenso wie den Sehraum subjektiv und als unbedingt räumlich ausgedehnt. Wenn wir uns vorstellen, daß unser rein subjektiver Hörraum von dem uns umgebenden und vorwiegend durch Luft gefüllten Raum völlig getrennt existiert, nehmen wir stillschweigend an, daß der subjektive Hörraum und der objektive Luftraum zwei nebeneinander existierende Raummodi sind. Aber in unmittelbarer Hörempfindung erfahren wir, daß diese ontisch vollkommen verschiedenen Raummodi sich verflochten. Daraus ergibt sich eindeutig eine Ungereimtheit zwischen der ontologischen Auslegung und der epistemologischen Erfahrung des Hörraumes. Wie bereits erörtert wurde, kann das einzige Attribut des Freiraumes, nämlich die unreduzierbare Ausdehnung, eine völlige Abgetrenntheit zwischen dem subjektiven Hörraum und dem physikalisch-gegenständlichen Luftraum kaum zubilligen. Denn wenn der subjektive Hörraum von dem physikalischen Luftraum völlig getrennt ist, wo soll er in seiner räumlichen Ausdehnung wirklich existieren bzw. wo soll das Subjekt diese seine räumlich ausgedehnte und wirkliche Domäne projizieren oder platzieren – wenn nicht in dem uns umgebenden Luftraum selbst?49 Denn wir existieren im objektiven Raum, der an sich nicht reduzierbar ist. Daher sollen sich unsere räumlich ausgedehnten Domänen der Sinnlichkeit notwendigerweise in dem realen Existenzraum ausdehnen bzw. in einem synthetischen Nexus integriert werden. Diesen ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Hörraum und dem objektiven Luftraum erfahren wir unmittelbar in unserem Hörvorgang; er bildet die Basis der vorher erörterten Lokalisation der Hörempfindung im Gegenstand. Ebenso wie die Farbe eines Gegenstands bildet dessen Geräusch oder Klang eine vollkommen subjektive Empfindung, die als solche mit seiner Ursache im Gegenstand, nämlich die bloße Vibration, keine ontische Identität hat. Die gegenständliche Lokalisation des Klangs – in Analogie zu der gegenständlichen Lokalisation der Farbempfindung – stellt aber eine epistemologische bzw. wahrnehmungstheoretische Verbundenheit im Modus eines bloßen Nexus zwischen der Domäne des rein subjektiven Gehörsinns und der des gehörten Gegenstands dar. Die Realität der Hörempfindungen – der Stimmen und Geräusche – ist ebenso wie die Realität der Farben auf die Domäne des ästhetischen Subjekts beschränkt. In der physikalischen Welt bestehen daher keine Hörempfindungen, sondern nur ihre physikalischen bzw. mechanischen Ursachen, nämlich die gegenständliche Vibration und deren Übertragung durch die 49 Anders ausgedrückt: auch wenn wir den Hörraum als eine bloß subjektive Konstruktion vorstellen, die gegenüber dem physikalischen Luftraum einen wesentlich anderen ontischen Status hat, müssen wir uns zu seiner Realität, genauer, zur Realisierung dieser unserer subjektiven Empfindung auf die wirkliche Ausdehnung des Luftraumes stützen. D.h. wir vermögen die rein ästhetisch-subjektive Domäne unseres Gehörsinns nur in einer uns umgebenden objektiven Ausdehnung des Luftraumes zu realisieren. 46 Luftwellen.50 Im allgemeinen kann man das Gesamtsystem des ursächlichen Phänomens – bzw. des physisch wirklichen Phänomens, das im Subjekt die Hörempfindung verursacht –, in zwei Prozessen einteilen. Der erste und ursprüngliche Prozeß besteht aus einem rein mechanischen Vorgang – also ein Vorgang, der ein bloß mechanisches bzw. räumlichzeitliches Phänomen ist –, nämlich die Übertragung der gegenständlichen Vibration zur Ohrtrompete durch einen Luftraum. Diesem ursprünglichen mechanischen Prozeß folgt ein leiblicher bzw. neuronaler Prozeß, in dem die mechanischen Vibrationen der Ohrtrompete neuronal im Gehirn – das im Grunde ein physiologisches System ist – bearbeitet werden. Unsere subjektive Hörempfindung ergibt sich in Wirklichkeit aus der Einheit zwischen den mechanischen und den neuronalen Prozessen im Hörvorgang. Obwohl unsere Hörempfindung die Wirkung eines ursächlichen physikalischen Hörvorgangs ist, erweist sie sich als ein bloß subjektives Phänomen, das gegenüber den oben erwähnten mechanischen und neuronalen Prozessen im Hörvorgang einen anderen Existenzmodus hat.51 Es wird uns erstaunen, wenn wir unserer alltäglichen Hörerfahrung kurz Aufmerksamkeit schenken, wie verschiedene Stimmen und Geräusche aus unserer Umgebung zu uns kommen. Wir nehmen die sichtbaren und die unsichtbaren gegenständlichen Quellen52 unserer Hörempfindungen räumlich bzw. in richtigen Entfernungen und Richtungen wahr. Allerdings – wie es bereits erwähnt wurde – wird unsere räumliche Wahrnehmung des gehörten 50 Daher hat ein Taube Recht, wenn er meint, daß die Welt vollkommen stumm ist – ebenso wie ein Hörender, der sagt, daß in der Welt verschiedene Hörempfindungen existieren. Nun unterscheiden sich diese widersprüchlichen Aussagen in ihrer Kontextualität voneinander. Die Aussage des Tauben bezieht sich bloß auf die physikalische Existenz der Welt, während die des Hörenden eine rein subjektive Realität mit einbezieht, die mit der physikalischen und ursächlichen Phänomenalität der Hörempfindung, nämlich der Vibration des Gegenstands, einen ästhetisch-synthetischen Nexus bildet. 51 In der Physiologie des Gehörsinns wird nur der neuronale Prozeß berücksichtigt. Das mechanische Vibrieren der Ohrtrompete wird dabei – ebenso wie das Netzhautbild im Sehvorgang – auf ein bloßes Input reduziert, das neuronal zu einer Hörempfindung umgewandelt wird. Erstens ist die Hörempfindung ein bloß subjektives Phänomen, das gegenüber dem physikalischen Hörvorgang einen anderen ontischen Status hat, wie vorher erörtert wurde. Zweitens ist die subjektive Domäne des Gehörsinns räumlich ausgedehnt und schließt die gehörten Gegenstände – also die objektiven Quellen der Hörempfindung – in sich ein. Auch wenn wir annehmen, daß das Subjekt bloß aus den Modi der Vibrationen der Ohrtrompete, die sich gemäß der Stärke und Richtung der von vibrierenden Gegenständen ausgesandten Luftwellen variieren, die Quellen seiner Hörempfindungen an Gegenständen wahrnehmen kann, bedeutet es nicht anders, als daß die subjektive Domäne des Gehörsinns sich durch einen medialen Luftraum zu dem gehörten Gegenstand ausdehnt. Denn die Distanzwahrnehmung der Hörempfindung – ebenso wie die Distanzwahrnehmung der Farbempfindung – am Gegenstand ist kein virtuelles, sondern ein reales Phänomen, das als solches in einem realen Raum zustande kommt. Die Realität des Hörraumes – analog der Realität des Sehraumes – basiert demnach auf einem ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Hörraum und dem physikalisch-objektiven Luftraum. 52 Die unsichtbaren Quellen der Hörempfindungen wären – wie bereits erörtert wurde – die Quellen der Stimmen und Geräusche, die außerhalb unseres perspektivischen Sehraumes liegen – wie z. B. ein Mensch, der von hinten ruft – oder die durch opake Objekte (eine Wand oder einen Busch) versteckt sind. Im Vergleich zu den Lichtstrahlen werden die Luftwellen kaum durch solche Barriere im Luftraum blockiert. Denn die Vibration wird auch durch solide Medien in die Luft übertragen. Aber es gibt Fälle, in denen die von Gegenständen 47 Gegenstands oder unsere Wahrnehmung der gegenständlichen Quelle der Hörempfindung viel genauer und deutlicher, wenn wir den Gegenstand zugleich sehen. Denn im gleichzeitigen Sehen und Hören des Gegenstands schneiden sich zwei unterschiedliche Domänen des ästhetischen Subjekts am empfundenen Gegenstand im Raum.53 Unsere Wahrnehmung der räumlichen Lokalisation der sinnlichen Empfindungen wird noch präziser, wenn sich mehrere Sinne daran beteiligen; wie zum Beispiel: wenn ein Gegenstand zugleich gesehen, gehört und angetastet wird. Wenn wir an die Tür klopfen, erfahren wir die räumliche Lokalisation von drei verschiedenen Sinnesempfindungen. Wir sehen, wie unsere Fingergelenke die Oberfläche der Tür berührt, und zugleich hören wir das Klopfen an diesem Berührungspunkt lokalisiert. Hier erfahren wir eine simultane Lokalisation der haptischen, der optischen und der auditiven Empfindungen; d. h. drei verschiedene Domänen des ästhetischen Subjekts schneiden sich am Berührungspunkt zwischen dem Fingergelenke und der Tür. Obwohl wir die außerleibliche Lokalisation der visuellen und der auditiven Empfindung des Klopfens genau wahrnehmen können (indem er sich ganz in unserer Nähe ereignet), verleiht ihr die zusätzliche Anteilnahme des leiblichen und als solcher sichersten Tastsinns unfehlbare Gewißheit und Objektivität.54 Die simultane Lokalisation unserer visuellen, auditiven und haptischen Empfindungen im Vorgang des Klopfens verweist auch auf die Simultane Schneidung von drei verschiedenen medialen Phänomenen, in denen die verschiedenen Domänen unserer Sinnlichkeit ausgedehnt sind, nämlich dem Leib, dem Licht- und Luftraum; ebenso verweist sie auf die Simultaneität des ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen den oben erwähnten Modi der subjektiven Sinnlichkeit und der objektiven Phänomenalität dieses Ereignisses. Wie der Sehraum zeigt unser Hörraum eine Gradation der Intensität. Die Lokalisation der Hörempfindung an den uns nahen Gegenständen nehmen wir klarer und deutlicher als die Lokalisation der Hörempfindung an den uns fernen Gegenständen. Das Klingen des Telefons am Schreibtisch oder die Stimme eines Vogels oder Hörnchens im Garten hören wir an den Gegenständen in hoher Präzision und Klarheit. Dagegen wird das Geräusch eines Flugzeugs oder die Explosion in einem von uns weit liegenden Bergs kaum in richtiger Entfernung wahrgenommen. Wir hören sie zwar von relativ großen Entfernungen, aber diese ausgesandten Luftwellen durch massive Barriere – wie ein Berg – reflektiert werden. Folglich entsteht das Phänomen des Widerhalls, der die Virtualität in der Domäne des Hörsinns bildet. 53 In anderen Worten: die subjektiven Domänen des Gesichts- und Gehörsinns erstrecken sich in derselben Richtung und Distanz zu demselben Gegenstand. 54 Hierbei ist wichtig zu erwähnen, daß diese Gewißheit und Objektivität der simultanen Lokalisation der Seh-, Tast- und Hörempfindung sich in erster Linie auf eine vor-logische rein ästhetische Subjektivität beziehen. 48 Distanzwahrnehmung in der Hörempfindung entspricht kaum der wahren Distanz des Flugzeugs oder des Bergs von uns. Hier können wir die gradierende Intensität des Hörraumes in Analogie zu der des Sehraumes als Gradation des ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen der Domäne des subjektiven Hörsinns und des gehörten physikalischen Gegenstands bestimmen. Bei den uns nahen Gegenständen ist dieser ästhetisch-synthetische Nexus viel vollkommener als bei den uns fernen Gegenständen. D. h. gemäß der Entfernung des gehörten Gegenstands (von den Hörenden) entsteht eine gradierende Abgetrenntheit zwischen der subjektiven Domäne des Hörsinns und der objektiven Sphäre der gehörten Gegenstände. Unser Seh- und Hörraum bestehen in dieser Weise aus einer Komposition von Realitäten, die durch einen vollkommenen ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen den Domänen dieser subjektiven Sinne und den empfundenen Gegenständen zustande kommen, und Virtualitäten, die sich aus der oben erörterten Trennung der ästhetisch-subjektiven Domänen von empfundenen physikalischen Gegenständen ergeben. Wir haben bisher zwei vollkommen leibliche Sinne, nämlich den Tast- und Geschmackssinn, und zwei vollkommen außerleibliche Sinne, nämlich den Gesichts- und Gehörsinn, untersucht. Der übrig bleibende ist der Geruchssinn, der zum großen Teil ein leibliches Sinnesvermögen ist (denn der Geruch eines Gegenstands, durch die Luft übertragen wird, in der Nase lokalisiert empfunden). Aber seine Domäne kann sich einigermaßen in der dem Leib sehr nahen Umgebung ausdehnen. Die Domäne des ästhetischen Subjekts schließt in sich alle Domänen der verschiedenen Modi der Sinnlichkeit. Wie die Domäne des Gesichtssinns den Lichtraum als das Medium ihrer Ausdehnung hat, hat die Domäne des Gehörsinns vorzüglich einen medialen Luftraum, in dem sie sich ausdehnt. Vorher haben wir das physikalische Medium des Leibes, das die Domänen des Tast- oder Geschmackssinns behaust, dem physikalischen Licht analogisiert, durch das sich die Domäne des Gesichtssinns – also des subjektiven Sehraumes – außerleiblich in einem perspektivischen Freiraum und zu den perspektivisch orientierten Gegenständen ausdehnt. Wir erweitern diese Analogie nun zu der Domäne des Hörsinns, indem wir der unseren Hörraum füllenden Luft ebenso wie dem Leib oder dem Licht eine mediale Funktion (im Hörvorgang) zuordnen. Die Ausdehnung der ästhetisch-subjektiven Domänen in diesen physikalischen Medien – dargestellt durch die unmittelbar erfahrene enge Verbundenheit zwischen dem Tastraum und dem Leib, dem Sehraum und dem Lichtraum, sowie zwischen dem Hörraum und Luftraum – ist, wie vorher erörtert wurde, immer im Modus einer ästhetischen Synthese, genauer, eines 49 ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen subjektiven und objektiven bzw. gegenständlichen Domänen. Die ontische Differenz zwischen den subjektiven und den objektiven Domänen ist zugleich eine Grenze, die wissenschaftlich nicht überschritten werden kann. Dies besagt, daß die ästhetisch-subjektiven Domänen, wie der unmittelbare Seh-, Tast- oder Hörraum, sich bloß objektiv bzw. rein physikalisch nicht entschlüsseln lassen. Farb-, Ton- oder Kälteempfindung gehören als Wirkungen der Gegenstände im Subjekt allerdings allein dem Subjekt. Obwohl wir dem gesehenen (bzw. farbig empfundenen), gehörten oder angetasteten Gegenstand eine epistemologische Ursächlichkeit (dieser Empfindungen) zuschreiben können, bleibt ein Kausalnexus zwischen der gegenständlichen Ursache und der Wirkung im Subjekt wissenschaftlich unvollkommen oder inadäquat. Denn hier verknüpft man kausal zwei Domänen, genauer, zwei Modi der Wirklichkeit miteinander, die ontisch nicht einheitlich oder homogen, sondern voneinander völlig verschieden sind. Ein Kausalnexus, der adäquat ist, scheint nur dann möglich zu sein, erst wenn die Domäne der Wirkung und die der Ursache einen ontisch homogenen Status haben. Daher wäre es eine nur scheinbar plausible, aber in Wirklichkeit vergebliche Unternehmung, die rein subjektiven Empfindungen physikalisch zu entschlüsseln bzw. sie auf bloß physikalische Ursachen zurückzuführen.55 55 Kognitive Wissenschaften basieren auf einem solchen Kausalnexus zwischen einer neurologischen Domäne des Leibes, nämlich dem Gehirn, und den Domänen des Subjekts. Ihr Grundprinzip wäre: das Gehirn verursacht die mentalen bzw. subjektiven Zustände und Operationen, nämlich die sinnlichen Empfindungen, das begriffliche Denken sowie die leiblichen Handlungen. Hierbei werden die verschiedenen Gehirnprozesse für Ursachen und die sich daraus ergebenden logischen und ästhetischen Domänen des Subjekts für ihre Wirkungen gehalten. Als physikalische Vorgänge gehören die Gehirnprozesse letztendlich zu der Sphäre des gegenständlichen Leibes, wogegen die verschiedenen Zustände und Operationen des Subjekts, die daraus zu entstehen scheinen, einer von ihr wesentlich unterschiedlichen Sphäre der Wirklichkeit zuzuordnen sind. D. h. die Domänen des Subjekts erweisen sich gegenüber den ursächlichen Gehirnprozessen als völlig verschiedene und autonome Existenzmodi. Demnach läßt sich zwischen den neurologischen Prozessen im Gehirn und ihren subjektiven Wirkungen eine unabdingbare Differenz im ontischen Status aufzuweisen (wie bereits erörtert wurde). Die physikalischen Gehirnprozesse sind hier zwar gewisse Ursachen, die zur Entstehung der subjektiven Domänen führen, aber ihre Ursächlichkeit ist aufgrund ihres vom Subjekt völlig verschiedenen ontischen Status kaum für adäquat zu halten. Die Gehirnprozesse lassen die subjektiven Vorgänge wie das sprachliche Denken oder die sinnlichen Empfindungen entstehen. Aber der Existenzmodus oder die Seinsweise des Denkens oder einer Sehempfindung ist wesentlich anders als der Existenzmodus der physikalischen Prozesse im Gehirn. Daher kann zwischen den Gehirnprozessen und den rein subjektiven Vorgängen kein hinreichender Kausalnexus bestehen. In anderen Worten: Daß die physikalischen Gehirnprozesse die subjektiven Domänen verursachen, bildet streng genommen keinen adäquaten Kausalnexus. Ein adäquater Kausalnexus wäre der Fall, wenn die Ursache und die Wirkung derselben Domäne – oder demselben Existenzmodus – der Wirklichkeit angehören; zum Beispiel: die mechanische Beschädigung eines Gehirnteils durch eine ebenso mechanische Begebenheit wie ein Unfall, oder die Entwicklung physiologischer Anomalien im Gehirn durch ebenso physiologische Ursachen. Der Ursprung der subjektiven Domänen kann dagegen kaum bloß auf physikalisch-neurologische Prozesse zurückgeführt werden. Denn dieser Ursprung ist keine einfache Folge innerhalb derselben physikalischen Domäne, sondern ein absolut neuer Ursprung eines von der physikalischen Phänomenalität wesentlich verschiedenen Modus der Wirklichkeit. Die physiologischen Gehirnprozesse können streng genommen einen derartigen Ursprung der subjektiven Domänen nicht verursachen, sondern nur veranlassen bzw. das Subjekt zu dieser Begebenheit bringen. 50 Die Domänen der subjektiven Sinnlichkeit sind auf einzelnes Subjekt eingegrenzt; d. h. es gibt streng genommen keine Intersubjektivität in unseren unmittelbaren Sinnesempfindungen. Niemand kann es erfahren, wie ein anderer die Farbe, Stimme, Wärme, den Geschmack oder den Geruch der Gegenstände empfindet. Anders ausgedrückt, hat man keinen Zugang zu den ästhetisch-subjektiven Domänen eines anderen.56 Kurzum: Man kann nicht erfahren, wie die anderen die Gegenstände sinnlich empfinden. Die Existenzmodi der Sinnesempfindungen sind auf die einzelne Subjektivität beschränkt. Aber die einzelsubjektiven Domänen der Sinnlichkeit haben eine primäre Eigenschaft gemeinsam, nämlich die räumliche Ausdehnung. Die Ausgedehntheit würde eine sinnliche Domäne eines Einzelsubjekts dazu veranlassen, sich mit gleichartiger sinnlicher Domäne eines anderen Subjekts zu kreuzen. Zum Beispiel: wenn zwei Menschen einander Angesichts zu Angesicht begegnen bzw. wenn sie gegeneinander in die Augen schauen, kommt sofort eine Kreuzung ihrer visuellen Domänen (oder Sehräume) zustande. Hier hat jeder die unmittelbare Seherfahrung, daß er oder sie in die Domäne der ästhetischen bzw. visuell wahrzunehmenden Subjektivität des anderen hineinschaut. Man könnte sagen, daß die Augen eines Menschen in dieser Weise die Fenster seiner ästhetischen Subjektivität bilden, die in ihrer (ontischen) Autonomie von einer logischen Subjektivität kein sprachlich-begriffliches Verstehen oder Erkennen bedingt.57 Ebenso kreuzen oder überlagern sich die subjektiven Domänen des Tastsinns gegenseitig, wenn zwei Menschen einander (leiblich) antasten. Das Antasten eines Leibes ist daher von dem eines außerleiblichen anorganischen Gegenstands zu unterscheiden. Berührung zwischen zwei Leiber bedeutet in dieser Hinsicht keinen bloß physikalischen Kontakt, sondern – im weitesten Sinne – eine gegenseitige Eindringung der haptischen Domänen der ästhetischen Subjekte, die sich in einer vor-logischen Erfahrungsebene ereignet. 56 Es ist ebenso fraglich, ob man zu der logisch-subjektiven bzw. sprachlichen Domäne eines anderen Subjekts hinreichenden Zugang findet. Denn der rein logischen Domäne des Subjekts – der Domäne des begrifflichen Erkennens oder Verstehens – liegt notwendigerweise die vor-logische Domäne der subjektiven Sinnlichkeit zugrunde (eine Tatsache, die sich der kantischen Lehre einer Transzendentalen Synthese entnehmen läßt). Z. B; zwei Menschen können sich miteinander zwar bloß sprachlich-begrifflich darin einig werden, daß die Farbe eines von beiden gesehenen Gegenstands rot ist, aber es kann nicht bewiesen werden, daß beide dieselbe Sinneserfahrung haben bzw. die Farbigkeit des Gegenstands in demselben Modus empfinden. Hier kann das Subjekt die Farbe nur allein erfahren; es hat keinen Zugang zu der Farbempfindung eines anderen Subjekts. Die sprachliche Einigkeit zwischen beiden über die Farbempfindung ist daher vielmehr ein Glaube als eine Erkenntnis. D. h. jeder muß hier glauben, daß die anderen dieselbe Sinnesempfindung haben. Das Wesen der Sinnlichkeit läßt sich deshalb sprachlich nicht kommunizieren. Denn die Sprachlichkeit oder Begrifflichkeit einer Sinnesempfindung ist nicht die Sinnesempfindung an sich, die allein einer vor-logischen rein ästhetischen Domäne des Subjekts angehört. Zwischen der Begrifflichkeit oder Logizität und der unmittelbaren Ästhetizität einer Sinnesempfindung ist demnach eine wesentliche und unüberwindbare Differenz aufzuweisen. 57 Anders ausgedrückt, handelt es sich hier nicht um das sprachlich-begriffliche Verstehen oder Erkennen, sondern um ein unmittelbar sinnliches Erfahren eines anderen. 51 Die gegenseitige Kreuzung der sinnlichen Domänen verweist offensichtlich auf einen ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen Einzelsubjekten. Zunächst haben wir die leibliche und außerleibliche Ausdehnung der sinnlichen Domänen erörtert, durch die das vor-logische rein ästhetische Subjekt mit der umgebenden Welt der Gegenstände einen synthetischen Nexus bildet. In Hinsicht darauf erweist sich die intersubjektive Kreuzung der sinnlichen Domänen als eine zweite Natur der Synthese innerhalb der Sphäre der ästhetischen Subjektivität. Zwar kann der ästhetisch-synthetische Nexus weder die vorher erörterte epistemologische Unzugänglichkeit der einzelsubjektiven sinnlichen Domänen überwinden noch die uns anscheinend abgesagte rein gegenständliche Ursächlichkeit der Empfindungen erkennen lassen, aber er vermag diese grundlegenden Existenzmodi in einer einheitlichen bzw. über die Zweiteilung zwischen Subjekt und Objekt hinausgehenden Realität zu integrieren. Die räumliche Ausgedehntheit und die materielle (leibliche und außerleibliche) Medialität sind die Basen, worauf die subjektiven Domänen der Sinnlichkeit aufbauen; sie realisieren letztendlich die beiden oben erörterten Naturen des ästhetisch-synthetischen Nexus – zwischen dem Subjekt und dem Gegenstand sowie zwischen Einzelsubjekten. Die Realität der rein ästhetischen Subjektivität ist demnach eine synthetische, die sich in den vorlogischen sinnlichen Domänen des Subjekts ereignet; in ihr scheinen drei grundlegende Existenzmodi – oder Modi der Wirklichkeit – ineinander verwoben zu sein, nämlich das Subjekt, der materielle Gegenstand und der Raum. Indem sich sowohl die sinnlichen Domänen des Subjekts als auch die Domäne der empfundenen Gegenstände räumlich ausdehnen, erlangt der Raum beim Aufbau unserer empirischen Realität eine elementare Funktion der synthetischen Verknüpfung. 52 Anhang Der Diskurs über die Differenzierung zwischen Leib und Seele, den die erste Korrespondenz zwischen Prinzessin Elisabeth von Böhmen und René Descartes initiierte, schien von der Seite des Philosophen kaum hinreichend unterstützt zu werden. Als Antwort auf die Frage der Prinzessin, wie eine immaterielle und nicht ausgedehnte Seele auf den materiellen und ausgedehnten Leib wirken und ihn folglich zu Willensakten – dargestellt durch die leiblichen Bewegungen – veranlassen kann, versucht Descartes eine Analogie zwischen der Schwerkraft und der Seele, die das rätselhafte Verhältnis zwischen Leib und Seele erklären soll: „I think that we have hitherto confounded the notion of the soul’s power to act on the body with the power one body has to act on another. We have attributed both powers not to the soul, whose nature we did not know, but to the various qualities of bodies such as weight, heat etc. We imagined these qualities to be real, that is to say to have an existence distinct from that of bodies, and so to be substances, although we called them qualities. In order to conceive them we sometimes used notions we have for the purpose of knowing bodies, and sometimes used notions we have for the purpose of knowing the soul, depending on whether we are attributing to them something material or something immaterial. For instance, when we suppose that heaviness is a real quality of which all we know is that it has the power to move the body that possesses it towards the centre of earth, we find no difficulty in conceiving how it moves the body nor how it is united to it. We do not suppose that the production of this motion takes place by a real contact between two surfaces, because we find by introspection that we have a specific notion to conceive it by. I think that we misuse this notion when we apply it to heaviness, which as I hope to show in my Physics, is not anything really distinct from body; but it was given us for the purpose of conceiving the manner in which the soul moves the body.“58 Mit dieser Analogie zwischen der Union der immateriellen Schwerkraft mit dem Körper und der Union der immateriellen Seele mit dem Leib war Prinzessin Elisabeth wenig zufrieden. Denn sie erklärt nur einen mehr oder weniger analogen Modus der Verbundenheit zwischen zwei völlig verschiedenen Existenzmodi und kaum die Autonomie der Seele in ihrer Wirkung auf den Leib. Die cartesische Analogie zwischen Schwerkraft und Seele scheint auf einer analogen Wirkungsart zu basieren, die auch die Frage der Prinzessin zum Gegenstand hat, nämlich die immaterielle Ursächlichkeit und Initiierung einer materiellen bzw. leiblichkörperlichen Bewegung. Aber sie erklärt – über eine derartige analoge Wirkungsart hinaus – nicht die anderen Qualitäten der Seele, wie das Denken, Empfinden oder die Willensfreiheit, die im Gegensatz zu der Schwerkraft auf eine durchaus autonome Intelligenz der Seele verweisen. Die Unangemessenheit der cartesischen Analogie zwischen Schwerkraft und Seele (in Bezug auf ihre Verbundenheit mit dem ausgedehnten materiellen Körper) veranlaßte die 53 Prinzessin dazu, in ihrer Überzeugung von der Ausgedehntheit und Materialität der Seele weiterhin zu verharren: „(All of which) will excuse my stupidity, I hope, to not have been able to understand the idea by which we must judge how the soul (not extended and immaterial) can move the body by an idea we have in another regard of heaviness, nor why a power – which we have falsely attributed to things under the name of a quality – of carrying a body toward the center of the earth must persuade us that a body could be pushed by something immaterial, especially when the demonstration of a contrary truth (which you promised in your Physics) confirms us in thinking it impossible. (...) I confess that it is easier for me to concede the matter and the extension of the soul than to concede that a being that is immaterial has the capacity to move a body and moved by it. For if the former is done by giving information, it is necessary that the spirits which make the movement be intelligent, which you do not accord to anything corporal. And although, in your Meditations, you show the possibility of the soul being moved by the body, it is nevertheless very difficult to comprehend how a soul, as you have described it, after having had the faculty and habit of good reasoning, would lose all that by some sort of vapors, or that being able to subsist without the body and having nothing in common with it, would allow itself to be so ruled by the body.“59 In seiner Antwort stellt Descartes die von der Prinzessin erneut problematisierte Differenzierung zwischen Leib und Seele in der Form einer Aporie dar. Daß der Leib und die Seele zugleich voneinander abgetrennt und miteinander verbunden vorgestellt werden, ist ein Widerspruch in sich: „It does not seem to me that the human mind is capable of conceiving at the same time the distinction and the union between body and soul, because for this it is necessary to conceive them as a single thing and at the same time to conceive them as two things; and this is absurd. This is why I made use earlier of an analogy with heaviness and other qualities which we commonly imagine to be united to certain bodies in the way that thought is united to ours. I supposed that your Highness still had in mind the arguments proving the distinction between the soul and the body, and I did not want to ask her to put them away in order to represent to herself the notion of the union which everyone has in himself without philosophizing. Everyone feels that he is a single person with both body and thought so related by nature that the thought can move the body and feel the things which happen to it. I did not worry about the fact that the analogy with heaviness was lame because such qualities are not real as people imagine them to be. This was because I thought that your Highness was already completely convinced that the soul is a substance distinct from the body.“60 In einer der letzten Fragestellungen der Prinzessin Elisabeth (nach der Einheit von Leib und Seele) wird das Erkennen der Seele, genauer, der Seeleneigenschaften selbst problematisiert. Nach Descartes lehren unsere Sinne, wie die Seele den Leib bewegt und, umgekehrt, wie der 58 59 Descartes, Philosophical Letters, a. a. O., S. 139. Nye, Andrea, a. a. O., S. 21-22. 54 Leib auf die Seele wirkt. Bei der Erkenntnis der Seele, des Leibes sowie der Union zwischen ihnen sieht Descartes eine gewisse Einstufung des Erkenntnisvermögens – vom reinen Verstand zur Sinnlichkeit: „The soul can be conceived only by pure intellect; the body (i.e. extension, shape, and movement) can likewise be known by pure intellect, but much better by intellect aided by imagination; and finally what belongs to the union of the soul and the body can be known only obscurely by pure intellect or by intellect aided by imagination, but it can be known very clearly by the senses. That is why people who never philosophize and use only their senses have no doubt that the soul moves the body and the body acts on the soul. They regard both of them as a single thing, that is to say, they conceive their union; because to conceive the union between two things is to conceive them as a single thing.“61 Die Union von Leib und Seele ist bei Descartes, wie diese Bemerkung belegt, wiederum kein richtiger Problemzustand, sondern eher eine Grundannahme, die sich epistemologisch ohne große Schwierigkeiten erklären läßt. Gerade gegen einen solchen Reduktionismus polemisiert die Prinzessin, in dem sie zwar die Wahrhaftigkeit dieser Vorstellung nicht bezweifelt, aber weiterhin nach der Funktionalität der Union von Leib und Seele fragt: „I see also that the senses show me that the soul moves the body, but that they do not show me really (any more than the Understanding or the Imagination does) the way in which it does. For that, I think, there are properties of the soul, unknown to us, which could, perhaps, overturn what your Meditations persuaded me of with such good arguments: that is, the nonextension of soul.“62 Diese Argumentation deutet nicht nur auf die Beharrlichkeit der Prinzessin in ihrer Überzeugung von der Ausgedehntheit und Materialität der Seele hin, sondern auch auf den Potential einer derartigen Wahrheit, eine der Grundvorstellungen in der cartesischen Epistemologie, nämlich die Immaterialität und Unausgedehntheit der Seele, zu verwerfen. Sie verweist auch auf einen entscheidenden Aspekt des Diskurses über den cartesischen Dualismus, nämlich daß wir uns über die wahren Eigenschaften der Seele nicht im Klaren sind. D. h. wir sind des möglichen Existenz- und Funktionsmodus der Seele kaum bewußt – in der Art und Weise, wie wir den Existenzmodus des Körpers bzw. seine räumliche Ausdehnung und Materialität deutlich erkennt. Denn die Seele hat gegenüber dem Körper einen wesentlich anderen ontischen Status. Descartes nahm keine weitere Stellung zu dieser Polemik (die daher über einen kurzen Briefwechsel nicht hinausreichte). In seinem Brief an die Prinzessin Elisabeth vom 28. Juni 1643, in dem er sich zum letzten Mal auf ihre 60 61 Descartes, Philosophical Letters, a. a. O., S. 142. Ebd., S. 141. 55 (wiederholte) Fragestellung bezog, schien Descartes der Problematik der leiblichen Ausdehnung der Seele letztendlich eine metaphysische Natur zuzuschreiben; der Prinzessin wurde demnach strategisch davon abgeraten, sich mit den rätselhaften metaphysischen Prinzipien weiterhin zu beschäftigen.63 62 Nye, Andrea, a. a. O., S. 26. Vgl. Descartes, Philosophical Letters, a. a. O., S. 143: „I think that it is very necessary to have understood, once in a life time, the principles of metaphysics, since it is by them that we come to the knowledge of God and of our soul. But I think also that it would be very harmful to occupy one’s intellect frequently in meditating upon them, since this would impede it from devoting itself to the functions of the imagination and the senses.“ 63 56 Literatur Descartes, René: Meditationen, übersetzt und herausgegeben von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1972. Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt und erläutert von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1965. Descartes, René: Key Philosophical Writings, übersetzt von Elizabeth S. Haldane und G. R. T. Ross, Wordsworth Classics of World Literature, Hertfordshire 1997. Descartes, René: Philosophical Letters, hrsg. von Anthony Kenny, Oxford 1970. Gaukroger, Stephan: Descartes. An Intellectual Biography, Oxford 1995. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1990. Morgan, Michael J.: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception, Cambridge 1977. Nye, Andrea: The Princess and the Philosopher. Letters of Elisabeth of the Palatine to René Descartes, Rowman & Littlefield Publishers, Lanham 1999. 57