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Kapitel 3 Jens Knigge/Anne Niessen Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Seit dem sogenannten „PISA-Schock“ sind die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in den Mittelpunkt der bildungspolitischen und der erziehungswissenschaftlichen Diskussion gerückt. Die Orientierung an der Ermöglichung, Förderung und Messung der Kompetenzentwicklung wird allerdings dort wie auch in der Musikpädagogik kontrovers diskutiert: Die Fokussierung auf das Ergebnis von Lernprozessen scheint Wesentliches zu vernachlässigen, was das Fach Musik als ästhetisches Fach ausmacht: Musikalische oder musikbezogene Erfahrungen werden damit kaum berücksichtigt, Bildungsprozesse mit all ihren Nuancen treten in den Hintergrund. Andererseits steckt in der Idee der Kompetenzorientierung wichtiges didaktisches Potential. Im folgenden Text wird der Versuch unternommen, in Bezug auf einen schwer zu fassenden, aber wichtigen Kompetenzbereich des Faches Musik einige Vorüberlegungen zu treffen. Dabei werden die grundsätzlichen Schwierigkeiten, aber auch die Chancen von Kompetenzorientierung deutlich. Beim Nachdenken über interkulturelle Kompetenz im Musikunterricht geht es z. B. um Akzeptanz, Respekt und Offenheit gegenüber Musik und Menschen. Die Bedeutung dieser Themen weist über das Fach hinaus, spielt aber im Alltag des Musikunterrichts eine wichtige Rolle. 3.1 Was interkulturelle Kompetenz mit Musikunterricht zu tun hat Im Kontext der jüngsten Reformen des Bildungssystems wird der Implementierung von Bildungsstandards und der Ausrichtung von Unterricht auf Kompetenzerwerb und -förderung große Bedeutung beigemessen (Klieme et al. 2003). Immer wieder fällt in diesem Zusammenhang der Begriff der interkulturellen Kompetenz, um den es besonders in den Fremdsprachen-Didaktiken eine lebhafte Debatte gibt (z. B. Hu & Byram 2009). In der musikpädagogischen Diskussion allerdings wurden die beiden Konstrukte Kompetenz und Interkulturalität bislang noch nicht systematisch miteinander verbunden. Dieser Umstand erscheint erstaunlich angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der interkulturelle Aspekte in der Bildungspolitik, in der musikpädagogischen Diskussion und im Nachdenken von Musiklehrenden eine Rolle spielen: interkulturelle Aspekte in der Bildungspolitik 57 Kapitel 3 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? • Interkulturelle Kompetenz ist Bestandteil der „Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen“, wie sie 2006 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurden (Europäisches Parlament 2006). In den dort aufgeführten acht Schlüsselkompetenzen spielt interkulturelle Kompetenz gleich mehrfach eine wichtige Rolle: Im Kontext der fremdsprachlichen Kompetenz wird u. a. auf die „Anerkennung kultureller Vielfalt“ (Europäisches Parlament 2006, 15) hingewiesen. Auch in Bezug auf die soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz (Europäisches Parlament 2006, 16 f.) erscheint interkulturelle Kompetenz als zentraler Bestandteil. Für unseren Zusammenhang am interessantesten sind jedoch die Ausführungen zur achten Schlüsselkompetenz: „Kulturbewusstsein und kulturelle Ausdrucksfähigkeit“. Hier werden mehrere Facetten interkultureller Kompetenz angesprochen und abschließend folgendermaßen zusammengefasst: „Ein gutes Verständnis der eigenen Kultur und ein Identitätsgefühl können die Grundlage für Respekt und eine offene Haltung gegenüber der Vielfalt des kulturellen Ausdrucks sein“ (Europäisches Parlament 2006, 18). • Schon 1996 wurden auf der Kultusministerkonferenz (KMK) Ziele interkultureller Bildung formuliert, nämlich die „Entwicklung von Einstellungen und Verhaltensweisen, die dem ethischen Grundsatz der Humanität und den Prinzipien von Freiheit und Verantwortung, von Solidarität und Völkerverständigung, von Demokratie und Toleranz verpflichtet sind“ (Kultusministerkonferenz 1996, 314). Dabei geht es um den Erwerb von Wissen, um Einstellungen wie Offenheit und Neugier sowie in starkem Maße um die Reflexion der eigenen Vorurteile, der eigenen Sozialisation und der Lebenszusammenhänge. Angestrebt werden Verständnis und Konfliktlösefähigkeiten. • Die auf KMK-Ebene festgeschriebenen Ziele spiegeln sich in den Curricula der Bundesländer wider – insbesondere auch im Fach Musik, was die folgenden beiden Beispiele verdeutlichen: In den Richtlinien des Faches Musik für die Sekundarstufe I des Gymnasiums in NRW wird als Ziel formuliert „Offenheit für eine bunte, vielfältige, gelegentlich auch befremdend wirkende Kulturlandschaft“, „Verständnis für unterschiedliche geschichtliche Prägung und kulturelle Bindung“, aber auch die Erfahrung von „Grenzen des Verstehenkönnens mit gleichzeitiger Toleranz des Fremden“ (Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung 2000, 41). Ähnliches ist auch im baden-württembergischen Bildungsplan zu finden (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2004). Vor allem im Kompetenzbereich 3 („Musik reflektieren“) werden interkulturelle Kompetenzen angesprochen: „die Schülerinnen und Schüler [reflektieren] die Bedeutung der Musik für ihr eigenes 1 Leben wie auch für unsere Kultur und für andere Kulturen“ (Ministe- interkulturelle Aspekte in Curricula des Faches Musik 1 58 Die angenommene Dichotomie in der Formulierung „unsere Kultur – andere Kulturen“ erscheint allerdings problematisch angesichts eines Alltags vielfacher kultureller Über- Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Kapitel 3 rium für Kultus, Jugend und Sport 2004, 271). Die im Musikunterricht erworbenen Fähigkeiten zielen außerdem auf die Erschließung der Vielfalt musikalischer Kultur (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2004, 272), wodurch nicht zuletzt die Entwicklung von Toleranz gegenüber anderen Hörgewohnheiten angestrebt wird (Ministerium für 2 Kultus, Jugend und Sport 2004, 274). • Auch auf fachdidaktischer Ebene werden an verschiedenen Stellen interkulturelle Kompetenzen angesprochen: Insbesondere die Interkulturelle Musikpädagogik beschäftigt sich seit längerem mit der Situation von Schülern mit Zuwanderungsgeschichte sowie mit der musikunterrichtlichen Auseinandersetzung mit „fremder“ Musik. Für einen interkulturell orientierten Musikunterricht wurden u. a. Ziele formuliert wie die Entwicklung von Toleranz und Akzeptanz oder Verständnis und Empathie gegenüber „fremder“ Musik sowie den entsprechenden sozialen und kulturellen Kontexten (z. B. Böhle 1996; Merkt 2004; Schütz 1997; s. auch die Beiträge in diesem Band). interkulturelle Aspekte in der Musikpädagogik • In den Unterrichtszielen von Musiklehrenden taucht als vorrangiges Lernziel für Schülerinnen und Schüler „Toleranz“ gegenüber unbekannter und ungewohnter Musik auf (Niessen 2006, 235). Es zeigt sich also auf verschiedenen Ebenen, dass interkulturelle Kompetenz als essentieller Bestandteil des Bildungsauftrags von Schule angesehen wird und auch das Fach Musik in besonderer Weise betrifft. Aspekte, die auf allen Ebenen der Diskussion eine Rolle spielen, sind der offene, reflektierte, anerkennende, möglichst neugierige Umgang mit fremder Musik, aber auch eine tolerante Einstellung gegenüber deren kulturellem bzw. sozialem Kontext und gegenüber den jeweils involvierten Menschen. Wenn die Ausprägung interkultureller Kompetenz als gesellschaftlich wichtige Aufgabe angesehen wird und die Musiklehrenden diese Überzeugung teilen, liegt eigentlich die Frage nahe, wie denn Schülerinnen und Schüler auf interkulturelle Phänomene in Bezug auf Musik blicken. Spielen Offenheit, Toleranz und Neugier in ihrer Haltung gegenüber fremder Musik eine Rolle? Im Folgenden werden in explorativer Absicht einige Schüleräußerungen genauer betrachtet, in denen es u. a. um Zugänge zu Musik und auch um interkulturelle Fragen geht. Das Interview, aus dem kleine Ausschnitte vorgestellt werden, wurde mit zwei Schülerinnen einer 9. Gesamtschulklasse 2 interkulturelle Aspekte aus Schülersicht schneidungen und Durchmischungen, die es unmöglich erscheinen lassen, den Kulturbegriff in exklusiver Absicht zu gebrauchen (s. auch die Ausführungen zum Kulturbegriff weiter unten). Vergleichbare Formulierungen sind für das Fach Musik auch auf internationaler Ebene anzutreffen. Taggart et al. konnten in einer umfangreichen internationalen CurriculumAnalyse zeigen, dass in einem Großteil der untersuchten Länder ein spezifischer Bereich von „social and/or cultural outcomes“ (Taggart et al. 2004, 17) für das Fach ausgewiesen ist. Auf inhaltlicher Ebene werden u. a. Offenheit, Toleranz, Respekt und Anerkennung gegenüber kultureller Diversität genannt. 59 Kapitel 3 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? 3 geführt. Thema des Gesprächs war die Wahrnehmung ihrer Heimatstadt als Musikmetropole. Dabei kamen auch interkulturelle Aspekte zur Sprache, die hier angeführt werden, um Fragen aufzuwerfen – nicht etwa um Aussagen darüber zu treffen, wie die musikbezogene interkulturelle Kompetenz von Schülern beschaffen ist. Eine Antwort auf diese Frage bedürfte einer eigenen, ausführlichen und fokussierten empirischen Untersuchung. Eine der beiden Schülerinnen, Büsra, hat türkischstämmige Eltern, die Mutter von Simone kommt aus Spanien. Im ersten hier zitierten Ausschnitt kommt nur Büsra zu Wort: Int.: Büsra: Int.: Büsra: Int.: Büsra: Int.: Büsra: Int.: Büsra: Schlüsselbegriff Verstehen Schlüsselbegriff in diesem kleinen Abschnitt ist „Verstehen“. Büsra beschreibt eine türkische Kulturszene mit einer Musik, in der der Text eine große Rolle spielt. Ihr persönlich ist der Text in der Musik generell wichtig. Deshalb findet sie es auch selbstverständlich, dass zu diesen Musikabenden keiner kommt, der die türkische Sprache nicht beherrscht. Umgekehrt ist ihr aber auch nicht alle Musik nah, die mit Text verbunden ist. So versucht sie zunächst über die vermeintliche Textlosigkeit der so genannten klassischen Musik zu erläutern, dass sie mit ihr nicht sehr viel anfangen kann: Büsra: Int.: Büsra: Int.: Büsra: 3 60 Wenn ich jetzt noch mal nach diesen türkischen Sälen frage: Würdest du dich zu dieser Szene hinzuzählen oder nicht? Also zu dieser Szene, die regelmäßig türkische Konzerte besucht? Nein, nicht regelmäßig. … Es gibt manche, die ich halt eben gerne höre, und wenn die dann hier sind, dann geh ich auch dahin. Das sind dann türkische Gruppen? Ja, genau. Ah. Ist das Publikum eher gemischt oder sind das dann eher türkische Menschen, die da sind? Nur türkische! Da kommen gar keine Deutschen hin? Die verstehen ja nichts, wenn die dahin kommen! Ah, o.k.! Und das ist dann auch nur auf Türkisch? Ja! Bei klassischer Musik singt man doch nicht und man hat nur so den Ton, oder? Ja genau. Du sagtest ja, dass der Text sehr wichtig für dich ist. Ja, deswegen. Aber es gibt ja genauso gut klassische Musik, die mit Text ist, z. B. die Oper. Da schreien die doch nur. Die Interviewenden waren Theresa Frick und Daniel Janzing. Die Namen der Schülerinnen wurden verändert. Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Kapitel 3 Eine Äußerung demonstrativen Unverständnisses: Natürlich weiß Büsra, dass in der Oper gesungen und nicht geschrieen wird, aber in den Kategorien ihres Musikgeschmacks handelt es sich eben um negativ konnotiertes Schreien. „Verstehen“ bezieht sich für sie also auf mehr als nur die Sprache des Textes; es hat auch etwas mit der Musik selbst zu tun. Zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews reflektiert Simone intensiver über die Frage, warum sie mit der so genannten klassischen Kunstmusik nichts anfangen kann: Simone: Ja, weil wir kennen ja nicht so die Instrumente und wir kennen uns da ja auch nicht aus und dann kann man jetzt auch nicht so raushören: was find ich jetzt gut und was find ich nicht gut, weil wir davon nicht wirklich was kennen jetzt. Beide Schülerinnen betonen, dass sie die so genannte klassische Musik zwar nicht grundsätzlich ablehnen, aber sie würden auch niemals auf die Idee kommen, sie sich freiwillig anzuhören – im Gegenteil. Büsra schaut auf ihren Musikunterricht zurück: „Also wir haben ja auch in der Schule Musik gehabt und da haben wir auch von Beethoven und von –, wie heißt der Typ noch? Keine Ahnung! Von voll vielen Leuten haben wir gehört und ich wär fast so eingeschlafen.“ Simone entzieht sich gezielt – beispielsweise wenn ihre Mutter klassische Musik hört: „Sie hört das dann immer im Wohnzimmer und ich hör das dann mit und: Oh! Schon wieder der Mist! Und dann hau ich ab! Nee!“ Einstellungen wie Offenheit und Neugier sind aus diesen Äußerungen nicht ablesbar; ein Verständnis der als fremd empfundenen Musik wird ausdrücklich negiert. Allerdings finden sich interessante Passagen mit einer Reflexion über die eigenen Vorurteile und auch – an hier nicht zitierten Stellen des Interviews – über die eigene Sozialisation und die eigenen Lebenszusammenhänge. Angesichts dieser Schüleräußerungen stellen sich eine Reihe von Fragen, die immer grundsätzlicher werden: Hat der Erwerb von Wissen, der ja im Musikunterricht der Schülerinnen offensichtlich angebahnt werden sollte (s. Äußerung Büsra), nichts „genützt“? Welche Rolle spielt der kulturelle Hintergrund der Schülerinnen bei der negativen Einschätzung der so genannten klassischen Musik? (Die anderen Interviews, die im Rahmen der Datenerhebung durchgeführt wurden, zeigen allerdings denselben Grad von Ablehnung gegenüber klassischer Musik auch bei Schülerinnen und Schülern ohne Zuwanderungsgeschichte.) Wo verlaufen eigentlich die Grenzen zwischen verschiedenen „Kulturen“? Was sind überhaupt Kulturen? Was bedeutet denn nun Interkulturalität und insbesondere interkulturelle Kompetenz in Bezug auf Musik? Geht es lediglich darum, sich einer Musik neugierig zu nähern, die als fremd empfunden wird? Oder ist interkulturell kompetent derjenige, der sich angesichts einer Fremdheitserfahrung beispielsweise Informationen über die fremde Musik beschafft, diese also „verstehen“ und evtl. sogar in das eigene musikalische Leben integrieren will? Oder geht es darüber hinaus auch um Toleranz und Akzeptanz gegenüber Menschen, die Musik machen oder hören, die mit dem eigenen Geschmack nicht konform geht? als fremd empfundene Musik Was ist Interkulturelle Kompetenz? 61 Kapitel 3 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Da auf musikpädagogischer Ebene, wie oben bereits erwähnt, bislang kein Diskurs zur Modellierung und Erfassung eines Konstrukts musikbezogener interkultureller Kompetenz existiert, soll auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen zunächst ein Blick über die Fachgrenze hinweg in andere Fachdidaktiken geworfen werden. 3.2 Welche Definitionen und Modelle interkultureller Kompetenz es gibt: ein Blick in andere Fachdidaktiken interkulturelles Lernen Ein Problem, das bei der Beschäftigung mit dem Thema „interkulturelle Kompetenz“ auftaucht, ist eine gewisse begriffliche Unschärfe und die Vermischung verschiedener Begriffe. Wir gehen davon aus, dass der Begriff des interkulturellen Lernens einen Lernprozess bezeichnet, „der ausgehend von Situationen kultureller Begegnung oder aber durch entsprechende Bildungsarrangements zu interkultureller Kompetenz führen soll“ (Leenen & Grosch 1998, 29). In dieser Definition werden zwei Aspekte besonders betont: Zum einen beinhaltet das Konzept des interkulturellen Lernens demnach nicht nur bewusst herbeigeführte, sondern auch informelle Lern- und Bildungsprozesse. Zum anderen ist interkulturelle Kompetenz eindeutig auf der Ergebnisebene zu verorten. Verstärkt wurden interkulturelle Kompetenz und ihre empirische Erforschung in den letzten Jahren im Zuge der Erstellung von Bildungsstandards von den Didaktiken der Fremdsprachen, in erster Linie Englisch und Französisch, in den Blick genommen (u. a. Hesse et al. 2008; Hu 2008). In diesem Kontext ist die Definition von interkultureller Kompetenz nicht einheitlich. Neben einem Ansatz, der auf grundlegende Prinzipien wie Gleichheit und Anerkennung kultureller „Andersartigkeit“ rekurriert (Göbel 2007, 38), gibt es auch Definitionen, die stärker auf Handlungskompetenzen im Rahmen interkultureller Begegnung abheben; sie bestimmen in erster Linie die aktuelle Diskussion um den Begriff im Kontext von Bildungsstandards: Interkulturelle Kompetenz wird von Leenen und Grosch beschrieben als „ein ‚set‘ von Fähigkeiten (…), die es einer Person ermöglichen, in einer kulturellen Überschneidungssituation unabhängig, kultursensibel und wirkungsvoll zu han4 deln“ (Leenen & Grosch 1998, 39). Mit einem etwas anderen Akzent wird interkulturelle Kompetenz in den 2003 erschienenen Bildungsstandards für die erste Fremdsprache folgendermaßen definiert: 4 62 Bei empirischen Untersuchungen zu der Frage, um welche Fähigkeiten es sich hierbei genau handelt, konnten u. a. folgende Elemente identifiziert werden (vgl. Leenen & Grosch 1998, 39): eine differenzierte Selbstwahrnehmung und realistische Selbsteinschätzung, emotionale Stabilität und Ambiguitätstoleranz, Vertrautheit mit einer Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungsmuster und -perspektiven sowie ein breites Verhaltensrepertoire. Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? „Der Unterricht in der ersten Fremdsprache entwickelt systematisch interkulturelle Kompetenzen; dabei orientiert er sich an dem Leitziel, bei den Schülerinnen und Schülern – auf der Basis eines Orientierungswissens zu exemplarischen Themen und Inhalten – Interesse und Verständnis für andere kulturspezifische Denk- und Lebensweisen, Werte, Normen und Lebensbedingungen auszubilden. Sie können eigene Sichtweisen, Wertvorstellungen und gesellschaftliche Zusammenhänge mit denen englisch- bzw. französischsprachiger Kulturen tolerant und kritisch vergleichen. Hiermit verbunden ist das Leitziel der Stärkung der eigenen Identität. Damit müssen folgende Bereiche entwickelt werden: thematisches soziokulturelles Orientierungswissen für fremdsprachliches kommunikatives Handeln in mehrsprachigen Situationen. (…) Fähigkeiten im Umgang mit kultureller Differenz. (…) Strategien und Fähigkeiten zur praktischen Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen“ (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister 2003, 9–10). Bildungsstandards, wie sie in Deutschland aktuell entwickelt, eingeführt und diskutiert werden, sehen jedoch nicht nur die inhaltliche Festlegung von Kompetenzen und Kompetenzbereichen vor. Darüber hinaus sollen Kompetenzen systematisch hinsichtlich ihrer Strukturen in so genannten „Kompetenzmodellen“ beschrieben werden (Klieme et al. 2003). Diese Kompetenzmodelle dienen dann wiederum als Grundlage für Kompetenztests, also der empirischen Erfassung der betreffenden Kompetenz. Obwohl keineswegs Konsens darüber herrscht, ob interkulturelle Kompetenz zu den empirisch sinnvoll messbaren Kompetenzen gehört (vgl. Köller 2008; Hu 2008), wurde ein erster Versuch, interkulturelle Kompetenz im Fach Englisch in einem Kompetenzmodell zu systematisieren und anschließend empirisch zu überprüfen, im Rahmen der DESI-Studie vorgelegt (Hesse & Göbel 2007). Hesse und Göbel beschreiben dafür interkulturelle Kompetenz als „mehrdimensional“; sie umfasse „kognitive, affektive und Handlungskomponenten“, „deklaratives Wissen sowie kommunikative, interaktive Teilkompetenzen“ (Hesse & Göbel 2007; Hesse et al. 2008). Zur Systematisierung der Kompetenz greifen die Autoren auf das Modell der Interkulturellen Sensibilität (Developmental Model of Intercultural Sensitivity – DMIS) von Bennett (1993) zurück. Abb. 1 (s. nächste Seite) zeigt das Bennettsche Modell, das interkulturelle Sensibilität in drei ethnozentrische und drei ethnorelative Orientierungen unterteilt (vgl. auch Hesse & Göbel 2007): Bei den ethnozentrischen Orientierungen wird eher eine Vermeidung kultureller Unterschiede angestrebt, sei es mit Hilfe von Ignoranz (1. Stufe), Abwehr (2. Stufe) oder dem Herunterspielen der Bedeutung kultureller Verschiedenheit (3. Stufe). In den drei höheren Stufen der ethnorelativen Orientierungen werden diese Unterschiede akzeptiert (4. Stufe), berücksichtigt (5. Stufe) und schließlich in die Konstruktion der eigenen Identität integriert (6. Stufe). Dabei spielen jeweils kognitive, affektive und handlungsbezogene Aspekte eine Rolle. Darauf aufbauend gehen Hesse und Göbel davon aus, „dass sich spezifische interkulturelle Bewusstheit sehr gut mit tatsächlichen oder vorgestellten interkulturellen Kapitel 3 interkulturelle Kompetenz in den Fremdsprachendidaktiken Kompetenzmodelle in den Bildungswissenschaften das Modell von Bennett 63 Kapitel 3 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Abb. 1: Developmental Model of Intercultural Sensitivity (nach: Bennett 1993; vgl. auch Hesse 2009) interkulturelles Bewusstsein im Konfliktfall Konflikten aktualisieren lässt“ (Hesse & Göbel 2007, 264) und kombinieren das theoretische Modell mit der Methode der „Critical Incidents“ (Thomas & Wagner 1999). Bei dieser Methode werden zunächst mit Hilfe von Interviews Situationen erhoben, in denen sich Menschen in interkulturellen Konfliktsituationen befanden. Diese Situationen werden zu Prototypen verdichtet, die dann wiederum Probanden, in diesem Fall Schülern zur Entscheidung vorgelegt werden. Hier ein Beispiel: „Frau Hartmann wollte in London die Oper besuchen. Da es sich um ein mit bekannten Sängern besetztes, populäres Stück handelte, ging sie zusammen mit ihren deutschen Freunden schon zwei Stunden vor Beginn hin, um noch die letzten Eintrittskarten zu ergattern. Seltsamerweise stand auf dem Platz vor der Oper einfach eine Menschenschlange. Die Leute stellten sich also aus irgendeinem Grund nicht vor dem noch geschlossenen Verkaufsschalter an, sondern mitten auf dem Platz. Frau Hartmann und ihre Freunde stellten sich an einem Ende der Schlange an, waren jedoch nicht ganz sicher, ob es nun deren Anfang oder das Ende war. Die 64 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Kapitel 3 Ausrichtung der Reihe war einfach nicht zu erkennen, aber da sich niemand beschwerte, gingen Frau Hartmann und ihre Freunde davon aus, dass alles seine Richtigkeit hatte. Nach einer halben Stunde fiel ihnen auf, dass sich niemand hinter ihnen anstellte und da entdeckten sie auch das Schild ‚die Schlange beginnt hier‘ (‚the queue starts here‘). Völlig verärgert marschierte die Gruppe an das richtige Ende und fragte sich, warum sie niemand darauf hingewiesen hatte, dass sie sich ‚vorgedrängt‘ hatten.“ 5 (Schmid & Thomas 2003, 27) Um in der DESI-Studie die Art und Weise untersuchen zu können, „wie die Schüler bestimmte Ereignisse im Zusammenhang mit Kulturbegegnungen 6 deuten“ (Hesse & Göbel 2007, 264), werden ihnen im Anschluss an die Schilderung der Situation Fragen gestellt, die sich beziehen auf • eine kognitive Situationsanalyse (z. B. „Was ist in der Situation passiert?“), • eine affektive Situationsanalyse (z. B. „Wie fühlen sich die beteiligten Personen?“), • auf die antizipierten Handlungsstrategien (z. B. „Wie würdest du dich verhalten?“) und • den Transfer (z. B. „Was kann man aus dieser Geschichte lernen?“). Zu jeder Frage sind Antworten vorformuliert, die die Kategorien interkulturel7 ler Sensibilität repräsentieren (Hesse & Göbel 2007, 265). Das zugrunde gelegte theoretische Modell ist ursprünglich von Bennett als Progression konzipiert, die aber empirisch nicht bestätigt ist und auch theoretisch in manchen Hinsichten Probleme bereitet (Hesse 2009). In der DESI-Studie wird deshalb davon ausgegangen, „dass die interkulturellen Orientierungen als Typen interkultureller Kompetenz verstanden werden, ohne Annahmen über deren Reihenfolge zu machen“ (Hesse 2008, 52). Aus Gründen der Testbarkeit wurde die im Bennettschen Modell vorhandene Kompetenzklasse der „Integration“ von vorneherein ausgeklammert, so dass von den ursprünglich sechs Klassen nur fünf übrig blieben. Abb. 2 (s. nächste Seite) zeigt die Verteilung der DESI-Stichprobe (N = 3900 Schüler aus 412 Klassen) auf die entsprechenden „Kompetenzklassen“. Es stellt sich heraus, dass vor allem persönliche Voraussetzungen starken Einfluss 5 6 7 Diese Situation stammt aus einer Sammlung von Critical Incidents, der auch die Aufgaben für DESI entnommen wurden. Leider ist nicht bekannt, welche Critical Incidents genau im Rahmen von DESI zum Einsatz kamen. Interessant sind in diesem Zusammenhang empirische Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die Deutung von Ereignissen im Zusammenhang mit interkulturellen Begegnungen nicht beliebig ist, sondern konsistent psychologischen Mustern folgt (vgl. Hesse & Göbel 2007). Da die Aufgaben nicht zugänglich sind, kann an dieser Stelle kein Beispiel für eine Antwortformulierung angeführt werden. 65 Kapitel 3 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Ergebnisse der DESI-Studie Abb. 2: Verteilung der Schüler auf die Kompetenzklassen (entnommen aus: Hesse et al. 2008) Problematik der Messung Interkultureller Kompetenz das Modell von Byram 66 auf die Zugehörigkeit zu einer Kompetenzklasse ausüben: Es korrelieren höhere kognitive Fähigkeiten, Deutsch als Erstsprache sowie das weibliche Geschlecht mit einer verstärkten Zugehörigkeit zu den Kompetenzklassen von „Acceptance /Adaptation“ (Hesse et al. 2008). Adelheid Hu verweist auf die grundsätzliche Problematik der Messung interkultureller Kompetenz und hält fest, dass die fachdidaktische Diskussion über Interkulturalität sich stark von der über Kompetenzen unterscheidet. „Dies betrifft zentrale Punkte wie das Lernerbild, die Vorstellungen über Lernprozesse, das Sprach- und Kulturverständnis wie auch die Ziele von Fremdsprachenunterricht überhaupt“ (Hu 2008, 12). Hinzu kommt, dass im Diskurs über interkulturelle Kompetenz immer wieder „die ‚alte‘ Dichotomie von Eigen- und Fremdkultur bzw. Ausgangs- und Zielkultur benutzt [wird], obwohl inzwischen hinreichend bekannt ist, dass im Zuge von Globalisierung und Migration viele Schülerinnen und Schüler sich nicht mehr in diesem zweidimensionalen Weltbild verorten können. (…) die für die heutige Gesellschaft charakteristische Pluralität und Komplexität wird ausgeblendet“ (Hu 2008, 22). Auch das Modell von Bennett sei auf dieser Grundlage verfasst, indem es von kultureller Differenz ausgehe und normativ vom „Schlechten“ zum „Guten“ fortschreite. Hu verweist als eine mögliche Alternative auf das Modell von Byram (1997), der in Bezug auf interkulturelle Kompetenz fünf Teilkompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen unterscheidet (s. Abb. 3). Wie Bennett geht Byram von einem mehrdimensionalen Konstrukt aus: Wissen über die eigene und fremde Kultur (savoirs) ist ebenso Bestandteil des Modells wie die Fähigkeit, Dokumente oder Ereignisse anderer Kulturen zu interpretieren und zu erklären (savoir comprendre). Des Weiteren sind Komponenten des Modells die Fähigkeit, neues Wissen über andere Kulturen zu erwerben, und die Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen (savoir apprendre/faire), der kritische Umgang mit kulturellen Produkten und Praktiken (savoir s’engager) und letztlich Einstellungen wie Neugier, Offenheit und die Bereitschaft, eigene Überzeugungen zu relativieren (savoir être). Aus dem Zusammenspiel dieser Teilkompetenzen erwächst interkulturelle Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Kapitel 3 Abb. 3: Faktoren interkultureller Kommunikation (nach: Byram 1997, 34). Kompetenz (Byram 1997, 73). Eine Progression oder Stufung der fünf Teilkompetenzen ist in Byrams Modell nicht vorgesehen. Das Modell ist interessant für die Musikpädagogik, weil es eine kognitive, eine affektive, eine ethische und eine willensbezogene Ebene beinhaltet und damit Dimensionen umfasst, die auch im Umgang mit Musik und musikalischen Praxen eine Rolle spielen. In einem ausführlichen Kapitel zur Kompetenzmessung präzisiert Byram Feinziele, um die Teilkompetenzen zu testen, problematisiert aber gleichzeitig diese Möglichkeit, weil sie zu einer Trennung der eigentlich miteinander verbundenen Teilkompetenzen führt (Byram 1997, 87–103). Offensichtlich stellt die Konstruktion von Modellen interkultureller Kompetenz und insbesondere der Versuch, mit ihrer Hilfe tatsächlich interkulturelle Kompetenz zu messen, eine große Herausforderung dar. Deshalb soll abschließend auf einen ganz anderen Ansatz verwiesen werden, der vor allem auf Selbstreflexion setzt: Im Rahmen des Projekts „Autobiography of Intercultural Encounters“ (AIE) des Council of Europe wurde unter Beteiligung von Byram eine Art Portfolio entwickelt, in dem Begegnungen mit fremd erscheinenden kulturellen Kontexten geschildert und anhand spezifischer 8 Fragen reflektiert werden können . Byram thematisiert dieses Modell ausführlich im Kontext seiner Ausführungen zum Problem der Normativität in Modellen interkultureller Kompetenz. Positiv bewertet er die Tatsache, dass das AIE zu verschiedenen Zeitpunkten bearbeitet werden kann und dann ein 8 Weitere Informationen zum AIE sind im Internet unter folgender Adresse erhältlich: http://www.coe.int/t/dg4/linguistic%5CAutobiogrWeb_EN.asp. 67 Kapitel 3 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Portfolio der Reflexion über die eigene interkulturelle Kompetenz darstellt – ohne dass notwendig eine Instanz von außen begutachtend oder gar bewertend dazutritt. Allerdings liefert diese, wie Byram anmerkt, zutiefst pädagogische Art der Selbstreflexion keine Daten für die Entwicklung von Kompetenzmodellen oder gar Standards (Byram 2009, 224–226). 3.3 Wie eine Annäherung an eine musikspezifische interkulturelle Kompetenz aussehen könnte der Kulturbegriff in der Musikpädagogik das Konzept der Transkulturalität Der Einblick in den Diskurs der Fremdsprachendidaktik hat gezeigt, wie schwierig es ist, interkulturelle Kompetenz differenziert zu beschreiben und zu erfassen.9 Trotzdem können die dort angestellten Überlegungen durchaus als Anregungen für eine musikspezifische Formulierung interkultureller Kompetenz dienen (s. weiter unten). Vorher aber erscheint es sinnvoll, nach theoretischen und empirischen Anknüpfungspunkten in bzw. im Umfeld der Musikpädagogik zu suchen. Zuallererst muss in Bezug auf das Fach Musik unbedingt die in jüngster Zeit verstärkt geführte Diskussion um den Kulturbegriff in das Nachdenken einbezogen werden. Das Phänomen der kulturellen „Pluralität und Komplexität“ (Hu 2008, 22) betrifft in besonderer Weise die Musik selbst wie auch den Umgang mit ihr: So schwierig es ist, in der musikwissenschaftlichen und -pädagogischen Diskussion einen konsensfähigen Begriff von Kultur auszumachen (vgl. z. B. Nettl 2000; Hammel 2007), so wenig lässt sich Musik selbst oder eine musikalische Praxis ohne weiteres einer bestimmten kulturellen Tradition zuordnen. Die Begriffe der „eigenen“ und der „fremden“ Kultur verschwimmen, wenn afrikanische Popmusik für einen 15-jährigen Schüler in der Regel vertrauter klingt als die Sinfonien Beethovens10. Vermutlich weil in der Musik noch stärker als in anderen kulturellen Bereichen nationale bzw. ethnische Grenzen verwischen, wurde das Konzept der Transkulturalität in der Musikdidaktik positiv aufgenommen (z. B. Schütz 1998): Die Vorstellung, dass sich Menschen als „kulturelle Mischlinge“ konstruieren (Welsch 1993), korrespondiert mit der Erfahrung, dass es selbst Experten für so genannte Welt-Musik gelegentlich schwer fällt, die verschiedenen musikalischen Einflüsse auf ein konkretes Musikstück ausfindig zu machen. Allerdings bereitet der Begriff der Transkulturalität theoretische Probleme, denn im Beschreiben kultureller Phänomene kommt man um den Begriff der Kultur nicht herum. Wenn man ihn verwendet, bedeutet er dann – so sehr man das auch ver9 10 68 Auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen ist das noch nicht zufriedenstellend gelungen: O’Regan und MacDonald (2007) haben in einem umfassenden Überblick die bislang entwickelten Modelle interkultureller Kompetenz in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen dargestellt. Sie identifizieren hierbei viele Gemeinsamkeiten; gleichzeitig ist jedoch festzuhalten, dass sich bislang keines der von O’Regan und MacDonald referierten Modelle durchsetzen konnte und eine empirische Überprüfung der Modelle noch nicht stattgefunden hat. Vgl. den bedeutungsorientierten Kulturbegriff von Dorothee Barth (2008). Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? meiden möchte – doch immer eine Abgrenzung von anderem, eben von „anderen Kulturen“ (Zirfas et al. 2006). Viel versprechend erscheint deshalb das aktuell diskutierte Konstrukt der „Transdifferenz“ (Allolio-Näcke et al. 2005; Allolio-Näcke et al. 2008), womit die Erfahrung gemeint ist, die beim Überschreiten des Vertrauten entsteht und die sich als In-Frage-Stellung der üblichen binären Unterscheidungen konkretisiert (Allolio-Näcke & Keitel 2005), ohne diese zu ersetzen: „Transdifferenz ist demnach das, was es außer der Differenz gibt – nicht das, was stattdessen etabliert werden soll: Der Begriff gilt all jenem, was sich dem Entweder-oder der binären Logik entzieht“ (Frank 2008, 60). Der Blick auf Kultur „im Zeichen der Transdifferenz“ umfasst in einer grundsätzlichen Weise „das Erscheinen von und den Umgang mit kultureller Differenz“ (Allolio-Näcke & Kalscheuer 2005, 22), wobei die Aufmerksamkeit sich nicht nur auf die binäre Opposition von „Eigenem“ und „Fremdem“ richtet, sondern vor allem auf das, „was es außerdem noch gibt“ (Frank 2008, 72). Diese Vorstellung kommt der Besonderheit von Erfahrungen entgegen, die in musikalischen Praxen gesammelt werden, weil sie dem Konzept der Transdifferenz gerade im Hinblick auf die „Logik der Mehrfachzugehörigkeit und Grundüberlagerung“ entsprechen (Frank 2008, 73). Der Begriff wurde weder in der Musikpädagogik noch in der Musikwissen11 schaft bislang rezipiert, eröffnet aber gerade hier interessante Perspektiven. Inzwischen gibt es im Umfeld der Musikpädagogik erste empirische Untersuchungen, die für die Modellierung einer musikspezifischen interkulturellen Kompetenz hilfreich sein könnten: Am ehesten sind Untersuchungen über musikbezogene interkulturelle Phänomene mit qualitativen Forschungsmethoden im Bereich der Musikethnologie, der Europäischen Ethnologie bzw. der Kulturwissenschaft zu nennen (z. B. Greve 2003; Wurm 2006). Zusätzlich sind auch Befunde der musikpsychologischen Präferenzforschung zu berück12 sichtigen. Exemplarisch sei hier auf die Arbeit von Renate Müller verwiesen, die nachweisen konnte, dass die Bereitschaft zur Akzeptanz wenig vertrauter Musikstile bei Schülern extrem von der je konkreten sozialen Situation im Moment der Musikrezeption abhängt (Müller 1990). Beide Forschungsrichtungen könnten mit ihren empirischen Ergebnissen Hinweise darauf liefern, wie interkulturelle Kompetenz in Bezug auf Musik aussehen könnte. 11 12 Kapitel 3 das Konzept der Transdifferenz empirische Forschungsergebnisse zum Themenbereich Vgl. die entsprechenden Kapitel des Abschnitts „Transdifferenzen im Feld“ in: AllolioNäcke et al. 2008, 275–425. In jüngster Vergangenheit gibt es vor allem in der Musikpsychologie vermehrt Forschungen zu dem Konstrukt der „Offenohrigkeit“ (u. a. Gembris & Schellberg 2007). Für weiterführende Überlegungen zu musikspezifischer interkultureller Kompetenz wäre zu klären, inwieweit diese Arbeiten sowohl theoretisch als auch empirisch anschlussfähig sind: Zunächst geht es bei diesem Konzept um die Erforschung von Präferenzausprägungen und nicht um Kompetenzen. Weil sich bei den empirischen Untersuchungen herausgestellt hat, dass Offenohrigkeit vermehrt in einer bestimmten Altersstufe anzutreffen ist, schließt sich häufig die didaktische Forderung nach einer möglichst langfristigen Erhaltung der Offenohrigkeit an. Ob das aber tatsächlich uneingeschränkt zu wünschen ist, müsste vor dem Hintergrund der theoretischen Entfaltung des Begriffs der interkulturellen Kompetenz kritisch diskutiert werden. 69 Kapitel 3 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Nach dem Blick in die Didaktiken anderer Schulfächer und auch in den theoretischen Diskurs lässt sich zusammenfassend festhalten: Es existieren hochinteressante Anknüpfungspunkte, aber die Beschreibung einer musikbezogenen interkulturellen Kompetenz steht noch aus. Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen soll an dieser Stelle aber eine Arbeitsdefinition versucht werden, deren Aufgabe in erster Linie darin besteht, eine Diskussion um dieses Thema anzuregen: Musikbezogene interkulturelle Kompetenz umfasst motivationale, volitionale und soziale Bereitschaften in Verbindung mit kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Realisierung von Annäherungen an als fremdartig empfundene musikalische Praxen mit dem Ziel eines respektvollen Umgangs. Bestandteil interkultureller Kompetenz ist außerdem die Fähigkeit und Bereitschaft zur Reflexion dieser Prozesse. Arbeitsdefinition interkultureller Kompetenz Diese vorläufige Definition musikbezogener interkultureller Kompetenz wur13 de vor dem Hintergrund des Weinertschen Kompetenzbegriffs entwickelt , spiegelt aber gleichzeitig auch die Mehrdimensionalität interkultureller Kompetenz wider (knowledge, skill, and attitude components), wie sie bei Bennet (1993) und Byram (1997) zu finden ist. Bewusst wird in der Definition der Begriff der „musikalische Praxen“ verwendet, um die Funktionalität und das Eingebettetsein musikalischer Praxen in soziale Interaktionen zu betonen (vgl. u. a. Wallbaum 1998; Kaiser 2001; Rolle & Wallbaum 2008; Kaiser 2010): Bei musikbezogener interkultureller Kompetenz geht es um die Auseinandersetzung nicht nur mit fremder Musik, sondern auch mit deren Kontexten. Diese Dimensionen wurden in den eingangs zitierten Schülerinterviews mehr als deutlich: Die Schülerinnen beschrieben das Eingebettetsein „ihrer“ bzw. „anderer“ Musik in bestimmte Kontexte, die ebenso wie die Musik selbst zu Ablehnung bzw. Akzeptanz beitragen. Auch die situativen Aspekte hoben sie hervor – insgesamt Ermutigung genug, sich dem komplexen Thema der interkulturellen Kompetenz nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch weiter zu nähern. 13 70 Dieser Kompetenzbegriff, der auch bei der Entwicklung der deutschen Bildungsstandards Verwendung findet (Klieme et al. 2003), beschreibt Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001, 27). Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? Kapitel 3 Fragen zu Kapitel 3 1. Führen Sie aus, warum es so schwierig zu sein scheint, ein übergreifendes Modell interkultureller Kompetenz zu realisieren. Diskutieren Sie insbesondere das Problem der (fehlenden) Stufung anhand der Modelle von Byram und Bennett. 2. Wie würden Sie – in Abgrenzung von oder Anlehnung an die oben zitierte Arbeitsdefinition – interkulturelle Kompetenz bestimmen? Reproduktion Weiterführung 3. Formulieren Sie musikbezogene Aufgaben zur Messung interkultureller Kompetenz in Form von Critical Incidents. Tipps zum Weiterlesen Hu, Adelheid & Byram, Mike (Hg.) (2009): Interkulturelle Kompetenz und fremdsprachliches Lernen. Modelle, Empirie, Evaluation. Intercultural competence and foreign language learning models, empiricism, assessment. Tübingen: Narr. Die Fremdsprachendidaktiken befassen sich schon länger und intensiv mit dem Thema interkultureller Kompetenz. Dieser Band ist besonders interessant, da er in großer Breite den aktuellen Stand der Forschung nachzeichnet, hierbei einen besonderen Schwerpunkt auf die empirische Erforschung von interkultureller Kompetenz legt und zudem von einer interdisziplinären Autorenschaft verfasst wurde (u. a. Erziehungswissenschaft, Fremdsprachendidaktik, Psychologie, Kommunikationswissenschaft). Hu, Adelheid (2008): Interkulturelle Kompetenz. Ansätze zur Dimensionierung und Evaluation einer Schlüsselkompetenz fremdsprachlichen Lernens. In: Frederking, Volker (Hg.): Schwer messbare Kompetenzen. Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider, S. 11–35. Adelheid Hu fasst hier in prägnanter Art und Weise die Chancen und Probleme der Modellierung interkultueller Kompetenz – insbesondere im Kontext von Bildungsstandards und Lernstandserhebungen – zusammen. Wenngleich der Beitrag aus einem fremdsprachendidaktischen Blickwinkel verfasst wurde, so erscheint ein Großteil der Argumentation durchaus auch für das Fach Musik relevant. Hesse, Hermann-Günter & Göbel, Kerstin (2007): Interkulturelle Kompetenz. In: Beck, Bärbel & Klieme, Eckhard (Hg.): Sprachliche Kompetenzen – Konzepte und Messung. DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International). Weinheim: Beltz, S. 256–272. Dieser Beitrag gibt einen guten Einblick in die Art und Weise, wie interkulturelle Kompetenz im Kontext der DESI-Studie theoretisch konzeptualisiert und empirisch gemessen wurde. Es erfolgen Ausführungen zum 71 Kapitel 3 Knigge/Niessen: Modelle interkultureller Kompetenz für das Fach Musik? theoretischen Hintergrund (u. a. Verwendung des Bennettschen Kompetenzmodells), zur Testkonstruktion (u. a. curriculare Ausrichtung, Verwendung von Critical Incidents) und zur Testauswertung (u. a. Latente Klassenanalyse). 72