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See discussions, stats, and author profiles for this publication at: https://www.researchgate.net/publication/29759484 Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500 Article · January 2001 Source: OAI CITATIONS READS 0 16 1 author: Klaus Graf RWTH Aachen University 81 PUBLICATIONS 36 CITATIONS SEE PROFILE All content following this page was uploaded by Klaus Graf on 12 January 2017. The user has requested enhancement of the downloaded file. KLAUS GRAF Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500 Im Anschluß an die Darstellung der Karolinger sah sich der Autor einer umfangreichen deutschsprachigen reichsgeschichtlichen Chronik aus dem beginnenden 16. Jahrhundert, nur handschriftlich überliefert im Wiener Codex 2927, genötigt, die Aufnahme dieses Stoffs eigens zu begründen. Karl der Große sei ein Deutscher gewesen und habe eine deutsche Gemahlin gehabt, Hildegard, Herzogin aus Schwaben. Sein von der Schwäbin Hildegard geborener Sohn Ludwig sei mit Judith Gräfin von Altdorf in Schwaben verheiratet gewesen, und daher seien Ludwig, seine Kinder und Kindeskinder, mütterlicherseits Schwaben gewesen und von alter von tüschem und schwaebeschem land herkommen. Hierumb zuo loub und eren dem schwabenland hab ich hievor von inen ettwas kürtzlich gesetzt^. Die Stoffauswahl wurde also von dem Bestreben geleitet, den Ruhm des Schwabenlandes zur Geltung zu bringen. Ausgehend von diesem kaum bekannten Werk eines nicht ganz unbekannten Autors aus dem Bodenseeraum werde ich im folgenden noch zwei weitere Geschichtswerke vorstellen, die um 1500 Reichsgeschichte und schwäbische Geschichte verschränken: die ebenfalls volkssprachige „Schwäbische Chronik" des sogenannten Thomas Lirer, gedruckt 1485/86 in Ulm, und die in den Jahren nach 1488 geschriebene „Schwäbische Geschichte" des Ulmer Dominikanermönchs Felix Fabri. Nach Bemerkungen zur Bedeutung der Staufergeschichte als Bindeglied zwischen nationalem und regionalem Diskurs werde ich mit einem kurzen Vergleich zwischen schwäbischem und württembergischen Landesdiskurs schließen2. 1 Österreichische Nationalbibliothek Wien Cod. 2927, fol. 8. Die leider ungedruckt gebliebene Ausgabe von G. BLASCHITZ, Eine „Deutsche Chronik" eines Anonymus aus dem Umkreis des Klosters Reichenau. (Codex 2927 der Österreichischen Nationalbibliothek), 1983, habe ich bei den im folgenden gebotenen Zitaten anhand eines Mikrofilms der Handschrift kontrolliert. Die Textwiedergabe erweist sich als durchaus zuverlässig, doch bedarf die hyperakribische Nachahmung der graphischen Eigenheiten der Vorlage durch Blaschitz einer gewissen Normalisierung. Die Stelle bei BLASCHITZ, 120. 2 Diese Studie knüpft an eigene Vorarbeiten an, von denen hier nur drei genannt seien: K. GRAF, Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter, in: P. MORAW, Hg., Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter, 1992, 127-164; DERS., Souabe. Identite regionale ä la fin du Moyen Age et ä l'epoque moderne, in: R. BABEL - J.-M. MOEGLIN, Hg., Identite regionale et conscience nationale en France et en Allemagne du Moyen Age ä l'epoque moderne, 1997, 293-303; DERS., Die „Schwäbische Nation" in der frühen Neuzeit. Eine Skizze, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 59 (2000) 57-69. Hingewiesen sei auch auf die Beiträge im Internet unter: http://www.uni-koblenz.de/~graf. 202 KLAUS GRAF Als „Eine ,Deutsche Chronik' eines Anonymus aus dem Umkreis des Klosters Reichenau" hat Gertrud Blaschitz den eingangs zitierten Text 1983 in einer voluminösen Wiener maschinengeschriebenen Dissertation ediert und umfänglich kommentiert. Ein unzutreffender Terminus post quem (1529) hat Blaschitz die mehr als naheliegende Annahme verwerfen lassen, der um 1500 auf der Reichenau tätige, 1522 gestorbene Kaplan Gallus Öhem, bekannt als Autor der Chronik des Klosters Reichenau3, sei zugleich auch der Verfasser der Reichschronik in der Wiener Handschrift. Da die deutschsprachige Konstanzer Bischofschronik im Stiftsarchiv St. Gallen4 - sie wurde mit guten Gründen von Eugen Hillenbrand Gallus Öhem zugeschrieben - die Reichschronik benutze, könne Öhem aus chronologischen Gründen auch nicht die Bischofschronik geschrieben haben. Gegen Blaschitz konnte eingewandt werden, daß die mit der Haupthandschrift von Öhems Reichenauer Klosterchronik in der Universitätsbibliothek Freiburg (Hs. 15) übereinstimmenden Wasserzeichen den Wiener Codex in das erste Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts datieren5. Als es Felix Heinzer in einem 1988 publizierten glänzenden Aufsatz gelang, Gallus Öhems Hand in Reichenauer Handschriften und Inkunabeln zu identifizieren, stellte sich heraus, daß der Wiener Codex ohne jeden Zweifel ein Öhem-Autograph darstellt und die Reichschronik demnach als weiteres Werk des belesenen und gebildeten Kaplans gelten darf6. Bedauerlicherweise ist die Handschrift - sie umfaßt 260 Seiten - am Anfang und Ende defekt. Nach dem Verlust von fünf Lagen setzt der Text in der Merowingerzeit mit Entlehnungen aus der Chronik Hermanns von Reichenau ein, wobei bereits auf dem ersten erhaltenen Blatt von einem großen Streit zwischen Schwaben und Sachsen die Rede ist. Verloren sind Kapitel vom Ursprung der Schwaben, in denen auch etwas zum alten herkommen der Weifen 7 zu lesen war, und zur Christianisierung der Schwaben durch den Heiligen Ansgar8. Es geht Öhem um die deutschen Herrscher und ihre Dynastien bis zum Untergang der Staufer - die Handschrift bricht mit dem Jahr 1261 ab. Das reichshistorische Gerüst liefern Hermann von Reichenau, Eckehard-Frutolf, Martin von Troppau, Antoninus von Florenz und Jacobus von Bergamo. Es ist nicht übertrieben, Öhems Werk als „Schwäbische Reichschronik" zu bezeichnen, denn als leitender 3 Vgl. H. DRÖS, Das Wappenbuch des Gallus Öhem. Neu herausgegeben nach der Handschrift 15 der Universitätsbibliothek Freiburg, 1994; C. PROKSCH, Klosterreform und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter, 1994, 49f., 117-122, 153-155. 4 Stiftsarchiv St. Gallen, Cod. 339; vgl. zusammenfassend E. HILLENBRAND, Gallus Öhem, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon27 (1989), Sp. 28-32. 5 K. GRAF, Aspekte zum Regionalismus in Schwaben und am Oberrhein im Spätmittelalter, in: K. ANDERMANN, Hg., Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, 1988, 165-192, hier 174-178 zur Reichschronik. 6 F. HEINZER, Die Reichenauer Inkunabeln der badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Ein unbekanntes Kapitel Reichenauer Bibliotheksgeschichte, in: Bibliothek und Wissenschaft 22 (1988) 1-127, hier 48: „Öhem ist Schreiber der Handschrift, und dies bedeutet angesichts des autographen Charakters des Werks, daß er auch der Autor der Chronik ist". Zu Öhem als Buchbesitzer vgl. ebd., 32-49. 7 Wien Cod. 2927, fol. 13; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 135. 8 Ebd., fol. 3v; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 107. Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500 203 Gesichtspunkt dieser genealogisch-dynastisch aufgefaßten Reichsgeschichte erweist sich das „schwäbische Blut", also das Blut schwäbischer Adelshäuser, das in den Adern deutscher Herrscher floß. „Geschichtliche Größe", formulierte Klaus Schreiner, sei für den Autor „vor allem eine Sache der Herkunft, der Abstammung, des Blutes - des schwäbischen zumal". Und: „Was er zum Ruhm des Reiches schreibt, dient deshalb auch immer der Verherrlichung Schwabens"9. Die Karolinger sind für Öhem Schwaben, und so sind es auch ihre Abkömmlinge10. Konrad I. ist für den Chronisten mütterlicherseits ein Schwabe, auch wenn seine Herkunft strittig sei11. Von dem Ottonen Heinrich dem Vogler heißt es, da er vom Geblüt Karoli herkommen sei, müsse er notwendigerweise von einer Seite her ebenfalls ein Schwabe sein12. Mehrfach wird die schwäbische Abstammung der Ottonen betont. Weil Otto II. und Otto III. auch deß bluotz Schwaben wie ir votier geweßen sygen, habe er sich die Mühe gemacht, etwas von beiden zu schreiben, bemerkt Öhem13. Genaue genealogische Recherche erweist auch Heinrich II. als schwäbischen Bluts und vom Stamm Karoli Magni und Hildegards herkommend: wann ich nun syn altherkommen nach der lingen und burttstammenn genaw erschuoch, so ist er auch deß bluotz von Schwaben gelicher wyß wie die Otten von dem stammen Karoli Magni und Hiltigardis herkommenn14. Bei dem Salier Heinrich III. vertraut Öhem - wie etwa gleichzeitig Felix Fabri auch - der verbreiteten spätmittelalterlichen Fiktion, die in diesem Herrscher einen Sohn Graf Lupolds von Calw sehen wollte15. Er ist also zwar nicht vom Geblüt der Herzöge von Schwaben, aber doch von edlem stammenn usser dem land Schwaben, geboren im Schwarzwald in einer Mühle an der Stelle des späteren Klosters Hirsau16. Dem Geschlecht von Hohenstaufen aus Schwaben wird als einziger Dynastie eine gezeichnete Stammtafel gewidmet17. Die ältere Staufergenealogie wird nach dem Lorcher Vorspann der noch zu nennenden Augsburger Inkunabel „Hystoria Friderici" referiert. Die Staufer sind hier aus kleinen Anfängen emporgestie9 K. SCHREINER, Geschichtsschreibung und historische Traditionsbildung in Oberschwaben. Eine Landschaft auf der Suche nach ihrer Identität, in: P. BLICKLE, Hg., Politische Kultur in Oberschwaben, 1993, 43-70, hier 68. ID Vgl. dazu auch K. SCHREINER, Hildegard, Adelheid, Kunigunde. Leben und Verehrung heiliger Herrscherinnen im Spiegel ihrer deutschsprachigen Lebensbeschreibungen aus der Zeit des späten Mittelalters, in: S. BURGHARTZ u.a., Hg., Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für F. GRAUS, 1992, 37-50, hier 47 Anm. 41 mit Stellen aus der Wiener Handschrift. 11 Wien Cod. 2927, fol. 9; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 123. 12 Ebd., fol. 19; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 153. 13 Ebd., fol. 27; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 178. 14 Ebd., fol. 30v; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 187. 15 Wien Cod. 2927, fol. 52; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 255. FABRI: Melchior GOLDAST, Suevicarum Rerum Scriptores [...], Frankfurt 1605, 88-91. Zum Stoff vgl. zuletzt K. SCHREINER, Geschichtsschreibung im Interesse der Reform. Die ,Hirsauer Jahrbücher' des Johannes Trithemius (1462-1516), in: Hirsau St. Peter und Paul 1091-1991, Teil II: Geschichte, Lebens- und Verfassungsformen eines Reformklosters, bearb. von K. SCHREINER, 1991, 297-324, hier 307309. 16 Ebd., fol. 53v; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 260. 17 Ebd., fol. 97v-98; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 507. 204 KLAUS GRAF gen18. Kaiser Friedrich Barbarossa rühmt der Verfasser nach, daß es nach Karl dem Großen keinen löblicheren Mann gegeben habe, der so großmächtig und streitbar gewesen sei19. Im Konflikt Friedrichs II. mit der Kurie ergreift Öhem für den Herrscher Partei. Viele Gelehrten besonders in deutschen Landen würden ihn hoch preisen und loben, und wenn man von den römischen Königen und Kaisern der Gegenwart spreche, so werde gesagt: heften wir und daz roemisch rych diser zytt unnser Fridrichen so stuend es anders umb das roemsch rych20. Neben den Königen und Kaisern kommen die schwäbischen Herzöge nicht zu kurz. Besonders ausführlich werden die Babenberger (nach Ladislaus Sunthaims 1491 gedruckter Genealogie21) und die Welfen berücksichtigt, wobei sehr ausgiebig aus der „Historia Welforum" übersetzt wird. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts fesselt Öhem vor allem das nach Wipo geschilderte Schicksal des Herzogs Ernst von Schwaben. Einige deutsche Verse beklagen abschließend, daß Ernst und sein Hauptmann Graf Mangold an ihren Grabstätten in Konstanz und auf der Reichenau vergessen seien22. Hinsichtlich der Nachrichtenauswahl der Chronik ist es unverkennbar, daß der Schwerpunkt der Berichterstattung auf dem Geschehen in Schwaben und insbesondere im Bodenseeraum liegt. Gallus Öhems Reichschronik liefert kaum anderweitig nicht bekannte Mitteilungen zur hochmittelalterlichen Geschichte, aber darauf kommt es ja, wie wir seit geraumer Zeit wissen, auch gar nicht an. Sie ist ein bedeutsames gelehrtes Geschichtswerk, das einem volkssprachlichen Publikum am Anfang des 16. Jahrhunderts genealogisch akzentuiertes Wissen über die Geschichte des Reichs und Schwabens vermitteln wollte. Wie in seinen anderen Werken hat Öhem in großem Umfang hochmittelalterliche Primärquellen herangezogen. Mit ihrer starken Betonung des genealogischen Moments gehört die Chronik in den Kontext der Entstehung der modernen Genealogie, die um 1500 vor allem mit den Namen Ladislaus Sunthaim, Jakob Mennel und Matthäus Marschall von Pappenheim verbunden ist. Bei den ersteren beiden darf der Hinweis auf die genealogischen Bestrebungen Kaiser Maximilians, dem sie zuarbeiteten, nicht fehlen23. 18 Ebd., fol. 96; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 396. Die Quelle (vgl. unten Anm. 41) wurde von Blaschitz nicht erkannt. 19 Ebd., fol. 115v; BLASCHITZ, 454. 20 Ebd., fol. 128; BLASCHITZ, 496. 21 Faksimile des Drucks bei F. RÖHRIG, Der Babenberger-Stammbaum in Stift Klosterneuburg, 21977, 109-146. 22 Wien Cod. 2927, fol. 44v; BLASCHITZ (wie Anm. 1) 234. Vgl. die Literaturhinweise zu den drei Historikern bei K. GRAF, Staufer-Überlieferungen aus Kloster Lorch, in: S. LORENZ - U. SCHMIDT, Hg., Von Schwaben bis Jerusalem. Facetten staufischer Geschichte, 1995, 209-240, hier 232. Zu Sunthaim vgl. zusammenfassend W. STELZER, Ladislaus Sunthaym, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 4) 29 (1995), 537-542. Zu Mennel vgl. jüngst zusammenfassend K.-H. BURMEISTER, Seine Karriere begann auf dem Freiburger Reichstag. Der Jurist und Historiker Dr. Jakob Mennel (1460-1526), in: H. SCHADEK, Hg., Der Kaiser in seiner Stadt. Maximilian I. und der Reichstag zu Freiburg 1498, 1998, 94-113. Zu Pappenheims handschriftlichen Sammlungen vgl. auch den Hinweis bei K. GRAF, Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, in: J. JANOTA - W. WILLIAMS-KRAPP, Hg., Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, 1995, 100-159, hier 145 Anm. 189. 23 Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500 205 Reich und Land, nationaler und regionaler Diskurs sind bei Öhem eng aufeinander bezogen. Das Land, dem die Sympathie des Autors gilt, ist kein Territorium wie Württemberg oder Baden: Es ist das Schwabenland, die alte gentile Einheit Suevia/Schwaben. Der Reichshistoriker schreibt eingestandenermaßen zu Lob und Ehre des Schwabenlandes. Der historische Glanz der deutschen Herrscher und schwäbischen Herzöge verdankt sich ihrer schwäbischen Herkunft, und der Herrscherruhm strahlt auf das Land zurück. Als schwäbische Landeschronik darf auch jenes rätselhafte Werk in deutscher Sprache gelten, das aufwendig illustriert 1485/86 bei Konrad Dinckmut in Ulm erschien und nach einer fingierten Autornennung als Thomas Lirers „Schwäbische Chronik" bekannt ist24. Diese historiographische Fiktion ist zwischen 1460 und 1485 wohl im Umkreis der oberschwäbischen Grafen von Montfort zu Tettnang geschrieben worden. Ich habe 1987 in meiner Dissertation zu zeigen versucht, daß es sich um einen adeligen Diskurs über das Land Schwaben handelt, der im Medium fiktiver Historie und unter Verwendung höfisch-ritterlicher Traditionen Grundfragen aristokratischer Existenz diskutiert25. Der Text entwirft ein genossenschaftliches Landes-Modell, das ganz von der Rechtsgemeinschaft der adeligen Landleute in Schwaben getragen wird. Hintergrund ist die restaurative Bildungswelt der Ritterschaft bzw. der mindermächtigen Stände. Der Autor vertritt dezidiert „konservative" Ansichten, etwa indem er die Reinheit adeligen Geblüts hochhält. In der Elisa-Episode, die den zeitgenössischen Prosahistorien nahesteht, läuft alles auf eine Liebesheirat zwischen dem Knappen Arbogast und der portugiesischen Königstochter Elisa hinaus, doch der Erzähler düpiert die Lesererwartung. Das Brautwerbungsschema wird gebrochen: Aus Standesrücksichten verzichtet Arbogast zugunsten seines Herren, Graf Albrecht von Werdenberg. 1825 hat übrigens Joseph von Laßberg, dessen nach Donaueschingen gelangte Bibliothek in diesen Tagen in unfaßbarer Weise zerstückelt wird, den Stoff als romantisches Volksbuch bearbeitet26. Die Lirer-Chronik stellt eine Verschränkung von Reichsgeschichte, schwäbischer Geschichte und der Geschichte von Angehörigen der Häuser Montfort, Werdenberg und Heiligenberg dar27. Der erste Abschnitt des vor allem nach dem Muster der Genealogie organisierten Textes erzählt unter Nennung der Jahreszahl 104 nach Christus die Bekehrung des römischen Kaisers Kurio, seine Vertreibung nach Churrätien, das von ihm den Namen hat, und die Herrschaftsbildung seiner Söhne. Die Kämpfe des Kaiser Konstantin mit den Ungarn unter Beteiligung des Schwabenherzogs Wendel und die Kreuzauffindungslegende sind Thema des dritten Abschnitts. Der 10. Abschnitt zeigt die Brüder Ludwig und Konrad von Staufen im erfolgreichen Kampf um das Königtum. Um einen Rangstreit beim Einzug eines Kaisers Heinrich in Frankfurt zwischen dem Bayern- und dem Schwabenherzog geht es im 15. Abschnitt. Diskutiert wird der 24 Faksimileausgabe: Thomas LIRER, Schwäbische Chronik, hg. von Peter AMELUNG, 1990. K. GRAF, Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers „Schwäbische Chronik" und die „Gmünder Kaiserchronik", 1987. 26 Ebd., 149. 27 Ebd.,64. 25 206 KLAUS GRAF Konflikt einer geblütsrechtlichen und einer amtsrechtlichen Auffassung des schwäbischen Herzogtums. Die nächste Episode verabschiedet aber diese Institution, denn es soll künftig nach einem Beschluß des römischen Königs keinen Herzog von Schwaben mehr geben, lediglich einen von zwölf adeligen Geschlechtern gewählten Landvogt mit Sitz bei Ravensburg. Besondere Aufmerksamkeit verdient die 13. Episode. In ihr verhilft der Schwabenherzog Breme (gemeint ist Brennus) dem aus Trier gebürtigen Deutschen Julius zur Kaiserwürde. Im Gegenzug verleiht Kaiser Julius nicht näher bezeichnete Privilegien an die Schwaben und Deutschen. Nationale Kraft bewährt sich also im Kampf gegen Rom. Schwäbisches und deutsches Herkommen werden in diesem Abschnitt, der eine Benutzung der volkssprachigen Kaiserchronik des 12. Jahrhunderts erkennen läßt, eng aufeinander bezogen28. Ohne Zweifel läßt sich konstatieren, daß Schwäbische und Reichsgeschichte in der Lirer-Chronik in vielfacher Weise verzahnt sind. Der Reichsbezug des Textes stimmt zur politischen Position des mindermächtigen schwäbischen Adels, der in der Konfrontation mit den Hegemonialmächten - an erster Stelle ist Habsburg zu nennen - auf seiner Schwabenfreiheit und seiner Reichsunmittelbarkeit beharrte29. Im bündisch-genossenschaftlich akzentuierten Land Schwaben der Lirer-Chronik ist für einen Fürsten und eine Fürstendynastie kein Platz. Die Führungsrolle des Herzogs übernimmt, so sieht es die 16. Episode des Werks vor, auf ewig ein von zwölf Adelsgeschlechtern gewählter Landvogt. Von dem 1502 gestorbenen Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri30, einem vehementen Verfechter der Ordensreform, stammt ein kaum untersuchtes lateinisches Geschichtswerk, das in zwei Rezensionen von 1488/89 bzw. 1493/97 vorliegt. Es sollte den 12. Traktat des bekannten „Evagatoriums", der faszinierenden Beschreibung der beiden Pilgerreisen ins Heilige Land, bilden. Ausgaben des 19. Jahrhunderts existieren leider nur für die bekannte Abhandlung über die Stadt Ulm und die schweizergeschichtlichen Passagen. Ansonsten ist man auf den Abdruck Melchior Goldasts von 1605 (bzw. die zweite Auflage Ulm 1727) angewiesen31. Bemerkenswert ist bereits die Selbstbezeichnung des Werks im Ulmer Autograph: Incipit descriptio aliqualis nostrae terrae et provinciae Theutoniae et nationis Sueviae et civitatis Ulmae32. Man beachte: Schwaben heißt „natio". Wäh28 Vgl. GRAF, Aspekte (wie Anm. 5) 172. Vgl. dazu GRAF, Land (wie Anm. 2) 143-149. 30 Zu Leben und Werk vgl. zuletzt zusammenfassend: Felix FABRI, Die Sionspilgerin, hg. von W. CARLS, 1999, 53-62. 31 Heranzuziehen sind: GOLDAST, Scriptores (wie Anm. 15) 46-223 („Liber I") nach der jüngeren kürzeren Redaktion des Werks; Frater Felicis Fabri Tractatus de civitate Ulmensi, de eius origine, ordine, regimine, de civibus eius et statu, hg. von G. VEESENMEYER, 1889, 210-220 (bei Goldast nicht gedruckte Stellen der älteren Redaktion aus Clm 848); Fratris Felicis Fabri Descriptio Sueviae, hg. von H. ESCHER, in: Quellen zur Schweizer Geschichte, Bd. 6, 1884, 107229, Edition ebd., 109-204 mit einem umfangreichen Nachwort (205-229), der ausführlichsten Information über den Text. 32 W. SCHMIDLIN, Felix Fabris Beschreibung Schwabens und dessen Abhandlung von der Stadt Ulm, in: Mitteilungen des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben 29 29 Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500 207 rend die Beschreibung Ulms für sich steht, handelt es sich bei der Beschreibung Deutschlands und Schwabens weniger um ein geographisches als vielmehr um ein historisches Werk zur schwäbischen Geschichte im Rahmen der Reichshistorie. Der gebürtige Zürcher ist ein entschiedener Anhänger der Habsburger und wendet sich daher gegen die Schweizer Eidgenossen. Daß die Schweizer Schwaben sind, wird von ihm ausdrücklich hervorgehoben33. Die Sympathie des Ulmer Mönchs gilt dem Herrschergeschlecht der Staufer, die er gegen die italienischen Verleumdungen in Schutz nimmt. Für seine auf Ulm und Schwaben bezogene Heimatliebe und seinen deutschen Patriotismus ist es charakteristisch, daß er sich oft aus der Begegnung mit dem Fremden entwickelt und ableiten läßt. Eigenes und Fremdes, wenn man so will: Identität und Alterität, stehen in einer fruchtbaren Wechselwirkung. Im „Evagatorium" spricht er von dem glückhaften Augenblick, als er wieder die Alpen sieht, von der Freude im Herzen, Deutschland wiederzusehen. „Einst war es arm an Weisheit, Macht und Reichtum, jetzt aber ist es an herrlichen Werken nicht nur ändern gleich, sondern es übertrifft das geschwätzige Griechenland, geht dem stolzen Italien voran und drückt das händelsüchtige Frankreich herunter"34. In der gleichen Passage bezieht Fabri sich voller Pathos auf seine Heimat Schwaben und Ulm: Dulcis ave natalis humus, tu Suevia felix/ Inclita urbs tu Ulma, nobile palladium. Man sieht: Lokal- und Regionalpatriotismus sind untrennbar mit dem auf Deutschland bezogenen Patriotismus verquickt. Fabris anschauliche Beobachtungen zu den vielen Schwaben in der Fremde35 werfen übrigens die sozialhistorische Frage nach der Bedeutung landsmannschaftlichen Zusammenhalts außerhalb Schwabens auf. War der Schwabendiskurs vielleicht auch deshalb so virulent, weil die Mobilität der Einwohner der Region besonders groß und in der Fremde der Wunsch nach landsmannschaftlicher Solidarität besonders stark war? Eine Antwort darauf steht noch aus. Wie den Humanisten seiner Zeit liegt Fabri viel an der Rehabilitation der Deutschen gegenüber den Anwürfen der Italiener. Die Deutschen müßten dazu schweigen, da sie nicht über die rechte lateinische Beredsamkeit verfügten. „Wenn ein Schwabe aufstände", ruft Fabri aus, „der Redekunst mächtig und in der Dichtkunst gewandt, der könnte wahrlich und wahrhaft die Verleumder der (1934) 97-100, hier 99 nach dem Autograph Stadtbibliothek Ulm, Cod. 19555,3. Vgl. auch die Ankündigung Fabris bei Veesenmeyer, Tractatus (wie Anm. 31) 210: Tria circa haec venient describenda, videlicet provincia Teutoniae in generali, natio Sueviae in speciali, et civitas Ulmensis in singulari. 33 ESCHER, Fabri (wie Anm. 31) 131: Svevorum filii sunt. 34 Fratris Felicis Fabri Evagatorium in terrae sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem, hg. von K. D. HASSLER, Bd. 3, 1849, 371: O quam laetabar animo Alemanniam tneam videre! Olim quidem prudentia, potentia, divitiis exilem, nunc autem claris operibus non tantum aequalem, sed loquacem superare Graeciam, superbam antecedere Italiam et contentiosam pretnere Franciam. Übersetzung nach M. HÄUSSLER, Felix Fabri aus Ulm und seine Stellung zum geistigen Leben seiner Zeit, 1914, 37. 35 GOLDAST, Scriptores (wie Anm. 15) 78f.: Transmittit enim Sueuia omnibus sacerdotes et scolares: nee est natio sub coelo, de qua tot sacerdotes, scriptores, musici, rectores scolarium, et huiusmodi sint, sicut de natione Sueuiae (ebd., 78). Vgl. auch die Übersetzung bei A. KELLER, Die Schwaben in der Geschichte des Volkshumors, 1907, 66-68. 208 KLAUS GRAF alten Fürsten und Kaiser aus Schwabenstamm widerlegen, die Falschheit der Italiener an den Tag bringen und unsrer Fürsten Taten höher erheben als die der Griechen oder Italiener oder Franzosen"36. Wenige Jahre später wird der Tübinger Poeta laureatus Heinrich Bebel in seinen lateinischen Werken dieses Programm Fabris aufgreifen. Er habe das Vaterland Schwaben treu wie Theseus durch Ahnenlob in geistiger Leistung wiederhergestellt, pries ihn der Humanist Nikolaus Basellius. Dieter Mertens hat diese Formulierung - Bebelius [...] patriam Sueviam [...] restituit- in den Titel seines grundlegenden Beitrags zu Bebels schwäbischem Gentilpatriotismus übernommen37. Typisch für die humanistische Stauferbegeisterung ist ein lateinisches Gedicht Bebels, das die Mönche der Stauferabtei Lorch in ihrer Kirche als Ergänzung der älteren Stiftertafel anbrachten38. Mehr als hundert Jahre hat das schwäbische Herzogshaus, erfährt man aus den pathetischen Versen, das römische und deutsche Reich regiert. Gallien und Italien fürchteten die Könige aus diesem Geschlecht als ihre Herren, und auch der grimmige Türke wich vor ihnen zurück. Sogar Jerusalem konnte „unseren" (also den deutschen) Titeln hinzugefügt werden. Durch ihre Triumphe erstrahlte das mächtige Europa, Asiens Gefilde mußten sich ihrer Macht beugen. Bebels Berufung auf Europa ist vor dem zeitgenössischen Hintergrund der Türkenkriege zu sehen39. Die imperiale Größe der Stauferzeit wird als leuchtendes Gegenbild zur eigenen Gegenwart in Szene gesetzt. In der Erinnerung an die Staufer, die Familie der letzten schwäbischen Herzöge, verbanden sich schwäbischer und deutscher, also regionaler und nationaler Patriotismus. Wichtigster Ort der Bemühungen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts um die staufische Geschichte war Augsburg. Dort wirkte im Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra Sigismund Meisterlin, über den Paul Joachimsohn schrieb: „Der Schwabe Meisterlin denkt schwäbisch, die Staufer sind seine Lieblinge als schwäbische Herren'". Es lohnt auch, den Satz zu zitieren, der dieser Formulierung vorausgeht: „Bei dem Patriotismus der humanistischen Ge36 GOLDAST, Scriptores (wie Anm. 15) 93: Si quis Sueus eloquentia oratoria pollens exurgeretpoesi tritus, passet profecto et vere calumniatores antiquorum principum et imperatorum ex gente Sueuorum excusare, et Italorum infidelitate prodere, nostrorumque principum facta altius attollere, quam Graecorum aut Italorum aut Francigenarium. Die Übersetzung nach P. JOACHIMSEN, Die Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus, 1910, 50. 37 D. MERTENS, „Bebelius [...] patriam Sueviam [...] restituit". Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 42 (1983) 145-173. 38 Vgl. GRAF, Staufer-Überlieferungen (wie Anm. 23) 225f. mit Überlieferungs- und Druckangaben. Die hier herangezogenen Verse (Textbeginn: Nee potuere duces Suevorum) sind am bequemsten zugänglich bei Christian TUBINGIUS, Burrensis Coenobii Annales. Die Chronik des Klosters Blaubeuren, hg. von G. BRÖSAMLE, 1966, 78f. (mit deutscher Übersetzung). 39 Vgl. dazu die Arbeiten von D. MERTENS, Claromontani passagii exemplum. Papst Urban II. und der erste Kreuzzug in der Türkenkriegspropaganda des Renaissance-Humanismus, in: B. GUTHMÜLLER - W. KÜHLMANN, Hg., Europa und die Türken in der Renaissance, 2000, 65-78; DERS., „Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra [...]". Zu Funktionen und Überlieferung lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert, in: R. ERKENS, Hg., Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter, 1997, 39-57. Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500 209 schichtsschreiber ist es nun charakteristisch, daß er sich auf der Grundlage des Stammesgefühls entwickelt"40. Um 1473 kam in der Buchdruckerei der Augsburger Abtei die lateinische „Hystoria Friderici" heraus, die Bearbeitung eines hochmittelalterlichen Geschichtswerks, nämlich der Chronik des stauferfreundlichen Chronisten Burchard von Ursberg41. Wenige Jahre später dürfte der bekannte Augsburger Berufsschreiber Konrad Bollstatter eine deutsche Übersetzung davon angefertigt haben - sie blieb in einer Dresdener Handschrift, von anderer Hand um 1500 oder etwas später geschrieben, erhalten42. Daß man sich in jener Zeit nicht nur intensiv für die Genealogie der Staufer, sondern auch für die der Welfen interessierte, sei nur am Rande vermerkt. So findet sich in einem in den Jahren vor und nach 1500 entstandenen Sammelband des bekannten Nürnberger Weltchronisten Hartmann Schedel eine deutschsprachige Abhandlung, die den Welfen als „schwäbischen" Fürsten gilt: Von dem Ursprung und der gepurt der swebischen fursten und sunderlich der Guelfen43. Wenn es um das Thema Reich und Land in der Historiographie um 1500 geht, ist man jedenfalls gut beraten, die für die „retrospektiven Tendenzen"44 jener Zeit so bedeutsame Rezeption älterer Werke nicht ganz auszublenden45. Die besondere Bedeutung des Landes Schwaben im Diskurs der Gelehrten mag irritieren, denn Schwaben war ja nach heutigem Verständnis eine überlebte, 40 JOACHIMSEN, Geschichtsauffassung (wie Anm. 36) 77. Vgl. GRAF, Ordensreform (wie Anm. 23) 145. Zum „monastischen Historismus" in St. Ulrich und Afra vgl. ebd., 138-146. 42 Vgl. GRAF, Staufer-Überlieferungen (wie Anm. 23) 231 Anm. 135; J. WOLF, Konrad Bollstatter und die Augsburger Geschichtsschreibung. Die letzte Schaffensperiode, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 125 (1996) 51-86, hier 61f. 43 Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 472, fol. 239-256v (bislang nicht beachtet). Hauptquelle ist die „Historia Welforum", über deren Rezeption im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert neuere Untersuchungen noch ausstehen. P. JOHANEK, Historia Welforum, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 4) 24 (1983) 61-65 nennt nur die um 1500 entstandene kostbar illustrierte „Weingartner Weifenchronik", jetzt Landesbibliothek Stuttgart Cod. hist. 4° 584. Zu der mutmaßlichen Vorlage Hauptstaatsarchiv Stuttgart B 515 Hs. 5b und der weiteren Überlieferung dieses deutschsprachigen Weingartner „Stifterbüchleins" vgl. N. KRUSE, in: 900 Jahre HeiligBlut-Verehrung in Weingarten 1094-1994. Festschrift zum Heilig-Blut-Jubiläum am 12. März 1994, 1994, 78f„ 100 und den Ausstellungskatalog: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung in Weingarten 1094-1994. Katalog zur Jubiläumsausstellung, 1994, 104f. Zu berücksichtigen wären aber auch die lateinischen Schriften, die sogenannte „Summula de Guelfis" (vgl. GRAF, StauferÜberlieferungen [wie Anm. 23] 230) und die Texte in Wien, Österreichische Nationalbibliothek Cod. 605 (vgl. MGH SS Bd. 21, 456f.). An literarischer Rezeption der „Historia Welforum" sei neben Öhem (vgl. auch HEINZER, Öhem [wie Anm. 6] 36) die Benutzung in Weingarten im Jahr 1509 durch einen um 1520 schreibenden Historiographen Jakob von Mainz notiert; vgl. D. KÖNIG, Mainzer Chronisten [...], in: Forschungen zur deutschen Geschichte 20 (1880) 37-66, hier 63. 44 Vgl. K. GRAF, Retrospektive Tendenzen in der bildenden Kunst vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Kritische Überlegungen aus der Perspektive des Historikers, in: A. LÖTHER u.a., Hg., Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für K. SCHREINER, 1996, 389-420. 45 Vgl. auch B. SCHÜRMANN, Die Rezeption der Werke Ottos von Freising im 15. und frühen 16. Jahrhundert, 1986. 41 210 KLAUS GRAF anachronistische Größe. Blickt man aber zum Vergleich auf ein so vitales Territorium wie Württemberg, 1495 zum Herzogtum erhoben, so kann man den emphatischen Berufungen der Historiographen auf Schwaben keine analogen Zeugnisse eines württembergischen Landesdiskurses gegenüberstellen. In der um 1500 entstandenen umfangreichen lateinischen Weltchronik des Tübinger Universitätsrektors Johannes Naukler, eines engen Vertrauten des ersten Herzogs Eberhards im Bart, findet sich als Exkurs eine kurze Beschreibung Schwabens, nicht Württembergs46. Und der aus Pforzheim gebürtige berühmte Humanist Johannes Reuchlin, zeitweilig württembergischer Rat, orientierte seinen Patriotismus überwiegend an der Kulturnation Schwaben47. Die Anfänge der württembergischen Landeshistoriographie im 15. Jahrhundert sind äußerst bescheiden und halten, was Bedeutung und Umfang angeht, den Vergleich mit den erwähnten gelehrten Werken von Öhem, Fabri und Naukler nicht aus48. Der Schwerpunkt dieser eher dürftigen Texte liegt auf der dynastischen Geschichte der Grafen von Württemberg. Gleich zu Beginn der nach 1463 entstandenen kurzen deutschsprachigen „Stuttgarter Stiftschronik vom Haus Württemberg" liest man die Prophezeiung der Mutter Graf Eberhard des Erlauchten, solange er lebe, werde er allem Schwabenland mit Kriegen zu schaffen machen49. Schwaben wird somit als selbstverständlicher Erfahrungs- und Handlungsraum vorausgesetzt. Graf Eberhard im Bart von Württemberg hätte es 1495 vermutlich gerne gesehen, wenn er von Maximilian zum Herzog von Schwaben erhoben worden wäre. Er sah sein Territorium eingebunden in ein durch den Schwäbischen Bund wiederbelebtes Vaterland Schwaben, dessen schwabenstolzem Adel er sich in besonderem Maße verpflichtet fühlte. Nicht nur in humanistischen Kreisen erblickte man am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Schwaben ein Vaterland, das ständeübergreifenden Patriotismus aktivieren konnte. Schwaben muß als Grundwert begriffen werden, der sich in der Auffassung der Zeitgenossen als Bindeglied zwischen rechtlicher Verfassung und Sprache, zwischen personaler und kollektiver Identität empfahl50. 46 Zu dieser Beschreibung vgl. zuletzt D. MERTENS, „Landesbewußtsein" am Oberrhein zur Zeit des Humanismus, in: F. QUARTHAL - G. FAIX, Hg., Die Habsburger im deutschen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs, 2000, 199-216, hier 204-206. 47 K. GRAF, Aus krichsscher sprach in das swebischs teutschs gebracht. Bemerkungen zu Reuchlins Patriotismus, in: S. RHEIN, Hg., Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, 1998, 205-224. 48 Vgl. GRAF, Geschichten (wie Anm. 25) 209-224; DERS., Geschichtsschreibung und Landesdiskurs im Umkreis Graf Eberhards im Bart von Württemberg (1459-1496), in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129(1993) 165-193. 49 C. F. STALIN, Zu den Annales Stuttgartienses, in: Württembergische Jahrbücher 1864, 251-261, hier 256. Zum Text vgl. K. GRAF, Stuttgarter Stiftschronik vom Hause Württemberg, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 4) 29 (1995), 472-474. 50 K. GRAF, Eberhard im Bart und die Herzogserhebung 1495, in: 1495: Württemberg wird Herzogtum. Dokumente aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart zu einem epochalen Ereignis, bearb. von S. MOLITOR, 1995, 9-43, hier 24. Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500 211 Der Reichsbezug Schwabens war unbestreitbar. Für Heinrich Bebel, der in seinen historisch-patriotischen Schriften nicht müde wurde, die Vorzüge der Suevi zu preisen, war Württemberg im Vergleich zur ehrwürdigen Tradition des Schwabennamens nur ein „nomen privatum", dem es sozusagen an öffentlichrechtlicher Dignität fehlte51. Im Spätmittelalter wurde das Herzogtum Schwaben nach wie vor als selbstverständlicher Bestandteil der Reichsverfassung betrachtet. Der Herzog von Schwaben ist eine der vier Säulen des Reichs, dies behaupteten beispielsweise die weitverbreiteten Quaternionentexte52. Ihre aus moderner Perspektive eher befremdliche Darstellung der Reichsverfassung geht nach meiner Überzeugung auf eine von Herolden konstruierte historisierende Spekulation aus der Zeit Kaiser Sigmunds zurück53. Ich fasse zusammen. Es gab um 1500 in Südwestdeutschland eine reichsgeschichtlich akzentuierte Landesgeschichtsschreibung von beträchtlichem historiographischem Gewicht, die nicht Territorialgeschichtsschreibung war, sondern dem Land Schwaben galt. Nationaler, auf das Reich und Deutschland bezogener Diskurs, und regionaler Diskurs haben sich gegenseitig beeinflußt und verstärkt. Erinnert sei nur an den begriffsgeschichtlichen Befund bei Fabri, der von der „natio" Schwaben ausgeht. In einem deutschsprachiger Beleg von 1493 ist von gemeiner swebischen nacion54 und in den Akten des Schwabenkriegs/Schweizerkriegs 1499 einmal von einem Krieg wider den loblichen bundt der schwäbischen nacion die Rede55. Die historiographischen Texte konnten hier nur andeutungsweise in einem Regionaldiskurs verortet werden, der gewiß nicht von den gelehrten Konstruktionen des humanistischen Gentilpatriotismus mit seiner Wiederentdeckung der antiken und völkerwanderungszeitlichen germanischen „gentes" dominiert wurde. Die sich damals vollziehende Entdeckung der Region als identitätsstiftende „Heimat" war das Resultat eines Diskurses, der über die humanistischen Zirkel hinaus nicht unerhebliche politische und lebensweltliche Relevanz besaß. 51 Vgl. MERTENS, Bebelius (wie Anm. 37) 166 mit Anm. 71, 171 nach Bebels Schrift „Germani sunt indigenae", in: Opera Bebeliana sequentia [...], Pforzheim 1509. % 52 Vgl. H.-G. HOFACKER, Die schwäbische Herzogswürde. Untersuchungen zur landesfürstlichen und kaiserlichen Politik im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 47 (1988) 71-148, hier 74. 53 GRAF, Geschichtsschreibung (wie Anm. 48) 184f. 54 Urkundenbuch der Stadt Heilbronn, Bd. 2, 1913, 544. 55 Artikel des Herzogs von Mailand in einer Esslinger Aufzeichnung bei K. KLÜPFEL, Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (1488-1533), Bd. l, 1846, 370 (freundlicher Hinweis von Dieter Mertens). Zum Konzept der Nation um 1500 vgl. jüngst D. MERTENS, Nation als Teilhabeverheißung: Reformation und Bauernkrieg, in: D. LANGEWIESCHE - G. SCHMIDT, Hg., Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, 2000,115-134. View publication stats