»ietrich Harth
Das Gedächtnis
der Kulturwissenschaften
DRESDEN UNIVERSITY PRESS
Dietrich Harth
Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften
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09827381 , 0
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Dietrich Harth
Das Gedächtnis
der Kulturwissenschaften
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DRESDEN UNIVERSITY PRESS
Dresden - München
1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufiiahme
Harth, Dietrich:
Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften / Dietrich Harth.
Dresden ; München : Dresden Univ. Press, 1998
ISBN 3-931828-20-4
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© 1998 Dresden University Press
Dresdner Universitätsverlag & Universitätsbuchhandlung GmbH
Dresden, München
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Markus Wirtz
Umschlaggestaltung: Reinhard Baumann, München
KB3£LBB1@
Druck: Difo-Druck GmbH, Bamberg
Printed in Germany
Inhalt
Vorbemerkung...............................................
9
Kulturanalyse und aufrechter Gang.............................
13
Kultur als Verkörperung — Ikonographie des »aufrechten Gangs« — Versionen der »Lesbarkeit« des Leibes — Mythos des Phänotyps — Doppelsinn
der Maske — Doppelsinn der Hautbemalung — Begriff der »Lesbarkeit«
und Verfahren der Kulturanalyse - Monumentalische Analyse - Pragmatische Analyse - Die Verkörperung der Kultur in funktionalistischer und
evolutionistischer Sicht - Exzentrische Positionalit'dt
Vom Fetisch bis zum Drama? ..................................
49
Mutmaßungen über die Konjunktur der »Kulturwissenschaft« - Diltheys
Wahl - »Geist«, »Leben«, »Text«: Varianten wissenschaftlicher Kulturbetrachtung — Große und kleine Haushaltung in der Nationalphilologie — Kulturwissenschaft und Historische Anthropologie, ein Hinweis —
Annäherungen zwischen Kultur- und Literaturwissenschaft - Planetarisches Modell einer offenen, interdisziplinär experimentierenden Literaturwissenschaft
Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften und die
Klassische Tradition ..........................................
»The past is a foreign country« — Antike und mittelalterliche Memoria als Triebkräfte der Moderne? — Prinzipien produktiver Erinnerung:
Imitation und Variation — Topographien - Eine Theorie des kulturellen
Gedächtnisses — Medien des Gedächtnisses und kulturwissenschaftliche
Erinnerungsarbeit
79
II
Die Geburt der Antike aus dem Geist der Moderne............... 125
Aktuelle Dimensionen des Themas - Antike und Moderne im Wechselspiel - Der Streit um den Vorrang—Die Antike als Denkbild der Moder-
Der deutsche Idealismus und die Suche nach kultureller Identität.
Fünf Szenen................................................. 149
Nachtstück: »Der Deutsche liebt den Krieg« — Zerrissenheit: geschichtsphilosophische Diagnose und Grund kulturtheoretischer Heilung — Romantischer Rückzug in die ästhetische »Vernunft« — Gedächtnisverlust,
Moderne, Identität und Krieg—»Im Führerbunker«
Revolution und Mythos. Sieben Thesen......................... 167
Der Revolutionsbegriff ist janusköpfig — Er wandelt sich vom Beobachtungs- zum prognostischen Begriff — Mythen sind beliebig einsetzbare Spielmarken — Mythenerzählungen kompensieren revolutionär ver-
schuldete Verluste—Revolutionsmythen widersprechen sich selbst und zeugen falsches Bewußtsein — Poetische Verbindungen aus Mythos und Revo-
lution widerstehen dem falschen Bewußtsein — Zwischen »Revolution«
und »Mythos« besteht ein geheimes Einverständnis
III
Kritik der Geschichte im Namen des Lebens..................... 195
Herder 1774 und Nietzsche 1874 - Widersprüche der Moderne -Natur
als Maßstab — Sphinxgestalt der Natur—Bilderschrift der Geschichte und
Erfahrung des Andern - Gleichnisrede der Tradition und Wahrheit des
Scheins—Aktualität
Kulturelle Ressourcen historiographischen Erzählens.
Eine Skizzensammlung ....................................... 245
DerRahmen — Mischtechnik: Ranke und Dublin — Weiter Hintergrund:
Konvergenzen zwischen Poetik, Rhetorik, Historie —Auseinandertreibende Fluchtpunkte: Ästhetische vs. historische Darstellung — Schraffuren:
Historismus trotz Rhetorik — Übermaltes Bild: Lord Chandos' Abschied
von Historie und Rhetorik
Commemoratio mortis.
Betrachtungen über Jean Paul, Kleist und Hölderlin .............. 271
Triptychon: Von Sterbebetten und Grablegungen - Metabolismen: Von
Lebens- und Sterbensarten — Mnemotopik: Von der Unsterblichkeit und
der Sprache der Letzten Dinge
Editorische Notiz............................................ 291
Namenregister............................................... 293
Vorbemerkung
Wenn der Titel dieses Buches zwei so diffuse Fahnenwörter wie Kulturwissenschaft und Gedächtnis zusammenspannt, so bedarf das wohl einer
kurzen Erläuterung. Gewiß, von Kulturwissenschaft spricht man nicht erst
heute. Dem mit Gelehrtenfleiß gesegneten 19. Jahrhundert war das Wort
lange Zeit geläufiger als die von Dilthev mit theoretischem Aufwand und
weithin wirkendem Erfolg an die Stelle des Vorgängers gesetzte Bezeichnung Geisteswissenschaft. In der heutigen Konjunktur des alten Etiketts
melden sich verschiedene Tendenzen zu Wort. Deren Gemeinsames ist
offenbar in einem Sachverhalt zu suchen, der zwar komplex genug, aber
weniger abstrakt ausfällt als das, wofür der Geistbegriff steht. Kulturanthropologie und Kulturgeschichte des Alltags bieten sich als Leitdisziplinen
an, die imstande scheinen, den alten Graben zwischen Hoch- und Popularkulturen, zwischen dem Imaginären und dem gesellschaftlichen Handeln,
incl. institutionellen Realitäten zu schließen.
Nicht zuletzt aber läßt sich das Kompositum wenden. Und was dabei
herausspringt - Wssenschaftskultur -, ist ein Index dafür, daß die Kul-
turwissenschaften ein integraler Teil dessen sind, was sie erkunden. Das
gilt bekanntlich selbst dann, ist das Forschungsobjekt eine fremde Kul-
tur. Denn in dem Maß, in dem der Forscher das Fremde zum bloßen
Beobachtungsobjekt macht, überzieht er es mit dem Netz seiner eigenen
Kulturhermeneutik. Die »Pfade ins Lichte« aber, wie der Ethnologe und
Romancier Michael Jackson ein dieses Erkenntnisproblem umkreisendes
Buch (Indiana U. P. 1989) genannt hat, führen über die Selbstreflexion ins
Gedächtnis der eigenen Wissenschaft und mithin der Eigenkultur. Denn
das kulturelle Gedächtnis der interpretierenden Wissenschaften enthält die
Ressourcen, mit deren Hilfe die zu erkundenden >Gegenstände< definiert,
konstruiert, beschrieben, ausgedeutet und angeeignet werden. Ob es sich
um die Applikation eines Grammatikmodells, eines Textualitätskriteriums,
um ein semiotisches, rhetorisches oder ästhetisch-technisches Analyseverfahren handelt - in allen Fällen stammen die Grundbegriffe, nebst den
Kunstgriffen des Beschreibens und Explizierens aus alten Beständen.
Indessen lautet die hier vertretene These nicht Wahrung der Kontinuität im Sinne eines Gegenwart und Vergangenheit verbindenden Ideentransports. Ein passendes Sinnbild ist viel eher das Kaleidoskop, das, von
wechselnden, einander widerstreitenden Interessen geschüttelt, immer wieder neue Konfigurationen zeigt und damit zugleich auch bisher verborgene
Seiten der Kulturen ans Licht bringt. Die eigene Kultur - ihre Texte und
Symbole - restrukturieren und aufschließen, kann nur unter Rückgriff auf
die ihr immanenten Ressourcen gelingen. Die hier zusammengestellten
Beiträge wollen an diese Binsenwahrheit erinnern und wagen den Versuch,
über strikte Fachgrenzen hinwegzusehen.
Heidelberg, im Juli 1998
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D.H.
Kulturanalyse und aufrechter Gang
Kulturals Verkörperung
Im Strom gelebter Erfahrung sind die Grenzen zwischen Körper-Haben
und Körper-Sein fließend. Doch im Verhältnis zu andern, zu Dingen
und Personen, »bin ich« - schon rein physikalisch gesehen - »Körper«,
im Verhältnis zu mir selbst »habe ich« - schon rein physiologisch gesehen
- »meinen Leib«. Diese Begriffe, mit denen die Grenzen markiert und benannt werden, sind wissenschaftlicher Natur, und damit gehören sie jenem
Diskurs an, dessen Disziplin in der dualistischen Scheidung zwischen gelebter und reflektierter Erfahrung besteht. Auch dieser Diskurs bedarf aber
der Anschauung, und diese holt er sich nicht selten aus solchen Bildern, deren symbolischer Gehalt analytische Deduktionen nicht verwehrt. In der
Sprache der Humanwissenschaften erfüllt diesen Anspruch das Bild vom
aufrechten Gang, unter dessen Oberfläche die anatomische Organisation
des menschlichen Leibes der exakten Beschreibung harrt.
Mit einer solchen Beschreibung gibt sich der anthropologische Blick
jedoch nicht zufrieden. Ihm erscheint der aufrechte Gang vielmehr, was
im einzelnen noch auszufuhren ist, als ein Schlüsselsymbol der Kultur.
Wie aber ist das zu verstehen: Ist die aufrechte Körperhaltung und da-
von abhängige Leibesorganisation des Menschen eine notwendige Bedingung seiner Kultur? Muß, wird diese Frage bejaht, die materielle Kultur
als Verkörperung und daher als Vergegenständlichung dieser organischen
Konstitution begriffen werden? Und berühren diese Fragen nicht die methodischen Voraussetzungen der Kulturanalyse?
Ein einfacher Gedanke legt die Bejahung der letzten Frage nahe, wenn
man die These von der Verkörperungsfunktion der materiellen Kultur einmal probehalber akzeptiert. Selbst wenn nicht alles von Menschenhand
Hergestellte unter diese These fallen sollte, so besteht dennoch ein unleugbares Band zwischen dem Körperhabitus des Produzenten und dem,
was seine Hand in Verbindung mit dem von dieser geführten Werkzeug
hervorbringt. Ja selbst das Werkzeug ist, als ein Produkt der Hand, deren besonderer Organisation angemessen. Es erscheint mir unter dieser
Voraussetzung selbstverständlich, die Angleichung des rohen Materials an
eine Form, die das Kriterium der Handlichkeit erfüllt, als ein kardinales
Merkmal der Kultur anzuerkennen. Nicht erst das Dekor, sondern bereits
die Formgebung bezeugt einen Entwurf, der die kognitive Unterscheidung
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zwischen amorphem Da-Sein und gestalteter Phänomenalität voraussetzt.
Die Zweck-Mittel-Relation, die über Formung und Einsatz der Werkzeuge bestimmt, ist schon über die Triebkraft der Instinkte hinaus. »Entsprechend ist die materielle Aneignung der Natur, die wir »Produktion« nennen,
eine Folge ihrer symbolischen Aneignung« (Sahlins 1981, 276).
Das schließt indessen den wichtigen Unterschied zwischen in erster Li-
nie zweckrational und funktionell gestalteten Objekten und solchen mit
vorwiegend symbolischer und expressiver Propositionalität nicht aus. Und
es sind wohl die zuletztgenannten Dinge, die der Vorstellung des Verkörperns besonders nahe stehen. Dieser Unterschied ist jedoch nur von gradueller, nicht von prinzipieller Art. Die animistische Metaphorik der Ma-
schinen und ihr Vergleich mit dem lebenden Organismus machen bewußt,
daß selbst die am weitesten von der organischen Körperlichkeit entfernten
Produkte noch als »Verkörperungen« verstanden werden können.
Diese Tatsache macht auf einen besonderen Zug im Verhältnis der Produktionssubjekte zu ihrer materiellen Kultur aufmerksam, den das anthropozentrische Denken schon in den frühesten, noch kosmologisch fundierten Texten mit dem Bild der aufrechten Haltung zusammengebracht hat.
Dieses - so scheint es - prominenteste Merkmal des Menschseins, ist es
nicht - trotz aller Zweifel — überall in der materiellen Kultur verkörpert?
Wird nach symbolisch-dinglichen Kürzeln gefahndet, die für das Ganze
einer ethnischen oder nationalen Kultur einstehen, so haben sie häufig
eine die Senkrechte nachzeichnende Form: (Totem)Pfahl, Säule, Turm,
Standbild. Der kalauernde Vergleich mit dem erigierten männlichen Glied
täuscht nur darüber hinweg, daß es die Körper-Koordinaten (in der binären
Zuordnung von Senkrechte und Waagerechte) sind, die das menschliche
Blick- und Handlungsfeld und schließlich die dieses möblierenden Wegweiser der materiellen Kultur im Koordinatenkreuz der dualen Logik festlegen und räumlich verorten.
Nicht zufällig stimmen die genannten Beispiele mit den Merkmalen
überein, die eine erste, grobe Bestimmung des »Monuments« in Anschlag
bringen könnte: Dauerhaftigkeit und im Raum aufragende, möglichst zentrische Positionalität. Daher läßt sich vorläufig sagen: Die in der Anthropologie beheimatete Ikonographie des aufrechten Ganges ist ein Zeugnis
des »monumentalischen« Blicks. Ihr physischer Grund ist in der Anatomie des menschlichen Körperbaus zu suchen (vgl. Gehlen 1976, 11 f.),
und die Verkörperungen, die von dessen Organisation abhängen, werden
auf einem entwickelten Stand der Kultur in der Regel auf jenes anthropo-
zentrische Selbstbild bezogen, das den Wunsch symbolisiert, die Peripherie
dessen, was außerhalb der menschlichen Hand und ihrer technischen Erweiterungen liegt, immer noch weiter hinauszuschieben.
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Lassen wir dieses Bündel von Behauptungen zunächst einmal unwidersprochen. Es soll dazu dienen, die Frage nach der Beziehung zwischen
dem außerhalb der Wissenschaftsdisziplin entstandenen Anschauungsbild
vom aufrechten Gang und den gegenstandskonstituierenden Verfahren der
Kulturanalyse zu vertiefen.
Ikonographie des »aufrechten Gangs«
Zu fragen, wie sich der Mensch zur Natur verhält — ein Leitmotiv der Kulturanthropologie -, ist ja nicht selbstverständlich, sondern insofern eine
epochale Frage, als sie voraussetzt, daß die Menschheit an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte in Pflanze und Tier nicht mehr ihresgleichen
erkannte. Gehlen bemerkt in Der Mensch, Kultur umfasse in erster Bedeutung alles das, was zur Arbeit an der Natur gehöre (1976, 39). Eine zugleich verkürzte und zutreffende Bestimmung, denn die kulturelle Arbeit
dient zwar der Selbsterhaltung der Spezies, ist aber gewiß nicht nur auf dieses nützliche Geschäft im Sinne einer »Entlastung« von physischem Druck
beschränkt. Sonst wäre unerklärlich, warum die materielle Produktion selbst auf ihrer untersten Stufe - von Zwecken beherrscht wird, die nur als
Ergebnisse eines symbolischen Diskurses zu verstehen sind, da sie die tierische Objektbegierde durch ein instinktfernes Ver-Halten zu den Objekten
ersetzt haben und warum im Zeitalter der Hochkulturen die praktischen
Zwecke ins Zeichensystem einer metaphysischen Ideensprache übertragen
worden sind. Zu deutlich überschreitet bereits die erste urtümliche Vielfalt
kultureller Ausdrucksformen jene eiserne Notwendigkeit, um der Selbsterhaltung willen materielle Überlebenstechniken und Kompensationen des
Mangels zu schaffen.
Auch Gehlens Kulturverständnis setzt stillschweigend eine reiche Kulturentfaltung als Möglichkeitsbedingung für das eigene Frageverhalten vor-
aus. Es orientiert sich bezeichnenderweise am Modell einer Disziplin,
die den Körper zerschneidet: an der Anatomie - Paradigma der Analysis (Gehlen 1976, 11). So zeichnet diese Kulturanthropologie auf dem
Grundriß der physischen Morphologie den »aufrechten Gang« nach - den
sie in Übereinstimmung mit einer alten anthropozentrischen Tradition als
Primärmerkmal für die Sonderstellung (Kulturfähigkeit) des Menschen in
der Natur begreift. »Die entschiedene Aufrechthaltung«, heißt es in einem anderen einschlägigen Text, »ist eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale des Menschen. Ja in ihr ist schon die ganze Eigenart seines Wesens angekündigt. Der Mensch blickt über sich und erhebt sein
Haupt der Sonne und den Sternen zu. Alle Tiere, auch die vernünftig15
sten, blicken unter sich, auf die Erde. So gehört der Mensch nicht nur
der Erde an, auf der seine Füße stehen, sondern auch dem Luftreich der
Höhe, in dem die Vögel fliegen« (Otto 1955, 37). Die physische und
lokomotorische Besonderheit der menschlichen Natur, die es anthropologisch erst zu beweisen gilt, wird hier am Körperbau als ein morphologisches
Stilelement der natürlichen Genesis abgelesen. Danach ist der Mensch
der geborene Vermitder zwischen den Oppositionen von Oben (Gestirne) und Unten (Erde), von Festem und Flüchtigem und dank dieser Stellung im Kreuzungspunkt der diathetischen Weltkonstruktion vermögend,
sich selbst und die Elemente im Sinne einer kulturellen Evolution, die ihm
ein relativ spätes Selbstverständnis als seine Bestimmung zugedacht hat, zu
transformieren. Die zugrundeliegende zirkuläre Konstitution des Frageinteresses in der Selbstwahrnehmung dessen, der fragt, ist bezeichnend für
die reflexive Form aller nach Selbstaufklärung suchenden Denkbewegungen. Nur daß sie in diesem Fall über ein Äußerliches sich vergewissert,
das den manifesten Kanon alles dessen darstellt, was den Menschen im
Verhältnis zur anderen »Vernunft« der Tiere und sogar der eigenen »primitiven« Vorfahren als ein Besonderes kenntlich macht.
Manches von dem, was diese Anthropologie über den menschlichen
Körperbau zu sagen hat, liegt bereits nah an der metaphorischen Rede: die
Dominanz der Schädelwölbung (als Anzeichen seiner Intelligenz), der aufrechte Gang, die sensible Greifhand, der freie Blick, die unspezialisierte
Beweglichkeit einzelner Glieder im Organismus usf. Es sind die Prädikate des Geistigen, Weltoffenen, Besitzergreifenden, die in dieser Perspektive mit normativen Wertideen verbunden auftreten. Es erscheint mir be■m rechtigt, in dieser Perspektive einen symbolische_Zuschreibungs- bzw. Interpretationsmechanismus zu entdecken, der physiognomische und ikonographische Züge besitzt und daher die bloße Faktenbeschreibung durchaus
überschreitet. So gesehen ist die Organisation des menschlichen Leibes die
bildhafte Zusammenfassung und insofern das machtbesetzte »Monument«
all der Verhältnisbestimmungen des Menschen zu der außer ihm befindlichen und der ihm eigenen Natur, oder anders gesagt: Sie ist der Ausdruck seiner Kulturfähigkeit, die sowohl die eigene Leiblichkeit als auch
die von ihm geordnete und beherrschte Welt umfaßt. Diese symbolische
Darstellungsfunktion seiner Körpergestalt, die sich auf jenem Weg von der
metaphysischen Selbstbespiegelung zum anatomischen Blick eingefunden
haben muß, den Foucault beschrieben hat, stimmt mit der Beobachtung
überein, daß der Mensch - eine doppelte Repräsentation - zugleich Subjekt und Objekt seiner Kultur-Welt ist.
Das sind freilich recht abstrakte Redeweisen, da Körper in der Erfahrungswelt stets als Zeichenträger wahrgenommen werden. Noch die
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Nacktheit erscheint uns als Attribut. Deshalb gilt es zwischen der anthropologischen Rede von der aufrechten Haltung des Körpers als dem Kulturzeichen par excellence einerseits und dem Leib als Träger von Zeichen
andererseits zu unterscheiden.
Versionen der »Lesbarkeit« des Leibes
Die »Lesbarkeit« des Leibes als eines Trägers von Zeichen, deren Bedeutung zu interpretieren ist, weil sie auf etwas anderes, auf etwas Verborgenes
hindeuten, ist schon seit alters in der medizinischen Symptomatologie bekannt, aber dort einem therapeutischen, vergleichsweise instrumentellen
Zweck unterworfen gewesen. Bereits der antiken Medizin Griechenlands
war dieser Zusammenhang unter dem Namen einer »Semiotik« bekannt
(Baer 1983). In der Optik des Arztes erscheinen jedoch die sichtbaren
krankhaften Veränderungen des Leibes als Abweichungen vom gesunden
Gesamtbild und bleiben auf die Symptome an einzelnen Körperteilen und
-stellen beschränkt, in denen der diagnostische Blick nach den Ursachen
physischer Störungen fahndet.
Diese medizinische »Lesart« des Leibes hält sich an Spuren und vermeidet es, die Gestalt im ganzen als das Gleichnis jenes symbolischen Bildners
zu deuten, dem schon in der jüdischen Religion die Doppelstellung des
Menschen als Subjekt und Objekt der Kultur zu verdanken war. Denn
nach Genesis 1, 1 ff. wird das Universum erzählt, nach Genesis 2, 4 ff.
wird aber der Mensch »gebildet«, um - Abbild eines Urbildes — den Stoff,
aus dem er gemacht ist, zu kultivieren: »... und Mensch, Adam, war keiner,
den Acker, Adama, zu bedienen: aus der Erde stieg da ein Dunst und netzte all das Antlitz des Ackers, und ER, Gott, bildete den Menschen, Staub
vom Acker...« (Die fünf Bücher der Weisung. Übers, v. Buber/Rosenzweig
1981, 13)
Das zu bildende Objekt (Adam) ist in diesen Sätzen als Subjekt entworfen, dessen pneumatisch ins Leben gerufene Tätigkeit sich zugleich auf
ihn selbst - als den zu bearbeitenden Stoff (Adama) - bezieht. So eindeutig dieser Mythos auf eine handwerklich-agrarische Lebensform als seinen
Nährboden hinweist, er überliefert in den anschließenden Episoden schon
einen Hinweis darauf, daß die eigentliche Menschwerdung mit einem Akt
der Selbsterkenntnis erkauft wird, der es erlaubt, von einer Zwischenstellung des Menschen zu reden, die ihn einerseits in die Naturnotwendigkeit
einbindet, ihn andererseits aber aus ihr entläßt. Eine fundamentale, die
Kulturfähigkeit bestimmende Freiheit, von deren zweideutigem Gebrauch
die Bücher des Alten Testaments voll sind.
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Doch erst die städtische Aufklärung der griechischen Antike scheint die
Lesbarkeit des Leibes als kulturelles Hyperzeichen par excellence entdeckt
zu haben. Der Mensch als das »Maß« aller Dinge, »der seienden, daß sie
sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind« (Protagoras), das setzt eine
Betrachtungsweise voraus, die den Widerspruch und zugleich die Relation
zwischen Körper (Signifikant) und Verkörpertem (Signifikat) - in Begriffen
des metaphysischen Denkens: zwischen Sein und Nichts - zu konzipieren
vermag.
Im religiösen Denken vor allem der altindischen Kultur schien das re-
lationale Band noch stärker zu sein als der Widerspruch. Denn es hat
die Entsprechungen zwischen der Organisation des menschlichen Körpers,
dem Kosmos, dem Altar und dem Haus von wechselnden Standorten aus
nach allen Seiten hin durchdekliniert. So anthropomorphisierte einerseits
der religiöse Blick die Naturordnung und ihre Prinzipien, die Götter. An-
dererseits »kosmisierte« er den menschlichen Körper, eine Angleichung der
Ordnungen, die dazu fuhrt, daß der Mensch sich um der Kommunikation mit den Göttern willen in jene Zentren zu versetzen vermag, an denen
die Prinzipien der kosmischen Ordnung zuhause sind (vgl. Eliade 1957,
101 f.). In modernen Gesellschaften scheint sich die gesellschaftlich sanktionierte Körpersymbolik stärker an den Leibesöffnungen zu orientieren,
da sie auf die Ökonomie des Stoffwechsels und die Prozesse der Informati-
on verweisen (Douglas 1986, 99 ff). Im Vordergrund steht das anthropomorphe Denken.
Die im Vergleich zur indischen rationaler verfahrende griechische PolisKultur formulierte dieses Verhältnis in den Begriffen einer Semiotik, die
im Körper nicht mehr nur die wohlorganisierte heilige Natur, sondern die
äußerlich wahrnehmbare, also ablösbare Hülle einer symbolischen Konfiguration erkannte. So belehrt Sokrates in Piatons Dialog Kratylos (400c)
den Schüler Hermogenes über die Bedeutungsverwandtschaft des Wortes
soma (= Leib) mit dem Etymon sema, das die Bedeutung von »Zeichen«
und »Kundgabe« im Sinne einer wahrnehmbaren Stellvertretung für das
sinnlich abwesende Signifikat besitzt. Der Leib {soma) ist nach Sokrates
Worten als »Zeichen« der Seele wahrzunehmen, »weil die Seele durch ihn
[..:] kundgibt, was sie kund zu geben hat« (Piaton 1988, 65). Und da das
griechische Wort sema in bestimmten Kontexten auch »Grabmal« bedeutet, zitiert der Philosoph - nicht ohne Ironie - die vielleicht damals schon
mystisch gefärbte Meinung, der Leib sei wohl auch als Grab der Seele zu
betrachten (vgl. dazu Ferwerda 1987).
Von dieser Meinung zum Bild des menschlichen Körpers als dem »Monument« der Kultur ist der Schritt nicht weit. Der Anthropozentrismus
meint ja im Grunde nichts anderes, da er vom Bilde des im Mittelpunkt
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eines Raumes aufgestellten vollplastischen Körpers lebt. Als Produkt einer entwickelten Stadtkultur - Protagoras stammte aus Abdera, Sokrates
aus Athen -, deren Koordinatensystem einen symbolischen, durch Plätze,
Skulpturen und öffentliche Bauten gegliederten Architekturraum zusammenhielt und nach außen begrenzte, gab der Anthropozentrismus dem
Ausdruck, was die Stadt dem von fern sich nähernden Reisenden bedeuten mußte: das Zentrum einer Kultur-Welt, die sich in Feldern, Gemarkungen, Wegen, Straßen und Zeichen sternförmig nach allen Seiten hin
ausbreitet und das »wilde Universum« in ihr domestizierendes Raum-ZeitSystem einschließt (Leroi-Gourhan 1988, 428).
Hatte die Antike den Menschen mit Protagoras' Worten als das Maß
aller Dinge begriffen und die Dinge, die er beim Namen rief und mit eigenen Händen schuf, schon auf diese formelhafte Weise seinen Proportionen angemessen, so ging die europäische Aufklärung des achtzehnten
Jahrhunderts einen entscheidenden Schritt darüber hinaus in Richtung einer absoluten Selbstermächtigung. Sie hob den Lehrling, dessen Arbeit
gleichsam noch auf den Gebrauch der messenden Elle beschränkt war, in
den Stand des über alle Dinge und über sich selbst gebietenden Meisters.
Als solcher erschien der Mensch nun dem »monumentalischen« Blick der
Naturgeschichtsschreibung wie ein aufs vollkommenste gestaltetes Machtsymbol. Im 18. Jahrhundert schrieb George-Louis Leclerc, Comte de Buffern, in seiner berühmten Histoire Naturelle: »Alles am Menschen - selbst
sein Äußerliches - zeigt seine Überlegenheit über alle lebenden Wesen. Er
hält sich gerade und aufrecht. Seine Haltung ist die des Herrschers. Sein
Haupt schaut zum Himmel und besitzt ein erhabenes Antlitz, auf dem der
Charakter seiner Würde erscheint. Das Bild seiner Seele ist ihm in die
Physiognomie geschrieben. Die Vorzüglichkeit seiner Natur drückt sich
in seinen physischen Organen aus und belebt seine Miene mit göttlichem
Feuer. Sein majestätischer Wuchs, sein fester und kühner Gang künden
von seinem Rang und Adel. Nur seine vom Kopf aus sehr weit entlegenen Glieder berühren die Erde; von fern sie betrachtend, scheint er sie zu
verachten. Die Arme sind ihm nicht gegeben, um mit ihnen säulengleich
die Masse seines Leibes zu stützen. Seine Hand ist nicht gemacht, den
Boden zu fegen. Sie würde dann nur durch wiederholte Reibung gehindert, jene Feinheit der Berührung zu bewahren, deren wichtigstes Organ
sie ist. Arme und Hände dienen dem edelsten Gebrauch. Sie sind dazu
da, die Befehle des Willens auszuführen, dem Zufall und Anprall dessen,
was Schaden zufügen könnte, zuvor zu kommen und das, was angenehm
ist, zu umfassen und festzuhalten, um es den anderen Sinnen zugänglich
zu machen.« (Buffon 1850, 211; Übers. D.H.)
Nicht nur die Werke des »maitre de la terre«, sondern er selbst symbo19
lisiert in effigie - nämlich in seiner physiognomisch entzifferbaren Organisation - die vom Fortschrittsenthusiasmus geadelte Macht der kulturellen
Arbeit. Aufrechter Gang, Gesicht und Hände sind die hervorzuhebenden
Merkmale, in denen Buffons deutender Blick die Zeichen einer selbstbewußten Machtstellung in und über der Natur entziffert, die zudem alles
Äußerliche nur als Mittel zum höheren Zweck der kulturellen Veredelung
anerkennt. Der aufrechte Gang wird als Herrschaftspose gelesen, die Gesichtsbildung als Ausdruck der geistigen Überlegenheit und die fahrigen
Bewegungen der vom Erdboden gelösten Hand als Pantomime des freien
Willens. In Buffons Gemälde erscheint der Mensch nicht nur als Herr der
äußeren, sondern auch der eigenen, der innern Natur. Eine innere Gewalt
hat den Körper modelliert: die Seele und der von ihr abhängige Wille. Ihr
Zusammenspiel macht die Naturgeschichte des Menschen als zivilisatorischen Emanzipationsprozeß lesbar.
Mythos des Phänotyps
Die naturphilosophische, mit kulturellen Fortschrittsphantasien verbundene Lesart des aufrechten Gangs besitzt ihr Gegenstück in der religionsphilosophischen Deutung. Walter F. Otto hat vorgeschlagen, das Phänotypische als den »ersten Mythos« zu begreifen, »da der Mythos die gestalthafte
Erscheinung des Ewigen ist und diese Erscheinung nicht nur im Worte
[...], sondern am Menschen selbst geschieht« (1955, 408). Diese Heiligsprechung des Menschen, die sein phänotypisches Erscheinungsbild wie
den Wegweiser ins Transzendente entziffert, kann sich auf eine lange Tra-
dition berufen. Denn in der Binnenperspektive der Mythen- und Reli-
gionsgeschichte liegen die Erzählungen über die »Geburt« des Menschen
auf einer Linie, die eindeutig die Vertikale betont, obwohl die natürliche
Geburt eine andere Körperhaltung notwendig macht.
Zahlreiche Mythen in unterschiedlichen Kulturen erzählen, wie der
Mensch - und nur dieser - am Anfang der Zeit aus rohem Naturstoff
(Lehm, Holz) gebildet worden ist. Der erste Handwerker oder Künstler,
der als eine Gottheit vorgestellt wird und doch nichts anderes ist als der Urahn des jeweiligen Stammes und seiner Kultur, modelliert und belebt den
vorgefundenen Stoff nach seinem eigenen Bild, einer aufrechten Gestalt.
Natürlich ist es naheliegend, in solchen Erzählungen den Hinweis auf eine
primordiale kulturelle Handlung zu sehen, als deren Produkt das schöpferische Subjekt als ein mit Plan und Bedacht hervorgebrachtes Verkörpertes
sich selbst gegenübertritt. Eine frühe Konkretisierung des Spekulativen, da
sich die Menschen in einem der vergänglichen Zeit enthobenen, also hei20
ligen Spiegelbild (speculum) über die Willkür ihres Anfangs hinwegsetzen
möchten. Was der götdiche Bildner vermag, das ist nichts anderes als die
Leistung der kulturellen Arbeit, die, vom Mythos aus gesehen, in einem
Prinzip objektiviert erscheint, das außerhalb dessen liegen soll, was Menschenkraft vermag. Und doch gleicht die Arbeit des Bildners aufs Haar der
Arbeit des Künsders oder Schamanen, der das puppenhafte Abbild eines
menschlichen Leibes knetet, schnitzt oder aus Wurzeln und anderem Zeug
zusammenfügt.
Hesiods Theogonie erzählt, wie die Frau »des Menschen« zunächst als
ein Kunstprodukt und Idol geschaffen worden ist. iAls vollendete, mit
Athenes Hilfe verzierte Statue aus Hephaistos' Händen weckt sie das ästhe-
tische Entzücken sogar des Olymp, der sich nicht anders verhält als die
müßiggängerische, genießende und zugleich menschenverachtende Führungsclique einer aristokratischen Gesellschaft. Die Doppeldeutigkeit der
Kultur — die bald belebte weibliche Plastik besitzt bei ihrer »Geburt« bereits alle Merkmale des Kultivierten - als Subjekt und Objekt ist in diesem
Beispiel noch in einem besonderen Sinne verkörpert. Denn das Idol des
weiblichen Menschen ist in dieser Geschichte nicht nur das Werk eines
künsderisch-technischen, einem anthropomorphen Gott zugeschriebenen
Vermögens. Es vereinigt vielmehr Entgegengesetztes und ist insofern ein
Zeichen für die in der kulturellen Arbeit enthaltene Ambivalenz: die Entlastung vom Druck der für die Selbsterhaltung notwendigen Arbeit und
zugleich die Infragestellung derselben Entlastung durch die angeblich vom
»Weib« ausgehenden Übel. Sie öffnet, von abgrundtiefer Neugier getrieben, das Gefäß der Pandora (= die Allgebende), aus dem die kulturellen
Übel, jene Gegenstücke zu des Menschenfreundes Prometheus (= Vorbedacht) Gütern, entweichen.
Hier ist nicht der Ort, diese Doppeldeutigkeit weiter zu untersuchen.
Es kommt mir an dieser Stelle allein darauf an, in der Mythenerzählung
Hesiods, die mit zahlreichen ähnlichen Geschichten vergleichbar ist, den
Punkt kenndich zu machen, an dem die Selbstdeutung des Menschen
mit dem vergegenständlichten mythopoeitischen Selbstbild zur Deckung
kommt. Es ist freilich von größter Bedeutung für die institutionalisierten
Wertsysteme der meisten Kulturen, daß die Opposition weiblich-männlich in den Gegensatz unrein-rein übersetzt wird, der Lebensformen und
Alltagspraxis der jeweiligen Gesellschaft tiefgreifend bestimmen kann. Die
Frage drängt sich auf, ob die weit verbreitete kulturelle Gleichung weiblich = unrein< nicht auch damit zu tun hat, daß der Prozeß des Gebarens
das Symbol der aufrechten Haltung geradezu als Simulakrum entlarvt.
Die mythopoietische Objektivierung des »ersten« Menschen sowie die anthropologische Ausdeutung der menschlichen Perfektibilität und Heilig21
keit scheinen jedoch - durchstreift man das imaginäre Museum der Ethnographie - vom Idol des aufrechten Gangs nicht los zu kommen.
Erst die kompromißlose Optik von Foucaults vernunftkritischen Untersuchungen über den Anthropozentrismus des 18. Jahrhunderts erschüttert das Fundament dieser Idolisierung: »Der Mensch [... ] ist bereits das
Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine >Seele< wohnt
in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft
ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers«
(Foucault 1975, 42). Dieser traditionsstürzende Satz zerstört nicht nur die
platonische Sicht des Körpers als »Hülle« der Seele. Er denunziert die Seele
vielmehr als eine blendende Erfindung der Macht, die nichts anderes will,
als die aufrechte Haltung zu brechen. Darin steckt eine Paradoxie, über die
noch zu reden ist.
Doppelsinn der Maske
Bevor ich ausfuhrlicher auf Beispiele des wissenschaftlich anerkannten anthropozentrischen »Monumentalismus« zu sprechen komme, möchte ich
zunächst jedoch zwei kulturelle Verkörperungsmodi skizzieren, die eine
andere als die monumentalische Lesart nahelegen: Maskengebrauch und
Hautbemalung. Es sind Beispiele, die ich gewählt habe, um mit ihrer Hilfe
das angedeutete anthropozentrische Bild in Frage stellen zu können.
Dem vor allem in Jägerkulturen verbreiteten Bemalen der Haut und
dem auch in Hochkulturen dokumentierten Maskengebrauch liegt ein interessantes, weil von innen und zugleich von außen definiertes Verhältnis
zwischen materieller Kultur und menschlichem Leib zugrunde. In beiden Fällen ist die Körperoberfläche geradezu ein Demonstrationsfeld für
die Doppelmarkierung der Kultur als subjektive und objektive Kraft. Die
Maske ist ein Abbild (nicht selten ein Abdruck) des die Einheit der Sinne
verkörpernden Gesichts und die Hautoberfläche das, was den Körper nach
außen begrenzt und nach innen schützt, ohne die haptische Kommunikation zwischen beiden Seiten zu unterbrechen.
Masken waren in zahlreichen illiteraten Gesellschaften mythisches Artefakt und Verkörperung im strikten Sinne des physiognomischen Blicks,
Hülle und Abdruck, und nicht zuletzt ein prominenter Ort des Übergangs,
der Passage, die aus dem inneren Kreis der Kultur heraus- und ggfs. wieder
in ihn zurückführte. Masken befinden sich gewissermaßen zwischen dem
Leib und dem mythischem Text. Eine Stellung, die als Zeichen für die
Verschiebung sowohl des Leibes als auch der ordnungsstiftenden Kräfte aus
22
dem Zentrum zu verstehen ist. Vielfältig sind die vor allem für Afrika und
den subarktischen Raum ethnographisch aufgezeichneten Funktionen des
Maskengebrauchs: Vergegenwärtigung der Ahnen, Dämonen und Götter
— Ausübung sozialer Kontrolle und Gliederung der Feldeinteilung mittels
Rechtsprechung — Schamanismus — medizinische sowie psychische Therapie usf. — nicht zu vergessen: die Maske, die es den Lebenden erlaubt, die
Grenze zum Reich der Toten zu überwinden - und schließlich die apo-
tropäische Schreckmaske, deren Anblick paralysieren oder gar töten kann
(Schneider-Lengyel 1934; Klingbeil 1935; Lommel 1970; Kassim Hj. Ali
1983).
Exzentrisch war die Stellung bzw. der Gebrauch der Masken in mehr-
facher Bedeutung. Oft kam sie von außen ins Innere der Siedlung und
verließ sie nach dem Ritual wieder, was - wir kennen es aus der Fasnacht
— in der Störung der Alltagsordnung die durch Gewöhnung geschwächten
traditionalen Normen in Erinnerung rief und aufs neue befestigte. Die
Verkörperung ihrer Kräfte in Tanz, Gesang und Ritual demonstrierte, daß
ihr Auftreten im »Körper« der Gemeinschaft in Zeiten der Krise - und diese waren in agrarischen Kulturen oft mit den Übergängen von einer Jahreszeit zur nächsten identisch - an Wirkungen geknüpft war, die mit denen
der dramatisch erzeugten Katharsis zu vergleichen sind. In Form und Dekor vieler Masken — Levi-Strauss hat diesen Typus ausführlich beschrieben
(1975) - zeigt sich ihre Stellung auf der Grenze zwischen tierischerpflanz-
licher (Natur) und menschlicher (Kultur) Physiognomie. Die in vielen
Kulturen übliche Verbindung von Tierkopf, Pflanzenornament und Men-
schengesicht in der Maske ist nicht als nachträgliche Synthese zu verstehen,
sondern als ein Zeichen für die latente Identität jener Erfahrungs- und Lebenswelten, die das analytische Denken trennt. Von den Kran, einem afri-
kanischen Stamm, wird berichtet, daß sie in den Kultmasken die Grenze
zwischen ihrer Lebensordnung und der wilden Naturordnung verkörpert
sahen. Die Entweihung der Masken, so erzählten sie, rufe das Chaos herbei, das in der Wildnis hinter dem Dorf beginnt (Himmelheber 1960, 8).
Diese Auffassung belegt die liminale kulturelle Funktion der Maske,
ohne daß sie in eine monumentalische, vom Leib des Trägers sich lösende
Stellung gebracht wäre. Erst dort, wo die Masken, abgelöst von der rituellen Verkörperung, die Stelle des Monuments einnehmen, rücken sie an
einen erhabenen Ort und eignen sich für die Darstellung jener Macht, die
den aufrechten Gang als Herrschaftspose gesellschaftlich privilegiert. In der
römischen Gesellschaft stand die »mythische Allgemeinheit« der Masken,
ihre Heiligkeit und Dauerhaftigkeit, im Dienste der politischen Macht
(Kohlen 1982, 230). Maria Kohlen bilanziert den Maskengebrauch innerhalb der römischen Stadt- und Herrschaftskultur unter folgenden Funktio23
nen: Herrschaftslegitimation, Machtdemonstration in den eroberten Ter-
ritorien, militärische Integration und Sinngebung fiir die Krieger. Hier
steht der monumentalische Aspekt im Vordergrund und wird durch Materialien wie Stein und Bronze, aber auch durch die Zugabe von Inschriften,
emblematischen Zügen und allegorischen Ornamenten verstärkt. Dieser
Maskentyp gehört einer literalen Kultur an und ist daher, auch die Tendenz zum Porträt unterstreicht das, auf Identifizierbarkeit in wörtlichem
und historischem Sinn angelegt. Die Bindung ans Ritual und die sinnenhafte Demonstration ihrer liminalen Stellung in den Aktionen der Tänzer
werden nun nach und nach durch statische Eigenschaften abgelöst, die eher
die Grenze zwischen machtbesetztem Zentrum und zu unterwerfender Peripherie betonen.
Doppelsinn der Hautbemalung
Sitzt die Maske wie ein zweites Gesicht auf der Haut des ihre Bedeutung
verkörpernden Darstellers, so bleibt sie selbst doch - bis auf die Augen —
starr: für unser Verständnis ein unheimliches Requisit des Todes. Doch ist
die damit angesprochene Opposition, kulturvergleichend gesehen, nicht
universell verbindlich.
Die Starrheit unterscheidet die Maske natürlich von jener anderen
»zweiten Haut«, die als Bemalung direkt auf den nackten Körper aufgetragen wurde und in vielen Jäger- und Sammlergesellschaften ein wesentliches Kommunikationsmedium dargestellt hat. Ist die Zeichensprache
der Maske an ihren Stoff, an die plastischen Verhältnisse von Höhlungen
und Wölbungen, von farblichem Dekor, interpretierenden Attributen und
physiognomischen Grundriß gebunden, so wirkt die Körperbemalung vergleichsweise simpler und naturgemäß um die dritte Dimension verkürzt
(einschränkend ist anzumerken, daß viele einfache Kulturen in der Skulptierung von Maske und Körper die uns geläufige dreidimensionale Perspektive nicht anwenden). Dieser offenkundigen Simplizität stehen jedoch
die haptische Empfindsamkeit und einhüllende Funktion der Körperhaut
als Grenze und osmotische Membran zwischen Innen- und Außenwelt gegenüber.
Zunächst ist auffallend, daß (im Rahmen der mir zu Gesicht gekommenen Abbildungen) auch die Körperbemalung mit der Vertikale die aufrechte Haltung betont und verstärkt. Sowohl die im Golf von Bengalen
ansässigen Andamanen (Schomburg-Scherff 1986, 61 ff.) als auch die Indianer Zentralbrasiliens (Boglär 1988; Monod-Becquelin 1988) trugen in
formalisierter Weise Muster auf die Haut auf, die der Welt jener Tiere
24
entnommen wurden, die sie jagten und die sie verehrten: Fisch, Schlange, Schildkröte, Wildschwein usw. In der Neigung, diese Muster symmetrisch auf dem ganzen Leib zu verteilen, ist der Wunsch zu erkennen, die
in der Tierwelt vorhandenen Naturkräfte zu verorten und damit zugleich
zu ordnen. Dieses Ordnen verweist nach zwei Seiten: auf die Naturordnung und zugleich auf die Sozialordnung des Stammes. Verkörpert doch
die Bemalung in einem unmittelbar spürbaren und sichtbaren Sinn: die
Zugehörigkeit der Bemalten zu einer bestimmten Altersgruppe (Initiationsgrenzen), zum Zentrum oder zur Peripherie des Dorfes, Freundschaftsund Ehebindungen, Stellung innerhalb der Sozialhierarchie und auch außerhalb jeder Ordnung überhaupt, die Übergänge von einem Status zum
andern, Orte im Verwandtschaftssystem, Schutz vor übernatürlichen oder
natürlichen Gefahren, aber auch das Heraustreten aus der Alltagswelt an
Festtagen und während periodisch wiederkehrender magischer Riten, eine Grenzüberschreitung, die stärkend wiederum auf die innere Ordnung
zurückwirken soll.
Es scheint mir zu kurz gegriffen, wenn diese verschiedenen Funktionen unter der Formel zusammengefaßt werden, es handle sich hier um die
»Sozialisierung« des menschlichen Leibes (Vidal 1988, 338). Diese Funktion erfüllte die Körperbemalung vielleicht auch. Denn sie wurde kollektiv
durchgeführt, und ihre Zeichen waren für jedes Mitglied der Dorfgemeinschaft wie ein Alphabet der Weltordnung lesbar, das mit dem Leib des
einzelnen das Leben der Natur und der Kommunität umfaßte. In diesem Sinn erfüllte die Bemalung tatsächlich die Aufgaben eines Symbolsy-
stems, dessen Regeln sich mit der Grammatik einer geschriebenen Sprache
von piktographischer Erscheinungsform vergleichen lassen. Andererseits
drückt die Körperbemalung aber eine dem »wilden Denken« eigentümliche Partizipationslogik aus. Schon das Auftragen der Farben und Muster
wurde als eine Art der Verwandlung interpretiert, die der Indianer auch
in den Metamorphosen der Naturwelt beobachtet hatte (Münzel 1988,
40). Die stilisierte Wiederholung der gleichen, in der Tierwelt wahrzunehmenden Muster auf der Haut, (auch auf selbstgezimmerten Geräten und
Gehäusen) hielt alles - in unseren oppositionellen Begriffen: Natur und
Kultur - symbolisch zusammen. Nicht auf das mimetische Ab- oder Nachbild des Wahrgenommenen kam es an, sondern auf die gelebte Integration
in das Kontinuum eines Mensch, Tier und Pflanzenwelt durchströmenden Lebensplasmas. Das stilisierende Auftragen der Tierornamente auf die
menschliche Haut vollzog daher - zugleich mit der Eingliederung in eine
dem Ganzen der eigenen Lebenswelt zugeschriebenen Ordnung - die Angleichung der Natur an eine kulturelle Optik, deren manifester Ausdruck
die Technik des Zeichnens selbst war. Einerseits war diese an die Fertigkeit
25
der Hand gebundene Technik das alleinige Eigentum kultureller Tradition,
sie mußte gelehrt und gelernt werden. Andererseits diente sie dazu, denselben Körper, dessen Haltung sie zu verdanken war, auf bildlicher Ebene
— für alle sichtbar - bewußt an jener Ordnung teilhaben zu lassen, von der
er sich noch nicht emanzipiert hatte.
Die direkt auf die Haut aufgetragene Verkörperung der wilden Natur
in ihrer geometrisch gezähmten Form ist in ähnlicher Weise exzentrisch
wie die Skulptietung eines zweiten Gesichts in der Form der Maske - eine mythische Denkform vorausgesetzt. In beiden Fällen verkörpert der
Mensch sich am Grenzübergang zwischen kultureller und natüflicher Ord-
nung. Den aufrechten Gang, den bestimmte einfache Kulturen als ein
figuratives Element ihrer Bildersprache wohl zu verwenden wußten, deuteten sie indessen noch nicht als Symbolik der asymmetrisch über Natur
und Mensch zu übenden kulturellen Macht. Maurice Leenhardt hat in
seinen Untersuchungen über die melanesische Kultur die zugrunde liegende mythische Denk- und Lebensform mit dem Begriff der »Partizipation«
charakterisiert (Leenhardt [1947] 1984). Er hat damit auf einen ganz wesentlichen Unterschied zu jenem Denken in Analogien hingewiesen, das
die uns vertraute Dualität der Begriffe ja durchaus voraussetzt. Partizipation aber heißt gelebte Identität, so wie der Melanesier nicht zwischen
menschlicher und pflanzlicher Faser unterscheidet und sich deshalb im Lebenstrieb der Jamswurzel wiedererkennen kann. Ein solches Weltbild ist
nicht anthropomorph, sondern »kosmomorph« und läßt die Oppositionen zwischen Sein (Leben) und Nichts (Tod), zwischen Natur und Kultur
überhaupt nicht zu. Dem entspricht die Wahrnehmung des menschlichen
Körpers, die ihr Objekt wohl als Oberfläche zu sehen und in Umrissen
zu umfassen vermag. Aber zwischen dieser Fähigkeit, den eigenen Körper
äußerlich zu teilen und zu beschreiben, und dem Bewußtsein, »daß sein
[des Melanesiers] Körper und er nur eines sind, klafft ein Abgrund, und
dieser Abgrund unterscheidet den Primitiven vom modernen Menschen«
(Leenhardt 1984,41).
Begriff der »Lesbarkeit« und Verfahren der Kulturanalyse
Der skizzierte Kritikpunkt, die Unterscheidung zwischen einer anthropozentrisch und einer exzentrisch orientierten Kulturanalyse, bedarf nach diesen Beispielen einer ausführlicheren Erläuterung. Beginnen wir als erstes
mit einer Prüfung der gegenstandskonstituierenden Begriffe und ihrer Beziehung zum Bild des aufrechten Gangs. Ich unterscheide in diesem Zusammenhang zwei hier idealtypisch vereinfachte kultutanalytische Verfah26
rensweisen: 1.) die »monumentalische« — am Bild des aufrechten Gangs
(Anthropozentrismus) orientierte - Lesart; 2.) die hier so genannte »pragmatische« Lesart, die Kultur als situativ bedingten Handlungsvollzug interpretiert und also nicht primär von der starren Haltung des Körpers in situ,
sondern allenfalls vom Körper in actu ausgeht.
Von »Lesarten« ist im folgenden nicht in einem engen philologischen
Sinn die Rede. Vielmehr folge ich den Anregungen jener Kultursemiotik, wie sie die »Prager Schule« entwickelt hat (van der Eng/Grygar 1973,
6 ff.). Wo sich der kulturwissenschaftliche Blick in synthetischer Absicht
auf die disparaten Züge einer bestimmten Kultur richtet, bezeichnet das
Kriterium der »Lesbarkeit« verschiedene Möglichkeiten, das Disparate in
begründeter Weise und unter Vorwegnahme eines hypothetischen Ganzen
zu verknüpfen. Ist das, was wir als die Kultur einer Gesellschaft in ihrer
Totalität zu erfassen suchen, doch komplex genug, um dem Gebrauch der
Metapher des »Geknüpften« bzw. »Gewebten« (= lat. textum) die Berech-
tigung nicht zu versagen.
Zwar ist die Lebenswelt, von der Kultur nur ein einziges, wenn auch
wesentliches Element bildet, in pragmatischer Hinsicht als ein elastisches,
sich bewegendes »Geflecht« von interagierenden Kräften zu betrachten. Es
macht aber einen Unterschied, ob diese Kräfte und ihre Wirkungen an
den Knotenpunkten des Handelns, Sprechens und Gestaltens (Plessner),
oder an den Verkörperungsweisen der Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeitsstruktur (Habermas) abgelesen werden. Hier bestehen allgemeine, der
Klärung bedürftige Bedingungsverhältnisse, was an dieser Stelle nur anzudeuten ist.
Das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft läßt sich an dem Verhält-
nis von Sprechen und Handeln erläutern. Der Kulturbegriff bezeichnet
in dieser Konstellation jenen stets praxisbezogenen Diskurs, dessen Sinn-
Entwürfe gesellschaftliches Handeln orientieren und legitimieren. Das
Subjekt spielt in der Rolle der Person den kreativen Vermitder, der freilich an sich selber die Kräfte einer gesellschaftlich verallgemeinerten, also
öffentlichen Kultur erfährt. Soll die Lebenswelt in ihrer Einheit nun wie
ein Text »gelesen« werden, so drängt sich die Frage nach einer angemessenen Übersetzung der oben erwähnten dreiteiligen Schemarisierungen in
semantische Begriffe auf. Enthalten die kulturellen Sinnkonstruktionen,
da sie als Symbolisierungsweisen zu verstehen sind, sprachanaloge Züge,
so liegt es nahe, sie als »Ensembles von Texten« (Clifford Geertz) zu betrachten, die in Kon-Texte gesellschaftlichen Handelns eingebettet sind.
Eine Analyse, die Kultur als Teil der Lebenswelt betrachten möchte, er-
scheint mir dann sinnvoll, wenn Kultur- und Gesellschafts-Texte in ihrer Vermittlung betrachtet werden: Die Lesart der Kultur wird in diesem
27
Fall pragmatisch. Schon Husserl hatte die »Kulturwelten« als verfestigte,
gleichsam kristallisierende »beständige Lebensweisen]« begriffen, den objektiven Charakter der materiellen Kultur im Sinne des oben angedeuteten
Verkörperungsmodus betonend (Husserl 1950, 163).
Kehren wir aber noch einmal zur »Lesbarkeit« als Objektkriterium der
methodischen Analyse zurück. Die Form der Kulturanalysen, die selbst ein
Produkt kulturell bedingter Problemlagen ist, wird in manchen Konzepten aus der Analogie zu jener Art des Lesens begriffen, die sich um einer
Erkenntnis willen auf bestimmte Schriftstücke bezieht, deren Sinn interpretationsbedürftig ist. »Ethnographie betreiben«, bemerkt beispielsweise
Clifford Geertz (1983, 15), »gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen
(im Sinne von >eine Lesart entwickeln^, das fragwürdig, verblaßt, unvollständig. ..« ist. Die Analyse setzt also einen kulturell eingeübten Umgang
mit der schriftlichen Symbolsprache voraus, dessen Instrumentarium in
wissenschaftlichen »Schulen« objektiviert und lehrbar gemacht worden ist.
»Lesbarkeit« bedeutet in diesem Kontext zunächst einmal: Das zu »lesen-
de«, d.h. in Distanz zum potentiellen Benutzer gebrachte Objekt wird
als eine, auf welche Intentionalität auch immer reduzierbare bedeutungsbergende Struktur aufgefaßt, die sich methodisch entziffern und in ihrer
Genese rekonstruieren läßt. In diesem Gegenstand zu »lesen«, das heißt
dann soviel wie das schrittweise Objektivieren der an ihm selbst sichtbaren
formalen und materiellen Bedeutungsspuren unter Beteiligung des konstituierenden Subjekts. Ziel ist das Verstehen einer zwar bedingten, aber
aus sich selbst interessanten, weil in sich unterschiedenen und daher auslegungsbedürftigen Einheit, die auf einen Urheber, der auch ein Kollektivsubjekt sein kann, zurückverweist. Diese Einheit besteht für den Kulturanalytiker jedoch nicht allein aus sprachlichen oder bildlichen Zeichen,
sondern auch aus »vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens« (Geertz
1983, 15). Und das genau unterscheidet die kulturanalytische Lektüre von
jener Schrift-Lektüre, die der Weltordnung eine linguistisch konstituierte
Struktur und Grammatik unterstellt. Wie der Textrezipient den grammatisch nicht verifizierbaren, in Kontexten verborgenen Sinn, so konstituiert
auch der Kulturanalytiket Einheit und Bedeutung solcher Objekte, die je
schon kulturell konstituierte sind. Und dennoch ist sein Material nicht nur
sprachlich vorgeformt.
Was bedeutet unter diesen Umständen dann aber das Kriterium der
»Lesbarkeit"? Die Antwort muß lauten: Sowohl körperliches Verhalten
als auch soziales Handeln als auch die materiellen Produktionen implizieren eine symbolische Logik, deren explizite Struktur in den zur jeweiligen Lebenswelt gehörenden Sprachen, genauer: in deren schriftlicher Dokumentation niedergelegt ist. Nicht die sprachanaloge und quasi monu28
mentalische Deutung der kulturellen Objekte fuhrt zu relativ gesicherten
Deutungen, sondern die Analyse der Beziehungen zwischen Objekt und
sprachlichem Kontext. Die Bemühungen der Paläontologie um die Rekonstruktion vorgeschichtlicher Lebenswelten zeigen, welche unüberwindlichen Hindernisse diesem Ziel im Wege stehen, solange keine sprachlichen/schriftlichen Zeugnisse aus der Untersuchungszeit überliefert sind.
Mit dieser Anmerkung soll indes nur auf mögliche Bedeutungsvarianten des »Lesens« aufmerksam gemacht werden. Die semantische Weite des
Begriffes »Lesbarkeit« ist erst jüngst von Hans Blumenberg illustriert wor-
den (1980). Doch nicht immer bezieht sich - wir haben es schon gesagt das im Rahmen einer pragmatischen Hermeneutik methodisch begründete
Lesen nur auf sprachliche oder schriftliche Äußerungen. Was nicht ausgesprochen werden kann, das »zeigt sich«, es muß deshalb aber noch nicht
— wie es beim frühen Wittgenstein hieß - in die Rubrik des »Mystischen«
fallen (Wittgenstein 1963, 115). Auch für das Unaussprechliche stehen
»Lesarten« zur Verfügung.
Hierher gehört z. B. Helmut Plessners interessanter Vorschlag, den
nichtsprachlichen, nämlich körperlichen »Ausdruck« im Rahmen einer
»Hermeneutik der Sinne« dem Verstehen zugänglich zu machen (Plessner
1970, 215 ff.). Plessner vergleicht diese leiborientierte Hermeneutik mit
den Fortschritten in jenen Kunstwissenschaften, die es primär nicht mit
sprachlich/schriftlich verfaßten »Dokumenten«, sondern mit nichtsprachlichen »Monumenten« zu tun haben. Es kam ihm noch nicht in den Sinn,
die Metapher des »Textes« für diese Hermeneutik der Sinne zu verwerten.
Doch erkannte er die Lesbarkeit der Gebärde und der leiblichen Expressivität sehr wohl an. Denn der körperliche Ausdruck - zum Beispiel Lachen und Weinen - verweist auf einen Sinn, der nicht im Sprechen sich
erschöpft, und dennoch, als quasi sprachlose Gegen->Rede<, auf den symbolischen Ausdruck im Modus der Verkörperung bezogen bleibt. Im Rahmen solcher Überlegungen entwickelte Plessner jene These vom Doppelsinn des Körpers als Haben und Sein, die sich hervorragend dazu eignet,
den Anthropozentrismus bestimmter kulturanalytischer Richtungen zu relativieren. Ich komme darauf zurück.
Monumentalische Analyse
In nicht wenigen anthropologischen Studien wird der Weg von der Na-
tur zur Kultur als Genese der Sprache aus den organischen Voraussetzungen des Leibes dargestellt. Selbst die Geschichte der Schrift folgt diesem
Modell fortschreitender Abstraktion, da sie eine lineare Entwicklung vom
29
sinnlichen Bild (Piktographie) zum willkürlichen Lautzeichen (Alphabet)
unterstellt. Freilich bleibt das Abstrakte stets auf jenes Konkrete bezogen,
von dem es sich nicht wirklich ablöst, da es auf es angewiesen bleibt. Begriffe ohne Anschauung sind leer, hieß es bei Kant. Noch diesseits dieser
Vermittlung stellt sich aber die Frage, ob das Verhältnis Natur-Kultur überhaupt unter die begrififslogische Differenz von Konkretion einerseits und
Abstraktion andererseits zu verrechnen ist.
In der einflußreichen Anthropologie von Levi-Strauss fällt dieses Verhältnis unter den bereits erörterten Schematismus der »Lesbarkeit«, erfährt
aber eine Umwandlung in Kategorien der strukturalen Text-Analyse. Da-
nach sind sinnliche Anschauung und begriffliche Kognition im Konzept
einer textuellen Wahrnehmung von Naturgestalten vermittelt: »Die Operationen der Sensibilität haben bereits einen intellektuellen Aspekt, und
die äußeren Gegebenheiten [... ] werden [... ] in Form eines Textes« er-
faßt (Levi-Strauss 1976, 797). Das Programm für diese strukturale »Lesart«
der Phänomene ist aber nicht das historisch kontingente Resultat einer kulturellen, sprich wissenschaftlichen Entwicklung. Es ist vielmehr organisch
vorgegeben und bedarf lediglich der Objektivierung: »Die strukturale Analyse«, behauptet Levi-Strauss, kann »nur deshalb im Geist auftauchen, weil
ihr Modell sich bereits im Körper befindet« (1976, 814).
Auf diese Art sucht der Anthropologe den Sinn kultureller Gebilde,
den die strukturale Lesart in Wahrheit doch erst konstituiert, an objektive,
von subjektiv vermeinter Intentionalität unabhängige Voraussetzungen zu
binden. Die Passage von der Natur zur Kultur, die ihn vor allem anderen
interessiert, ist nur in solchen »Texten« faßbar, in denen das Natursubstrat
nicht völlig verschwunden, sondern im prekären Ausgleich opponierender
Kräfte eine dritte, und zwar symbolische - durch das Zusammenspiel von
Metonymie und Metapher strukturierte - Ordnung mitbegründet hat. Der
letzte Grund für die Lesbarkeit dieser »Texte« - eine Funktion ihrer Strukturiertheit - ist und bleibt in dieser Konzeption die organische Verfaßtheit
des menschlichen Leibes.
Offensichtlich unterstellt Levi-Strauss, daß sich die Korrespondenz zwischen Körper und strukturalem Blick den Koordinaten der aufrechten Haltung verdankt (vgl. 1976, 814 f.). Denn diese Haltung bedingt jene vertikale und horizontale Gliederung des Gesichtsfeldes, die in der für die strukturale Analyse konstitutiven Überschneidung von metonymischer und metaphorischer Achse ihr Analogon besitzt. Diese Beziehung ist aus meh-
reren Gründen von Interesse für den Status der strukturalen Kulturanalyse. Indem Levi-Strauss die wissenschaftliche Analyse auf ein analoges,
organisch fundiertes Verhältnis zwischen Interpret und Interpretandum
gründet, rückt er sein Verfahren in die Nähe jener religiösen Weltbilder,
30
die eine homologe Beziehung zwischen der Organisation des menschlichen
Leibes und dem Universum annehmen: die Wirbelsäule als axis mundi
usw. In besonderer Ausführlichkeit und mit breiter kultureller Zustimmung hat der Konfuzianismus solche »anthropokosmischen Homologien«
(Mircea Eliade) ausgebildet. »Wer über den Menschen Bescheid weiß«, bemerkt zusammenfassend Granet über diese Eigenart der chinesischen Kultur, »weiß über die Welt wie auch über die Struktur und die Geschichte des
Kosmos Bescheid« (Granet 1985, 290).
Die Leibgebundenheit der Erkenntnis, die auch in der semantischen
Ähnlichkeit der griechischen Wörter für »sehen«, »erkennen«, »Idee« aufscheint, ist frappierend. Und es scheint, als hätten alle mit symbolischen
Prozessen befaßten Denkformen - von der religiösen bis zur philosophischen, psychoanalytischen und wissenschaftlichen Hermeneutik - dem
schon immer Rechnung getragen. Die Rede vom fleischgewordenen Wort
(Symbol) fordert geradezu auf, die Transformation wieder umzukehren,
um den Leib als Inkarnat, als verkörperten Sinn, lesen zu können.
Da das Leib-Kriterium gleichermaßen für hermeneutische (Plessner)
wie strukturale Verfahren der Kulturanalyse zu gelten scheint, sei im folgenden nun die Zuordnung »monumentalischer« und »hermeneutischer«
bzw. »pragmatischer« Lesarten zu ihren je hauseigenen Theorien angedeu-
tet. Wenn es richtig ist, daß die Verfahren der Strukturanalyse ihre Gegenstände als allgemeine Geschehens-Formationen betrachten, die ohne
Bindung an subjektiv Intendiertes da sind, so ist die metaphorische Rede-
weise von einer »monumentalischen Lesart« diesen wahrhaft angemessen.
Liest der Strukturalist doch - vereinfachend gesagt - auf der Folie eines
Grammatikmodells, dessen Grundbegriffe und Kategorien das Objekt der
Lektüre innerhalb eines Systems konstruieren, dessen Regeln so geheimnis-
voll sind wie die Konstruktionsregeln der ägyptischen Pyramiden. Denn
sie verweisen nicht auf einen Autor als ihre raison d'etre.
In Michel Foucaults L'archeologie du savoir wurde diese Lesart zum Pro-
gramm einer neostrukturalistischen, von der Ethnologie inspirierten Analyse ausgebaut, deren Ziel es ist, zugleich mit der Rekonstruktion der Diskurse die inhumanen Folgen der Humanwissenschaften zu dekonstruieren. Zwar soll diese in doppeltem Sinne kritische Analyse sich nicht auf
bestimmte materielle Objekte oder Werke, sondern auf »Diskurse« (auf
Texte?) als deren übergreifende Strukturen beziehen. Doch sind deren
kleinste Einheiten als »Aussagen« (enonces) von solchen Sätzen nicht zu
unterscheiden, deren Äußerung auf ein System von Regeln verweist, das wie das System des Levi-Strauss'schen »Mythos« - subjektlos ist und daher
keine vernunftgeleiteten Zwecke vertritt.
Diese Diskurse sind, in Foucaults objektivistischem Sprachgebrauch,
31
»Monumente« und nicht mit jenen »Dokumenten« zu verwechseln, die
der historisch verfahrende Humanwissenschaftler »als Zeichen für etwas
anderes« - z. B. für die Absichten und Zwecke der im Dokument genannten Akteure - liest (Foucault 1973, 198). Wenn es stimmt, daß Foucaults
»Diskurs«-Konzept mit Husserls Begriff der »Lebenswelt« vergleichbar ist
(Frank 1988, 33), dann wird diese Verbindung mit dem Monumentalischen freilich kaum verständlich. Ist die »Lebenswelt« doch durch den
Fluß der sie konstituierenden Erfahrungen - Husserls »Erlebnisstrom« —
bestimmt, während die Statik des Monuments diesen Fluß bricht und
staut. Foucaults »Diskurse« aber gehören keiner Bewegung an, sie sind
— als stumme Fundstücke des Archäologen - aus der Zeit herausgefallen.
Allenfalls bilden sie die zufälligen Zeugen jener konkreten »Kulturwelt«,
die Husserl jedoch - ganz anders als Foucault - einer interpretierenden,
also hermeneutischen Aneignung für würdig gehalten hat (Husserl 1950,
160 ff.).
Sehen ohne gesehen zu werden, das ist die machtvolle Perspektive der
modernen Humanwissenschaften, die Foucaults »Archäologie« zu konterkarieren sucht. Machtvoll ist diese deshalb, weil sie die objektivierende und
erklärende Vernunft allein auf Seiten der Wissenschaftler, vorab der Soziologen und Psychologen, verortet, denen dadurch eine Verfügungsgewalt
über soziale Normen zuwächst, die der des Dompteurs über die natürlichen Triebe des Raubtiers in nichts nachsteht. Der aufgeklärte Humanwissenschaftler ist es, der - so sieht es Foucault - über die Begriffe verfügt, mit
deren Hilfe er die Anomien in der Welt des psychisch Kranken oder in der
>primitiven< Kultur als Widervernunft bzw. Abartigkeit interpretiert und
sie schließlich der Disziplinargewalt einer den wissenschaftlichen Aussagen
angepaßten Verhaltenstechnologie und Kolonisierung preisgibt.
Im »Monument« - z. B. in der Architektur der Gefängnisse und Kliniken (Foucault 1963 und 1977) - ist Macht verkörpert. Insofern sind sie wie gegen Foucault einzuwenden ist — gewiß nicht völlig frei von Intentionen. Sie sind - mit dem treffenden Wort eines Kritikers - »die Monumente
des Sieges einer reglementierenden Vernunft« (Habermas 1985, 288). Die
Macht als eine Art Obersubjekt generiert in dieser Theorie aus anonymer
Quelle die Formationsprinzipien bzw. Selbststeuerungsregeln der »monumentalischen« Diskurse. Auf diesen Aspekt der Selbstmächtigkeit richtet
der Diskursanalytiker seinen besonderen Blick, ohne einen Zusammenhang mit anderen, etwa äußerlich bedingenden oder überhaupt irgendwie
sinnhaften, also zweckorientierten Akten zu suchen.
In dieser Perspektive erscheint die Organisation einer Kultur nicht als
zeidich gegliedertes Kontinuum, das durch die Leitbegriffe der »Spur«, des
»Autors« und der »Tradition« hindurch lesbar wird; sie ist vielmehr wie
32
ein räumliches Feld nebeneinander existierender »Monumente« angelegt,
dessen Subsysteme anhand von »Ausschnitten« und »Grenzen« zu bestimmen sind (Foucault 1973, 12). Die »Monumente« dieses Feldes stehen
- aufgrund der in ihnen verkörperten rivalisierenden Normen - allenfalls
in einer kämpferischen Beziehung untereinander und bilden, so gesehen,
auch ein in Analogie zur Physik zu begreifendes System einander abstoßender oder anziehender Kräfte. Der »Feld-Forscher« nimmt während seiner
Arbeit die Haltung des Beobachters ein, der diese Konstellation von außen beschreibt. Er ist selber nicht sympraktisch ins Kräftespiel verstrickt,
sondern erfährt seine Gegenstände — in der um jeden Preis aufrechterhaltenen Rolle des Archäologen - wie »die unverständlichen Schriftstücke einer
untergegangenen Kulturwelt« (Honneth 1985, 144).
Obwohl aus der Kritik am modernen Anthropozentrismus und der dazugehörigen Anthropologie entstanden, eignet sich diese Konzeption für
die Illustration auch solcher »monumentalischen« Lesarten, die weniger
strukturalistisch als funktionalistisch ausgerichtet sind. Ein Kernstück all
dieser »monumentalischen« Lesarten scheint mir in jener Anmahnung von
machtgedeckten Geltungsansprüchen zu liegen, auf die bereits der Gebrauch der lateinischen Vokabel »monere« (= ermahnen, erinnern) verweist.
Auch für diese letztenendes anthropologische, weil anthropologiekriti-
sche Konzeption ist von Bedeutung, welchen systematischen Ort der
menschliche Körper besetzt. In Naissance de la Clinique (1963) hat Foucault, soweit ich sehe, zum erstenmal den Versuch unternommen, am Beispiel der Veränderungen des medizinischen Diskurses seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts den Begriff einer negativen Individualität zu entwickeln. Der klinische, durch anatomische Studien trainierte Blick verläßt
das traditionelle Modell der »Symptom-Lektüre«. Er studiert den kranken
Körper schon bald in der Art einer monumentalischen, die raumgliedernde Dreidimensionalität umfassenden Perspektive. In ihr zeigt sich der Leib
quasi als statuarisches Artefakt, und das setzt eine Optik voraus, die den
Körper der Lebenden unter dem Bild des Todes wahrnimmt. So »herrscht
heimlich jenes absolute Auge, welches das Leben zur Leiche erstarren läßt
und in der Leiche das gebrochene Geäder des Lebens aufdeckt« (1973,
180).
Krankheit bedeutet seit diesem historischen Bruch Verkörperung des
Todes im »lebenden Körper der Individuen«. Anders gesagt: Die Verneinung der Individualität (der Unteilbarkeit) durch das Gesetz der Teilung,
den Tod, ermöglicht es jetzt erst, die Sinnenhaftigkeit des menschlichen
Organismus vollständig zu beschreiben. Der Tod macht »in einem von der
Sprache artikulierten Raum den verschwenderischen Reichtum der Körper
33
und ihre einfache Ordnung sichtbar« (Foucault 1973, 208). Dieser Raum
ist die Klinik.
Mit dieser Veränderung, die — was Foucault mehrfach hervorhebt —
das philosophische Bild des Menschen in folgenreicher Weise umgedeutet
hat, kommt auch das Bild vom aufrechten Gang als Bedingung der Kultur
zu Fall. In seinen späteren Arbeiten hat sich Foucault dem Studium jener
Institutionen gewidmet, die den Körper zum Objekt der Züchtigung, der
Internierung und der Folter gemacht haben: Orte, an denen die Macht
den aufrechten Gang gewaltsam gebeugt hat, um eine andere Kultur zu
enthüllen.
Es ist nicht leicht, diesem Ansatz Modellcharakter zuzubilligen. Unverkennbar ist jedoch Foucaults Absicht, die archeologie du savoir von der
»Lektüre« intentionaler Akte und ihrer Ausdrucksfunktionen zu lösen, um
den Text der Kultur - hier im Sinne der Wissensdiskurse - in seiner Anonymität und allgemeinen Regelhaftigkeit (Ideologien und Machtansprüche
eingeschlossen) in unbeteiligter Einstellung analysieren zu können (Foucault 1973, 200). Was nicht auf eine subjektzentrierte Einheit hinausläuft,
die als Apriori hinter der Vielfalt der Texte und Regeln steht, sondern was
zur vielseitigen Entfaltung des Uneinheitlichen, des Fragmentarischen und
Diskontinuierlichen führen soll. Deshalb läßt sich der Begriff des »Monuments«, wie ihn Foucaults Methodenlehre verwendet, auch nicht mehr
umstandslos mit dem Bild vom aufrechten Gang assoziieren. Als Monumente betrachtet, sind die Diskurse (Texte) autonom. Sie verweigern die
stellvertretende Funktion des Zeichens oder Symbols. Ihr Objekt ist der
zerstückelte Leib, Gegenstand sowie Opfer der medizinischen und perkutorischen Analyse. Was die diskursanalytische Kritik am Anthropozentrismus der Kulturwissenschaften zurückweist, das kehrt demnach - wie
das Verdrängte — in der Form der Negation wieder. Denn auch der tote
und zerstückelte menschliche Leib hält noch die Stelle besetzt, an der die
hermeneutische Analyse den Sinn des Lebens - die Einheit der leiblichen
Sinne als Analogon eines einheitlichen Lebenssinnes - verortet.
Pragmatische Analyse
Die »pragmatische« Lesart, von der oben bereits die Rede war, widerspricht
sowohl dem monumentalischen Blick des Strukturalisten wie auch der
mortifizierenden Monumentalisierung der Diskursanalyse. Ihr Feld ist, so
läßt sich vorweg schon behaupten, die komplexe Verflechtung der Kultur
mit den anderen, die Lebenswelt konstituierenden Elementen. Denn sie
bezieht den Untersuchungsgegenstand, wie die Wortwahl schon sagt, auf
34
jene sinnstiftenden Aktivitäten, denen er sein Hervortreten, seine Funktionen und Wandlungen in zeitlich gegliederten (Handlungs-) Abläufen
verdankt. Sie setzt voraus, daß die Form selbst noch des schmucklosesten
»Monuments« (im Sinne des archäologischen Fundstücks) - z. B. des Faustkeils - auf eine Fähigkeit zurückverweist, die das Funktionelle der Zweck-
Mittel-Beziehung zu reflektieren und daher auch über die instrumenteile Funktion hinaus ins Universum der expressiven symbolischen Formen
vorzustoßen vermag. In dieser Perspektive erscheint die materielle Kultur
nicht nur wie eine Ansammlung nebeneinander stehender Monumente,
sondern als ein Werk der Subjektivität, das, verwoben mit ökonomischen,
sozialen, ästhetischen u.a. Praktiken, in der Totalität seiner objektivierbaren Funktionen und Relationen zur Lebenswelt einer Gesellschaft gehört.
Den Referenzrahmen für diese Lesart liefert nicht ein Grammatik- son-
dern ein Kommunikationsmodell, in dem die Kontexte der materiellen
Kultur und des sozialen Handelns einander durchdringen und mit den erklärbaren Intentionen selbstbewußt agierender Subjekte zusammengekoppelt bleiben. Erst hier ist es möglich, mit Gründen jene besonderen, für
jede vergleichende Kulturanalyse zentralen Stilformen der Poiesis und Praxis zu unterscheiden, die von einer auf anonyme Selbststeuerungssyteme
bezogenen Analyse als bedeutungslose Randerscheinungen ausgeschieden
werden müssen.
Betrachtet man mit Jürgen Habermas Gesellschaften als »symbolisch
strukturierte Lebenswelten«, die im Medium kommunikativen Handelns
konstituiert, erhalten und verändert werden (Habermas 1988, 97), so steht
der Interpret eines kulturellen Objekts oder Ereignisses vor einer Reihe
von Aufgaben, die der konzentrischen Einbettung des bestimmten Gegenstandes in immer weiter ausgreifende Wissenshorizonte gleicht. Hat er es
beispielsweise mit einem Monument im Sinne eines von der zu untersuchenden Gesellschaft als Mahn- oder Denkmal anerkannten materiellen
Objekts zu tun, so wird sich seine Lesart nicht allein auf die in diesem
vergegenständlichte Symbolik beschränken, sondern von den Funktionen
desselben in Ritus und Feier über die ihm abverlangte soziale Integrationsleistung weiterschreiten bis zur Genese und Geltungsbegründung seiner
Semantik.
Im einzelnen sind diese Schritte zu unterscheiden als strukturimmanente, semantische, pragmatische und historische Analysen. Unter dem
Titel einer »dynamischen Lesart« dienen sie der Objektivierung jener Wissenstraditionen sowie der praktischen und symbolischen Kontexte, in deren Mitte die gesellschaftlichen Subjekte Wert und Bedeutung der von ihnen geheiligten »Monumente« und kanonisierten »Dokumente« kommunizierend auslegen bzw. im Vollzug sozialen und rituellen Handelns reali35
sieren. Die Rolle des so verfahrenden Interpreten gleicht der des Kritikers
im Theater: Er muß, will er verstehen, imstande sein, die für das Drama
konstitutiven materiellen Elemente — Requisit, Akteur, Rolle, Handlung
(Vordergrund), Gestik, Mimik, Dialog und Kulisse (Hintergrund) - als
Einheit zu sehen und dennoch die Einzelleistung beurteilen können. Dazu
bedarf es nicht nur des Studiums der faktischen, die Aufführung ermöglichenden Bedingungen, sondern auch der Bereitschaft, die kommunikativen Handlungen der anderen in der fiktiven Rolle des Mitspielers verstehend nachzuvollziehen und ihre stilistischen Besonderheiten zu erkennen.
Was den Interpreten von den realen Mitspielern trennt, das ist das Bestreben, die im Kommunikationshandeln impliziten, von den Kommunikanten nicht thematisierten Voraussetzungen - von Habermas als »situationsbezügliches Horizontwissen«, »themenabhängiges Kontextwissen« und
»lebensweltliches Hintergrundwissen« unterschieden (1988, 89f.) —festzustellen und explizit zu machen. Erst eine solche kontextintensive Analyse
erfüllt die Anforderungen an eine »pragmatische« Lesart. Nur müssen die
Grenzen zwischen den zur Lebenswelt zusammenschießenden Feldern der
kulturellen Symbolik, der Sozialordnung und jener Subjektivität, die in
der »Persönlichkeitsstruktur« gesellschaftlich wahrnehmbar wird, als flie-
ßende angenommen werden, soll jenes Zusammenspiel Zustandekommen,
das Habermas als Kommunikationshandeln beschreibt.
Nicht immer wird diese Praxis in quasi natürlicher Routine vollzo-
gen, oft folgt sie besonderen Ritualen, die einen paradoxen Charakter besitzen können, da sie einerseits die alltägliche Ordnung der Lebenswelt
infragestellen, sie andererseits aber durch dargestellten Konfliktausgleich,
Kompensation oder kreative Bereicherung der Symbolik stärken bzw. an
neue Wertvorstellungen anpassen. Ich spreche hier von jenen symbolischen Handlungen, die in jeder Gesellschaft besondere Kulturmuster und
Regeln hervorgebracht haben und nicht mit denen der Alltagskommunikation übereinstimmen: magisch-religiöse und künstlerische Darstellungsformen, die ein gewisses Maß an Verbindlichkeit für die Selbdeutungspraxis der jeweiligen Lebenswelt besitzen. Ich beziehe mich aber auch auf die
wissenschaftlichen Verfahren, die entwickelt worden sind, um diese Funktionen zu erklären und zu interpretieren. Denn auch das wissenschaftliche Weltbild der modernen Gesellschaften kann, wie es scheint, auf die
mit Ähnlichkeiten operierende Beziehungslogik nicht verzichten, die den
menschlichen Körper mit den symbolischen und technischen Entäußerungsformen verknüpft, in denen er seine Lebensordnungen verkörpert.
36
Die Verkörperung der Kultur in fiinktionalistischer
und evolutionistischer Sicht
In der kulturvergleichenden Arbeit der frühen akademischen Ethnologie,
die das Aufklärungsdenken beerbt hat, ist die Beziehung zwischen Leib und
symbolischer Ordnung, anders gesagt: die Prägung kultureller Differenzen
im Bereich der auf den menschlichen Körperbau bezogenen Terminologie
eher beiläufig betrachtet worden. Marcel Mauss hat, um eine der signifikanteren methodischen Verschiebungen zu zitieren, in einem Vortrag aus
dem Jahre 1934 einige interessante Gesichtspunkte zu dieser Frage und
ihrer forschungsstrategischen Entfaltung beigesteuert. Mauss hält sich, anders als die nach der emphatischen Bestimmung des Menschen suchende allgemeine Anthropologie, an die in der sozialen Gruppe ausgebildeten und normierten leibbezogenen Handlungsformen, die er als »KörperTechniken« beschreibt (Mauss 1978; II, 199 ff.). Der Technikbegriff dient
in diesem Rahmen zur Kennzeichnung der Konditionierung eines biologi-
schen Systems, das zwar - physiologisch gesehen - noch mit dem tierischen
Organismus vergleichbar ist, aber dessen Umweltgebundenheit hinter sich
gelassen hat.
Es gibt, so könnte man einwenden, auch im Tierreich Techniken,
selbst wenn diese ohne Bewußtsein und Methode angewandt werden.
Mauss verwendet den Begriff aber in einem Sinne, der in eindeutiger Weise
mit den Techniken der materiellen Kulturproduktion verknüpft ist. Kör-
per-Techniken sind erworbene, einen Lernprozeß voraussetzende Verhaltensweisen (habitus), die dazu dienen, die physiologisch und neurologisch
bestimmten Ressourcen des Leibes zu kontrollieren, um sie gezielt und
wirksam einzusetzen. Sie haben demnach ihre eigentümlichen Tradierungsund Trainingsformen, ganz gleich ob ihre Träger diese nun kultisch-magisch
oder zweckrational interpretieren. An Techniken gebunden, sind sämtliche
menschliche Handlungsformen - physische, symbolische, psychische usw.
- immer schon Ausdruck für die doppelte Repräsentation des Leibes, die
Mauss in dem Satz zusammenfaßt: »Das erste und natürlichste technische
Objekt und gleichzeitig technische Mittel des Menschen ist sein Körper«
(Mauss 1978; II, 206).
Der Begriff der Körper-Technik öffnet, schließt er - wie Mauss vor-
schlägt - den symbolischen Ausdruck mit ein, der funktionalistischen Analyse den Zugang zu den Formen sowohl des Verhaltens im Sozialverband als
auch der Organisation der Arbeit auf bestimmten kulturellen Ebenen der
Gattungsgeschichte. Hat Mauss den »totalen Menschen« - verstanden als
mechanische, physiologische, psychologische und soziale Einheit (Mauss
1978; II, 203 ff.) - in den Mittelpunkt der kulturellen Praxis gerückt und
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von der ihm angeborenen technischen Lernfähigkeit her definiert, so hält
Mary Douglas, die sich mit Mauss auseinandersetzt, an der Differenz zwischen natürlicher und gesellschaftlicher Konstitution des Leibes fest. »Der
menschliche Körper ist«, so lautet ihre Hauptthese, »das mikrokosmische
Abbild der Gesellschaft, ihrem Machtzentrum zugewandt und in direkter Proportion zum zu- bzw. abnehmenden gesellschaftlichen Druck >sich
zusammennehmend« bzw. »gehenlassend« (Douglas 1986, 109). Als »Abbild« des Sozialen ist der Leib jedoch nur denkbar, weil sich in ihm eine
Natur verkörpert, die sich der Domestizierung widersetzt. In ihr - gleich-
sam als ihrem Material - bildet der Druck sich ab, der von der Gesellschaftsordnung auf sie ausgeübt wird. Vom Grad der sozialen Kontrolle
soll demnach abhängen, wie fern oder wie nah die Mitglieder einer Kultur
dem »natürlichen« Ausdrucksverhalten stehen. Dieser Abstand ist indessen
stets gesellschaftlich vermittelt, da - in der Terminologie von Douglas das »Selbst« immer, auch wenn es gegen den Druck aufbegehrt oder von
ihm sich entfernt, in spannungsvoller Beziehung zur »Gesellschaft« steht.
Es ist gerade diese Differenz (zwischen »Selbst« und »Gesellschaft«), die
jenen Bedeutungsreichtum der symbolischen Ordnungen bedingt, der ein
Kultursystem vom anderen unterscheidet.
Die funktionalistische Analyse beantwortet den Anthropozentrismus
mit einem Soziozentrismus. Sie verharrt aber innerhalb des Gegensatzes
Kultur-Natur, denn sie erklärt die Geburt der Kultur als symbolische Ordnung aus den Versagungen und Verzerrungen, die das soziale System dem
Leib als natürlichem Organismus auferlegt. Damit hält Douglas zwar am
Leib als einem Ausgangspunkt kultureller Ausdrucksformen fest, aber sie
erweitert durch Hinzufügung des gesellschaftlichen Pols das Spektrum der
Lesbarkeit. Nicht als mächtiges Monument der Kulturfähigkeit, sondern
als Abbild des Sozialen betrachtet, bleibt der menschliche Körper aber in
einer Lage der Unterwerfung.
Sowohl Mauss als auch Douglas favorisieren eine soziologische Lesart
des Leibes und stellen die Technik im Sinne der Produktion einer materiellen Kultur weitgehend zurück. Da Technik im Sinne der Werkzeugproduktion und -handhabung aber den anthropologischen Fundamentalsatz
vom aufrechten Gang zur Voraussetzung hat, stellt sich auf anderer Ebene
noch einmal die Frage nach dem Verkörperungsmodus von materieller und
symbolischer Kultur.
In evolutionistischer Perspektive erscheint das technische Verhältnis
des kulturellen Prinzips in weiteren Differenzierungen. Denn es ist nicht
der Körper an und für sich, sondern die Entwicklung der Körper-Haltung,
mit der die Befreiung der Geste und schließlich die Ablösung der von der
freigesetzten Hand produzierten Werkzeuge zusammengehörten. Wie der
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Übergang von den Australopithecinen zum dauernd aufrecht gehenden
Zweibeiner mit hohem Stirnknochen und Werkzeugverhalten vorzustellen
ist, das gehört in den Bereich der hypothesenbildenden Archäologie.
Unbestritten ist der Ausgangspunkt: die spezifische anatomische Konstitution von Homo erectus, die es erlaubt, ein Evolutionsmodell zu entwerfen, nach dem sich der Prozeß materieller Kultur wie die fortschreitende Verdinglichung leibgebundener Funktionen betrachten läßt, ein Prozeß,
für den die Rolle der frei beweglichen Hand von entscheidender Bedeutung
ist. Mit den Worten Leroi-Gourhans: »Im Verlauf der menschlichen Evo-
lution vervielfältigt die Hand ihre Aktionsmodi im Operationsprozeß. Auf
die manipulative Aktivität der Primaten, in der Geste und Werkzeug miteinander vermischt sind, folgt mit den ersten Anthropinen die Aktivität der
Hand in direkter Motorik, bei der das manuelle Werkzeug von der motorischen Geste ablösbar wird. Auf der folgenden Stufe, die möglicherweise
schon vor dem Neolithikum erreicht wurde, annektieren die manuellen
Maschinen die Geste, und die Hand steuert in indirekter Motorik lediglich noch den motorischen Antrieb bei. Im Laufe der historischen Zeiten
verläßt auch die motorische Kraft den menschlichen Arm, die Hand löst
den motorischen Prozeß in den tierischen Maschinen oder den automotorischen Maschinen wie der Mühle aus. Im letzten Stadium schließlich löst
die Hand einen programmierten Prozeß in den automatischen Maschinen
aus, die nicht nur das Werkzeug, die Geste und die Motorik exteriorisieren,
sondern auch das Gedächtnis und das mechanische Verhalten usurpieren.«
(Leroi-Gourhan 1988, 302)
Schon Kant hatte die technische Kompetenz und Feinfuhligkeit der
menschlichen Hand als Signatur der Vernunft gedeutet (1983, 280). Was
Leroi-Gourhan indessen in der zitierten Passage als eine stufenweise Ablösung der Technik von ihrem körperlichen Substrat beschreibt, liest sich
wie eine Variation der Geschichte vom Zauberlehrling. Das im Laufe der
kulturellen Evolution nach außen Verlagerte, das »Exteriorisierte«, droht
von dort mit eigener, wenn auch »usurpierter« Macht auf den Urheber
zurückzuwirken und seine Stellung im Zentrum der kulturellen Praxis zu
bedrohen.
Vernachlässigt man einmal den kulturkritischen Einschlag dieser Beschreibung, so stellt sich die Frage, ob der Prozeß einer schrittweisen Exteriorisierung der manipulativen und motorischen Kräfte nur das technische
Werkzeugverhalten und damit nur einen begrenzten Bereich der Gesamtkultur, oder ob der Vorgang auch die Entwicklung symbolischer Formen
betrifft. Aber schon mit der aufrechten Körperhaltung geht nach Aus-
sage der Paläoanthropologie eine Veränderung der Hirnstruktur und des
Kehlkopfbereiches zusammen, die es erlaubt, den Werkzeuggebrauch mit
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der Metapher der »denkenden Hand« zu verbinden. Denn die Hand, die
den Faustkeil zu bearbeiten und anzuwenden versteht, ist potentiell schon
fähig, den Zeichen-und Schreibstift zu fuhren, mit dessen Hilfe sie der
sprachlich artikulierten Vorstellungswelt das Tor zur gegenständlichen, relativ dauerhaften symbolischen Darstellung öffnet und damit die Gestik
des Kommunizierens in den Gedächtnisraum der Schrift überführt.
Die Hand »denkt«, das heißt: »Der fortschreitende Triumph des Werkzeugs ist untrennbar mit dem der Sprache verbunden, es handelt sich in
der Tat nur um ein einziges Phänomen, und dies im gleichen Sinne, wie
Technik und Gesellschaft ein und denselben Gegenstand bilden« (LeroiGourhan 1988, 264). Technische Gestaltung, Sprache und soziales Han-
deln tauchen in diesem Satz in einem einzigen Zusammenhang auf, der den
Verdacht weckt, das technische Werkzeugverhalten liefere den Schlüssel
zum Ganzen der Zivilisation und Kultur. Tatsächlich beschreibt Leroi-
Gourhan die Geschichte der Zivilisation als einen Prozeß der Entäußerung,
der mit der technischen Transformation organischer Operationen beginnt
und mit der Produktion einer gigantischen Illusionskultur, die das naturale Substrat von Homo sapiens erfolgreich verschleiert, in naher Zukunft
enden soll.
Der Entäußerungsprozeß wird zunächst als Befreiung vom Zwang des
Organischen und als Übersetzung in kulturelle Artefakte begrüßt. »Der
Mensch« - so lautet die These - befreit sich von seinem Werkzeug, seinen
Muskeln und Gesten, von der Handlungsplanung, von seinem Gedächtnis
und zuguterletzt sogar von seiner Phantasie. Er lagert die ihm eigentümlichen organischen und psychischen Fähigkeiten aus, übersetzt sie mithilfe der Technik in jene zweite Wirklichkeit, die allmählich ganz und gar
die Stelle der Naturwirklichkeit einnimmt und diese schließlich verdrängt.
Am Beispiel der Evolution der Schrifttechnik erläutert Leroi-Gourhan die
negativen Seiten dieser Entwicklung. Bezog sich das Mythogramm (der
Höhlenmalerei) als bildliches Äquivalent der Mythologie noch auf ein
mehrdimensionales, diffuses Weltbild, so läßt die Linearität der alphabetischen Schrift als technischer Transformator der gesprochenen Sprache nur
noch die eine rationale Denkrichtung zu, die im spekulativen und wissenschaftlichen Weltbild der Neuzeit zu Buche schlägt.
Aber nicht die kulturkritische Seite dieser übrigens mit großer Meisterschaft entwickelten Position steht hier zur Debatte, sondern die Stellung der Menschengattung im Zentrum der Welt, die sie wie ein götdicher
Demiurg aus sich herausgesetzt hat. Diese Leistung führt jedoch nicht
zur völligen Domestizierung, der Mensch leidet unter seiner Doppelnatur. Gewiß ist die aufrechte Haltung die entscheidende Bedingung für die
Entwicklung eines Hirnapparats, der es erlaubt, die organische, auch von
40
den Primaten geteilte Grundausstattung mit anderen Zielen zu verbinden,
um einen Prozeß der Lossagung vom Zwang der biologischen Reaktionen
einleiten zu können. Aber auch dann, wenn der vergesellschaftete Mensch
sich angesichts der gelungenen Exteriorisierungen über die Natur erhaben
dünkt, so bleibt — wie Leroi-Gourhan behauptet — seine Aggressivität dennoch einem Substrat verhaftet, das ihn mit dem jagenden Raubtier auf eine
Stufe stellt (1988, 494). Der Mensch reitet, so könnte man diese Ambivalenz mit einem Bild Nietzsches umschreiben, träumend auf dem Rücken
eines Tigers (Nietzsche 1962, 271). Damit ist ein Bruch angedeutet, der
den Menschen aus der Mitte herausrückr, ihn zwischen zwei Welten stellt:
die Welt der wilden Natur und die Welt der selbstgezimmerten Kultur. In
der letzteren steht er scheinbar im Mittelpunkt, eine Illusion, die in dem
Maße sich steigert, in dem es ihm gelingt, seine eigenen natürlichen Ressourcen zu beherrschen und in objektive Formen zu übersetzen. »Hunger,
Gleichgewicht und Bewegung sind«, bemerkt Leroi-Gourhan (1988, 395),
»die Grundlage der höheren Sinne, des Tast- und des Geruchssinnes, des
Gehörs und des Gesichtssinnes. Nichts davon hat sich beim Menschen
geändert, darüber erhebt sich lediglich der gewaltige Symbolapparat, der
den gesamten Hintergrund der cartesischen Perspektive einnimmt.«
Doch der Exteriorisierungsprozeß, den der Paläoanthropologe auf diesen Prämissen rekonstruiert, muß zwangsläufig an ein Ende kommen, denn
die zu entäußernden Kräfte des Menschen sind nun einmal endlich. LeroiGourhan steht daher am Ende seiner Geschichte vor der Verlegenheit,
über die zukünftige Evolution mutmaßen zu müssen. Eine ans Maß der
menschlichen Organisation assimilierte Welt läßt dafür wenig Spielraum.
Und seine Prognosen verharren denn auch im Bereich gutgemeinter Fiktionen.
Exzentrische Positionalität
Wird der Zivilisationsprozeß als eine Serie von Transformationen des Organischen ins Gegenständliche betrachtet, so erhält die monumentalische
Perspektive wieder ein stärkeres Gewicht. Die anthropologische Paläontologie deckt sich ohnehin zu einem guten Teil mit jener prähistorischen
Archäologie, deren Schrift-, also sprachlose Gegenstände eher unverständlichen Fundsachen als kontextgebundenen Data gleichen. Für den Funktionalismus von Leroi-Gourhans Erklärungen wichtiger ist aber die Reduktion symbolischer Qualitäten auf den organischen Antriebsapparat. Zwar
erkennt der Paläoanthropologe die Situationsgebundenheit des Erfahrungmachens an, er verweist ausdrücklich auf die leibgebundene Wahrneh41
mung von Raum und Zeit. Doch berücksichtigt er nicht, daß die Wahrnehmung der raumzeitlichen Situierung des Subjekts dieses in ein eigen-
tümliches Selbstverhältnis zu seinem Körper bringt.
Helmut Plessner teilt die Überzeugung Leroi-Gourhans, jede Stufe der
anthropologischen Evolution habe die Errungenschaften der vorhergehenden Phase in sich aufgenommen und qualitativ verändert. Seine Theorie
unterscheidet sich aber in wesentlichen Punkten von dem Entäußerungsschema der Paläontologie. Plessner strebt, wie schon gesagt, eine »Hermeneutik der Sinne« an, während Leroi-Gourhan das »ästhetische Verhalten«
lediglich als einen Ausweg aus dem natürlichen Zwang der physiologischen
Rhythmik in die vergesellschaftete Welt der kollektiven Symbole betrachtet.
Eine »Hermeneutik der Sinne« mag auf den ersten Blick wie eine psychologische Spezialdisziplin erscheinen, von der die Kulturanalyse nichts
zu lernen hat. Indessen, für die Verständigung über das Grundverhältnis zwischen Natur und Kultur gibt sie einige entscheidende Hinweise.
Plessners philosophische Anthropologie rekonstruiert nicht den Prozeß der
Zivilisation aus einer symbolisch lesbaren monumentalischen Organstruktur. Sie öffnet vielmehr den Blick für die Randstellung der menschlichen
Physis.
Nicht der Leib bildet die Ursprungszelle für eine sich nach und nach
ausdifferenzierende kulturelle Welt, sondern die Situation des Kommunizierens. Der sensible Leib ist nicht unmittelbar erfahrbar, er spiegelt sich
vielmehr an den Erfahrungen mit und in der Außenwelt und in der Welt
der Anderen, er ist immer schon positioniert, seine vermeintliche Naturbasis ist immer schon symbolisch vermittelt. Anders könnte nicht von Erfahrung die Rede sein. Insofern wird auch die Sensomotorik des menschlichen Organismus nicht erst auf dem Weg einer Entäußerung zur kulturellen Kraft. Mit dem Attribut des Sinnhaften ist sie bereits von der tierischen
Instinktsphäre geschieden und auf ein Selbstverhältnis verwiesen, das keine
Entsprechung in der außermenschlichen Natur besitzt.
Es geht Plessner nicht allein um die exteriorisierende Übersetzung der
Biosphäre in eine gegenständliche Symbolwelt, sondern um die Erklärung
der kulturellen Wirklichkeit aus der menschlichen Tendenz zur »Verkörpe-
rung«. Die menschliche Natur erschöpft sich nicht im Körper-Sein, sondern ist zugleich auch vom Bewußtsein abhängig, einen Körper zu haben.
Für den Menschen ist - im Unterschied zur tierischen Natur - seine eigene Natur gebrochen. Anders gesagt: Die »Verschränkung von Körper und
Leib« ist ihm schon auf frühester Daseinsstufe mitgegeben und zwingt ihn
zu »kulturellem« Verhalten, denn ohne Lernen wäre er nicht lebensfähig.
42
Und das gilt im onto- wie phylogenetischen Sinne. So erfährt der Mensch
bereits im vorbewußten Zustand der Geburt an sich selbst die Handgriffe,
die seinen Leib von den Kulturgesten anderer abhängig macht. Nicht nur
Objekt zu bleiben, sondern zum Subjekt der Kultur zu werden, das hat er
mühsam zu lernen.
Diese Zweideutigkeit kann der Mensch sich bewußt machen. »Verkörperung« bedeutet in dieser Sicht demnach ein sinngebendes Ver- bzw. InneHalten zwischen motorischem Impuls und sensorischem Empfinden wie es
die tierische Natur nicht kennt, oder — wie Plessner sich auch ausdrückt —
ein Verhalten zu einem »Mißverhältnis« (1970, 242). Er schlägt zur Erforschung dieses Bruchs in der Natur des Menschen vor, mit einer »Anthropologie der Sinne« zu beginnen, die sich das Mißverhältnis zunutze macht
und zwar als aktiven Modus der sinnhaften Verkörperung im Handeln,
Sprechen und Gestalten. Nur der Mensch ist imstande, seine eigene sinnliche Organisation zu interpretieren und »auszudrücken« bzw. zu vergegenständlichen - eine Kurzformel für seine Kulturfähigkeit, die den Bruch
mit dem bloß biologischen Sein zur Voraussetzung hat. Als Verkörperungstendenz geht die Kulturfähigkeit demnach aus der Wahrnehmung eines
Abstands zwischen dem Selbst und seiner Leiblichkeit hervor. Die Distanz
zum eigenen Leib, die der vom aufrechten Gang ermöglichten Erfahrung
von Ferne und Nähe entspricht, ruft ein Ausdrucksverhalten hervor, dessen reiche Skala von der Körpersprache bis zum Begreifen des Begriffs und
der technischen Produktion einer Kulturwelt reicht, in der das dem LeibKörper-Verhältnis eingeschriebene Ausdrucks- und Verkörperungspotential Wirklichkeit werden kann.
Daß die Kulturwelt nur eine von Notdurft und Notwendigkeit vorgezeichnete Form annehmen würde, das verhindert der »Zwang zur Willkür«
im Tun des Menschen, der sich dem Selbstbewußtsein verdankt, das ihn
kategorisch von der bewußtlosen Naturwelt trennt. »Hier zeigt sich der
Primat aufrechter Haltung,« erläutert Plessner (1970, 231), »die jeder Art
von Handeln den Schematismus der Willkür aufprägt.« Und er fährt fort:
»Das für ein Subjekt gebrochene Verhältnis von eigenem Körper und eigenem Leib kann zwar seinen Konfliktcharakter nicht verlieren, wird aber
durch Einfügung in den Schematismus der Willkür produktiv und praktisch. Auch die dem Lebensunterhalt dienenden Funktionen animalischer
Art müssen praktisch, d.h. auf menschliche, nicht auf tierische Weise erledigt werden. Das Pragma wurzelt aber in der Gebrochenheit von Leib und
Körper, in der Verschränkung von innen und außen, deren Überhöhung
erst der Schematismus der Willkür erreicht. Überhöhung bedeutet freilich
nicht Aufhebung der Verquerheit von Leib und Körper, als ob es sich da-
43
bei um eine Antithese handelte, die ihre Auflösung gewissermaßen in sich
birgt. Leib und eigener Körper bilden keinen Gegensatz, sondern meinen
dasselbe. Aber eben nur: sie meinen«.
So ist denn in Plessners hermeneutischer Perspektive der aufrechte
Gang auch ein Symbol der aktiven Freiheit und prinzipiellen Offenheit der
menschlichen Lebenswelt. Doch fuhrt diese Freiheit nicht zwangsläufig zu
jenem Progreß der kulturellen Selbstentäußerung, von dem Leroi-Gourhans Anthropologie handelt. Plessner unterscheidet ja zwischen der motorischen Zielgerichtetheit des Willens und der sensorischen Verkörperungsfunktion der Empfindungen, die beide in einem ständigen Kampf mit der
Leibgebundenheit liegen, da sie, produktiv in die »Umwelt« eingreifend,
ständig über diese hinaus wollen, um sich konkret und bildhaft realisieren
zu können. Was mit Blick auf das Ideal einer Einheit der Sinne bezeichnenderweise am besten den darstellenden Künsten, vor allem der Schauspielkunst gelingen soll, da diese in exemplarischer Weise die Verschränktheit
des Leibes im Körper unter der Vorgabe eines gesellschaftlich sanktionierten Verständigungsprozesses darzustellen vermag (1970, 249 f.).
Die Position »des Menschen« - um diese verkürzte Redeweise noch
einmal hier einzusetzen - in der Welt ist, so lautet der Generalnenner, zugleich zentriert und »exzentrisch«. In den mannigfachen Beziehungen der
Lebenswelt auf sein leibhaftes Ich und vice versa steht er im Zentrum und
ist doch zugleich auch in der Relation zu anderen Subjekten und Dingen
ein Körper unter anderen, also — von den Mitmenschen her gesehen — an
der Peripherie. »Ein reines Gegenstands-Bewußtsein kann, für sich allein
genommen, der Welt keinen Sinn abgewinnen. Um zu einer Sinnkonstitution zu gelangen, muß das - seinem Wesen nach >exzentrische< - Bewußtsein sich zentrisch, d.h. leibhaft, im Hier und Jetzt engagieren« (Apel
1973, 98). Der anthropozentrische Fundamentalsatz vom Menschen als
dem Maß aller Dinge ist demnach zu modifizieren. Denn zwischen dem
»Maß« und den »Dingen« steht die Tatsache, daß sich das »Maß« zu sich
selbst verhält und daher ein vermitteltes Verhältnis zur Wirklichkeit der
Dinge besitzt, sie nach Maßgabe seiner Sinnesmannigfaltigkeit perspektivisch gebrochen wahrnimmt, gestaltet und interpretiert.
Um sich gegen die äußere Welt, auf die der tierische Organismus bloß
reagiert, behaupten zu können, muß er sich daher eine eigene Ding-Welt
schaffen, die etwas von dem repräsentiert, was er nur an sich selbst wahrnimmt. Die »wilde Natur« an und für sich sagt ihm nichts über seine eigenartige Doppelorganisation, sie ist allenfalls eine Projektion seiner unbefriedigten Wünsche. Denn er kann sie nicht als puren Reizappell erfahren,
er gibt ihr vielmehr, sie gegenständlich wahr-nehmend und be-greifend,
eine Bedeutung, die er bildhaft ordnend in Zeichen, Formen, Symbo44
len, Gestalten verkörpert. In diesem Sinne ist sein Leib dem »Kunstwerk
vergleichbar [...], ein Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen« (MerleauPonty 1966, 182). Das heißt: Er will verstanden, gedeutet, interpretiert
werden und bedarf also der Blicke des Anderen. Der Mensch kann nicht
wie das Tier im Zentrum einer durch Auge, Gehör, Geruch oder Tastsinn »objektivierten Umwelt« existieren, ohne ein Echo zu vernehmen, das
bedeutungsvoll aufsein leibhaftes Engagement zurückweist. Je nach Blickwechsel ist er sich selbst Subjekt (ego) oder Objekt (alter), in jedem Fall
aber exzentrisch auch im Sinne des kommunikativen Verhaltens, da er zur
leibhaften Identität des Ich (zum Person-Sein) nur über die Bilder gelangt,
die er der dialektischen Bewegung — präziser: der Kommunikation — zwischen Selbst- und Fremdsicht verdankt.
»Der aufrechte Gang« - das ist bereits eine sinnkonstituierende Redeweise,
die nicht den Körper als reines Objekt, sondern den »phänomenalen Leib«
(Merleau-Ponty) bezeichnet. Phänomene aber sind nicht nur abhängig von
der Wahrnehmung durch andere, sondern bereits von sprachlicher Bedeutung besetzt. In diesem Sinne ist nicht die unspezialisierte körperliche Organisation des Menschen der Ausgangspunkt einer Kulturwelt, sondern die
Situation, in welcher die erste Gebärde, der erste artikulierte Laut verstan-
den und beantwortet wurden. Situationen sind, wie der Begriff selbst andeutet, Handlungsräume. Und Räume, Zeit-Räume eingeschlossen, werden durch Beziehungen zwischen Körpern zu dem, was sie sind. Aber
ästhetische und soziale Bedeutung erhalten diese Räume allein durch jene
symbolischen Formen, in deren Medium der Mensch seine exzentrische
Position handelnd und redend zum Ausdruck bringt und sich verkörpert.
So gesehen, liegt sein Maß nicht in den Dingen, sondern in den Verständigungshandlungen über deren Sinn: »Der Mensch ist nur in dem Maße Mensch, wie er mit seinesgleichen zusammenkommt und sich mit den
Symbolen seiner raison d'etre umgibt« (Leroi-Gourhan 1988, 387).
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47
Vom Fetisch bis zum Drama?
Die Verwirrung des Sprachgebrauchs steigert sich,
je mehr der Begriff Kultur zu einer Modesache
wird; ja man kann sagen: je mehr die Wissenschaft sich des Begriffs annimmt.
Fritz Mauthner
Mutmaßungen über die Konjunktur der »Kulturwissenschaft«
Zweierlei forciert zum Nachdenken heraus. Erstens: Warum wollen oder
sollen die Literaturdisziplinen den altehrwürdigen Rock der Geisteswissenschaften abstreifen? Zweitens: Welche neue Anmut, welchen Zugewinn
verspricht ihnen das modische Kleid der Kulturwissenschaften? Es ist gewiß nicht nur eine Frage des Kostümwechsels, der die aktuellen Debatten
erregt.1 Eine so nominalistische Einstellung könnte man getrost sich selbst
überlassen. Die Begriffe »Kultur« und »Geist« sind eben Begriffe und nicht
nur Worte, und was sie ergreifen oder bezeichnen, das ist kategorisch geschieden, auch wenn sie auf den ersten Blick als Gemeinsames nur die
banalen Eigenschaften eines Vater-Kind-Verhältnisses preiszugeben scheinen.
Noch ist es nicht lange her, da galt Kultur als Geistschöpfung. Wer aus
Profession — ob Philolog, Historiker oder Philosoph - über Kultur nachdachte oder forschte, verstand sich daher mit Blick auf die prima causa als
Geisteswissenschaftler. Und das hieß viel. Denn am »Geist« als Subjekt jeglicher Sinnstiftung teilzuhaben, war als Legitimation für die wissenschaftliche Arbeit am Sinn nicht zu überbieten. Von heute aus gesehen erscheinen diese wissenschaftlichen Bemühungen um den »Geist« der Kultur als
Kennzeichen einer sozialen Funktion, die den beschleunigten Ausdifferenzierungsprozeß konfligierender kultureller Felder in der Moderne auf ein
einheitstiftendes Prinzip zurückzuführen suchte.
»Von heute aus...« - was heißt das hier und jetzt für die Kultur, den
Geist, den Sinn? Eine Bibliothek von Antworten gibt es auf diese Frage, die
sich jedoch - was die Einstellungen gegenüber den westlichen Gesellschaften betrifft - auf eine spannungsreiche, die Gegenwart charakterisierende
Ambiguität reduzieren lassen: Die Sphären fallen auseinander und treten
zugleich in ein Austauschverhältnis. Denn einerseits soll Kultur - folgt man
Daniel Beils Diagnose in The Cultural Contradictions ofCapitalism (1976)
- zum Konsumstil, Sinn zur Beliebigkeit verkommen sein; Hintergrund
49
für diese Kritik ist ein Dennoch, da Bell mit einem quasi-religiösen, inte-
grativ wirkenden Kultwert gegen den dissoziierenden Gebrauchs- und Ausstellungswert der Oberflächenkultur zu Felde zieht und mit dem Ruf nach
moral guidance ein liberalistisches Credo kohärenzstiftender Sinnfindung
beschwört. Andererseits soll »Kultur« heute - folgt man der Diagnose von
Panajotis Kondylis in Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen
(1991) - für eine massendemokratische Erscheinung stehen, deren Egalitätsprinzip sich über die traditionelle Unterscheidung zwischen >Hoch<und Populärkultur hinwegsetzt, um die Wertdifferenzen zwischen beiden
Sphären in einem osmotischen Austauschprozeß auszugleichen.
Zirkulation, Rekursivität, Fluktuation, Dissipation usf. lauten die neuen Begriffsgitter, durch die wie durch alchemisch aktive Filter das moderne,
synkretistisch fortwuchernde Gespinst der Kulturen hindurch muß, damit
der sozial- und kulturwissenschaftliche Blick in den Stand gesetzt wird,
lesbare Muster unterscheiden zu können.2 »Kultur«, zum formellen Arbeitsbegriff der Kultur-Wissenschaften transformiert, kommt ohne Geistsubstanz aus. Die Entscheidung ist pragmatisch und wissenschaftsrational.
Denn der formelle Begriff erleichtert und stärkt die Ermittlung positiven
Wissens, und es stellt sich die Frage, ob das auf Kosten jener Reflexion geschieht, für die der Geist-Begriff steht. Von Berlin bis Passau hat die Kulturwissenschaft ein eigens so genanntes Berufsstudium in die akademische
Welt gesetzt. Etwas ähnliches von der Geisteswissenschaft zu verlangen,
würde nur Spott verdienen, da diese Bezeichnung seit Diltheys Tagen als
Sammelcode für jene Fakultäten in Gebrauch ist, die sich nicht der Naturerkenntnis, sondern - wie es bei dem Wissenschaftsphilosophen heißt — der
Konstruktion der »geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit« widmen.3
Hier werden Wirklichkeit und Geist in ein Verhältnis gesetzt, das mehr
umfaßt als das in materielle und ideelle Güter aufgeteilte Reich der Kultur. Was zu Diltheys Zeiten Konstruktion des Vergangenen hieß, stand im
Dienst einer Krisentherapie, die von der autonomiestärkenden Kraft der
nationalen Bildungs-Erlebnisse noch überzeugt sein mochte. Den supra-
und transnationalen Kräften, die heute das klassische Modell des Nationalstaates unterwandern und delegitimieren, entspricht auf ästhetischer Ebene
die Kreolisierung der Kulturen.
Um der Unterscheidung, ja den Widersprüchen zwischen Kultur- und
Geisteswissenschaften auf den Grund zu gehen, lohnt es sich, bei dem
nachzuschlagen, dessen Name zum Inbegriff für das geworden ist, was
heute zur Disposition steht. Überdies zieht dieser Name sich wie ein roter Faden sogar durch die Diskurse der transatlantischen Grundlagentexte
der Literary & Cultural Studies - von Wellek-Warren bis Clifford Geertz
und Victor Turner, jenen Ideengebern für eine ethnologisch inspirierte Poe50
tics ofCulture; und die Literaturwissenschaften Rußlands, lese ich zu meiner Verwunderung in einem Bericht über deren aktuellen Stand, sollen
sich von der Dilthey-Zeit überhaupt noch nicht losgesagt haben.5 Dilthey
selbst verdankte übrigens die Bezeichnung »Geisteswissenschaft«, die gern
als eine idealistische Wortschöpfung angesehen wird, der Übersetzung der
englischen Begriffsfügung »moral science« aus John Stuart Mills System of
Logic von 1843; eine Übersetzung, die sich zum Original noch unentschieden verhielt, da sie den Ausdruck »Geisteswissenschaften« der wörtlichen
Übertragung »moralische Wissenschaften« als Explicans — wie zu vermuten
ist — hinzugefügt hat.
Der Fall erscheint mit charakteristisch für jene Translationen im grenzüberschreitenden Kommerz der Wissenschaften, die sich in den gegenwärtigen Diskussionen über das Woher und Wohin der historisch-philologischen
Wissenschaften überschlagen. Auch hier gilt indes, was jede Übersetzung
auszeichnet: Sie verschiebt die Bedeutungen. Wenn hier und jetzt von
»Kulturwissenschaft« die Rede ist, so mag dahinter — sieht man von den
volkskundlichen und DDR-Varianten einmal ab - das angloamerikanische
Paradigma der »Cultural Studies« zu ahnen sein. Dennoch läßt sich das
eine nicht ins andere übersetzen. Die Differenz liegt sicher nicht nur in
der Beziehung des einen auf eine Vielfalt von Wissenschaften, des andern
auf das, was in den heimischen Philologien unter dem Titel »Landeskunde« versammelt ist. Denn in der angloamerikanischen Wissenschaftskultur
stehen die »Cultural Studies« längst für autonome sozialwissenschaftlichkulturanthropologische Forschungs- und Studienfelder, die allein mit der
Elle philologisch-historischer Konventionen nicht auszumessen sind.7
Wünschenswert wäre sicher eine Konfrontation zwischen beiden Paradigmen, zumal das geistesgeschichdiche, im deutschen Wissenschaftsbetrieb verwaltete Nebengebäude der Literaturwissenschaften in Auflösung
begriffen ist. Der Effizienzdruck der politischen Instanzen, der Verfall eines
einst gesicherten Objektbereichs (Kanon) und die Tatsache, daß beruflich
nur noch 3% der Magisterabsolventen philologischer Disziplinen im Bildungssektor unterkommen, sind - um nur einige Ursachen zu erwähnen der Grund dafür, daß die verschämte Frage »Wozu Literaturwissenschaft?«
unverdrossen dauernd neu aufgelegt wird.8 Bildung, einst mit einer »Kultur« identisch, die ins offene Meer der Selbstbestimmung münden sollte,
liegt in Akademiens Landschaften in einem ausgetrockneten Bett. Der
Fluß ist umgelenkt worden: in Kanäle speziellen Kompetenzerwerbs, zwi-
schen denen es kaum Verbindungen gibt. So scheint es denn an der Zeit,
ohne falsche Pietät gegenüber konventionellen Wertstandards neue Perspektiven, Ausbildungsziele und Berufsstudiengänge zu entwickeln, die
»Kultur« - in der Vergangenheit meist nur in der engen Bedeutung von
51
Literatur und Künsten verstanden — nicht mehr als etwas Selbstverständliches hinnehmen oder mit Bildung verwechseln. Aufs Äquivalent von Bildung reduziert, verströmt »Kultur« heute etwas Altväterlich-Bürokratisches
und fristet ein öffentlich subventioniertes Scheinleben. Als Äquivalent des
Marktes indes ist sie längst Stoff für eine gigantische Unterhaltungsindustrie, auf die sich - unter dem Schlagwort »Praxisorientierung« - langsam,
aber sicher die Zielvorstellungen der Studienreformer einpendeln.5
Seit dem Kulturboom der 80er Jahre ist hier manches in Gang gekom-
men, was dem traditionell ausgebildeten Philologen nicht ganz geheuer
erscheint. Die Irritation zu beruhigen - was nicht unbedingt das Beste
sein muß — würde wahrscheinlich einen erheblichen Theorieaufwand erfordern, vor dem die Verfallsdaten konventioneller Opiate neu sortiert werden
müßten. Ich kann mich im folgenden dem Komplex nur annähern und
versuche das in Form von Anmerkungen, die dem Rechnung tragen wol-
len, was ich den »experimentellen Zustand« nenne und für eine passende
Beschreibung des geordneten Durcheinanders halte, das sich Literaturwissenschaft nennt. Mein Versuch gilt daher vorab Unterscheidungen, die den
wissenschaftshistorischen und -theoretischen Rahmen der philologischen
Disziplinen betreffen. Hier ist das Ziel die Vergegenwärtigung älterer, nicht
unbekannter, aber vielleicht zu unrecht vergessener Problemlagen. Denn
das so diffus sich ausbreitende Fahnenwort »Kulturwissenschaft« hat eine
Geschichte, deren Studium, soll es genauer bestimmt werden, sich allemal auszahlt. Von einer Renaissance spreche ich daher nicht im Sinne der
Wiedergeburt, sondern um jene Komplexitätssteigerung durch Wiederanknüpfen zu bezeichnen, die sich selber als Teil des Kulturwandels verstehen darf. Ein letzter, nur andeutungsweise ausgeführter Schritt wird mich
dann zu dem fuhren, was sich als »Rückkopplungseffekt« bezeichnen läßt,
nämlich die Stärkung literaturkritischer Konzepte auf ihrem Weg durch
die Gravitationsfelder kulturanalytischer Fragestellungen. Mein Verfahren
wählt einen problemgeschichtlichen Fluchtpunkt, die Darstellung bleibt,
so abschreckend das klingt, rein theoretisch.
Diltheys Wahl
In der 1883 zum erstenmal erschienenen Einleitung in die Geisteswissen-
schaften rechtfertigte Dilthey - um auf ihn wieder zurückzukommen —
seinen epochemachenden Grundlegungsversuch mit einem inner- und einem außerwissenschaftlichen Argument. Zum einen liest er am avancierten Stand der naturwissenschaftlichen Theoriebildung und Methodologie
die Gefahr einer unzulässigen Übertragung positivistischer Verfahren auf
52
das Gebiet soziohistorischer Forschungen ab. Zum andern verweist er auf
die gesellschaftlichen Umwälzungen seit der Französischen Revolution, um
mit Nachdruck hinzuzufügen: »Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der
Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber
denen der Natur; in den großen Dimensionen unseres modernen Lebens
vollzieht sich eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen« (I, S. 4).
An dieser Stelle heißt verkürzt »Wissenschaften der Gesellschaft«, was
Dilthey wenige Seiten später programmatisch unter dem Begriff »Geisteswissenschaften« zusammenführt. Er zieht diese Bezeichnung anderen vor,
weil die damals gebräuchlichen — »Gesellschaftswissenschaften (Soziologie), moralische, geschichtliche, Kulturwissenschaften« (I, S. 6) - ihm zu
eng erscheinen. Sie erfassen nicht jene komplexen soziohistorischen Modifikationen, die er mit anthropologischer Emphase auf die »psycho-physische Totalität der Menschennatur« bezieht. Das »moderne Leben« ist,
so versichert er uns, anders als das vorrevolutionäre beschaffen, nämlich
von weitreichenden, Politik, Gesellschaft, Kunst und Denken erfassenden
»Umwälzungen« stigmatisiert, deren Erkenntnis zur Überlebensfrage geworden ist.
Es sind mithin lebenspraktische Motive, die ihn veranlassen, den Wissenschaften, die sich der »geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit«
widmen, einen einheitlichen Zusammenhang zu geben, sie als »ein Ganzes« zu konzipieren, für dessen intellektuellen Führungsanspruch schließlich der Sammelcode »Geisteswissenschaften« einsteht (I, S. 4). In ihrer
idealen >Ganzheit< bilden die unter diesem Dach versammelten Einzeldisziplinen daher nicht nur ein autonomes und zugleich wissenschaftskritisches Komplement zur Einheit der Naturwissenschaften. Sie antworten
vielmehr auch auf die Partikularisierung der lebensweltlichen Erfahrungen
in der modernen Zivilisation. Kurz, sie sind in der von Dilthey konzipierten erlebnis- bzw. erfahrungsstimulierenden Funktion das Komplement zur
kulturellen Desintegration der modernen Gesellschaft unter der Vorherrschaft des Kalküls; mit einem Wort: Krisenwissenschaften!
Die hier naheliegende Frage, welche Bedeutung der Philosoph dem
Terminus »Kultur« in seinem Plan zumißt, ist auf der Ebene der einzelwissenschaftlichen Organisation nicht eindeutig zu beantworten. Das ist
umso bemerkenswerter, da dieser Begriff zu seiner Zeit bereits eine ähnliche Konjunktur erfuhr wie an unserem Fin de siecle. Und auch damals
waren es Anthropologie und Ethnologie, deren besondere katalysatorische
Effekte Dilthey durchaus anerkannte, die so etwas wie die Tendenz zu
53
einer Universalwissenschaft der Weltkulturen mit unterschiedlicher disziplinarer Gewichtung hervorgerufen haben: Klemms Allgemeine Kulturgeschichte (1842—1853), Spencers kultursoziologische Analysen in Principles
ofSociology (1876-96), Graebners in Methoden der Ethnologie (1911) entwickelte Theorie der Kulturkreise usf.
Diltheys Versuch ist nicht weniger universell ausgerichtet als die genannten Werke, übertrifft diese aber in der Art der theoretischen Konzeptualisierung. Er unterscheidet zwischen drei analytischen Ebenen, auf denen die (1.) »Einzelvölker«, (2.) die »äußere Organisation der Gesellschaft«
(Staat, Verband etc.) und (3.) die in diese eingekapselten »Systeme der
Kultur« (Religion, Recht, Kunst etc.) als wissenschaftlich zu erforschende Objekteinheiten erscheinen (I, S. 41 f.). So abstrakt die wissenschaftlichen Konzepte sind, so methodologisch der zu stiftende Zusammenhang
zwischen den Einzeldisziplinen unter dem Dach der »Geisteswissenschaften« ist, Dilthey besteht auf der Erkenntnis des »wirklichen Lebens«. Sein
pädagogisches Ziel ist, die Nebel der Abstraktion aufzulösen und »diese
Wirklichkeit sehen [zu] lehren« (I S. 42). Aus diesem Grund gibt er das
Modell einer organischen Grundverfassung der Menschheit, in der »Kultur« und »Natur« engste Korrelatbegriffe sind, nie ganz auf. Der analytische
Blick sondert zwar zunächst zwischen menschlicher Natur (»psychologischen Tatsachen«), Sozialstruktur und Kultursystemen, hebt die Trennung
aber wieder auf, indem er die Organisation der Gesellschaft dem Äußeren,
die Gebilde der Kultur dem Inneren zuordnet. Worauf es ankommt, ist Teil
jener ^ffitäichhüxs-Anschauung, die den ästhetischen Kern dieser Wissenschaftskonzeption bildet. Die Anschauung kommt dann zum Zug, wenn
die zuvor analytisch gesonderten Seiten des Lebens in ihrer organischen
Wechselwirkung aufgefaßt werden sollen. Dieser Prozeß besitzt eine Zirkelstruktur, da schon das analytische Studium des Details unter der Präsumtion eines Ganzen geschieht: Der bestimmte Ausdruck, das einzelne Werk
oder Symbol wird nicht isoliert, sondern innerhalb eines Verweisungszusammenhangs wahrgenommen, dessen Semantik sich in dem Maße klärt,
in dem die Analyse die Elemente und ihre Relationen durchschaut.
Ein SchlüsselbegrifF dieser Theorie ist folgerecht der des Zusammenhangs. In der Perpektive nomothetischer Logik erscheint er als »Kausal-
zusammenhang«, in der geisteswissenschaftlichen als semantisches, auf die
innere Kohärenz verweisendes Konstrukt, d. h. als »Bedeutungszusammenhang«. Die Lebensformen entfalten sich innerhalb von Zusammenhängen,
die der wissenschaftlich-analytische Blick nachträglich auseinanderreißt.
Die Vielfalt des Lebens - die Wechselwirkungen zwischen Sprache, Kultur, Institutionen und semantischen Codes - wieder zusammenzuführen
54
(Synthesis), ist daher nicht Sache des Intellekts, sondern der synthetisch
verfahrenden »Einbildungskraft«. Sie bindet nicht nur das begrifflich Vereinzelte in eine formelle Einheit, sondern assimiliert es darüber hinaus dem
Bedürfnis der Gegenwart und ist daher der entscheidende Faktor im kulturellen Bildungsprozeß.
Im Essay über Novalis — 1865 und wieder 1906 — zitiert Dilthey zustimmend den Satz des Frühromantikers: »Die Welt ist eine sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft.«10 Schon in diesem
Aphorismus schlummert eine pansymbolistische Tendenz, die sich zwischen den später entstehenden interpretierenden Einzelwissenschaften zu
einem gemeinsamen Kerngebiet verfestigen wird. Die dem Maschinen-
Bild implizite Kritik trifft auch die positiven Wissenschaften, denn über
die als unendliche Fülle der endlichen Auslegung entzogene Natur hat
kein noch so eindeutiger Begriff Verfügungsgewalt. Die Genealogie der
menschlichen Natur läßt sich jedoch an der Entwicklungsgeschichte ihrer
kulturellen Objektivationen ablesen, zu denen nicht nur Künste und Literatur (im engeren Sinne der Dichtung), sondern auch jene Gestalten des
Geistes gehören, die in den Texten des wissenschaftlich-philosophischen
Denkens aufgehoben sind. Was Natur ist, wird daher zuletzt allein je-
ner Anschauung verständlich, die an die Stelle des unzugänglichen Inneren
ein »symbolisches Bild« setzt, die Natur - mit einem Wort Diltheys - als
»Universaltropus des Geistes« wahrnimmt. Die bekannte hermeneutische
Variante dieses Satzes lautet, daß wir die Welt nur »nach Analogie unseres
Ich aufzufassen vermögen.«11 Die in Diltheys Novalis-Lektüre enthaltene
Einsicht ist zwingend, löst sie doch die gewöhnliche, zur Definition beider Seiten herangezogene Dichotomie Natur/Kultur auf, um verstehen zu
geben, daß die Rede von einer außerhalb der Kultur stehenden Natur keinen Sinn macht. Ob Anschauung, Erkenntnis oder Bearbeitung der Natur,
es geht immer um einen symbolisch, d. h. kulturimmanent präformierten
Erkenntnis- und Aneignungsmodus.
Wolf Lepenies hat in seiner Untersuchung Die drei Kulturen Dilthey
den rebellischen Titel »Partisan der Dichtung in den Bezirken der Wissenschaft« zuerkannt.12 Damit trifft er einen entscheidenden Zug. Denn
Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften aus dem Geist der Dich-
tung läßt sich als Beleg für einen Schub im europäischen Kulturprozeß
lesen, dessen Ausläufer bis in die Gegenwart reichen. In diesem Sinne
wirft die Ersetzung der positivistischen Begriffslogik durch Symbol und
Tropus ein aufschlußreiches Licht nicht nur auf den zur Zeit Diltheys sich
vollziehenden Umbau der Kultursysteme. An die Stelle der Philosophie
als Architektin der Kultur tritt die Literatur, und das Blatt wendet sich von
55
der Herrschaft der Wahrheit zu der des Diskurses; mit den ironischen Worten eines philosophischen Kommentators: »everything can be changed by
talking in new terms.«13
»Geist«, »Leben«, »Text«:
Varianten wissenschaftlicher Kulturbetrachtung
Dilthey selbst hat ein Jahr vor seinem Tod (1911) in einem groben, Jahrhunderte umfassenden Geschichtsabriß mit Lehrstückcharakter, den er der
dritten Auflage des Erlebnis-Buches voranstellte, den »Gang der neueren
europäischen Literatur« skizziert. Dieser Abriß liest sich wie eine sonderbare Mixtur aus teleologischen, symbolistischen, dramatologischen und
kulturphilosophischen Komponenten. Zum einen rekonstruiert er den
Emanzipationsprozeß der Einbildungskraft, deren poetische Gestalt seit
dem 18. Jahrhundert in Gegensatz zur Wissenschaft (die ihrerseits nicht
völlig der Phantasie entsagt) und zur bürokratischen Rationalisierung in
Politik und Gesellschaft tritt. Zum andern beschreibt er den konfliktreichen Prozeß soziokultureller Differenzierungen in Stadt und Gesellschaft
seit der frühen Neuzeit unter den Bildern einer zunehmenden Dramatisierung der Lebensformen. Die Literatur antwortet auf diesen Prozeß, indem
sie ihre überkommenen »Struktuten« und Genres in Schüben reorganisiert,
darüber aber das aus dem Blick verliert, was der Autor die »zeidose Tragik
des Menschendaseins« nennt.14
Für meine Betrachtung ist diese Skizze deshalb von Bedeutung, weil
sie Elemente enthält, die noch in die kultur- bzw. geisteswissenschaftlichen
Diskussionen der 20er und 30er Jahre hinüberspielen und nicht zuletzt
zum Problemhorizont gegenwärtiger Debatten gehören. Ich fasse hier einige dieser Elemente in aller Kürze zusammen und verlängere hier und da
- grosso modo - die Reichweite der damit angesprochenen Probleme bis
in die Gegenwart:
Erstens: Der Vorstellung vom soziohistorisch beschreibbaren »Drama
des Lebens« steht ein erhabener, nämlich tragischer KulturbegrifF gegenüber, der auf Nietzsche zurückweist und sich im Zentrum von Georg Simmeis kulturphilosophischen Studien wiederfindet. Die Vetschmelzung der
Kultur, deren höchste Gestalt im Kunstwerk kristallisiert, mit einer zeitlosen Daseinstragik gilt offenbar der Widerhersteilung ihrer kultischen Bedeutung, deren Zerfall Baudelaire in seinem kleinen Prosapoem »Perte d'aureole« (1865) ins Bild gesetzt und den Walter Benjamin als Auraverlust
beschrieben hat. Dem stocknüchternen, mit Dilthey befreundeten Literarhistoriker Wilhelm Scherer blieb das Umschlagen des Kultwertes in den
56
Marktwert kein Geheimnis: »Die Poesie oder, besser gesagt, das poetische
Product«, notierte er Ende der 80er Jahre, »ist heute eine Wäare wie eine
andere«.15 Eine so zutreffende wie unverschämte Feststellung, die selbst
heute noch, auf dem Flügel der konservativen Kulturkritik, Rufe nach einer Re-Auratisierung der Kultur laut werden läßt. Schönsten Ausdruck hat
diese Tendenz in George Steiners Essay Real Presences (1989) gefunden,
in dem die parasitäre Eintagskultur am mystischen Kern des Kunstwerks
zuschanden werden soll.
Dilthey selbst verwendete den Kulturbegriff, soweit ich sehe, eher un-
einheitlich; d. h. sowohl in analytischer als auch in normativer Funktion:
analytisch dort, wo er zwischen Kultursystemen und sozialer Organisation
unterschied; normativ dort, wo er (z. B. im literarhistorischen Vorspann
des Erlebnis-Buches) vom Ziel »persönlicher und geschichtlicher Selbstbestimmung« sprach. Die Gegenüberstellung zwischen dem gewöhnlichen
Drama des Lebens einerseits und der überhöhten kulturellen Tragik andererseits scheint andeuten zu wollen, daß der Kultwert als kulturelle Norm
einen Ort besetzen sollte, der jenseits aller historisch modifizierten, durch
Bürokratisierung und Vergesellschaftung verursachten Konflikte und Zer-
fallserscheinungen liegt. In der aktuellen Diskussion über die Rolle und
Funktion der »Geisteswissenschaften« bildet sich, wie mir scheint, eine
Tendenz heraus, die Dialektik von Konstanz und Wandel, auf die sich das
einst favorisierte Paradigma aufrecht zu erhaltender Kulturwerte bezog, im
Rahmen der Historischen Anthropologie zu erörtern.16
Zweitens: Eine andere Frage ist die, wie der Objektbereich des Diltheyschen Geisteswissenschaftlers sich näher bestimmen läßt. Wenn die interpretierenden Wissenschaften Teil einer Kultur sind, deren Ziel »Selbstbestimmung« lautet, dann erläutert der Satz Der Mensch kann sich nur in der
und durch die Geschichte verstehen, nicht nur den verzeitlichten Horizont
des Objektbereichs, sondern auch den reflexiven Status des zugrundege-
legten Kulturbegriffs.17 Dennoch faßt diese Theorie das soziokulturelle
Handeln nicht als dramatischen Prozeß, eine Betrachtungsart, die in der
kulturanthropologischen und -soziologischen Modellbildung unseres Fin
de siede für Unruhe sorgt und neuerdings unter dem Kunstwort »Theatralität« die fragwürdige Statur einer kulturwissenschaftlichen Universalie
annimmt.18 Für Dilthey ist dramatisch allein das »Leben«, dessen Objektivationen jedoch in der kristallinen Form von Werken wahrgenommen werden, deren Abfolge auf der retrospektiv konstruierten historischen Achse
unter dem Bild eines »Stufenganges« erscheint. Natürlich, der Fluchtpunkt
des verstehend erschlossenen historischen Raumes liegt in der Gegenwart.
Diese soll aber - das ist Diltheys geschichtstheoretische Unterstellung mit den früheren »Stufen« durch ein Überlieferungskontinuum in Verbin57
düng stehen. Dieses wird von ihm nicht als träge dahinfließender Strom
vorgestellt, sondern entspricht eher dem Bild einer aufhaltsamen, dennoch
kumulativen Vorwärtsbewegung. Denn auch Dilthey geht von jenem Big
Ditch in der Geschichte des europäischen Denkens aus, den die Rationalitätsschübe der neuzeitlichen Wissenschaften seit dem 17. Jahrhundert
zwischen modernem Weltbild und Metaphysik aufgerissen haben. Was in
diesem Bruch endgültig untergeht, das ist die Metaphysik, während als
Folge Dichtung und Wissenschaft in einen Gegensatz geraten, der - hier
überläßt sich Dilthey einem geschichtsphilosophischen Traum des frühen
Idealismus — irgendwann einmal überwunden werden wird: »Die poetische Phantasie wird lange Zeit unter die Herrschaft des Denkens geraten,
sie wird oft in der Wissenschaft ihren Feind sehen, und erst wenn das Wissen an Leben und Geschichte heranrückt und die Dichtung an das Erfassen
der ganzen Wirklichkeit, werden die Lebenserfahrungen des Dichters und
das begriffliche Denken sich einander nähern.«19
Das klingt wie eine vorweggenommene Antwort auf die Mitte unsres Jahrhunderts im britischen Universitätsmilieu vom Zaun gebrochene
Zwei-Kulturen-Debatte. Die »ganze Wirklichkeit« läßt sich aber nach den
knapp 40 Jahren, die uns heute von dieser Debatte trennen, selbst dann
nicht mehr als haltbares Konzept verteidigen, wenn Literatur und Wissenschaft - wie es Aldous Huxley vorschwebte - sich wie kommunizierende
Röhren zueinander verhalten. Übrigens schließt das eine Annäherung ä
la Dilthey nicht aus, was der Tatsache zu entnehmen ist, daß der fundamentale Zweifel an der rationalen Erkennbarkeit der Wirklichkeit den philosophischen Diskurs (namentlich des Dekonstruktivismus) für poetische
Tropismen wieder empfänglich gemacht hat.
Drittens: Wenn es überhaupt erlaubt ist, in Diltheys Theorie zwi-
schen synchronen und diachronen Ebenen zu unterscheiden, so am ehesten dort, wo der Autor mit der Metapher des »Gewebes« (auch »Gespinst«
oder »Netz«) operiert.20 Schon im frühen Novalis-Essay heißt es, die verschiedenen philosophischen Disziplinen (Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie usw.) betrachteten »von verschiedenen Seiten dasselbe grenzenlose Gewebe von Erscheinungen«, um »die inneren Zusammenhänge selber zu überblicken.«21 Die Metaphorik des Webens und Knüpfens wird in
den späteren wissenschaftsphilosophischen Hauptwerken beibehalten und
gedehnt: so daß dieses Bildfeld bald die »Verwebung« zwischen Gesellschaft und Leben, bald die Synthesisleistung der einzelwissenschaftlichen
Betrachtung bezeichnet, dann wieder das Zusammenfuhren der in dieser
oder jener Disziplin zustandegekommenen Einsichten in einen allgemeinen Sinn- und Bedeutungszusammenhang.22
Der Gebrauch der Metapher ist vielseitig und weist dennoch deutlich
58
in die Richtung einer als Text aufzufassenden, und insofern lesbaren Struk-
tur. Dem entspricht wohl auch die Operation des Verstehens, die - wie
Dilthey selber sagt - »von außen nach innen« geht, von der gleichsam
buchstabierten »Lebensäußerung« auf die »Erfassung des Innern, aus der
sie hervorgeht« (VII, S. 82). Eine Figur des Nachschaffens, die auf der
technischen Analyseebene jener Inversion der Rhetorik in Hermeneutik
entspricht, von der schon Schleiermacher gesprochen hatte.
Das Bild des Gewebes weist - wie auch der äquivalente Textbegriff auf ein In- bzw. Durcheinander heterogener Erscheinungen, dem insgeheim ein entzifferbares Muster zugrundeliegt, das zu >Iesen< der philologisch geschulte Interpret besonders geeignet ist. Gewebe und Text sind
räumliche Metaphern, die den Blick vom Prozeß ab- und auf synchrone
Schnitte hinlenken. Der ethnologische Kulturanalytiker, der die Lebensformen einer fremden Welt wie einen Text zu entziffern sucht, verhält
sich kaum anders als der wissenschaftliche Weber, dem Dilthey zur Aufgabe machte, die scheinbar beziehungslosen Zusammenhänge, in denen
die Kultursubjekte blindlings handeln, als ein sinnvolles Ganzes darzustellen. Wie der Ethnologe so begibt sich auch Diltheys Kulturinterpret auf
eine von Außen nach Innen führende Bahn. Diese Richtung beruht in
Diltheys Fall aber auf einer theoretischen Vorentscheidung, die das Zusammenknüpfen verschiedener einzelwissenschaftlicher Perspektiven zu einem
- wie wir heute sagen würden - interdisziplinären Netz eher hemmt. Denn
Dilthey hält an einer Psychologie des Sicheinfühlens fest, die vom Interpreten verlangt, den objektiven >Gewebezusammenhang< als inneren Lebenszusammenhang verstehend nachzuerleben. Was selber der Erklärung bedarf, das Nacherleben, soll erklären, wie der Interpret dazu kommt, von der
Gestalt der privilegierten Werke auf den »Geist« der Kultur zu schließen.
Natürlich liegt dieser Auffassung ein symbolisches Darstellungsverhältnis
zugrunde: aliquid statpro aliquo; in der besonderen Einheit der Werkgestalt
soll sich dem lesekundigen Blick die Signatur eines Zeitalters, einer kulturellen Einheit »offenbaren«. Alte Diltheyaner haben die Geisteswissenschaften daher als eine Kunst der Ausdruckswahrnehmung, als »erweiterte
Physiognomik« mißverstanden und das literarische Kunstwerk quasi zum
Hyperzeichen und Ausdrucksphänomen einer Kultur, eines Zeitalters, einer Stilepoche erklärt.23 Eine Projektion des Besonderen ins Allgemeine,
die mit Diltheys Überlegungen nicht kompatibel ist, weil sie das komplexe Darstellungsverhältnis zwischen Text und Kontext, zwischen Werk
und Kultursystem reduziert, um sich nicht lange bei den Zwischengliedern einer individuellen Lebensgeschichte (des Autots oder Künstlers), der
Produktions- sowie Rezeptionsniveaus aufhalten zu müssen. Als Physiognomiker sieht der Interpret nicht bloß das gemachte Ding, wie es ist,
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oder den Verwertungsrahmen, in dem es z. B. als Funktion einer Handlung
aufgeht - und sei es in der von I. A. Richards und K. Burke geprägten symbolischen Fassung des dancing ofan attitude. Sein ästhetischer Blick sieht
das Ding vielmehr als Bild, dessen symbolische Struktur den gewöhnlichen philologisch-historischen Erklärungen, die in den Bahnen der ZweckMittel-Rationalität verharren, inkommensurabel ist. So wichtig dieser theo-
retische, will sagen anschauungssüchtige Überschwang als Basis für die Kritik am wissenschaftlichen Rationalitätskult auch war, der notwendigen Verknüpfung zwischen der empirischen — historisch-philologischen — Sachforschung und der symbolischen — reflexiv-hermeneutischen — Kontextualisie-
rung stand er im Wege. Denn die Ausdruckswahrnehmung sucht, ausgehend vom Dogma des »reinen Sehens« - eine Unmittelbarkeit herzustellen,
die Diltheys Doktrin vom Lehren und Lernen des Sehens unterbietet.
Die drei hier in grober Manier skizzierten Problemfelder hat die Dilthey-Zeit den Kunstwissenschaften, denen ich die von den Philologien sich
lösenden Literaturwissenschaften zurechne, als zweideutiges Familienerbe
hinterlassen. Die These vom großen Zusammenhang der Lebenswelt, hinter der vielleicht noch ein Schatten jener Kosmosmetapher zu ahnen ist,
die sich als »Buch der Welt< in die Dokumente früherer Gelehrsamkeit
eingeschrieben hat, stand einem interdisziplinären Organisationskonzept
nicht völlig fremd gegenüber. Es sind ja, mit Dilthey zu reden, verschiedene Seiten ein und desselben »Gewebes«, auf deren Entzifferung sich die
Neugier der Einzelwissenschaften richten sollte, ohne in jenes partikulare
Nebeneinander zu zerfallen, das mit unfreiwilliger Komik Hermann Useners Satz illustriert: »Selbst ist der Mann gilt vom Philologen mehr noch
als von anderen.«2"* Die Theorie der Geisteswissenschaften enthält zwar
keinen Hinweis auf eine interdisziplinäre Organisation kulturwissenschaftlicher Einzelforschungen, läßt sich aber durchaus als historische Variante
einer entsprechenden Metatheorie verstehen.25
Wilhelm Scherers polemischer Hinweis auf den ökonomischen Tauschwert des Gedichts sollte wohl vor allem daran erinnern, daß Kultur bzw.
Literatur nicht nur eine ideelle, sondern auch eine materielle Dimension
besitzt. Das war natürlich auch Dilthey nicht unbekannt, der von Anfang
an darauf bestand, daß sich die Erkenntnisweisen der Geisteswissenschaften nicht nur auf Texte beschränken dürfen, wenn sie die ganze rätselhafte
Gestalt des »Lebens« in der Anschauung der überkommenen Kulturobjektivationen nacherleben wollten. Wie sehr auch immer der Lebensbegriff
diese Theorie trübt, er läßt doch die Ahnung zu, daß im Grunde der idealistische »Geist« als Ausgangspunkt für Diltheys Wissenschaftsgrundlegung
denkbar ungeeignet war. Denn »Leben« signalisiert ein dynamisches Integral der Kultur, das sich nicht wie der »Geist« dem Begriff erschließt,
60
sondern der (ästhetischen) Anschauung bedarf, um in seiner Fülle, d. h.
nicht nur durch die »Nebel« der Abstraktion, wahrgenommen zu werden. Natürlich ist das problematisch für eine Betrachtungsart, die wie die
wissenschaftlich-analytische auf scharfe Distinktionen und Begriffe angewiesen ist. Diltheys Annahme, die Weltanschauungstypen gingen unmittelbar aus dem »Leben« hervor, haben ihm den Weg zur methodologischen
Vermittlung zwischen empirisch-analytischen und hermeneutischen Verfahren verstellt.
Große und kleine Haushaltung in der Nationalphilologie
Allgemeine Wissenschaftsgrundlegungen sind, wie man gerechterweise sagen muß, nicht allein vom häuslichen Standpunkt der Fachmethodik aus
zu beurteilen. Warum dann überhaupt Dilthey, wenn es doch um den Status der Literaturwissenschaften geht? Als Dilthey an der Einleitung in die
Geisteswissenschaften schrieb, war die Literaturbetrachtung noch eingebunden in den großen Haushalt der Nationalphilologien, der sich nicht allein
auf die Rekonstruktion älterer Sprach- und Literaturstufen beschränkte.
Hermann Paul, der 1891 den ersten Band des Grundrisses der Germanischen Philologie herausgab, hatte zum Ziel, eine »allgemeine Kulturwissenschaft« vorzustellen, die wie eine Herrschaftsvilla mit eng angeschlossenen
Nebengebäuden angelegt ist: auf der einen Seite Sprachen und Literaturen, auf der anderen Künste, Wirtschaft, Rechtssystem, Religion etc. - in
graphischer Vereinfachung:
Nationalphilologie als allgemeine Kulturwissenschaft
Sprache:
Schriftkunde
Geschichte der
Einzelsprachen
Literatur:
Heldensage
Geschichte der
Einzelliteraturen
[Kontexte]:
Künste
Sitte & Recht
Mythos & Kultus
Kriegswesen
Ökonomie
Wie diese Einzelkompiexe in einen wissenschaftlich gegliederten Zusammenhang zu bringen sind, sucht Paul in der »Methodenlehre« zu erklären, die manche Einsicht August Boeckhs Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften verdankt. Paul spricht wie Dilthey von
61
der wissenschaftlichen Arbeit als »Konstruktion«, die das lückenhaft Vorgefundene ergänzen muß, um - wie der Philolog Boeckh formuliert hatte
— »was nicht als Ganzes erscheint, zu einem Ganzen [zu] vereinigen.«26 Die
historische Erkenntnis fußt deshalb nicht auf einem in sich selbst ruhenden
erfahrungswissenschaftlichen Prinzip, sondern bedarf einer theoretischen
Grundlegung, die der Sprachhistoriker Paul - mit der Zeit gehend - in der
Psychologie gesucht hat.27
Pauls monumentaler Grundriss läßt sich als Antwort auf die Krise des
Historismus verstehen, die von jener Sezessionsbewegung innerhalb der
Philologien beschleunigt wurde, die in die kleineren Haushalte autonomer
Literaturwissenschaften münden sollte. Die Bezeichnung »Literaturwissenschaft«, die schon in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts auftauchte,
hatte ihre eigentliche Bestimmung noch nicht gefunden, und es scheint,
daß sie seitdem sich durch das definiert, was sie noch nicht ist. Eine Charakterisierung, die gut zu jener romantisch-idealistischen Idee einer progressiven Universalpoesie passen mag, die dem kleinen Haushalt das hochmoderne Aussehen einer emsig offen gehaltenen Baustelle verschafft. Zur
Zeit von Pauls Grundriss aber hatte die »Literaturwissenschaft« noch den
Fanfarenklang einer Bewegung, die sich aus der mütterlichen Umarmung
der klassischen Philologie losreißen wollte, ohne freilich ihrer vielgelobten wissenschaftlichen Strenge völlig zu entraten, die sich in Historischer
Grammatik, Lexikographie, Text-Kritik und -Exegese erschöpfte.
Die Sezessionisten konnten noble Gründe für ihren Selbständigkeitsdrang ins Feld fuhren, Gründe, die ich hier kurzerhand unter der kultutellen Idee der ästhetischen Autonomie zusammenfassen möchte. Diese Idee
rechtfertigte die Spezialisierung literaturwissenschaftlicher Auslegung auf
ästhetische Texte und verwies die historisch-philologische, z. B. die textgenetische, historisch-funktionalistische Erklärung des poetischen Einzelwerks in die propädeutischen Randgebiete. Analyse und Deutung des Einzelwerks ohne Preisgabe des philologischen Handwerks — das war der Kern
dieser Literatur- Wissenschaft und diese von det konventionellen LiteraturGeschichte zu unterscheiden. Dennoch, was unterschieden wird, muß, soll
ein Ganzes daraus werden, auch wieder zusammengefügt werden. Und
das war die Aufgabe der Methodologie, die zunächst (Werk-)Analyse und
(Geschichts-)Synthese schied, um eine Verfahrensrangfolge des einen gegenüber dem andern und schließlich ihre Komplementaritätsbeziehungen
zu rechtfertigen. Stark abstrahiert und graphisch verkürzt erscheint unter dieser Voraussetzung das Schema des kleinen Haushalts in folgendem
Bild:28
62
Literaturwissenschaft
Analyse
Synthese
Methoden:
Begriffsbildung:
Werk-Interpretation
Vgl. Literarhistorie
Sachurteils-Begriffe
Werturteils-Begriffe
Es scheint, als habe der kleine Haushalt Kultur und Sprache vor die Tür
gesetzt. Doch in Wahrheit geht es um eine Akzentverschiebung zugunsten einer neuen, Autonomie beanspruchenden Disziplin; mit den Worten
des Novalis- und Hamann-Experten Rudolf Unger aus einem Aufsatz von
1914, um den »systematischen Auf- und Ausbau der neueren deutschen
Literaturwissenschaft, über ihr Verhältnis zur älteren deutschen [Germanische Philologie], zur antiken [Klassische Philologie] und zur sogenannten
vergleichenden oder internationalen Literaturgeschichte, zur Kunstwissenschaft, zu Sprachwissenschaft, zur Philosophie, zur Kulturgeschichte und
modernen Soziologie«.23
Ungers Programm wendet sich bewußt gegen die positivistische Wissenschaftstradition des 19. Jahrhunderts.30 Seine Worte machen deutlich,
daß sich das Neue noch nicht konsolidiert hat, und deuten zugleich jene ungeklärten Beziehungen zwischen Kernfach und sogenannten Hilfswissenschaften an, die sich an den immerzu wechselnden Konfigurationen
der Geschichte der Literaturwissenschaften bis heute ablesen lassen. Ungers Ziel war es, den Entwurf einer selbständigen Literaturdisziplin in den
großartigen Rahmen einer umfassenden »Kulturwissenschaft« einzufügen,
die den allgemeinen »Kulturprozeß« von innen her — auf dem Weg »teleologischen Begreifens« - zur Erkenntnis zu bringen hatte. Literaturwissenschaft, Sozialpsychologie, Philosophie und Ethnologie (Völkerkunde)
sollten in diesem Programm zu einer Einheit verschmelzen, der ein ebenso
einheitlicher Kulturbegriff entsprach. Der Begriff der Einheit schließt den
der prozessualen Entfaltung freilich nicht aus. Diesen Prozeß zu ordnen,
»dem uferlosen Ozean der Geschichtlichkeit einen Sinn abzuringen«, ist
Aufgabe der Kulturwissenschaft und der in diese eingeschlossenen Literaturforschung. Doch tritt das Interesse an der Interaktion zwischen Kulturund Literatursystem, auf die Diltheys Gewebe-Metapher verwies, hinter
das an der Werkeinheit zurück: Einfühlen, Verstehen, Nachschaffen lauten
auch hier die favorisierten Annäherungsweisen.31 Auf den positivistischen
Empirismus antwortet Unger mit der Forderung, Einfühlungshermeneutik
(Dilthey) und kunstwissenschaftliche Stiltypologie (Wöfflin) zu fusionieren; eine Forderung, an die bald darauf Oskar Walzel mit seinem einflußreichen Buch Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters (1923) direkt
und ausfuhrlich angeknüpft hat.32
63
Wir kennen das Problem der Einfühlungshermeneutik. Sie hat einseitig das Prinzip der Kongenialität gegen jene technische Seite der Hermeneutik gewendet, die den lehr- und lernbaren Methoden der Textanalyse
gewidmet ist.33 Auch Unger war ein Parteigänger dieser halbierten Verstehenslehre. »Gleiches wird durch Gleiches erkannt«, resümiert er und fugt
hinzu, daß wir »in der Geschichte nur unser eigenes Leben, unser eigenes
Wesen wiederfinden.«3 Es geht ihm ums Eigene, nicht ums Befremdliche oder gar um Verfremdung. Das Eigene, nämlich die kanonische Nationalliteratur im Prozeß der Aneignung aktiv weiterzuentwickeln, ist der
eigentliche Zweck dieser Spielart kultur- bzw. literaturwissenschaftlicher
Sinnfindung.
Das hier skizzierte Konzept der Kulturwissenschaft war noch in höchstem Maß jenem normativen Singular »Kultur« verpflichtet, den Fritz Mauthner in seinem 1910/11 erschienen sprachkritischen Wörterbuch der Philosophie mit einem »Sollzustand« identifiziert und scharf vom deskriptiven Plural »Kulturen« unterschieden hat.35 Auch Unger arbeitet mit zwei
Begriffen, nämlich mit der Dichotomie zwischen ideeller und materieller
Kultur. Die Kultursysteme und -prozesse, die er in seinen prinzipienwissenschafdichen Beiträgen Mitte der 20er Jahre der geistesgeschichtlichen
Betrachtungsart zuschlägt, sind Teil dessen, was er den »ideellen Oberbau« nennt. Und dieser ist vom »staatlich-sozial-ökonomischen Unterbau«, mit dem er in einer nur vage bezeichneten Wechselbeziehung ste-
hen soll, zu unterscheiden. Der »ideelle Oberbau«, zu dem die poeti-
sche Literatur gehört, soll seine eigenen »geistigen«, ins Überhistorische
(ins Kosmisch-Menschheitliche) verweisenden immanenten Gesetze besitzen. Ihm wird daher nur eine »theoretisch-kontemplative Geisteshaltung«
gerecht, die Unger mit kulturchauvinistischem Gestus dem »westlichen
Positivismus [und damit] verbündeten modernen Intellektualismus« gegenüberstellt.36 Zwar sucht dieses geistesgeschichtliche Konzept mit ideologischem Starrsinn den längst dahingeschwundenen Kultwert der Dichtung allen Auflösungserscheinungen zum Trotz festzuhalten. Dennoch verfehlt es die von Unger erträumte »unteilbare Literaturwissenschaft«, da er
nicht erklären kann, wie der von ihm entfaltete Fächer »historisch-philologischer«, »kulturgeschichtlich-soziologischer«, »literatur-ethnologischer«,
»kunstwissenschaftlich-ästhetischer« und »stiltypologischer« Betrachtungsarten in einer konsistenten Fachmethodik unterzubringen ist.37
64
Kulturwissenschaft und Historische Anthropologie, ein Hinweis
Das Bild der kulturwissenschaftlich-literaturwissenschaftlichen Diskussion
zur Zeit Ungers bliebe ein Zerrbild, würde nicht jener gleichzeitigen Neuansätze gedacht, die in der gegenwärtigen Suche der Geisteswissenschaften
nach einem neuen Selbstbewußtsein als Schlüsseldiskurse anzusehen sind:
Semiotica universalis und Historische Anthropologie. Beide Diskurse waren
von Anfang an interdisziplinär ausgerichtet und haben unabhängig voneinander die symbolischen, in sprachlichen und bildlichen Zeichen manifesten Strukturen und Funktionen kultureller Artefakte ins Zentrum der
Analyse gerückt. Ich erwähne hier nur die Arbeiten von Roman Jakobson
und der Warburg-Schule, die die Grundlagen für eine Kulturwissenschaft
geschaffen haben, die sich als offenes System versteht.38 Warburg hat die
Theorie »reinen Sehens«, die Wölfflin entwickelte, als unzulässige Abstraktion zurückgewiesen. Ihm ging es nicht um die geistige Repräsentationsfunktion des künstlerischen Einzelwerks, sondern darum, die systematische Analyse der ästhetischen Ausdruckswerte in jener anthropologischhistorischen Dimension zu entfalten, die von der mythischen bis zur ratio-
nalen Weltorientierung fuhrt: »vom Fetisch bis zum Drama«.39 Mit den
Begriffen des »Symbols« und der »symbolischen Form«, deren philosophische Grundlegung dem mit der Warburg-Schule eng verbundenen Philosophen Ernst Cassirer zu verdanken ist, haben Warburg und seine Schüler
ein Konzept gefunden, das geeignet schien, das Diltheysche Geist-LebenDilemma zu überwinden. Denn der Symbolbegriff verweist auf einen be-
grifflich zu fassenden und einen ästhetisch erfahrbaren Pol im Artefakt,
deren Zusammenspiel ein energetisches, über das Werk hinaus wirkendes
Spannungsfeld erzeugt. In der Erläuterung Edgar Winds: »Die kritische
Phase liegt [... ] in der Mitte, dort, wo das Symbol als Zeichen verstanden
wird und dennoch als Bild lebendig bleibt, wo die seelische Erregung, zwi-
schen diesen beiden Polen in Spannung gehalten, weder durch die bindende Kraft der Metapher so sehr konzentriert wird, daß sie sich in Handlung
endädt, noch durch die zerlegende Ordnung des Gedankens so sehr gelöst
wird, daß sie sich in Begriffe verflüchtigt.«40
Den Symbolbegriff bezeichnet demnach eine Doppelcodierung, die
sich auf wissenschaftlicher Ebene einer zweifachen Operation erschließt:
der semantischen, auf die Zeichenstruktur bezogenen Analyse und der
ästhetischen Analyse, die dem energetisch wirkenden (lebendigen) Bild ge-
widmet ist. Die Symbolwahrnehmung trennt nicht zwischen Begriff und
Anschauung. Sie gibt dem begrifflichen Zeichen-Verstehen kein höheres
Recht als der ausdrucksbezogenen Bild-Anschauung, sondern fuhrt beide
Pole unter dem Symbolbegriff zusammen. Symbole sind nach dieser Theo65
rie nicht an und fiiir sich und daher weder durch Einfühlung (Dilthey)
noch durch »reines Sehen« (Wölfflin) der Gestaltqualität zu erschließen.41
Bildsymbole sind nicht nur Geformtes, sie sind vielmehr ihrerseits wirk-
same (energetische) Agenzien der Formgebung, deren wissenschaftlich reflektierte Rekonstruktion Warburg mit dem anthropologischen Leitgedanken eines wandelbaren, epochenübergreifenden »Bildgedächtnisses« (Mnemosyne) in Beziehung gesetzt hat. Dieses Projekt basiert auf einer inter-
disziplinären Kommunikation, die sich - wie es bei E. Wind heißt - der
»unauflöslichen Verflochtenheit« des Einzelwerks mit der »Gesamtkultur«
versichern sollte und zu diesem Zweck energisch in die Gebiete der Kulturgeschichte, der Religionswissenschaft, der Philosophie und der Philologien
auszugreifen hat.42
Es ist hier nicht der Ort, diese Theorie und ihre Variationen - bei
Autoren wie Gombrich, Panofsky und Wind — en detail darzustellen oder
gar zu kritisieren.43 Hier konnten nur einige wenige Aspekte zur Sprache
kommen, die andeuten sollten, daß sich bereits in den 20er und 30er Jahren jener Umbau der Kulturwissenschaften abzeichnete, der heute unter
den Leitbegriffen der Symbolinterpretation und des ethnologischen Blicks
eine Renaissance erlebt. Bemerkenswert ist: Den skizzierten Neuansatz
haben Erfahrungen angeregt, die auf die Begegnung mit einer außereuropäischen Kultur, der Kultur der Pueblo-Indianer Neu-Mexicos, zurückzuführen sind. »Denn Warburg verdankte es Amerika, daß er lernte, die
europäische Geschichte mit den Augen eines Anthropologen zu sehen.«44
Annäherungen zwischen Kultur- und Literaturwissenschaft
Seit 1933 ging die Literaturwissenschaft in Deutschland ihre eigenen Wege. Die NS-Germanistik erniedrigte sie zum »Dienst am inneren Reich der
Deutschen« und hat sich um die von Unger und andern hinterlassenen ungelösten theoretischen Probleme den Teufel geschert.45 Ich übergehe hier
die Frage, in welchem Maß diese Erniedrigung Folge einer schon länger
angebahnten Selbsterniedrigung war, zumal sich die jüngste Fachhistorie
dazu bereits ausfuhrlich zu Wort gemeldet hat.46 Eines darf indessen nicht
übersehen werden: Die kulturchauvinistischen Äußerungen Ungers, Walzeis und anderer Vertreter der germanistischen Literaturwissenschaft in den
20er Jahren sind Belege für ein Konzept der »Kulturwissenschaft«, das nicht
nur innerhalb nationalkultureller Grenzen verharrte, sondern sich offenbar
auch verpflichtet sah, immer wieder - mit den Mitteln gebetsmühlenhaft
wiederholter Distinktionen vor allem gegenüber der Kultur des westlichen
Nachbarn - den nationalen Standpunkt zu beteuern. 1942 schrieb der
66
nun im Exil lebende Hausphilosoph der Warburg-Schule der Kulturwis-
senschaft ins Stammbuch: Die Kultur ist ein Tun, das seines Zieles - » Verwirklichung der Freiheit« — niemals sicher ist.7
Doch zurück zu den systematischen Fragen. Die heute erhobene Forderung, die Literaturwissenschaften in ein kulturwissenschaftliches System
einzubinden, kann — wie zu zeigen war - bis auf die Anfänge dieser Fach-
disziplin zurückgeführt werden. Damit soll nicht einer Anknüpfung an
Früheres das Wort geredet werden. Der Rückblick ist Erinnerung und
möchte auf eine Problematik aufmerksam machen, die sich damals wie
heute nicht mit einem Streich lösen läßt. »Die moderne Literaturwissenschaft - d.h. die der letzten fünfzig Jahre - ist ein Phantom.« Gegen dieses
1948 von Ernst Robert Curtius formulierte Urteil läßt sich Nennenswertes
nicht einwenden.48 Die Nationalphilologien haben dieses Verdikt überlebt
- gewiß nicht zu ihrem Vorteil.
Die inzwischen unter dem alten Fahnenwort »Kulturwissenschaft« daherkommende Forderung nach inter-, wenn nicht gar transkultureller Erweiterung, die sogar noch Curtius' Traum einer Europäischen Literaturwissenschaft überbietet, steigert in nicht unerheblicher Weise den Versuchscharakter literaturwissenschaftlicher Forschungen. Was »Kultur«, was »Li-
teratur« ist, hängt davon ab, wie die mit diesen Kollektiva bezeichneten
Phänomene begrifflich gefasst werden. Daß sie ineinander aufgehen sollen, bedarf allerdings genauer Prüfung. Denn vom literarischen Text aus
gesehen kann die »Kultur«, in deren Rahmen er entsteht, verwertet wird
oder zirkuliert, nur als Kontext gelten. Was sich der Orientierungssuche
anbietet, das ist daher der Abschied von einer allein seligmachenden Fundierung in irgendwelchen holistischen Konzepten und die Anerkennung
von Teiltheorien mit beschränkter Reichweite, die ebenso vielen Aspekten
jener Literaturen und Kulturkontexte entsprechen, die zur Wahl stehen
bzw. zur Interpretation herausfordern.
Den Methodenpluralismus zu beklagen, lenkt nur von der Tatsache
ab, daß es moralische oder politische Argumente sind, die die faktische
Vielheit der Arbeitsweisen auf eine bindende Idee - der Bildung, der Wertsteigerung, der Identitätsstiftung etc. - verpflichten wollen. Solchen Ideen
liegen in der Regel Kultur- bzw. Literaturkonzepte zugrunde, die in teleologischen oder evolutionistischen Vorstellungen befangen bleiben oder
zumindest von einer homogenen Struktur des jeweiligen Systems ausgehen. Wenn wir Kulturen und ihre literarischen Subsysteme, um sie beschreiben zu können, als »Tatsachen« betrachten, dann gilt auch in diesem speziellen Rahmen Nelson Goodmans Bemerkung: »sie sind ebenso
theoriegeladen, wie wir von unseren Theorien hoffen, daß sie tatsachengeladen sind.«45 Will sagen: Der Aspekt, unter dem der Wissenschaftler
67
literarische Texte als Komponenten eines kulturellen Handlungskomplexes
betrachtet, realisiert eine unter mehreren möglichen Anschauungsweisen
(in der Bedeutung von theorein), die der Gegenstand ihm nahelegt. Es sind
die unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit entstehenden, die pragmatischen Teiltheorien, die es ihm erleichtern, seine »Konstruktion«, um
einer nachvollziehbaren »Version« willen, von der universalistischen Fokussierung Diltheys auf die »ganze Wirklichkeit« zu lösen. Was zweckmäßig
ist, liegt auf der Hand, wenn man die Kollektiva »Kultur« und »Litera-
tur« nicht mit den Forschungsgegenständen verwechselt, sondern als das
versteht, was sie sind: holistische Signifikanten, die heute jedoch - angesichts gesteigerter kultureller und literarischer Austauschprozesse - nicht
mehr vom theoretischen Standpunkt homogener Werthierarchien aus zur
Anwendung kommen sollten. Der Begriff der Version, von Goodman ins
Zentrum seiner Theorie des Worldmaking gerückt, ist direkt an die Arbeit
des Kultur- und Literaturforschers anschließbar, da er, wörtlich genommen, nichts anderes als die Übertragung in eine Lesart bezeichnet, und
Lesarten teilen die Eigenschaften aller Kommunikationsprozesse: Sie heischen Zustimmung auf Widerruf.
Damit bin ich an einem Punkt angelangt, in dem kultur- und litera-
turwissenschaftliche Recherchen einander besonders nahe kommen. Denn
Lesarten im wissenschaftlichen Sinn beruhen nach wie vor auf Methoden
der Textexplikation, die von den hermeneutischen Kernfragen, wie der Gegenstand zu bestimmen und zu erkennen ist, nicht absehen können. Für
den Literatur- oder Textwissenschaftler mag es daher eine besondere Genugtuung sein, daß sich die Kulturanthropologie — ich denke hier in erster
Linie an die Spielart der »interpretive Anthropology« - literaturkritischer
Modelle und Methoden bedient. Die Strukturen selbst einer fremden Kultur erscheinen in diesem Erklärungsspiel der Analogien wie ein Text, der
sich, so scheint es, nach den modi operandi der klassischen Kritik rekonstruieren und entziffern läßt. Eine »neue Philologie« tritt auf den Plan
und erinnert, auch ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, an die Herkunft
der Ethnologie aus der klassischen Philologie:50 »In a multicultured world,
a world of multiple epistemologies, there is need for a new philologist a specialist in contextual relations — in all areas of knowledge in which
text-building [... ] is a central activity: literature, history, law, music, psychology, trade, even war and peace.«51
Die Ethnographie hat damit bewußt den Schritt vom Grammatikmodell der gesprochenen Sprache, an dem sich noch Edmund Leachs Kulturanalyse orientierte, zur Texthermeneutik vollzogen.52 Was aber heißt hier
»Text«? Der kulturanalytische Begriff, der nur oberflächlich Diltheys Gewebemetapher ähnelt, bezeichnet einen Handlungsablauf, den der wissen68
schaftliche Beobachter aufzeichnet, um das Aufgezeichnete in eine Lesart
zu übertragen. Wie der philologische Leser Form und Gehalt des schriftlichen Textes aufeinander bezieht, um eine erste semantische Analyse zu
wagen, und wie er die so gewonnenen Deutungshypothesen anhand von
Kontexdektüren überprüft, so ähnlich verfährt der Kulturanalytiker. Der
Unterschied ist, sein Material ist fließend, und doch enthält es für die Akteure — etwa innerhalb eines religiösen Rituals — einen über den Handlungsvollzug hinaus andauernden Sinn, den der Ethnograph mithilfe von
Operationen herauszufinden sucht, die ähnlich wie die des Philologen vom
Ereignis zu Kontexten und von dort wieder zurück zum Ereignis führen.
Der Einstieg in die Analyse des beobachtbaren Handlungszusammenhangs
kann an einem beliebigen Detail ansetzen, um von dort, nach Art eines
kommunikativen Zirkels, in weitere Zusammenhänge vorzustoßen bis das
Ganze des Ereignisses begriffen ist. Auch für diese Umschreibung des kulturanalytischen Prozesses kann sich der Ethnograph auf die Philologie berufen: Geertz z. B. vergleicht sein Verfahren der »dichten Beschreibung«
mit der kritischen Lektüre eines Gedichts und verweist auf Leo Spitzers
Methode der explication de textet
Ich möchte die Analogiesuche hier nicht weitertreiben. Sie wäre leicht
zu befriedigen; und zwar weit über die Familienähnlichkeiten mit der Philologie hinaus, da die Kulturanthropologie einen in der Zunft heftig umstrittenen Zug ins Literarische besitzt und manche ihrer Fundamentalkonzepte - z. B. Arnold van Genneps rites de passage - verschwiegene Vorbilder in der klassischen Poetik besitzen.54 Ein ergiebiges Feld für interdisziplinäre Untersuchungen!
Planetarisches Modell einer offenen, interdisziplinär
experimentierenden Literaturwissenschaft
Meine letzte Überlegung gilt der Frage, woran die Literaturwissenschaft
anknüpfen kann, um sich im Konzert einer interdiziplinären Kulturwissenschaft zu qualifizieren. Mehr als eine sehr knappe Glosse kann ich
hier freilich nicht bieten und beginne zunächst mit einem Überblick, der
schematisch zwischen Zentrum, Kern und Randgebieten der Literaturwissenschaft (unabhängig von nationalphilologischen Schwerpunktsetzungen)
unterscheidet:
69
Interdisziplinäre Peripherie
Medienwissenschaften
Soziologie
Fachliches Zentrum
Linguistik
Komparatistik
Textkritik
Poetik/Texttheorie
Ästhetik
Kerngebiet
Psychologie
Methodologie:
Hermeneutik, Historik,
Semiotik, Rhetorik
Literarhistorie
Lit. Wertung
Fachgeschichte
Geschichte
Anthropologie
Theaterwissenschaft
Dieses >planetarische Modell< vermeidet hierarchische Strukturen. Es
möchte auf ein offenes System der Fachwissenschaft hinaus und zugleich
jenen Kern festhalten, der, als Ursprungsort der für eine ganze Klasse von
Fachdisziplinen zuständigen modi procedendi, jene Diskursrationalität garantiert, auf die das Gespräch inner disciplinas angewiesen ist.55 Offen ist
die Entscheidung, für welche der auf der peripheren Kreisbahn angesiedelten Disziplinen man optiert, und selbstverständlich sind die Entfernungen
zwischen Zentrum und Peripherie so variabel wie die Wahl der Ausgangsfragen.
Mögliche Anknüpfungspunkte sehe ich dort, wo im Sinne des Mauth-
ner-Mottos der Kulturbegriff in »Verwirrung« gebracht wird, positiv gesprochen: in den Wissenschaften, in denen er nicht-normativ sowie funktional ausdifferenziert und temporalisiert in Erscheinung tritt. Kultursoziologie und Kulturanthropologie sind hierfür die einschlägigen Adressen;
um Namen und Titel zu nennen: Pierre Bourdieus Soziologie der symbolischen Formen (zuerst 1970), Clifford Geertz' Art as a Cultural System
(1976), Victor Turners The Anthropology of Performance (zuerst 1987) und
— um eine wenig ältere Position kultursoziologischer Literaturforschung zu
vergegenwärtigen - Raymond Williams Studien Über den Prozeßcharakter
von Literatur und Kultur (1961-75).56 Die Erscheinungsdaten sind hier
insofern von Interesse, als sie die Lust am Konzeptionellen und Theoretischen wieder ins Gedächtnis rufen, die vor allem in den 60er und 70er
Jahren fröhliche Urständ gefeiert hat.
70
Was die soeben beim Namen genannten, hier und da in Einzelheiten
doch sehr unterschiedlichen Positionen verbindet, ist dreierlei:
— Zum einen favorisieren sie einen Analysemodus, der Kulturen zuallererst aus dem Blickwinkel der Praxis, nicht der Poiesis betrachtet. Hier sind
die Einzelwerke nicht privilegierte Orte kultureller Repräsentation, sondern eher so etwas wie Einstiegsmöglichkeiten. Die Interpretationsversuche richten sich unter dieser Voraussetzung auf die in den kulturellen Einzelmilieus kodifizierten Prozesse der Formgebung, der Bedeutungsbildung
sowie ihrer kreativen Durchbrechung und folgen dem Grundsatz: Die Bedeutung der Werke entsteht und verwandelt sich im Medium gesellschaftlicher Kommunikation. Konsequenterweise markiert dieser KulturbegrifF
keine homogene Struktur, sondern variable, durch Konflikte, Überschneidungen, Brechungen und Verwerfungen charakterisierte Systemprozesse.
Übernimmt der Literaturwissenschaftler diese Perspektive, so entlastet ihn
das zwar nicht von der Mühe philologischer Erkenntnis,57 er wird den
Einzeltext dann aber nicht wie ein scheinbar nur aus sich selbst heraus
verständliches homogenes Kunstprodukt seinem Deutungswissen assimilieren, sondern ihn als Kreuzungspunkt anderer, auch der nicht- oder subliterarischen kulturellen Praktiken betrachten.
— Zum zweiten verbindet die genannten Positionen ein Interesse für das,
was ich in zugespitzter Weise das Widerspiel von Regularität und Kontingenz im kulturellen Handeln und Herstellen nennen möchte. Ästhetische
Manifestationen, das Artefakt - ein Bild, eine Skulptur, ein Gedicht, eine
Aufführung - als Teil eines kulturellen Systems - und sei dieses auch nur
als Zeit- oder Kunststil definiert - zu betrachten, heißt: es in kollektive
Zusammenhänge und die in ihnen wirksamen Konventionen einzubetten.
Diese Operation ist notwendig, um das, was man in Abwandlung einer
Formel Bourdieus den »Dissens im Konsens« nennen könnte, in Erfahrung zu bringen. Denn noch die ausgefallenste, will sagen: kraftvollste
Abweichung einer individuellen Kunstschöpfung schließt - auch und gerade in der Geste des Widerstands - an eine gegebene kulturelle Ordnung,
an mehr oder weniger verfestigte Normen und Muster an. Jedes Artefakt
ist eine Ellipse.58 Was Norm, was Abweichung ist, läßt sich nur beantworten, wenn die Analyse das ganze kulturelle Feld und die in ihm geltenden
Konventionen in den Blick nimmt. Nicht Kontinuität und Stetigkeit, sondern Konflikt und Übergang sind hier die adäquaten Beschreibungsbegriffe. Der Prozeß z. B. der Kanonbildung, der in jeder Kultur zu beobachten
ist, verläuft in der Regel dramatisch: als Konflikt zwischen - wie Turner
das nennt - »Struktur und Antistruktur«. Kanon bedeutet zwar Norm und
Regel, impliziert aber in symboltheoretischer Perspektive eine polare Spannung, die es erlaubt, zwischen dominanten und virtuellen, vom Kanon
71
verdrängten, in Latenz jedoch subversiv weiterwirkenden Bedeutungen zu
unterscheiden. Von daher läßt sich die Beziehung zwischen literarischem
bzw. Kunst-Kanon und den anderen Normsystemen innerhalb einer Kultur neu bestimmen. Das traditionelle Kongruenzmodell, das um der Homogenität willen die ästhetische >Hoch<-Kultur mit der Gesamtkultur zur
Deckung bringen wollte, unterschlägt die in jeder Kultur wirksamen Konflikte zwischen Kanondominanz und anti-kanonischer Variabilität.'9
— Der dritte und letzte hier zu glossierende Punkt berührt die schwierige
Frage, wie sich der Kulturwissenschaftler zu der Tatsache verhält, daß er seine historischen oder exotischen Objekte unter Voraussetzungen auswählt
und interpretiert, die diesen selber fremd sind. Das von Dilthey vertretene Sicheinfühlen ist einer assimilatorischen Interpretation ähnlich, in der
das Andere im Andern hinter dessen Geltungsanspruch an die Gegenwart
zurücktritt. Sich unter dieser Voraussetzung das Vergangene anzueignen,
entsprach einer Auffassung von kultureller Kontinuität, die, als fortschreitender Bildungsprozeß gedacht, Nähe und Ferne durch ein Band zeitübergreifender Sinnverwandtschaften miteinander verknüpfte. In der ethnologischen Kulturhermeneutik hingegen steht nicht die Aneignung, sondern
die Frage nach dem Anderssein des Fremden im Vordergrund. Was sind die
Konsequenzen, orientieren sich die »Geisteswissenschaften« — wofür einige
Indizien sprechen - an der Kulturanthropologie als neuer Leitwissenschaft?
Betrachten wir zunächst in aller Kürze den Aspekt der Professionalisierung: Für sie ist die Frage nach jener Kompetenz entscheidend, die
sich in der Anwendung rationaler Forschungs- und Auslegungsstrategien
bewährt. Heute erscheinen die Gesetze der Kultur- wie der Kunstrezeption als ein Spezialfall der Gesetze des Wissenserwerbs. Bourdieu verweist
auf den historischen Zusammenhang zwischen der Autonomisierung der
Künste und der Herausbildung autonomer Kunstwissenschaften. Wie die
Warburg-Schule, an die er anknüpft, wendet er sich gegen den Mythos des
»reinen Sehens«, da dieser das Vertraute zur Basis eines unmittelbaren Zugangs zu einem Sonderfall macht, der als solcher nur in der Vorstellungswelt des Interpreten existiert. Bourdieus Interesse gilt der »Appropriation«
kultureller Güter auf der Basis reflektierter, professionell verfeinerter, lehrund lernbarer Entschlüsselungskompetenzen. Mit dem Hinweis auf die
Rationalität des Kompetenzerwerbs und seiner methodischen Anwendung
in Kultur- und Kunstwissenschaften sucht er das »Dogma der unbefleckten
Erkenntnis« (Nietzsche) zu entzaubern, das lange genug dazu diente, die
akademische Arbeit am Sinn hinter dem Schleier priesterlicher Unzugänglichkeit zu verbergen.
So lehrreich und produktiv Bourdieus Kritik an den akademischen
Obskurantismen ist, sie gibt auf die Frage nach der Verständigung zwi-
72
sehen Eigenem und Anderem keine Antwort. Vielleicht liegt diese in jenen
»puzzles of translation«, die Geertz mit Worten umschreibt, die an die alte semiotische Formel aliquid stat pro aliquo gemahnt; denn daß »etwas
für etwas steht«, legt die Assoziation nahe, es stehe »für etwas anderes«.
Vielleicht liegt die Antwort aber auch in der von Bourdieu beschriebenen
methodischen Rationalität, akzeptiert man sie als einzige kulturübergreifende Universalie der modernen Welt.60 Nicht alles ist auf einer Seite zu
entscheiden.
Anmerkungen
1 Vgl. folgende Sammelbände: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik, Stuttgart 1995. Renate Glaser/Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft — Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, Opladen
1996. Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hg.): Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950-1990), Stuttgart/Weimar 1996. Hartmut Böhme/
Klaus Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaft. Positionen, Theorien,
Modelle, Reinbek 1997.
2 Vgl. den gehaltvollen Artikel »Kultur als System« von Walter F. Bühl in: Kultur
und Gesellschaft, hg. v. F. Neidhardt u. a. (Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie), Opladen 1986, S. 118-144.
3 Dilthey verwendet den Konstruktionsbegriff mit unterschiedlicher Gewichtung. Er gilt dort, wo es um die »ganze geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit« geht, da diese auf einer zufallsbedingten Überlieferung beruht, deren
Lücken nur konstruierend zu schließen sind. Er ist dort unangebracht, wo es
um die Beziehungen zwischen Teil und Ganzem geht, das sich nur dem Verstehen erschließt. Vgl. Gesammelte Schriften, I. Bd.: Einleitung in die Geisteswissenschaften [1883], Leipzig/Berlin 1922, S.21 u. 31. In der späteren, 19071910 unter dem Eindruck der Phänomenologie entstandenen Schrift Der Aufbau
der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (VII. Bd. der Ges. Schriften,
Göttingen 51968) wird der Begriff (nota bene das Äquivalent »Aufbau«) der theo-
retischen Grundlegung und der idealtypischen Bestimmung der Forschungsgegenstände vorbehalten. - Die Klammern im Anschluß an die Dilthey-Zitate im
Text verweisen auf Band und Seite der Gesammelten Schriften.
4 Zur Positionierung der neuen Weltliteratur (world fiction) zwischen den Kul-
turen vgl. meinen Essay »Nomadisierende Schreibweisen und Lesarten des Fremden«, in: Neue Rundschau 105 (1994), S. 52 ff.
5 Alexander Michailow: »Interpretieren und Verstehen vor dem Erfahrungshintergrund der russischen Literaturwissenschaft«, in: Danneberg/Vollhardt
73
[Anm. 1], S. 381. - Geertz beruft sich für die Rechtfertigung des hermeneuti-
schen Zirkels in der Ethnographie auf Dilthey, Turner darüber hinaus auf dessen
Konzepte der »Weltanschauung« und der »gelebten Erfahrung«; C. Geertz: Local
Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology, London 1993, S. 69. V.
Turner: The Anthropology of Performance, New York 21992, S. 84, 95 ff. u. ö. —
Zur Bezugnahme der Poetics of Culture auf die Kulturanthropologie s. den von
H. Aram Veeser hg. Sammelband The New Historicism, New York/London 1989;
hier vor allem die Beiträge von Greenblatt, Montrose und Pecora.
6 Erich Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Bonn 1947,
S.4ff.
7 Vgl. G. Turner: British Cultural Studies. An Introduction, Boston 1990. La-
wrence Crossberg et al. (Hg.): Cultural Studies, New York 1992.
8 Martha Meyer-Althoff: »Studium mit Magister-Abschluß«, in: Informationen
für die Beratungs- und Vermittlungsstelle der Bundesanstalt für Arbeit 33 (1994).
Vgl. ferner: Frank Griesheimer/Alois Prinz (Hg.): Wozu Literaturwissenschaft?
Kritik und Perspektiven, Tübingen 1991.
9 Günter Blamberger u. a. (Hg.): Berufsbezogen studieren. Neue Studiengänge in den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, München 1993. Georg
Jäger/Jörg Schönen (Hg.): Wissenschaft und Berufspraxis. Angewandtes Wissen
und praxisorientierte Studiengänge in den Sprach-, Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, Paderborn etc. 1997.
10 Ich zitiere aus der 14. Auflage von Das Erlebnis und die Dichtung (zuerst
1906), Göttingen 1965, S. 212. In einer langen Anmerkung, die Dilthey der
1. Auflage hinzugefügt hat (S. 324 f.), bekräftigt er noch einmal die Vorläuferrolle
des Novalis für die eigene Wissenschaftsphilosophie.
11 Dilthey: Das Erlebnis, S. 212.
12 Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985, S. 262.
13 Richard Rorty: Consequences of Pragmatism (Essays 1972-1980), Minneapolis 1982, S. 149.
14 Dilthey: Das Erlebnis, S. 17.
15 W Scherer: Poetik, hg. v. R. M. Meyer, Berlin 1888, S. 122.
16 Diese Tendenz zeichnet sich in der von W. Frühwald, H. R. Jauß, R. Koselleck, J. Mittelstraß und B. Steinwachs verfaßten Denkschrift Geisteswissenschaften
heute (Frankfurt/M. 1991) ab.
17 In Das Erlebnis und die Dichtung (S. 213) heißt es unter Berufung auf Novalis, »daß die reale Psychologie oder Anthropologie den unendlichen Gehalt der
menschlichen Natur nur an seiner Entwicklung in der Geschichte zu studieren
vermag.«
18 Vgl. Erving Goffrnan: The Presentation of Seif in Everyday Life, New York
1959. Victor Turner: The Anthropology ofPerformance,NewYork21992. Wolf-
74
gang Lipp: Drama Kultur, T. 1: Abhandlungen zur Kulturtheorie, T. 2: Urkulturen. Institutionen heute. Kulturpolitik, Berlin 1994. Die Deutsche Forschungsgemeinschafthat 1995 einen neuen kulturwissenschaftlich-interdisziplinären Forschungsschwerpunkt vorgestellt und in einem intern verschickten Papier mit dem
Titel »Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften«
erläutert.
19 Das Erlebnis, S. 12.
20 In bewußt metaphorischer Funktion: Das Erlebnis, S. 8.
21 Das Erlebnis, S. 214.
22 Vgl. etwa I, S. 422; VII, S. 102, 143 u. ö.
23 Vgl. z. B. den programmatischen Aufsatz »Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte« von Walter Strich in dem von ihm herausgegebenen Jahrbuch für
Geisteswissenschaften Die Dioskuren (1922), S. 7f.: »Sprache ist Gestaltung, und
die Art dieser Gestaltung enthüllt neben dem gesagten Inhalt, der hier ganz so
wenig wie in der Kunst von der Form zu trennen ist, ein ganzes Weltbild, eine
[... ] Auffassung von dem Wesendichen der Welt und des Menschen. Aufgabe
der Geistesgeschichte ist es, zu zeigen, wie diese letzte Auffassung sich in dem unmittelbar Gegebenen offenbart.« Zum poetischen Kunstwerk als »Ausdruck« der
Kultur s. Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin
1923, S. 132 u. 142.
24 Hermann Usener in seiner Rektoratsrede »Philologie und Geschichtswissenschaft« von 1882. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze, Leipzig/Berlin 1907, S. 22.
25 Vgl. zu diesem Komplex Stefan Haas: Historische Kulturforschung in
Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Plura-
lität, Köln/Weimat/Wien 1994.
26 H. Paul: »Methodenlehre«. In: Grundriss der germanischen Philologie, Bd.
1/2, Straßburg 1901, S. 163. A. Boeckh: Enzyklopädie und Methodologie der
philologischen Wissenschaften, hg. v. E. Bratuscheck, Leipzig 1877, S. 15. Zur
synthetisierenden Funktion der wissenschaftlichen Darstellung vgl. Jürgen Fohrmann: »Literaturgeschichtsschreibung als Darstellung von Zusammenhang«, in:
Ders./W Voßkamp (Hg.): Von der gelehrten zur disziplinaren Gemeinschaft,
Stuttgart 1987, S. 174 ff.
27 Zur Kritik vgl. Karl Vossler: Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg
1925, S. 5 f.
28 Ich nehme in die Graphik Unterscheidungen und Begriffe auf, die Konzepre
aus Ernst Elsters Prinzipien der Literaturwissenschaft (Halle 1897) variieren.
29 Rudolf Unger: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin
1929, S. 48. Vgl. zu den Konsolidierungsschwierigkeiten des neuen Fachs den
Überblick von Holger Dainat: »Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte
zur Literaturwissenschaft: Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14«, in: J.
Fohrmann/W. Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19.
Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994, S. 494-537.
75
30 Vgl. auch seinen Aufsatz »Moderne Strömungen in der deutschen Literaturwissenschaft«, in: Die Literatur 26 (1923/24), S. 65 ff.
31 Unger a. a. O., S. 29 ff. Eckpfeiler der »Kulturwissenschaft«, die Unger nicht
scharf von »Geisteswissenschaft« unterscheidet, sind für ihn Kulturphilosophie (F.
Nietzsche, G. Simmel), Ethnologie (A. Bastian), Sozialpsychologie (A.Vierkandt)
und Kulturgeschichte; a. a. O., S. 24.
32 Oskar Walzel [23], S. 15u.ö.
33 Vgl. die Darstellung der ungeteilten Hermeneutik und ihre Anschließbarkeit
an Strukturalistische Verfahren in Manfred Franks Artikel »Textauslegung«, in: D.
Harth/P. Gebhardt (Hg.): Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1982, S. 123 ff.
34 Unger a. a. O., S. 30.
35 »Kultur ist der Sollzustand, zu welchem sich ein Mensch oder ein Volk hinaufentwickeln mag; die Kulturen der verschiedenen Völker bezeichnen einen Istzustand.« Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer
Kritik der Sprache, Bd. II, Zürich 1980, S. 42.
36 Unger a.a.O., S. 216 ff.
37 Unger a.a.O., S. 224.
38 Zur Bedeutung dieser Positionen in det Grundlagendebatte vgl. die Einleitung
von Elmar Holenstein zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Roman
Jakobson: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982, Frankfurt/M. 1988, sowie
folgende Aufsätze: Peter Burke: »Aby Warburg as Historical Anthropologist«, in:
H. Bredekamp/M. Diers/C. Scholl-Glass (Hg.): Aby Warburg. Akten des internationalen Symposiums Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 39 ff. Sigrid Weigel:
»Aby Warburgs >Schlangenrituak Korrespondenzen zwischen der Lektüre kultureller und geschriebener Texte«, in: Paragrana 3 (1994), S. 9 ff. Alle genannten
Publikationen enthalten reichhaltige bibliographische Hinweise.
39 Aby Warburg: [Rede vor dem Kuratorium der Kulturwissenschafthchen Bibliothek, 21. Aug. 1929], in: Ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen,
hg. v. D. Wuttke, Baden-Baden 1980, S. 307.
40 Edgar Wind: »Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung
für die Ästhetik« [1931], in: Wuttke a. a. O., S. 410.
41 Wind a.a.O., S. 168: »Der Forscher [...] kann sich nicht dem Glauben
hingeben, daß seine Betrachtung eines Bildes ein einfaches Anschauen, ein unmittelbares Sicheinfühlen sei.«
42 Wind ebd.
43 Weiterfuhrende Untersuchungen: Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1983. Bernhard Buschendorf: »Enthusiasmus
und Erinnerung in der Kunsttheorie Edgat Winds«, in: A. Assmann/D. Harth
(Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M. 1991, S. 319ff. Zur Kritik an Warburg s. die Aufsätze von E Burke und
S. Weigel [Anm.38].
76
44 Fritz Saxl: »Warburgs Besuch in Neu-Mexico«, in: Wuttke [39], S. 317ff.
45 Gerhard Fricke hat im Vorwort des 1944 von ihm herausgegebenen 3. Bandes der Gesammelten Studien Ungers das Wort vom »Dienst am inneren Reich«
geprägt; ich zitiere nach dem 1966 in Darmstadt erschienenen Nachdruck (S. 8).
46 Vgl. u. a. Hartmut Gaul-Ferenschild: National-völkisch-konservative Germanistik. Kritische Wissenschaftsgeschichte in personengeschichtlicher Darstellung,
Bonn 1993.
47 Zum Kulturchauvinismus gehören nicht zuletzt Walzeis wiederholte Abgrenzungen gegenüber der »lateinischen« Kultur; vgl. Walzel [23], S. 377 u. ö. Das letzte Zitat nach Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften [1942], Darmstadt 1971, S. 104 ff.
48 Ernst R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/
München 71969, S. 22.
49 Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1984, S. 120 f.
50 S. die Hinweise in meinem Essay »Der Forscher als Schamane«, in: Ruperto
Carola. Forschungsmagazin der Universität Heidelberg 3 (1995), S. 4 ff.
51 Alton Becker, zit. nach Geertz [5], S. 32.
52 Vgl. E.Leach: Culture and communication. The logic by which Symbols are
connected, Cambridge etc. 1976, S. 10: »I assume [...] it is just as meaningful
to talk about the grammatical rules which govern the wearing of clothes as it is to
talk about the grammatical rules which govern speech utterances.«
53 Geertz [5], S.69f. Leo Spitzer: Linguistics and Literary History, Princeton
N] 1948.
54 A. van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage) [1909], Frankfurt/M.
1986. Zur imaginativ-literarischen Struktur ethnographischer Schreibweisen s.
die aufschlußreichen buchkritischen Essays von C. Geertz: Works and Lives. The
Anthropologist as Author, Stanford IL 1988, und den von J. Clifford/G. E. Marcus hg. Sammelband Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography,
Berkeley CA 1986. Scharfe Kritik an dieser Diskursmischung und ihrem im-
pliziten Relativismus übt Ernest Gellner: Postmodernism, Reason and Religion,
London/New York 1992 (hier bes. das Kapitel »Relativismus über Alles« [Dt. im
Original]).
55 Erläuterung zum Kerngebiet: Hermeneutik = Theorie des Verstehens; Historik = Theorie der hist. Erklärung; Semiotik = Theorie der Zeichenanalyse; Rhetorik = Theorie der Textproduktion. Die Akte des Verstehens, des Erklärens, der
Analyse und der sprachlichen Darstellung bilden eine gemeinsame methodologische Basis der Kulturwissenschaften. Sie variieren zwar von Fach zu Fach, verlieren dadurch aber nicht ihre Familienähnlichkeit und sind insofern die eigentliche
Clearingstelle für interdisziplinäre Kontakte.
56 Geertz' Essay findet sich in dem in Anm. 5 erwähnten Sammelband. Der
Williams-Titel bezieht sich auf den von H. G. Klaus hg. und übersetzten Sammelband Innovationen, der neben einigen Aufsätzen wichtige Auszüge aus The
Long Revolution (1961) enthält.
77
57 In der Bedeutung der von Peter Szondi in »Über philologische Erkenntnis«
diskutierten Prinzipien. In: P. S.: Hölderlin-Studien, Frankfurt/M. 1970, S. 9 ff.
58 Bourdieu [43], S. 116.
59 Die Erörterung einer polaren, spannungsgeladenen Symbolstruktur findet sich
nicht nur bei Warburg (s. o.), sondern unter anderen Vorzeichen auch in den kulturanthropologischen Arbeiten von Victor Turner und Mary Douglas; vgl. zu letzteren die Darstellung Wolfgang Lipps [18], S. 40 ff.
60 Die letzte These vertritt Ernest Gellner, der Widersacher von Geertz [vgl.
Anm. 54].
78
Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften
und die Klassische Tradition
. nam et omnis disciplina memoria constat.
Quintilian
Die Altertumsforschung der letzten Jahre wendet sich mit zunehmender
Intensität den Perspektiven und Interessen zu, die der Rezeption, ja >Konstruktion< der antiken Literatur und Kultur zugrunde liegen.' Meine Untersuchung sucht diesen Trend in exemplarischer Weise und unter interdisziplinären Gesichtspunkten zu beleuchten. Ins Licht zu rücken sind
Gewinn und Verlust, aber auch mögliche Alternativen. Die Mehrzahl der
ausgewählten Publikationen bezieht sich auf antike Reichtümer und deren
kontextuellen Funktionswandel, wenige auf die Praktiken kollektiven Erinnerns in außereuropäischen Kulturen. Just die zuletztgenannten Studien
sind es aber, die den Blick auf mögliche Grenzüberschreitungen lenken und
zugleich die »große Tradition« der klassischen Normen relativieren.
»Thepast isaforeign country«
Wie zahlreiche andere begriffliche Münzen im okzidentalen Gedanken-
kommerz zeigen »Erinnerung« und »Gedächtnis« — reminiscentia et memoria - unterm Vergrößerungsglas der historischen Semasiologie Spuren älte-
ster Prägung. Es ist nicht überraschend, daß früh schon das Gedächtnis
als eine Erfindung (inventid) des anthropologischen Diskurses und als ein
von der Natur dem tierischen Organismus eingepflanztes Orientierungsvermögen verstanden worden ist. Der Begriff- nicht nur der deutschsprachige - evoziert beides: das Denken (Subjekt) und das Gedachte (Objekt).
»Schon unsere Sprache gibt dem Gedächtnis«, schrieb Hegel, »die hohe
Stellung der unmittelbaren Verwandtschaft mit dem Gedanken.«2
Aristoteles nannte »Gedächtnis« (mnime) ein elementares, naturwüchsiges Merkvermögen, »Erinnerung« (anämnesis) eine allein dem menschlichen Bewußtsein eigene, den Zeitsinn einschließende kognitive Reproduktions- und Retentionskraft. Beide durch gemeinsame Grenzen vereinte
Konzeptionen, über deren intrikates Verhältnis noch heute - in Psychound Neuro-Wissenschaften unter empirischen Vorzeichen - gerätselt wird,3
unterscheiden sich indessen von einer älteren, in mythologischen, poeti79
sehen, hermetischen Symbol- und Bildkomplexen aufbewahrten Überlie-
ferung. Die in diesem Kontext auftretenden Zeichen und Bilder zielen
zum einen auf das Vermögen der Anamnese, das gleichsam archäologische
Ausgraben latenten Wissens, zum andern - unter dem Namen Mnemosyne
- auf ein produktives, von der Einbildungskraft (imaginatid) unterstütztes
Vermögen, früher Erlebtes im Licht späterer Erfahrungen um- bzw. neuzugestalten. Mnemosyne ist nicht nur die Mutter der Historiographie (Klio),
sondern aller Symbol-, bild- und zeichenträchtigen Künste.
Erst das Zusammenspiel von Anamnese und Mnemosyne legt es nahe, im absichtsvollen Akt der re-cordatio einen Akt der Bedeutungsbildung
zu sehen, der sich bewußt auf gegebenes Wissen und kulturelle Artefakte
zurückbeugt. Das berührt die formalen Bedingungen kultureller Prozesse,
die ich unter dem Begriff der Rekursivität zusammenfassen möchte: Jedes
kulturelle System bildet im Verlaufseiner Entstehung ein Inventar standardisierter, materiell verfügbarer Elemente und Normen aus, das es erlaubt,
eine schier unendliche Menge variabler, gleichwohl einem relativ einheidichen Kulturstil entsprechender Muster zu entwickeln.
Es ist aber angebracht, das spontane (gelebte) mit dem hier so genannten anamnetischen (historischen) Erinnern nicht zu verwechseln und
dementsprechend das persönliche von jenem mnemotechnischen Erinnern
zu unterscheiden, das im Sinne institutionalisierter, öffentlich anerkannter Regulierinstanzen das Zusammenspiel von Anamnese und Mnemosyne
kontrolliert. »Mnemotechnik« ist in dem für mein Vorhaben abgesteckten
Diskussionsrahmen auf die instrumenteilen Funktionen der rhetorischen
Ars memorativa, die der Begriff gewiß auch umfaßt, nicht zu reduzieren.
Der Begriff steht hier für verschiedene Formen der gruppen- oder gemeinschaftsbezogenen Gedächtnisorganisation: vom Opferritual bis,zur institutionalisierten Textauslegung.
Mnemotechnisch Erinnertes bleibt indessen nicht selten - wie die deutsche Sprache sagt - »auswendig«, also der subjektiven Erfahrung äußerlich,
und verdankt sich einem Prozeß gezielten Lernens, als dessen Agent das
funktionale Gedächtnis gilt. Dieses operiert zweckrational, indem es das
Zufällige der mnemonischen Bedeutungsbildung methodisch unter Kontrolle zu bringen sucht. Es reguliert die Auswahl der Gedächtnisinhalte
nach dem Axiom maximalen Nutzens und schließt somit als überflüssiges Wissen aus, was sich nicht unter die Logik zweckrationaler Entscheidungen fügt. Alternative Gedächtnisinhalte bleiben ausgeschlossen. Die
Macht dieses Gedächtnistypus ist nicht zuletzt an dem universalistischen
Anspruch solcher Rationalitätsmodelle abzulesen, die mit den Gesetzeswissenschaften identisch sind. Anders das narrative Gedächtnis, das auf partikulare und kontingente Erfahrungen zurückblickt, um diese verstehend in
80
den Horizont der Gegenwart einzuholen. Wer in diesem Rahmen bewußt
erinnert, versenkt sich suchend in die Überbleibsel vergangener Welten,
ohne je gewiß sein zu können, was an der Geschichte, die das Latente
erzählend heraufbeschwört, zur Wahrheit, was zur Legende gehört. Dieser Gedächtnistyp kennt keine festen Garantien und ist daher prinzipiell
offen für Fehlleistungen des Erinnerns und unterdrückte Gedächtnisalternativen.
Wer zu Beginn der Neuzeit unter der Devise antiquatio theoriarum
(Francis Bacon) die Abhängigkeit des Denkens und Tuns vom überlieferten Wissenskanon aufheben wollte, um gegebene Wahrheiten nicht zu
finden, sondern aufgegebene Wahrheiten erst zu entdecken, trat als Parteigänger jener ars oblivionis auf, deren Erkennungszeichen die tabula rasa
ist, das radierte, in jungfräuliche Unschuld zurückverwandelte, das >leere<
Gedächtnis. Ein Verfahren des Ausschließens, das den modernen Wissenschaftsrevolutionen zur Regel wurde, ohne daß dies den Nutzen des
Überlieferten als frei zu variierende kritische Kontrafaktur einer situationistischen Haltung geschmälert hätte.' So hat die zukunftsorientierte Neuzeit auf empirisch-wissenschaftlicher wie traditionskritischer Ebene zwar
die autoritative Funktion der gelebten Tradition als Erinnerungsmedium
geschwächt. Das diesem Prozeß zu verdankende Geschichtsbewußtsein
hat jedoch - in der institutionellen Gestalt der historisch-philologischen
Gelehrsamkeit — das Alte in Archiv, Bibliothek und Museum konserviert.
Es hat auf diese Weise und unter Bedingungen, die noch zu nennen sind,
ein verwaltbares wissenschaftliches Gedächtnis geschaffen, das den Modus
der Reflexion einsetzt, um das Gedächtnis wirkender Traditionen in ein Aggregat objektiver Geschichten umzuwandeln, das jedoch prinzipiell für Umschreibungen offen steht.6 Es ist trivial, aber die unablässig fortschreitende
Arbeitsteilung und Spezialisierung in den modernen kulturwissenschaftlichen Disziplinen hat die Kontexte der Erinnerungs- und Gedächtnisbegriffe vervielfacht. Zwar erschwert diese Entwicklung die Übersicht, sie
eröffnet aber die Chance, die historische Erinnerungsarbeit als ein Operationsfeld semantischer Konstruktionen ausführlicher als bisher theoretisch
zu explizieren.
Die Dialektik von Erinnern und Vergessen muß der bewahrenden und
interpretierenden, sprich: der historisch-philologischen Gedächtnispflege
von ihren frühesten Anfängen an vertraut gewesen sein. Denn schon die erste, im Auftrag eines Herrschers gegründete Bibliothek war nichts anderes
als ein mnemotechnischer Apparat der Bewahrung, an den je verschiedene
Kanonstiftungen anknüpfen konnten. Daran hat die Verwissenschaftlichung zunächst nur wenig geändert. Denn die Auswahl, Verwaltung und
Auslegung des Traditionswissens und die im 19. Jahrhundert vorangetrie81
bene Professionalisierung der Erinnerungsarbeit standen im Dienst natio-
naler Identitäten.7 Die dort geübte Kanonbildung hat nicht selten eine
puristische, ja exklusiv-feindselige Politik verfolgt und in die Archive des
Vergessens verbannt, was nicht zum normativen Richtmaß der Modernisierung passen wollte. Doch wie so oft in der Geschichte hat auch dieser Akt kultureller Normierung einen potenten Gegner ins Leben gerufen: die Kritik des falschen bzw. verzerrten, über sich selbst getäuschten
Bildungsbewußtseins.8 Diese Kritik brachte in unserm Jahrhundert — gegen manchen Widerstand - allmählich eine Forschung in Gang, die sich
mehr und mehr der Kehrseite des Erinnerns, dem natürlichen Vergessen,
nach und nach auch dem pathologischen Schein eines hegemonialen kulturellen Gedächtnisses und zugleich damit den vielfältigen Formen kollektiver Verdrängung zugewandt hat. Dieser Wandel hat die Archive des
Vergessens geöffnet und das Volumen der wissenschaftlich organisierten
Denkmalspflege um die Phänomene der gelebten Erinnerung - Alltag, privates Leben, Mentalitäten, Minderheiten- und Randgruppenkulturen — erweitert. Irgendwo - so lautet die Annahme - hat das, was vergessen schien,
eine Spur hinterlassen, die der Historiker als geschulter Spurenleser wieder
ins Gedächtnis rufen kann. Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, eine
virtuelle Realität unterhalb der Verdrängungsschwelle.9
Die steigende Konjunktur globaler Migrationsbewegungen und des digitalisierten intra- wie transkulturellen Informationsaustauschs verändert
indes das traditionelle Selbstverständnis der historisch verfahrenden Archivund Inventarwissenschaften. Nicht die eine geschlossene, reine und in sich
ruhende Kultur - ohnehin eine Fiktion - soll ihr nun als einziges Richtmaß
gelten, sondern das zusammengesetzte, grenzüberschreitende, im fließenden Übergang zwischen Grenze und Zentrum sich konsolidierende und
zugleich dekomponierende fragile Gebilde symbolischer Repräsentationen.
Die Lage ist paradox. Denn nicht nur die Kulturwissenschaften, auch die
lebensweltlichen Erfahrungen, ihr eigentliches Fundament, scheinen heute
stärker denn je die von der »Furie des Verschwindens« (Hegel) verschuldete kollektive Amnesie zu furchten. Die jüngsten und aktuellen Erfahrungen der Weltkriege, der Vertreibungen, des atomaren Holocaust, des
Völkermordes, der Kommunikationsentropie, des linguistischen und biologischen Artenschwunds etc. sind die Kehrseite der oben skizzierten Entwicklung. Nicht alles ist friedlicher, Ressourcen und Traditionen schonender Umbau, nicht weniges Wandel durch Gewalt und Zerstörung.10 Auch
die Konsequenzen sind paradox: einerseits eine fast schrankenlose Kommunikation zwischen Gesellschaften und Kulturen, anderseits eine planvoll betriebene Exterminierung ganzer Völker; einerseits das schnelle Verschwinden traditionaler Lebensformen, anderseits deren nicht weniger ra82
sehe Kartierung in immer subtiler ausgetüftelten künstlichen Gedächtnissen. Eins wie das andere berührt die beschränkte Kapazität des Gedächtnisses und das selektive Spiel der Erinnerung. Erfahrungen, die gemeinsam
mit andern, weniger offensichtlichen Motiven für die aktuelle Konjunktur
des wissenschaftlichen Gedächtnisdiskurses verantwortlich sind. ''
»Gedächtnis« und »Erinnerung« sind vor allem im interdisziplinären
Wissenschaftsdiskurs längst zu Leitmotiven der historischen Forschung geworden. Auch in jener fächerübergreifenden Disziplin, die sich der Anamnese des Unvordenklichen (»anamnesi deH'immemorabile«) verschrieben
hat, in der Philosophie, feiern altehrwürdige Topoi des Gedächtnisdiskures sonderbare Urständ.12 Die wissenschaftlichen Fragen haben sich jedoch vom Inhalt und Kanon auf Methode und Prozeß verschoben: Nicht
nur was ins Gedächtnis gehört, sondern wie erinnert wurde und wird,
beschäftigt in zunehmendem Maß die methodisch disziplinierte Neugier.
Die mannigfachen Hinterlassenschaften zu konservieren, ist eine Sache; eine andere, ob und wie sie in lebendige Erinnerung übergehen können.
Vor diesem Hintergrund möchten die folgenden Betrachtungen gelesen werden. Sie gehen zunächst - in der Art kurzer Fallstudien - den Methoden und Befunden der Gedächtnisforschung in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen nach.13 Am Schluß kehren sie noch einmal
zu den hier angedeuteten Problemen zurück, um der Vermutung Raum
zu geben, daß sich hinter der Konjunktur des GedächtnisbegrifTs in den
Kulturwissenschaften ein altes Dilemma verbirgt.
Antike und mittelalterliche Memoria als Triebkräfte der Moderne?
Frances A. Yates hat ihre berühmte Untersuchung The Art ofMemory (1966)
der rhetorischen Gedächtniskunst und ihrer bis zur Geburt der Neuen Wis-
senschaften im 17. Jahrhundert andauernden lebendigen Modellierung ge-
widmet. Ihr Ausgangspunkt war die Hermetische Philosophie Giordano
Brunos, methodisch nahm sie Anregungen C. G. Jungs auf und konnte
an die philosophiegeschichtlichen Untersuchungen Paolo Rossis über die
Artes memorativae in Renaissance und Barock anknüpfen.14 Ein Vierteljahrhundert später gelten andere Auslegungsparadigmen. Heute läßt sich
die historisch-philologische Gedächtnisforschung von anderen Göttern inspirieren, nimmt in zunehmendem Maß Anregungen aus Medizin und Naturwissenschaften auf.15
Janet Colemans umfangreiche und informative Studien, 1992 unter
dem Titel Ancient and medieval memories veröffentlicht, sind eine Antwort
auf diesen Paradigmenwechsel. Sie beabsichtigt, mit der Rekonstruktion
83
komplexer, in Altertum und Mittelalter entworfener Theorien und Praktiken den materialistischen und mechanistischen Reduktionen der messenden und experimentierenden Wissenschaften entgegenzutreten (XVf.;
593 ff.): ein gegenwartskritisches Motiv der historischen Arbeit, das alte
und älteste Problemlagen in Erinnerung ruft, um die Theoriebildung von
einem Standort aus zu provozieren, dem nur eine interdisziplinäre Debatte
gerecht werden kann.
Colemans detaillierte Darstellung, deren Gehalt hier nur in knapper
Form wiedergegeben werden kann, ist im besten Wortsinn problemge-
schichdich, enzyklopädisch im Hinblick auf die behandelte Zeitspanne
(von Piaton bis Hobbes), verfährt hermeneutisch sowie kulturgeschichtlich und ist insofern - wie die Verfasserin selber bemerkt (XIII) - interdisziplinär. Die Dispositio des Buches folgt dem Gebot der narrativen Diachronie, und es erscheint mir sinnvoll, statt langatmiger Umschreibungen
an dieser Stelle den wie ein klassisches Drama in fünf Akte gegliederten
Aufbau der Untersuchung zu zitieren:
Part I
Part II
The critical texts of antiquity
The practice of memory during the period of
transition from classical antiquity to the
Christian monastic centuries
Part III
Part IV
Part V
The beginnings of the scholastic understanding
of memory
Aristotle neo-Platonised: The revival of
Aristotle and the development of scholastic
theories of memory
Later medieval theories of memory: The via
antiqua and the via moderna
Die Überschriften der Unterkapitel nennen meist die Namen der interpretierten Autoren; in Teil I z. B. Piaton, Aristoteles, Cicero, Plotin,
Augustinus. Diese Art der Gliederung empfiehlt das Buch, zusammen mit
einem ausführlichen Index, auch als Nachschlagewerk; andere Autoren mit
eigenen Kapiteln sind Gregor der Große, St. Benedikt, St. Bernhard, Be-
da, Anselm, Abelard, John of Salisbury, John Blund, Averroes, Albertus
Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, William of Ockham, Petrarca.
Die Namen deuten an, daß es in diesem Buch vor allem um theoretische
Fragen geht. Eine Besonderheit der Darstellung sind die (gleichsam als
Motti zahlreichen Kapiteln vorangestellten) langen Zitate aus der modernen poetischen und wissenschaftlichen Literatur. Hier finden sich neben
Shakespeare-Zitaten Auszüge aus Proust, Luis Bunuel, Gertrude Stein und
nicht zuletzt zahlreiche Textstellen aus der Literatur zur Neurobiologie,
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Psycholinguistik, Kognitions- und Experimentalpsychologie. Es entsteht
so ein moderner Subtext aus Fragmenten, an dessen Aussagen der Leser,
wenn er mag, Analogien und Differenzen zum dargelegten historischen
Problemstand ablesen kann.
Das erste Kapitel des dritten Teils ist Abelard überschrieben. Mit dessen Nominalismus nimmt die traditionelle Theoriebildung, was die Zentralstellung dieses Teils in der Gesamtkomposition des Buches unterstreicht,
eine auf die Moderne vorausweisende Wende: Abelard — schreibt Coleman
(232) — bemühte sich als einer der ersten um eine »Theorie historischen
Verstehens«. Diese Aussage schlägt das auch im Untertitel des Buches genannte Leitfhema an: die Funktion des Gedächtnisses in der methodischen
Rekonstruktion der Vergangenheit.
Coleman hat dieses Thema zu ihrem eigenen Verfahrensprinzip ge-
macht. Sie rekonstruiert nicht nur, sondern legt eine Tradition frei, von
der sie überzeugt ist, daß sie zum verborgenen kulturellen Gedächtnis der
Moderne gehört. Couragiert formuliert sie daher als Leitmotiv: »Ancient
and medieval memories set the agenda for modemity« (541). Moderne
Psychologie und Hirnforschung haben erkannt, daß am Prozeß des Erinnerns nicht nur eine isolierbare Hirnregion, sondern alle mentalen Funk-
tionen beteiligt sind. Coleman folgt dieser Einsicht, vermeidet aber die
simplifizierende Gleichsetzung von Gehirn (bmin) und Geist (mind). Ihr
Interesse ist vor allem epistemologischer, dann erst geschichtstheoretischer
Natur, und sie konzentriert sich daher meist auf die spekulativen Kontexte
der anamnetischen (methodischen) Gedächtnisarbeit (reminiscence), ohne
die Grenzziehung zwischen dieser und dem spontanen Erinnern (remembering) zu vernachlässigen.
Es sind vorab drei Schlüsseldiskurse des griechischen und lateinischen
Altertums, die von den Theoretikern wie Praktikern der methodischen
Gedächtnisarbeit in Spätantike und Mittelalter immer wieder aufgegriffen
und hin und her gewendet worden sind:
Erstens: Piatons Kritik an der technisch (rhetorisch) und zeichenhaft
(schriftlich) fundierten Erinnerung, ein notdürftiges Erinnern, das in
Wahrheit das Vergessen jener reinen Formen des Seins, der Ideen, zur Folge
hat, die allein der Anamnese zugänglich sind.
Zweitens: Aristoteles' Unterscheidung zwischen der interpretierenden, daher wahrheitsfähigen, rhetorisch bzw. poetisch gestalteten Vergangenheitskunde auf der einen und der kontingenten Darstellung der gelebten Vergangenheit in der Historiographie auf der anderen Seite. Eine Position, die
ausdrücklich die dem Gedächtnis eingeprägte materielle ikonische Spur der
vergangenen Erfahrung gegen Piatons Kritik verteidigt und das Erinnern
mit rationalen Operationen verbindet.
85
Drittens: Die Rhetorik als pragmatisches Organon der Textproduktion und
der Mnemotechnik, ein die Vergangenheitskunde und -darstellung (historia) modellierendes und lange Zeit beherrschendes Lehr- und Lernsystem.16 Nicht zu vergessen die in diesem Diskurs kultivierte erkenntnistheoretische Skepsis, für die der Name Ciceros gleichsam das Codewort
liefert.
Diese drei Schlüsseldiskurse haben, wie Colemans textnahe Analysen
zeigen, über die patristische Rezeption Eingang in die chrisdichen Gedächtnis- und Geschichtstheorien des Mittelalters gefunden. Für eine
Theologie, deren praktische und theoretische Bemühungen einem sakrosankten schriftlichen Kanon verhaftet sind, scheint es unmöglich, Piatons
Kritik an der schriftgestützten Erinnerung ernst zu nehmen. Und dennoch
hat der Neoplatonismus hier eine Brücke konstruiert, die es manchen scholastischen Denkern des Hochmittelalters erlaubte, Aristoteles und Piaton
zu harmonisieren. Diese Brücke hieß paradoxerweise Vergessen.
Wo immer eine unmittelbare oder mystische Gotteserkenntnis zur Debatte stand, ging es darum, über die >Leiter< der Wörter, Bilder und Zeichen den Weg in die innere, bild- und zeichenlose Anschauung des Inneffabile zu bahnen. Plotin hat das Gedächtnis nicht als passiven, Eindrücke
speichernden Rezeptor verstanden, sondern mit einer seelischen Aktivität
identifiziert, die aus eigener Kraft und unter Vergessen der äußerlichen
Sinnesobjekte eine »intellektuelle Ordnung« hervorzubringen vermag - »a
kind of illuminationism« (76ff.). Augustinus hat zwar - im Sinne der
rhetorischen Mnemotechnik - das Gedächtnis als Behältnis jener »Bilder«
gedeutet, die der Geist von den bestimmten Sinneswahrnehmungen abzieht und nach eigenen Gesetzen mnemonisch ordnet. Aber die unmittelbare, die »spirituelle« Gotteserfahrung knüpfte er an die Bedingung des
Selbstvergessens (110 f.). Es ist vor allem die augustinische, rhetorische,
aristotelische, neoplatonische und schriftexegetische Theoreme eklektisch
verschmelzende Konzeption, die die Ausbildung des christlichen Gedächtnisdiskurses in den folgenden Jahrhunderten maßgeblich bestimmen wird.
So praktizieren die monastischen Zentren - die Klöster der Benediktiner und Zisterzienser - eine Kultur des Vergessens und der GedächtnisReinigung, die den sakralen Schriftkanon als einziges grammatisch-rhetorisches Muster und Medium der Gottesannäherung anerkennt. In diesem
Rahmen wird die Meditation der Schrift - in der Bedeutung halblauten Lesens - zur maßgebenden Technik des Erinnerns und die Grammatik zum
exegetischen Schlüssel, der das Tor zur »göttlichen Weisheit« öffnen soll
(143). Coleman zeigt, daß die in den Klöstern entstehende frühmittel-
alterliche Geschichtsschreibung - ein Beispiel ist die Historia ecclesiastica
gentis Anglorum (bis 731) Bedas - streng secundum littemm verfuhr. Diese
86
Historie erzählt im Vertrauen auf eine wirklichkeitssubstituierende Kraft
des schriftlichen Zeichens, die nicht im modernen Wortsinn das Vergangene als solches >erinnert<, sondern den Leser in den Status des gleichzeitigen
Augenzeugen versetzen will (276 ff.) Denn die Buchstaben sind »Anzeichen« des gesprochenen Wortes und der Dinge, die durch die Fenster der
Augen und stimmlos zur Seele der Leser >reden<.17 In diesem Kontext ist
der Begriff historia identisch mit einer Schreib- und Lesart, die den wörtlichen, den Litteralsinn zur Sprache bringt und daher nur die propädeutische Sprosse auf jener Leiter der Exegese, die in die figurativ-theologischen
Stockwerke des mehrfachen Schriftsinnes fuhrt.
Die Verbreitung und Verfeinerung der Schriftkultur und der ratio-
nale Umbau des theologischen Lehrsystems im 12. und 13. Jahrhundert
verändern den Gedächtnisdiskurs und mit ihm die Historiographie, die
in Klöstern und Klerikerschulen bald eine erste Blütezeit erlebt. Coleman
erläutert ausführlich die physio- und psychologischen Neuansätze. Das
Vergessen erscheint nun den Scholastikern als Verdunkelung der Tradition
und »fraudatrix seientiae«.18 Der nächste Schritt ist die Proklamation der
Theologie als selbständige Wissenschaft. Die Sententiae des Petrus Lombardus verdrängen, was Coleman nicht erwähnt, den biblischen Kanon
als Grundlagentext für die theologische Spekulation." Die Herrschaft des
neoplatonischen Augustinismus wird - vereinfachend gesagt - von der des
aristotelischen Systemdenkens abgelöst. Der christliche Gott ist nicht allein der Liebe, sondern wird nun auch und vor allem der metaphysischen
Konstruktion zugänglich.
Im Lauf dieser Entwicklung nehmen Dialektik, Logik und theolo-
gische Morallehre den Gedächtnisdiskurs in Besitz, und das historiographische wie theoretische Nachdenken über Zeitsinn und Sinn der Zeit
stößt auf die ersten Spuren einer qualitativen Differenz zwischen dem,
was ist, und dem, was war. Dennoch kreisen die Bemühungen der meisten Neuerer noch um das alte Problem, wie der - mit Paul Ricoeur zu
reden - »Mißklang« zwischen endlicher und kosmischer (Heils-)Zeit zu
überwinden ist.20 Coleman vertritt die These, die hierzu nötige Vermittlung sei nicht in der Erzählung, sondern in der exegetischen Harmonisierung des Ungleichzeitigen zu suchen. Ungleichzeitig sind nicht nur
die Zeugnisse über vergangene und gegenwärtige Ereignisse, Ungleichzeitigkeit ptägt auch das Verhältnis zwischen den philosophischen Texten
der Antike (an erster Stelle Aristoteles) und dem sakrosankten Kanon der
chrisdichen Überlieferung, dessen zeitresistente Geltung ohnehin nicht in
Ftage stand.
Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit der Ereignisse und ein evolutionärer Zeitrahmen waren für die Theoretiker des Hochmittelaltets kein
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Thema. Deren Vorstellungen entsprachen eher den ritualisierten Zeitformen der Liturgie, waren also zyklischer Natur (303). Wenn ein arabischer,
von manchen christlichen Theologen geschätzter Aristoteliker wie Avicenna auf die Wechselhaftigkeit und Kontextabhängigkeit des Erinnerns zu
sprechen kam (361), so hatte das keine Folgen für die Auseinandersetzung
mit dem Traditionswissen.
Gewiß, mit der Expansion des Handels und der städtischen Kulturen
erwachte allmählich ein Bewußtsein für unterschiedliche Erfahrungswelten
und zeitliche Differenzen. Doch in der Theorie blieb die Macht der Synchronie lange noch ungebrochen. Was zeitlich fern und vielleicht fremd
erschien, ließ sich mit den theoretischen und praktischen Bedürfnissen der
Gegenwart durch die Applikation eines formalen Auslegungsschemas versöhnen, das mit sprachlichen Universalien und Analogieschlüssen operierte. Unter dieser Voraussetzung konnte z. B. Thomas von Aquin das künstliche Gedächtnis der rhetorischen Mnemotechnik (Cicero) mit der psychologischen Gedächtnistheorie des Aristoteles fusionieren, um die praktischethische, d. h. exemplarische Funktion der Historie für gegenwärtiges und
zukünftiges Handeln zu rechtfertigen. »The aggregation of past phenomena«, lautet Colemans einschlägiger Kommentar, »into a meaningful System
is coextensive with mind, it is prudence in action« (460). Hinter der »rationalen Konstruktion« der Historie (455) stand, wie ich ergänzend hinzufügen möchte, die Absicht, Glauben und Wissen zu versöhnen. Denn
der Glaube hielt sich an die auctoritas jenes Gedächtnisses, dessen Inhalt
sich aus den Exempeln und Lehrsätzen der anerkannten Textüberlieferung
zusammensetzte. Diese Überlieferung methodisch zu formalisieren, sie mit anderen Worten - in die Gewißheit des Wissens zu überführen, war
aber Sache der ratio, jenes anderen Grundpfeilers der thomistischen Wissenschaft. Die Texte und Zeichen des Glaubens galten gleichsam als das
apriorisch Gegebene. Die Vernunft las darin wie der Leser im Buch, und
in dem Maß, in dem sie sich der übernatürlichen Wahrheit assimilierte,
steigerte sie die Glaubensdoktrin bis zur Gewißheit einer metaphysischen
Erkenntnis.
Colemans historische Recherche schließt mit der Darstellung der im
Spätmittelalter einsetzenden Kritik an der thomistischen Harmonisierung
von Glauben und Wissen: mit dem Nominalismus der Antiqui (Scotisten)
und Moderni (Ockhamisten). Ausführlich erläutert sie die erkenntniskritische Position Ockhams und spricht ihr eine Vorläuferrolle in der Geschichte der neuzeitlichen, der intuitiven Erkenntnis zu. Ockham geht von einer isto statu (nach dem Fall) gegebenen kontingenten Wirklichkeit aus.
Diese zu erkennen, ist nicht Sache der nach Maßgabe logischer Universalien verfahrenden intellektuellen Abstraktion. Wirklichkeitserkenntnis
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ist vielmehr unmittelbar: intuitives Auffassen der konkreten Einzeldinge,
abhängig von Erfahrung und daher entsprechend fehlbar. Die Zeichen der
Sprache, der Rede, der Schrift enthalten nichts von der Substanz dieser
Erfahrungen, sind bestenfalls, weil allein in mente, deren unvollkommene
Substitution. Entzieht sich die Wirklichkeit der logischen Demonstration, so bleibt dennoch die Sprache Gegenstand logischer Analysen. Es ist
eine Philosophie der Differenzen, die dieser, übrigens in sich selbst widersprüchliche Nominalismus propagiert. Denn er trennt entschieden zwischen Glaube und Wissen, zwischen empirischer und linguistischer Erfahrung und nicht zuletzt zwischen der raum-zeitlich situierten Praxis und
ihrer Repräsentation in schriftlichen (z. B. erzählenden) Texten. Es ist vor
allem dieser letzte Punkt, der die Einschätzung und Auslegung des histori-
schen Gedächtnisses berührt, soweit dieses sich aus schriftlichen Zeugnissen zusammensetzt. Erinnert werden nur eigene Erfahrungen. Die schriftlich festgehaltenen vergangenen Erfahrungen anderer, gerade auch die des
sakralen Schriftkanons, sind — was für die Erben des historischen Bewußt-
seins trivial ist - dem späteren Interpreten als solche nicht zugänglich.
Und so stößt der Nominalist, det sich auf der Grenze zwischen erlebter
und beredeter Welt eingerichtet hat, auf einen weiteren, den Formalismus
der scholastischen Textauslegung überwindenden Unterschied; mit Colemans Worten: »the distinction between subject matter and expression, between rhetorical formulation and its object« (528). Eine Unterscheidung,
die den theologischen Sockel der Kanonpflege unterminiert und bald die
historisch-philologische Kritik auf den Plan rufen wird.
Die nominalistische Anerkennung der Kontingenz und die implizierte
Aufwertung der Empirie können als Antworten auf die historischen Erfahrungen des Spätmittelaltets - Schwächung des Papsttums und der Idee
eines christlichen Imperiums, Pestepidemien und Bauernrevolten, zuneh-
mende Konkurrenz nationaler Interessen etc. - vetstanden werden. Innertheologisch wollte der Nominalismus Ockham'scher Prägung aber den
Glauben stärken, indem er der weltlichen Unsicherheit ein Gottesbild entgegenhielt, das vom Gläubigen unbedingtes Vertrauen in die ordnende
Kraft der Providenz verlangte. Es ist daher verwunderlich, daß Coleman
der mit dem Nominalismus gleichzeitigen Reorganisation der praktischen
und theoretischen Diskurse im Zeichen der Wiedergeburt (Renaissance)
antiken Wissens den innovatorischen Charakter bestreitet.21 Sie betont die
inhaltlichen Kontinuitäten und intetpretiert den Übergang vom Mittelal-
ter zur Renaissance lediglich als »Genrewechsel« (573ffi).
Nun ist die humanistische Rezeption des Nominalismus sicher unbestreitbar. Ebenso unbestreitbar ist aber auch die Kritik insbesondere der italienischen Frühhumanisten - Petrarca, Coluccio Salutati, Leonardo Bruni
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u. a. - an der leeren Dialektik der Moderni ä la Ockham.22 Diese gewiß oft
polemische Kritik allein als Ausdruck eines literarischen Formenwandels
abzutun, wird dem Paradigmenwechsel, den die humanistische Bewegung
einleitete, nicht gerecht. Nur weniges sei hier in Erinnerung gerufen:
Erstens: Grundlegend ist die humanistische Ablösung epistemologischer
Interessen durch eine Praxeologie, die den Begriff aktiven Handelns gesellschaftlich definiert. Das allein markiert eine wesentliche Differenz zur
nominalistischen Reduktion der Tathandlung auf die inneren Erfahrungen
des Individuums.
Zweitens: Mit ähnlicher Stoßrichtung bauen die Humanisten den Gegensatz zwischen Rhetorik und Logik aus. Die von ihnen propagierte Lebensform der vita activa gewinnt erst die politische Gestalt einer vielstimmigen
und vielfältigen vita civilis durch öffentliche Rede und Gegenrede. Rede
und Wort unterscheiden sich wie der Text vom Lexem. War die nominalistische Logik aufs Wort, auf den »terminus«, fixiert, so bedenkt die Rhetorik den ganzen kommunikativen Redeakt unter allen nur möglichen Bedingungen seiner situativen Anwendung und seines intendierten Erfolgs.
Drittens: Die humanistische Erkenntnislehre rückt die Kultur - im weitesten Sinne des Worts - in den Mittelpunkt. Nur das, was der Mensch
geschaffen hat, ist auch seinem Erkenntnisvermögen zugänglich. Damit ist
eine Aufwertung der Poiesis verbunden, die zugleich das Bewußtsein der
kreativen Selbsttätigkeit und der subjektiven Erfahrung zu steigern vermag.
Viertens: Künstlern und Gelehrten der Renaissance wird eine Distanz zwi-
schen Gegenwart und Altertum bewußt, auf die sie mit der Suche nach
der unverfälschten, der wahren Erinnerung reagieren. Diese Suche fuhrt
sie durch den Zweifel am Prozeß der Überlieferung hindurch auf die Ero-
sionsspuren des Vergessens.23 Im Licht des Distanzbewußtseins erscheint
den Humanisten die Überlieferungs- als Verfallsgeschichte. Diese durch
die Wiederherstellung {restauratio) des verlorenen Gedächtnisses zu heilen
und das Geheilte auf lebenspraktische Fragen anzuwenden, wird zum Programm einer neuen Mnemonik.
Dennoch, eines scheint sicher: Die theologischen Bemühungen des
christlichen Mittelalters haben dem Erinnern und der Gedächtniskunst ei-
ne normative Valenz verliehen, die es in den Gesellschaften der griechisch-
römischen Antike in dieser Weise vermutlich nicht gab.24 Erscheint die
Kultur des christlichen Mittelalters dem Historiker unter dem Bild einer
»Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft«, dann muß er sich fragen, was
diese von andern Epochen und andern Kulturen unterscheidet. Denn
der mnemonische Sinn der Gemeinde sollte nicht nur - wie Kierkegaard
schrieb - »nach rückwärts«, sondern auch »nach vorn«, auf die Parusie,
schauen:25 Memoria eschatologica - ein dritter, ein proleptischer Typus des
90
Eingedenkens, dessen Eigensinn sich krass vom spontanen und anamnetischen Erinnern unterscheidet und dennoch - paradoxerweise - an die Botschaft der überlieferten Texte anknüpft. Alltags- und Religionskultur dieser Epoche standen unter dem biblisch-patrimonialen Imperativ: »Tut dies
zu meinem Gedächtnis!« Zur Konditionierung eines entsprechenden Kollektivgedächtnisses gehörten das ritualisierte Eingedenken - Eucharistie,
Heiligenkult, Kalender und religiöse Feste des Kirchenjahres, Totenmesse
etc. - und der ständige Umgang mit einer reichhaltigen schriftlichen, auch
piktoralen Gedächtniskunst, die alles, vom Layout der Buchseite bis zur architektonischen Raumgestaltung, im Geist der Mnemotechnik ausgeführt
hat. Um einige konkrete Dinge zu nennen: Chroniken, Glossare, Enzy-
klopädien, Städte- und Länderbeschreibungen, Genealogien, Bilderbibeln,
Kirchenfenster, Fresken, Tapisserien; kurz: alles das, was sich nach numerischen und topographischen Ordnungsprinzipien organisieren und mit
sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, Bildern, Symbolen verknüpfen ließ.26
Mary Carruthers hat in The Book of Memory die vormoderne Kultur,
zumal die des Mittelalters, als eine der Erinnerung von der »dokumentarischen« Kultur der Moderne abgegrenzt. Aber auch sie ist bereit, den mittelalterlichen Memorialismus als ein Kapitel aus der Vorgeschichte des modernen Denkens zu deuten. Assoziiert man versuchsweise, was der wörtliche
Sinn der Begriffe nahelegt, mit dem Begriff der Memorialkultur den des
Monuments (= Erinnerungszeichen), so rücken die Konzeptionen von Coleman und Carruthers in einen Gegensatz zu Michel Foucaults Konzeption
der Kulturanalyse, der zu denken gibt. Foucault hat versucht, dem Erinnerungspathos der Kulturwissenschaften entschlossen den Rücken zu kehren.
Denn Erinnerung in dem von ihm inkriminierten Sinn ist das Medium
historischer Kontinuitätsbildung, das aus Furcht vor der Brüchigkeit kul-
tureller Normen die Spur eingeschliffener Lesarten und Rezeptionen nicht
verläßt: Die Kulturwissenschaftler interpretieren die vergangenen Erscheinungen als »Dokumente« eines Sinnzusammenhangs, dessen gesteigerter
Form sie selber angehören. Das kulturelle Gedächtnis, so könnte man Foucaults Kritik umschreiben, ist unter diesen Voraussetzungen nichts anderes
als ein Zauberspiegel, in dem die kurzsichtige Gegenwart nur den Konstitutionsprozeß ihres Zusichselbstkommens zu entziffern sucht. Es komme
aber darauf an, fordert Foucault, das Archiv der Überlieferung mit dem
Blick des Ethnologen durchzumustern, der das Vergangene als Diskontinuum und im Eigenen auch das Andere wahrnimmt.27
Wie viele andere vergleichbare kulturhistorische Studien verfahren auch
die Colemans hermeneutisch, indem sie den subjektiv vermeinten Sinn
ihrer Dokumente im Rahmen eines retrospektiv auszumessenden Kontinuums historischer Theorien und Praktiken rekonstruiert. Ihr Gegenstand
91
ist, um es noch einmal anders zu formulieren, ein kulturelles Gedächtnis, in
dem so geartete Studien zur Konvention gehören, die nur von innen heraus
— eben mit hermeneutischen Mitteln — den Überlieferungsraum vermessen
können. Nicht die Berechtigung dieses Verfahrens steht hier zur Debatte.
Es geht vielmehr um die Frage nach einer kulturanalytischen Alternative, die auch das Auswendige, die vergessenen und verdrängten Diskurse
zu thematisieren vermag, die das stillschweigend als Dominante kultureller
Ordnung vorausgesetzte Gedächtniskonzept auszuschließen droht.
Prinzipien produktiver Erinnerung: Imitation und Variation
Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses scheint eine normative Geltung
des zu Erinnernden einzuklagen. Auswahl und Gewichtung dessen, was im
Gedächtnis haften soll, und die Methode des imitativen Lernens bedingen
einander. Quintilian hat in der Institutio oratoria (Buch X.1) einen literarischen Kanon festgeschrieben, aber er hat den Rhetorikschüler nicht nur
zur Imitatio, sondern auch zum Wettbewerb (aemulatio) mit den großen
Mustern aufgefordert. Die sklavische Nachahmung, ist daraus zu schließen, würde ebenso wie das sklavische Auswendiglernen ein lebendiges Erinnern ersticken. Schon Quintilian spielt, der scholastischen Pedanterie
seines Werkes zum Trotz, auf eine Kunstübung an, die der mnemotechnischen Instanz der imitativen Aneigung den Zugang zur Variation nicht
versperrt. Vielleicht bedarf es nur einer anderen Lesart, um auf Spielräume
in den klassischen Texten zu stoßen, die es nahelegen, die Kulturgeschichte
als einen rekursiven Prozeß zu verstehen, in dem Imitation (Kontinuität)
und Variation (Wandel) zusammenwirken. Eine Vermutung, die im folgenden an Beispielen aus der Renaissance-Forschung zu überprüfen ist.
Zwischen Kanon und Konvention besteht ein enger Zusammenhang.
Dieser steht zur Disposition, sobald ein alter Kanon zugunsten eines neuen
verworfen wird. Im spätmittelalterlichen Italien begann der schöpferische
Umbau konventioneller kanonischer Kunstformen zuerst im Bereich der
architektonischen Künste.28 Vielfältig waren die Motive: Sie schlössen
die polemische Abkehr vom Baustil der Gotik und die Suche nach einer
Formensprache ein, die den Bedürfnissen nationaler Identität entsprach.
Die Wahl fiel auf die Baudenkmäler und Ruinen der römischen Antike.
Mario Carpos Studie Metodo ed ordini nella teoria architettonica erläutert
diesen Kanonwechsel an Texten von L. B. Alberti, Raffael, S. Serlio und
G. D. Camillo. Sein Ausgangspunkt sind jene Fragen, die mit der Lehrmethode auch die Praxis der Baukunst berühren: In welchem Verhältnis
92
stehen Regeln und Exempel? Welche Möglichkeiten und Grenzen hat die
altbewährte Methode der Imitatio? Was nützen Modelle? Was ist eine
Komposition? Welche Funktion erfüllt ein Fragment, ein Zitat? Welche Beziehungen bestehen zwischen Theorie und Praxis? Welche zwischen
Grammatik, Rhetorik, Topik, Poetik? - Alles Fragen, die auch im Kontext
anderer zeitgenössischer Lehrsysteme - der Poesie, der Malerei, der Musik
- von Bedeutung waren.25 Zwar gaben die italienischen Autoren der Architekturlehre verschiedene Antworten, doch einte sie die Suche nach einer
Richtschnur, d.h. einem Kanon, der nicht >nordischen< (Gotik) oder »griechischem (Byzanz) sondern genuin römischen Ursprungs sein sollte. Ein
wohlgemeintes Programm, das in der Praxis jedoch zu einem neuen Stil
gefuhrt hat, in dem sich ältere und jüngere Bautraditionen überlagern.
Vitruvs zur Zeit des Augustus entstandene Schrift De architectum war
auch dem Mittelalter bekannt, zum Kanon avancierte sie aber erst in der
Traktatliteratur der italienischen Humanisten.30 Die humanistischen Kommentare diskutierten vor allem die architektonische, anthropometrisch fundierte Ordnungs- und Proportionenlehre des Römers.31 An erster Stelle ist
hier - nicht zuletzt wegen der weit über Vitruv hinausführenden Systematik - Leon Battista Albertis De re aedificatoria zu nennen, ein Traktat, dem
Carpo das Kapitel »Regole ed ordini« gewidmet hat. Alberti verzichtet in
seiner Abhandlung auf jede bildliche Illustration, konzentriert sich auf die
von der klassischen Baukunst abgeleiteten Regeln und arbeitet mit Methoden, die teils der scholastischen Traktaditeratur, teils der rhetorischen
Inventio nahestehen. Sein Ziel ist nicht der imitierbare visualisierte Kanon, sondern eine architektonische Topik, die dem Benutzer die Freiheit
läßt, die abgeleiteten formalen Regeln je nach Gusto in plastische Baukonstruktionen umzusetzen. Hielt sich die frühhumanistische Imitatio naiv
an die Betrachtung der »stummen Texte« tradierter exemplarischer Werke,
zeigt nun die Theorie, daß diese Werke einem Prozeß rationaler Konzeption und Planung zu verdanken sind (44f.). Der humanistische Traktat
setzt zunächst auf theoretischer Ebene das Prinzip der Variation gegen die
Erstarrung des imitatorischen Konventionalismus und bereitet damit - so
paradox das klingen mag - die Entmachtung des soeben erst kanonisierten
Vitruvius vor. So empfiehlt Alberti seinen Lesern, nicht nur den schwerverständlichen Vitruv, sondern auch die sichtbaren Monumente der römischen Baukunst zu studieren.32 Der kontrapräsentische Rückgriff auf das
>Gedächtnis< der römischen Architektur - so möchte ich Carpos Befunde
verallgemeinern - ist nicht imitatio im Sinne der Wiederholung, sondern
methodisch und zugleich durch Anschauung vermittelt. Albertis Traktat ist
exemplarisch für diese Spielart der literarisch und wissenschaftlich verfah-
93
renden Erinnerungsarbeit. Ihn interessiert nicht die Zweckgebundenheit
der Baukunst, sondern der Möglichkeitssinn verschiedener Lösungen: das
Prinzip der varietas »als Ausdruck menschlicher Individualität«.33
Zwischen 1450, dem Entstehungsdatum von De re aedificatoria, und
1544, dem Erscheinungsjahr von Giulio Camillos Tmttato dell'imitazione,
verschieben sich - wie Carpo zeigen kann - die Schwerpunkte der baukünstlerischen wie auch die anderer Lehrmethoden weiter ins Gebiet wissenschaftlicher Reflexion. Dieser Wandel ist aufs engste mit der Aufwertung der rhetorischen inventio und ihrer Seitendisziplin, der Topik, verknüpft. Wer den literarischen Diskurs über die Konventionen hinaus erweitern will, der imitiert und variiert zugleich auf der Grundlage des Studiums der Quellen und Monumente die klassischen Muster. Imitatio, historische Retrospektion und Modellabstraktionen werden kompatibel; in
allen Künsten verwandeln sich die Schablonen {exempla) in Modelle, die
Modelle in Bilder (35). Carpo beschreibt diesen Wandel als Versuch, die
eingeschliffenen Lehrmethoden abzulösen und die Beziehungen zwischen
Grammatik, Rhetorik und Dialektik - nicht zuletzt in der Baukunst -
pragmatisch zu reorganisieren (34 ff.). Das Resultat dieser Entwicklung
ist zunächst ein Bruch zwischen Norm und Nachahmung, zwischen »System und Exempel« (52). Die Normbildung abstrahiert, das Regelsystem
generalisiert. Die schöpferische Imitation aber verschreibt sich der Intuition und begünstigt den freien Umgang mit den vorgefundenen Mustern. Es
entsteht jener abgeleitete Stil< (J. Burckhardt) der Renaissancekunst, der nur von der Architektur zu reden - weltweite Verbreitung finden wird.
Um die mit dieser Entwicklung verbundenen Konflikte zwischen Herkommen und Neuorientierung zu lösen, versuchen sich die Pädagogen
und Theoretiker des Cinquecento an einer »wissenschaftlichen« Methode der empirischen Analyse, die Carpo mit seinen Autoren als induktive
»tecnica della divisione« bzw. »metodo divisivo« bezeichnet (55). Auch
diese neue Methode hat ihre Vorformen in Antike und Scholastik.34 Aber
sie verfährt, anders als diese, weder deduktiv noch logisch-demonstrativ.
Eher steht sie jenen empirischen Verfahren der Anatomie nahe, die Niccolö Leoniceno in seinen Galen-Kommentaren von 1508 dargelegt und
als methodisch-mnemotechnisches Organon empfohlen hat.35 Kern dieses
Verfahrens ist die anatomische Zerlegung (divisio) des Objekts, des Textes
oder Baukörpers, in die ihn konstituierenden Einzelteile und deren katalogartige Archivierung. Im Anschluß an analytische Operation und kompilatorische Aufzeichnung werden die Teile nach Art und Gattung bzw. Gebrauchsfunktionen klassifiziert und in Stemmata {arbores scientiae) übersichtlich in Ordnung gebracht. Diese Methode, auch »kurzer Weg« {via
brevis) genannt, erweist sich als besonders erfolgreich, da ihr diagramma94
tisches Endprodukt zum Auge spricht und auf beliebige Objektbereiche
anwendbar ist. Bald weit verbreitet und fortschreitend verfeinert, findet sie
Anwendung in der Enzyklopädistik, in der Mnemonik - Camillos »teatro
della memoria« — in Zitatensammlungen, in der Neuen Logik des Petrus
Ramus (58ff.), im Vocabulario der Accademia della Crusca und in Cesare
Ripas Iconologia?6 Sie ist, wie Carpo betont, eine Antwort auf die Suche
nach neuen Kompositionsformen in allen Künsten und für all diejenigen,
die, selbst wenn sie kein Talent besitzen, sich an einem literarischen oder
bildkünsderischen Werk versuchen möchten. Denn sie archiviert wie eine Bibliothek oder ein Kunstkabinett das in Teile und Fragmente, kurz:
das in zitierbare Einheiten zerlegte Gedächtnis der antiken Überlieferung
und stellt es jener ars combinatoria zur Verfügung, die auf das Alte nicht
verzichtet, sondern es wie eine Sammlung dekonstruierter Bausteine unter
Rahmenbedingungen ausbeutet, die einer Befreiung von den Anweisungen
des inhaklich festgelegten Kanons entsprechen.
Sebastiano Serlio aus Bologna, Autor eines in ganz Europa rezipierten,
mächtig nachwirkenden architekturtheoretischen Regelwerks, war mit Giulio Camillo, dem Erfinder jener hermetischen Gedächtniskunst befreundet, die sich selbst als Universalschlüssel zum Geheimnis des ewigen Kosmos und die irdische Welt als »terra oblivionis« verstand.37 In einer Vorlesung mit dem Titel L'idea dell'eloquenza hat Camillo auf komplizierte Weise
eine doktrinale Rhetorik entwickelt, die eine globale »Architektur des Wissens und des Kosmos« schaffen wollte (66). Camillo konstruierte zu diesem
Zweck das Denkbild einer siebenstufigen Treppe, über die die Lehrmetho-
de einer jeden Disziplin von den Einzelerscheinungen zu den Prinzipien
auf- und von dort wieder hinuntersteigen sollte. Carpo interpretiert dieses methodische Auf und Ab als einen Versuch, zwischen den empirischen
Einzelerscheinungen - »ein Repertoire von exemplarischen Texten: Fälle,
Individuen, Ereignisse oder Objekte« (71) - und den Regeln bzw. Normen
einer Wissensdisziplin, hier z. B. der Architekturdoktrin, zu vermitteln.38
Die Einzelerscheinungen werden im Lauf dieses Cursus nach einem »metodo divisivo« (Analyse) zerlegt, der von einem gegebenen Klassifikationsgitter ausgeht; in der Baukunst von Punkten, Linien, Oberflächen, Volumen,
geometrischen Figuren, Bauordnungen und Typen (64). Auf diesen Schritt
folgt die Extrapolation der den Phänomenen zugrundeliegenden Normen
(Formarisierung). Entscheidend ist die Nutzanwendung dieses Algorithmus in der Produktion neuer rhetorischer Figuren, neuer >Texturen< und
Bauordnungen. Hier zeigt die Methode ihre innovativen Qualitäten. Denn
die Applikation der induktiv gewonnen Normen aufs Rearrangement des
gegebenen und klassifizierten Materials ist eine Bedingung für »neue kom-
positorische Synthesen« (72).
95
Camillos Lehrmethode des Auflösens (dissoluzione) und des Wiederzusammenfiigens {ricomposizione) im Sinne der kreativen Umgruppierung
(Konfiguration) hat im 16. Jahrhundert Widersacher, aber auch Nachfolger
gefunden: z. B. in der Poetik Francesco Patrizi, in der Philosophie Petrus
Ramus. Der Architekturtheoretiker Serlio hat, wie Carpo im einzelnen
zeigt, Camillos Verfahren aufgegriffen und zu einer »Rhetorik des Zitierens« vereinfacht. Ergebnis ist ein »architektonisches Lexikon«, das nicht
die Termini der Baukunst verzeichnet, sondern die nach Geometrie, Perspektive und Anordnung klassifizierten Formen sakraler wie profaner Architektur. Dieser visualisierte und leicht zu nutzende Thesaurus sollte den
Benutzer anleiten, die antiken, als Ruinenfragmente vor Augen liegenden,
im »Lexikon« verzeichneten und geordneten Architekturmuster zu memorieren und, je nach Bedarf und Geschmack, permutativ zu neuen Kompositionen zusammenzufügen.39 Serlios Suche nach novitä hat der manie-
ristischen Variation und Kombination scheinbar inkompatibler Formen
den Boden bereitet. Langfristig gesehen hat dieses relativ freie Spiel mit
dem kulturellen Gedächtnis eine Wiederherstellung klassizistischer Nor-
men nicht verhindert, sondern begünstigt.'40
Der hier skizzierte Umbau der Architekturtheorie ist exemplarisch für
eine veränderte Einstellung zur Tradition. Denn die Lehrmethode geht von
der Wechselbeziehung zwischen imitatio und inventio, zwischen anamnetischem Erinnern und vorausdenkendem Projektentwurf aus. Der klassische
Text bzw. das dem entsprechende Architekturfragment gilt gleichsam als
Archetyp, als ein zeitresistentes Monument, dessen normative Geltung die
Epoche allmählich historisch relativiert, indem es das Wie und Warum
untersucht und die Materialien nicht nur konserviert, sondern nach wissenschaftlichen Kriterien neu anordnet. Die benutzerfreundliche Archivierung und systematische Re-Konfiguration dieses kulturellen Gedächtnisses, die von der Reproduktionstechnik der Buchdruckerkunst begünstigt
wurde, stand der Suche nach individuellen Stilen nicht im Wege. Im Gegenteil: Sie hat es den Künsdern erleichtert, sich in ein freies Verhältnis
zur Macht (auctoritas) des Gedächtnisses zu setzen. Denn methodische
Zergliederung, Klassifizierung und Archivierung sind geeignet, die Gegenstände in Distanz zu halten, sie nicht nur als imperativische Monumente (Erinnerungszeichen), sondern auch als erklärungsbedürftige Studienobjekte wahrzunehmen. Die Distanz erst macht den Künsder frei. Sie
fördert die Lizenz, sich vom Gewicht der kulturellen Tradition zu entlasten,
ohne mit ihr brechen zu müssen. Sie kann unter dieser Voraussetzung im
kulturellen Gedächtnis aufgehoben werden.
So paradox es klingt: Die Verwandlung der handwerklichen Imitatio in ein propädeutisches Fach der Künstlerausbildung ist zugleich eine
96
Funktion der Standardfestlegung, nämlich der Kanonisierung. Dafür sind
typisch: die besonnene Auswahl unter der Masse des Überkommenen, die
Klassifizierung (jedes Muster eine Klasse für sich) und Exklusivität (»Schließung« des Kanons).*1 Nur das Beste, betonen die Lehrmeister immer wieder, ist nachahmenswert und daher im artistischen Gedächtnis aufzubewahren. Mnemotechnik, Selektion, Reflexion und Phantasie müssen daher
- wie Mary Pardo in einer Studie über Leonardo da Vincis Lehrmethode
zeigt - zusammengehen.42
Das »visuelle Gedächtnis« des Schülers der Malkunst hat in den Renais-
sancetheorien den Status einer Kontrollinstanz. Es hält während des imitativen Studiums der kanonisierten Modelle das fest, was in der bildenden
Kunst der Schrift am nächsten kommt: die Zeichnung (disegno) der Körper
und Figuren. Doch Leonardo geht es nicht um die bloße Reproduktion. Er
empfiehlt dem Schüler das Studium und die Imitatio verschiedener Meisterwerke, um ihn zu eigener Urteilsbildung zu nötigen (Pardo, 53 ff.). Der
entscheidende Schritt auf dem Weg zur Meisterschaft aber ist die Anschauung, das Kopieren nach der Natur. Hier endlich bleibt das Gedächtnis
hinter dem Vermögen der Einbildungskraft (imaginatio) zurück, die Bewegung der wahrgenommenen Dinge zu registrieren und vor das innere,
bildschaffende Auge zu rücken (62fE). Und auch dieses Vermögen stößt
noch an Grenzen, wenn es um das höchste Ziel der Malerei geht: die freie
und dennoch organische Komposition der Bewegungsfiguren auf dem Tableau.
Leonardos Methode besitzt - das zeigt Pardos Studie - einen eminent reflexiven Zug, der die aristotelische Gedächtnispsychologie in ihre
Schranken weist, so als wolle die neue Methode sich von jener moralischen
Kontrolle der Phantasie befreien, die im Mittelalter das Zusammenspiel
zwischen memoria und imaginatio beherrscht hat. Der Aufstand gegen die-
se Tradition hat den Maler und Ingenieur immer wieder veranlaßt, den
Bedingungen künstlerischer und technischer Kreativität auch auf materiellem, lies: physiologisch-anatomischem Boden nachzuforschen. Wie in den
pädagogischen Theorien der Baukunst spielt auch hier die kritische Lektüre
der medizinischen und naturphilosophischen Schriften Galens eine katalysatorische Rolle.43 Sie hat offenbar jene Methodologie bestärkt, die auf
induktivem Weg von der - sei es formalen, sei es empirischen — Analyse
der Einzelphänomene über die Prinzipien der Synthesis zu einem veränderten Bild der Wirklichkeit fortschreiten sollte. Doch nicht der Szientismus
ante litteram ist das Bemerkenswerte an dieser Entwicklung, vielmehr der
Versuch, das visuelle Gedächtnis in eine innerweltliche Kosmosvorstellung
zu integrieren. So entspricht in Leonardos Theorie die kompositorische
Synthesis im Malakt einem komplizierten Zusammenspiel zwischen Auge,
97
Hand und Seelenvermögen, dessen leitende Idee Harmonie heißt und das
sich in letzter Instanz der Erklärung entzieht. Das Ziel, die HarmonieIdee bildlich zu realisieren, gibt der Malerei die Berechtigung, sich an die
Stelle der rhetorischen Mnemonik zu setzen, um deren Beschränkungen
zu überwinden. Sie selber erhebt nun den Anspruch auf eine Kunst der
Erinnerung, die das sinnlich Wahrgenommene in einen selbstgeschaffenen
Kosmos übersetzt und zugleich vom Betrachter eine eigenständige, nämlich
ästhetische Rezeptionshaltung verlangt (S. 68). Die Figur des Künstlers erscheint in dieser Perspektive bereits als Demiurg einer von ihm geschaffenen diesseitigen neuen Welt, die sich kategorisch vom Gedächtnis der alten
Weltbilder unterscheidet.
Das Veralten tradierten Wissens kennzeichnet einen Bruch mit der
Überlieferung, der in der frühen Neuzeit verschiedene Antworten herausgefordert hat. Das »advancement of learning« (Francis Bacon), Motot
der naturwissenschaftlichen Theoriebildung und experimentellen Praxis im
16./17. Jahrhundert, führt zu einer positiven Bewertung des Vergessens
und zur Polemik gegen Bücher- und Traditionswissen. Aber wie so oft war
auch diese Polemik nichts anderes als eine rhetorische Verallgemeinerung,
die das übersah, was Paolo Rossi als einen komplizierten, die Renaissancekultur insgesamt charakterisierenden Rapport zwischen »riscoperta degli
antichi« und »senso del nuovo« beschrieben hat. Eine Verknüpfungsstelle
zwischen Altem (antiquitas) und Neuem liegt gewiß in jener für die Moderne typischen Neugier, die Welt im ganzen der menschlichen Erkenntnis
verfügbar zu machen. In ihr liegt letztenendes auch ein Motiv dafür, die
Antike nicht nur restaurativ wiederherzustellen, sondern sie als die Ausprägung einer scheinbar vollendeten Kultur zu bewahren, zu deuten und
zu erklären. Das ist eben nicht dasselbe wie jene »Rezeption«, als deren
locus classicus die komplette Überschreibung eines eigenen durch ein anderes, nämlich durch das römische Rechtssystem gilt. Die methodische
Aneignung der Antike durch die Humanisten und Renaissancekünstler ist
schon Aus-einander-Setzung, deutende Um-Schreibung und anamnetische
Arbeit im Namen jener »kontrapräsentischen Erinnerung«, die nicht eine,
sondern mehrere Traditionen unterscheidet und eine Wahl trifft. Der eu-
ropäische Humanismus entschied sich gegen das Mittelalter und für die
Antike, eine Entscheidung, die in nachhaltiger Weise auch die noch lebendigen mittelalterlichen Traditionen umstrukturiert hat. Nichts belegt
besser die Wechselbeziehung zwischen Assimilation und Distanznahme als
die von dieser Epoche ausgehende historische Periodisierung, die zwei historische Vergangenheiten - Altertum und Mittelalter - mit der Gegenwart
einer neuen Zeit konfrontiert.
Ein Begleiterscheinung der Renaissance war die Illusion, die Ungleich98
zeitigkeit zwischen Altertum und Gegenwart durch einen Akt der Wiedergeburt überwinden zu können. In Wahrheit stellt dieser Akt die Ungleichzeitigkeit überhaupt erst her. Historisierend vertieft die anamnetische Erinnerung die Unterschiede zwischen inkompatiblen Lebenswelten und ruft
Formen der Vermittlung hervor, die - in the long run - in die bewahrende
und auslegende Arbeit der Kulturwissenschaften einmünden.
Topographien
Das Gedächtnis räumlich vorzustellen — als Palast, Magazin, Speicher, Taubenschlag usw. — gehört zu den ältesten Konventionen und scheint mit der
Rückübertragung konkreter mnemotechnischer Kunstgriffe ins unzugängliche Bewußtsein zusammenzuhängen. Ein Raum wird abgezirkelt oder
ein bereits architektonisch eingehegter Raum ausgewählt, um in ihm an
bestimmten Stellen {locis) Zeichen - Skulpturen, Bilder (imagines) u. a.
— zu errichten, die ihrerseits wieder für andere — Abstrakta, Lehr- oder
Merksätze, Texteinheiten etc. - stellvertretend sind. Auf diese Weise entsteht ein teatrum memoriae oder auch ein moderner Gedenkraum: ein
Stadt-Platz mit einem Monument im Zentrum; ein Museum mit einem
ausgeklügelten Wege- und Zeigesystem; ein Park mit Grotten, Statuen,
Gewässern, Labyrinthen und Spazierwegen; eine begeh- und lesbare Landschaftsgestaltung an den historischen Orten der Siege und Niederlagen, des
Heroismus und Grauens...
Simon Schama hat ein gewichtiges Buch über die in Landschaften eingeschriebene Erinnerung vorgelegt. Das Werk ist ein geräumiges, mit üppigem Bildmaterial und lebendigen Erzählungen reichhaltig gefülltes Musee
imaginaire, in dem der Leser die Wahl hat, seinen Lektüregang im »Wald«
(Part one), am »Wasser« (Part two), hoch auf dem »Fels« (Part three) oder
inmitten des arkadischen Ensembles dieser landschaftlichen Elementarlehre (Part four) zu beginnen.
Den Eingang zu diesem aus mancherlei Wunderkammern zusammengesetzten Magazin bilden kurze autobiographische Erzählungen, Erinnerungen an Knaben- und Jünglingslektüren (Kipling, Conrad) des Autors
am Themsestrand und an solche Schulrituale wie das Basteln eines Lebens-
baums für den Garten Eden im Neuen Zion. Diese Eröffnung schlägt bereits die Themen an, mit denen der Autor in den folgenden Kapiteln seiner
Inventur Schritt zu halten sucht. Im Brennpunkt der Betrachtungen stehen die Beziehungen zwischen Landschaft und Mythen-Kartographie, zwischen Landschaft und Literatur, Kunst und nationaler Identitätsbildung;
mit einem Wort: Wirklichkeit als symbolische Gestalt.45 Formal gesehen
99
geht es in diesem Buch episodisch zu, dem Erzähler aber ganz und gar
nicht um wiederaufgelegte Klagegesänge angesichts der Verluste natürlichwilder Ressourcen durch Jahrhunderte währenden Raubbau und konsequente Umweltdestruktion. Sein Ziel ist vielmehr eine »andere Wahrnehmung« (14), die das historische Bildgedächtnis aktiviert, weshalb der Autor
- meist mit breitem Pinsel - die Mythen und Geschichten ausmalt und illustriert, die bestimmten Landschaften lesbare, also interpretationsbedürftige Texturen eingeschrieben haben.
Zwar geht die Untersuchung auf die konventionelle, mit der antiken
Rhetorik eng verknüpfte mnemotechnische Einsicht in die analogischen
bzw. metaphorischen Beziehungen zwischen Landschaftstopik (loci) und
Gedächtnisbildern (imagines) nicht ein. Sie versteht sich vielmehr als eine »Archäologie« der in Landschaften und Naturreservaten verborgenen
Symbol- und Bedeutungsstrata, die bis ins Urgestein archaischer Überlieferungen vordringen will, um Vergessenes wieder freizulegen. Es ist die
Ambivalenz - die Mischung aus Konsumlust und Todesfurcht, das Nebeneinander von Rationalität und Primitivismus -, die Schama mit Aby
Warburg (vgl. 17 f. u. 213 f.) an den in der westlichen Kultur vielfältig
bezeugten Obsessionen für die Natur als Ressource, Metapher und sakralen Kultort, als Arkadien oder Mysterium fasziniert. Was liegt daher näher,
als die Archäologie dort zu beginnen, wo der gewöhnliche Verstand ins
Zwielicht gerät, »in des Waldes Geheimnis«, wo nach Schillers Worten
»auf einmal die Landschaft [... ] entflieht« (Der Spaziergang, v. 23)? Der
farbige Schutzumschlag des Buches lenkt den Blick auf einen dunklen, undurchdringlichen Altdorferschen Eichenwald, in dem der Repräsentant des
christlichen Ordo, der Hl. Georg, dem klassischen Emblemtier des vorzivilisatorischen Chaos, dem Drachen, begegnet. Ist der Wald, wie es auch
der allegorische Beginn von Dantes Divina Commedia nahelegt, ein Bild
für die sündhafte Nacht der Gottesvergessenheit?
Schama nennt ihn den ältesten Europas, den Wald von Bialowieza im
polnischen Litauen. Er hat ihn besucht, um die Landschaft seiner jüdischen Vorfahren mit eigenen Augen zu sehen. Die Reise erfährt er als Initiation in die schwierige Kunst, mit den Körpersinnen die Gedächtnissprache
der Landschaft zu ertasten. Es ist, gemessen am Normalweg philologisch-
historischen Quellenstudiums, »ein Umweg«, der sich indessen als nützlich entpuppt, da er den im Buchstabieren geübten Blick darüber belehrt,
daß in Landschaften wie in einem geologisch gestaffelten Palimpsest die
(Ge)Schichten nicht zeitsukzessiv, sondern räumlich gehortet sind und das
Nebeneinander der Phänomene die Zeitdifferenzen unerheblich werden
läßt. Die Wälder Litauens sind freilich stumm. Doch an schütteren Stellen sind Mnemotope für Gedenkrituale inszeniert: Gräber der Kriegstoten,
100
Kreuze, Massengräber der von den Hitler- und Stalinschergen massakrierten Namenlosen; sieht- und tastbare Erinnerungszeichen. Die Bedeutung
solcher Orte ist nicht selten dem literarischen Imaginaire zu verdanken;
etwa dem polnischen Nationalepos Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz, einem prophetischen Text, in dem die polnische Nationalidee Schutz unter
den Bäumen von Litauens Wäldern findet (56f.). Mit den Gräbern der
Partisanen und Deportierten ist die metaphorische Rede in den Raum eines der Andacht bestimmten Theatrum memoriae übergegangen: »Their
memory had now assumed the form of the landscape itself« (25).
Ohne erzählende Texte — ob mündliche oder schriftliche, imaginative
oder historische — wäre es nicht möglich, Landschaften semasiologisch wie
Erinnerungsskripte wahrzunehmen und zu entziffern. Das Medium des
Gedächtnisses, die Sprache, hat schon die Ordnung des Zeichenlesens fixiert, noch bevor der Interpret sich einbilden kann, die Materie (der Landschaft) spreche eine >andere Sprachen Schama schreibt in der Einleitung:
»Before it can ever be a repose for the senses, landscape is the work of
the mind. Its scenery is built up as much from strata of memory as from
layers of rock« (6 f.). Die >andere Sprache< ist, wie das Zitat belegt, metaphorischer Natur. Und es ist die Vorentscheidung für die metaphernreiche
Rede, mit deren Hilfe der Autor das alte methodologische Problem umgeht, aufweiche Weise sinnlich wahrnehmbare Monumente (Landschaften,
Bilder, Denkmäler etc.) als historische Dokumente gelesen bzw. interpretiert werden können, ohne daß sich der Forscher in einen circulus vitiosus verstrickt.^6 Die Metapher, von der immerhin die Rhetorica Novissima
(1235) des Boncompagno da Signa behauptete, sie sei eine Erfindung des
irdischen Paradieses, überbrückt den kategorialen Abgrund zwischen Bild
und Begriff. Wird eine bestimmte Landschaftsformation als »Geistesformation« (work ofthe mind) etwa im Sinne einer heiligen Ursprungslegende
>gelesen<, so meldet sich jedoch hartnäckig die Frage nach Art und Herkunft der eine solche Lesart erleichternden Quellen. Das vorliegende Buch
verfährt in diesem Punkt nicht nach den Regeln wissenschaftlicher Orthodoxie, sondern nutzt vielerlei für wechselseitige Auslegungen: gemalte und
gestochene Bilder, Archivalien, Fundstücke, Forschungsliteratur, Fotografien, Poesie, Plakate, Postkarten, mündliche Berichte. Doch stellt es immer wieder dieselben Fragen: Was sagt das Material über die Mythisierung
der Landschaft? Welche Funktion erfüllt der so geschaffene symbolische
>Text< in der Ökonomie des kollektiven Gedächtnisses; oder metaphorisch
gefragt: für die »kulturelle Aufforstung« (cultural affbrestation) des gesellschaftlichen Bewußtseins?
Im Licht der Schamaschen Episodik erscheinen die landschaftlichen
Elemente manchmal als resonante Bildkonstrukte wohlbekannter Nado-
lol
nalanschauungen und -stereotypen. Das gilt vor allem für die Wald-Kapitel,
die in diesem Punkt besonders ergiebig und daher vergleichsweise umfangreich ausgefallen sind: Da erscheint der Wald der Deutschen (75 ff.) als
fataler »Holzweg«, der von der Tacitus-Rezeption über »Arminius redivivus« bis zur angst vor dem »Waldsterben« fuhrt;47 the liberties ofthe greenwood gelten als englische Spezialität (135ff.), und in Amerika gibt sich die
enteignete Wildnis der Wälder (Yosemite) als das Gelobte Land für demokratische Träume zu erkennen (185 ff".).
Liefert der Wald die passenden Bilder für Territorialmythen, so eignet sich besonders das Wasser der Quellen und Flüsse, um Zeitvorstellungen symbolisch und mythisch zu imaginieren: Zirkulation und Linearität sind die einfachsten Vorstellungsmuster, übertragbar auf Naturzeit und historische Zeit, auf politische Machtwechsel, Lebens- und Todeszyklen. Schama erläutert solche symbolischen Wechselspiele an Texten und an archäologischen Resten der frühen Zweistromkulturen und
- zentrales Paradigma ist der Nil - des antiken Ägypten, aber auch unter Rekurs auf die großen Autoren der griechisch-römischen Klassik, auf
die der jüdisch-christlichen Überlieferung, nicht zuletzt auf die Texdandschaften der italienischen Renaissance. »Föns sapientiae« (268) ist eines
der Kapitel überschrieben. In ihm beginnt der Autor eine unterhaltsame,
lehrreiche Fahrt durch die bildliche Wassermythologie der Jahrhunderte,
die sich vom Mosaik der Nilüberschwemmung im Fortunatempel in Palestrina (um 80 u. Zt.) über die Fantasien der Hypnerotomachia Poliphili
(1499) und - etliche Kurzaufenthalte bei einigen Brunnenbildhauern und
-designern in Florenz, Rom und anderswo nicht gerechnet - bis zu Berninis
obeliskgekröntem, ägyptisch-römisch-christlich-exotischem Gesamtkunstwerk »Fontana dei Fiumi« (1651) auf der Piazza Navona erstreckt (289 ff.).
Dieses mäandernde Spurenlesen im kulturellen Gedächtnis der Texte
und Bilder, das in diesem Teil den flüssigen Elementen (metaphorice dictum: »streams of consciousness« & »bloodstreams«) gewidmet ist, kommt
zum Halt an den Themse-Ufern britischer Agyptomanie und hebt erneut
auf einem anderen Kontinent und dort auf Felsgestein an: Mount Rush-
more. Was den Briten Ägypten, war dem Bildhauer Borglum Alexander
der Große; Schama präzisiert: der antike Architekt Dinocrates, über den
Vitruv berichtet, er habe Alexander vorgeschlagen, den Berg Athos mit
Hammer und Meißel in die Statue des Königs umzuwandeln. Die Legende - erzählt Schama - wirkt weiter, regt die Fantasie bildender Künstler an
und wird in der Architekturtheorie zum Prüfstein der zwischen Maß und
Hybris die Mitte einhaltenden Proportionslehre. Aber allemal spektakulär
und von großer Bedeutung für das Verhältnis des Menschen zur >wilden<
Natur ist die Idee, sie materialiter nach seinem Bilde zu modeln.
102
Dieser Wunsch ist die Quelle für die Gestaltung - und dazu gehört
bereits die Namengebung — der rohen, scheinbar gestaltlosen und insofern
sehr oft als bloß stofflicher Widerstand erfahrenen Materie. Um das immer noch reichhaltiger illustrieren zu können, führt Schama den Leser auf
Berggipfel, in Schluchten, Grotten und Höhlen, zu Göttersitzen und in
die Gefahrenzonen der Alpinisten; hier folgt er mit dem Maler Alexander
Cozens Hannibals Alpenüberquerung, hier Petrarca auf den Mont Ventoux; bald zeigt er Kalvarienberge, bald zitiert er den Genuß des »heiligen
Schreckens« der Walpole und Gray in luftiger Höh.
Schamas Wanderung durchs Musee imaginaire westlicher Text- und
Bildlandschaften endet in der aus der Fantasie des Städters geborenen Gegenwelt des irdischen Paradieses, in Arkadien, das zweierlei Gepräge zeigen
kann: Idylle und Wildnis (517 ff.). Des Autors Schrift- und Augen-Zeugen
in dieser Abteilung heißen unter anderm Vergil, Plinius, Sannazaro, Sidney, Poussin, Thoreau, seine Monumente sind u. a. die Wälder Fontainebleaus und die Palmenhäuser des 19. Jahrhunderts. In Arkadien ist die
Landschafts-Imagination endlich ganz bei sich selbst. »It is the bog in our
brain and bowels,« lautet der letzte Satz des Gedächtnismagazins, ein Zitat und also auch Sammlerstück, »the primitive vigor of Nature in us, that
inspites that dream.«^8
Wo der westliche Zivilisationsmensch seit der Antike in Wort, Bild
und Architektur eine vermeintliche Opposition zwischen Natur und Kultur behauptet, dort widerspricht Simon Schama und plädiert - Ketzerei
des Historikers und Überzeugung des historischen Anthropologen - für
die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zugespitzt formuliert lauten seine Hauptthesen:
Erstens: Die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation (wie die zwischen
Vergangenheit und Gegenwart) richten sich nicht nach den Gesetzen der
Exklusion, sondern nach denen der Osmose.
Zweitens: Die Wahrnehmung des einen wie andern ist niemals frei von
dem, was Schama formelhaft unter »myth & memory« zusammenfaßt. Wo
immer also der Mensch die >reine<, >wilde< oder >rohe< Natur zu erkennen
glaubt, hat er sie schon durch die Brille jener symbolischen Gestaltungsprinzipien wahrgenommen, die ihm das kulturelle Gedächtnis auf dem
verschlungenen Weg alter und neuer Literatur- und Bildtraditionen vererbt hat.
Wo aber die Grenzen zwischen Bild und Begriff, zwischen Symbol und
Objekt vetfließen, scheint sich der Autor zu sagen, dort ist es auch angebracht, den metaphorischen und narrativen Elementen der Rede ein größeres Recht einzuräumen als der Abstraktion und begrifflichen Bestimmtheit.
103
Eine Theorie des »kulturellen Gedächtnisses«
Die Metapher der Wiedergeburt zitiert den Tod und dieser den dunklen
Grund, den die Mnemotechnik zu überbrücken sucht. So jedenfalls erzählt
es die Gründungslegende, die Ciceros De oratore dem Gedächtnis der eu-
ropäischen Literaturen überliefert hat.45 Liest man diese Erzählung als
metaphorischen Kommentar, so kommt eine eigentümliche Konjunktion
zwischen Traditionsbruch - versinnbildlicht im zusammengestürzten Versammlungshaus — und Totengedenken — versinnbildlicht in den mithilfe
der Sitzordnung (loci) wiedererinnerten Bildern (imagines) der unter den
Trümmern begrabenen Mitglieder der Festgemeinde - ans Licht. Das etwa durch innere oder äußere Katastrophen verschuldete plötzliche Dahinschwinden einer älteren Kulturformation und des mit dieser identischen
Wertehorizonts stellt jede Gemeinschaft vor die Frage, auf welche Weise
die Gegenwart mit den Erfahrungen und dem Wissen der untergehenden
Welt umgehen soll. Eine Frage, die, weit über den bloß technischen Rahmen der Mnemonik hinaus, kulturtheoretische Probleme sehr allgemeiner
Art berührt.
»Die ursprünglichste Form, gewissermaßen die Ur-Erfahrung jenes
Bruchs zwischen Gestern und Heute,« heißt es in Jan Assmanns epochemachender, interdisziplinär und kulturvergleichend angelegter Untersuchung Das kulturelle Gedächtnis, »in der sich die Entscheidung zwischen
Verschwinden und Bewahren stellt, ist der Tod.«50 Assmann begreift das
Weiter- oder Nachleben der oder des Toten (im personalen wie kollekti-
ven Sinn) nicht als eine selbstverständliche symbolische Fortexistenz, sondern als einen bewußt gegen das Vergessen inszenierten »Akt der Belebung«
durch das Kollektiv. Die Symbole des >Weiterlebens< müssen erst geschaffen, ihre Verwendungsregeln erst gesetzt oder vereinbart werden. Wo dieses Ineinandergreifen von zeitüberbrückender Mnemotechnik und sozialer
Imagination fehlt, läßt sich kaum von Kultur, geschweige denn vom »kulturellen Gedächtnis« reden.
Es ist Assmanns Absicht, diesen Mechanismus der Kontinuitätserzeugung, dem sich nichts weniger als das Identitätsbewußtsein einer Gesellschaft verdanken soll, im Rahmen einer »allgemeinen Kulturtheorie« zu
diskutieren (19). Im Zentrum dieser Kulturtheorie stehen nicht die sim-
plen didaktischen Regeln der rhetorischen Ars memorativa. Ihr Erklärungsobjekt sind vielmehr die komplizierten Relationen zwischen — so der Un-
tertitel - »Schrift, Erinnerung und politischer Identität in frühen Hoch-
kulturen«, Relationen, die sich im Begriff des »kulturellen Gedächtnisses«
überschneiden. In vier beeindruckenden Fallstudien vergleicht Assmann
die Leistungen dieses »kulturellen Gedächtnisses« für die »Erfindung des
104
Staates« im alten Ägypten (167 ff.), für den »Zusammenhang zwischen
Recht und Erinnern« in den Keilschriftkulturen (231 ff), für die »Erfindung der Religion« in Israel und für die »Disziplinierung des Denkens« in
Griechenland. Der Begriff der »Erfindung« verweist schon in der verkürzten Form der Zwischentitel auf den erheblichen Anteil, den Assmanns
Theorie dem Imaginaire am Prozeß der Zivilisation zubilligt (133 ff.).
Die erste Hälfte dieses so reichhaltigen Buches enthält eine Theorie des
kulturellen Gedächtnisses, deren kulturgeschichtlicher Innovationswert in
den anschließenden Fallstudien Relief gewinnt. Kritischer Ausgangspunkt
ist für Assmann das Nebeneinander zweier moderner Forschungsrichtun-
gen, von denen die eine, die wissenssoziologische Position, den Durchbruch zur Zivilisation im ersten vorchristlichen Jahrtausend aus dem Auftreten neuer intellektueller Eliten und Weltdeutungsmuster erklärt, während die andere, die mediengeschichtliche Position, den Zivilisationsprozeß auf die Evolution der Schriftsysteme zurückführt.51 Assmanns Untersuchung will diese Richtungen zusammenführen. Er unterscheidet zu
diesem Zweck im Begriff der Kultur zwischen normativen und narrativen
Merkmalen: »Regeln und Werte« einerseits, »die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit« andererseits (17). Beide Modi sichern
durch Rekurs auf Früheres den Zusammenhalt - in Assmanns Terminologie die »konnektive Struktur« - einer sozialen Ordnung, unterscheiden
sich aber von Gesellschaft zu Gesellschaft in der Beschaffenheit der jeweils
geltenden kollektiven Erinnerungspraktiken. Diese sind vielfältig, reichen
vom mimetischen Handeln über die selbstgeschaffene Dingwelt und den
Spracherwerb bis in die institutionellen Räume, in denen sie von Spezia-
listen auf relative Dauer gestellt werden: Rituale, Denkmäler, Zeremonien, Schrift, Auslegung. Sie bieten, wie die beiden Seiten ein- und derselben Münze, subjektive und objektive Ansichten der »Kultur«, insofern
sie Sinn und Identität einer kollektiven Lebensform zugleich schaffen und
zu sichern imstande sind. Erst mit der mnemotechnischen Organisation der Schriftkultur, so Assmanns Hauptthese, gelingt es aber, die SinnÜberlieferung von der direkten Kommunikation abzukoppeln. Es entsteht
so ein, von der gruppeninternen Sinnzirkulation aus gesehen, materiellsemiotischer Bereich der kontrapräsentischen Bewahrung auslegbarer Vor-
stellungs- und Bedeutungswelten, das in Kontakt bzw. Konflikt mit den
jeweils aktuellen Selbstbildern des Kollektivs treten kann: das kulturelle
Gedächtnis. Dieses externe Gedächtnis »speist Tradition und Kommunikation, aber es geht nicht darin auf« (23).
Anhand des Kanonbegriffs und der Kanonbildung, um diese zentralen
Punkte herauszugreifen, erläutert Assmann die Funktionen des im Medium der Schrift beheimateten kulturellen Gedächtnisses. In einem auf105
schlußreichen Kapitel rekonstruiert er zunächst die Genese sowie den Bedeutungs- und Funktionswandel des Kanonbegriffs (103 ff)- Das griechische Wort hatte zunächst mit Schrift nichts im Sinn, bezeichnete es doch
das »Richtscheit« oder »Lineal« des Architekten und Baumeisters. Die
ursprüngliche semantische Verbindung mit den Maß- und Stabilitätsansprüchen der Tektonik ist noch in der Übertragung auf andere Kunstformen lebendig, etwa in den von Galen, Plinius und zahlreichen andern antiken Autoren überlieferten Kunstregeln des Polyklet und dessen als sichtund greifbarer »Kanon« rezipiertes Bildwerk Doryphoros?2 Eine metaphorische Übertragung des Begriffs auf ethische, politische, artistische u. a.
Problemlagen in der antiken Welt ließ nicht lange auf sich warten. Der
gemeinsame Nenner all dieser, über variierende Diskurse zerstreuten Gebrauchsweisen umschließt — mit einem Wort Max Webers - »die Eingestelltheit auf das Regelmäßige* und einen universellen, d. h. situationsabstrakten Geltungsanspruch der zugrundeliegenden Orientierungsfunktionen.53
Was die Metaphorisierung andeutet - der >Bau< einer Lebensform nach
Maßgabe der tektonischen Richte - das bezieht Assmann verallgemeinernd
auf Typen der »Kultur«, die ihren Zusammenhalt, ihre Identität, schriftkulturellen Mnemotechniken verdanken.54 Wie jede Identität bildet und
erhält auch die des Kollektivs sich unter Bedingungen des Ein- und Ausschließens. So kann ein kultureller Kanon in der Gestalt konkreter Normierungen auftreten, die auf einer Skala zwischen den Extremen systematischen Vergessens (Zensur) und fundierender Letztbegründung (Kanon der
Vernunft) ihren Ort haben. In jedem Fall zieht der Kanon eine Grenze:
zwischen erlaubt und verboten, zwischen heilig und profan, zwischen wert-
voll und wertlos, zwischen vernünftig und unvernünftig und verspricht
eben dadurch Orientierung. Der Modus wertsetzender Selektion, der das
eine aus der Kultur aus-, das andere in sie einschließt, wird in solchen Situationen verschärft, in denen die Auflösung alter Verbindlichkeiten die
Gegenwart mit Orientierungslosigkeit bedroht.
Innerhalb der von Assmann kultursemiotisch und -soziologisch erweiterten Grenzen steht »Kanon« als ein abgeleitetes Wertsystem über den
selbstverständlichen Normen alltäglicher kultureller Praxis, da das von ihm
umschriebene Prinzip ein Ideal (der Vollkommenheit: 116) kodifiziert, an
dem sich die Vergesellschaftung einer Gruppenidentität zu orientieren hat.
Als eine solche »Norm zweiter Ordnung«55 steht »Kanon«
- für die »Grammatik« der spätägyptischen Kultur, verkörpert im Ritus
und in der wie ein Buch mit Schrift übersäten monumentalen Tempelarchitektur der Epoche;
106
— für die hodegetische Mnemotechnik Israels, bezogen auf den Kanon des
Kanons und die exegetische Monokultur des geheiligten Textbestandes;
- für die (wissenschaftliche) Disziplinierung agonistischer Strukturen in
der Schriftkultur Griechenlands, die - unter den Bedingungen dauernd
möglichen Wiederanknüpfens (hypoleptisches Prinzip) an »klassische«
Texte — zum Medium der Wissensevolution geworden ist.
In allen genannten Hochkultuten, so Assmanns These, antwortet die Kanonbildung auf den Zusammenbruch des >Hauses< der alten, auf den Fundamenten des Ritus und unbefragter Traditionen gebauten Kultur. Der
durch je verschiedene endogene oder exogene Ursachen herbeigeführte Tra-
ditionsbruch in der einen oder andern Sozialordnung zwingt diese da-
zu, um der Selbsterhaltung willen besondere Kompensationsstrategien und
Deutungsmuster zu entwickeln. Das führt nicht zur bloßen Erhaltung der
Tradition, vielmehr zu ihrer Aufhebung in ein neues Selbstbild, das Assmann als eine »Steigerungsform kollektiver Identität« interpretiert (134 ff.;
193). Die Tradition wird »reflexiv«; will sagen: Sie wird in der Bedeu-
tung kontrapräsentischer Erinnerung in Distanz gebracht, und es entsteht
jene »symbolische Sinnwelt«, die es erlaubt, kategorisch zwischen der »naturwüchsigen« und einer Kultur zweiter Ordnung zu unterscheiden.56 Die
Kultur zweiter Ordnung ist gegenüber den naturwüchsigen Formationen
durch institutionell gesicherte und symbolisch vermittelte Praktiken der Integration, im Sinne der Identitätsbildung, und Distinktion, im Sinne einer
Abgrenzung nach außen, ausgezeichnet. Beide Funktionen manifestieren
sich in den Organisationsstrukturen eines schriftkulturellen Gedächtnisses, das über den Traditionsbruch hinweg Kontinuität zu bewahren sucht,
ohne die Erfahrung des Bruchs wegzuzaubern. »In Israel ist es die Erinnerung einer dissidenten Gruppe [...], die sich im Zeichen der Distinktion
auf die Torah gründet. Die zentrale Erinnerungsfigur ist die Geschichte
einer Auswanderung, einer Sezession, einer Befreiung aus der Fremde. In
Griechenland ist es die gemeinsame Erinnerung vieler zerstreuter Gruppen, die sich im Zeichen der Integration auf die Ilias stützt. Die zentrale
Erinnerungsfigur ist die Geschichte einer Koalition, eines panhellenischen
Zusammenschlusses gegen den Feind im Osten« (273).
Wohl ist es ein Kennzeichen der Kanonbildung, zugleich mit der Kodi-
fizierung des Gedächtnisses auf der Grundlage eines »fundierenden Textes«
oder Textkorpus die Autorität des Kanons durch Schließung sicherzustellen. Die Frage ist jedoch, warum ein solcher Kanon über die Zeit seiner
Fixierung hinaus Autorität bewahrt. Auf diese Frage gibt Assmann zwei
Antworten. So erläutert er u. a. am Beispiel der Homerischen Epen, daß
diese selbst teilhaben an der Reorganisation der Kultur, indem sie einer
107
vom Untergang bedrohten Gesellschaft, der des »heroischen Zeitalters«,
Gestalt und Stimme geben. Diese Epen sind nicht nur, wie es zugespitzt
heißt, »Rekonstruktion von Vergangenheit«. Es gelingt ihnen auch, die
»Summe der Überlieferung in ein Werk völlig neuen Typs ein[zu]bringen«
(275). Die Vergangenheit wird an der Schwelle ihrer Auflösung, so könnte
man zusammenfassend sagen, nicht nur erinnert, sondern im Prozeß der
Textualisierung auch erschaffen. Sie wird zur interpretierten Vergangenheit,
die das Stigma der Umbruchszeit trägt, deren in der formalen Gestalt des
Gedichts gelungene Überwindung selbst noch in späteren Jahrhunderten
als ein vollendetes Sinnzeichen in Erinnerung gerufen werden kann.
Assmanns zweite Antwort erläutert die Erinnerung an Homer in der
Perspektive der »Klassik« und des »Klassizismus«. Diese Erinnerung setzt
im 4. Jahrhundert v. u. Zt. ein, in der Zeit eines Traditionsbruches, der alle
Mittelmeerkulturen ergreift. Die darauf antwortende Reorganisation des
kulturellen Gedächtnisses, orientiert sich - wie Assmann vermutet (277) eher an ösdichen als an griechischen Modellen der schriftzentrierten Mnemotechnik. War die »große Tradition« der Homerischen Epen im 6. Jahrhundert ein Produkt »zeremonieller Kommunikation« (rhapsodischer Vor-
trag im Rahmen der panathenäischen Spiele und panhellenischen Feste), so
begründen nun die alexandrinischen Philologen eine »Buch- und Lesekultur«, in deren Zentrum der »professionalisierte« Umgang mit Texten, nicht
zuletzt mit dem kanonisierten Korpus der Homer-Epen steht.57 In diesem
Milieu entfaltet sich »eine neue und andere Kultur, die von Alexandria aus
auf die griechische zurückblickt. Die Welt der Literatur scheidet sich in >die
Alten< {hoipalaoi, antiqui) und >die Neuen< {hoi neoteroi, modernt), und es
ist die Dialektik der Innovation, die das Altertum konstituiert« (278). Hier
steht »Altertum« für eine philologisch und mnemotechnisch auf Dauer gestellte Überlieferung, die vergangen ist und dennoch als »klassische« dem
historischen Relativismus die Stirn bieten kann. Diese Entwicklung begreift Assmann als Innovation, weil sie auf der Grundlage kultureller Kontinuität über den Traditionsbruch hinweg die soziale Kohärenzbildung von
rituellen Praktiken löst, um an ihre Stelle literarische Praktiken zu setzen:
Der Text, nicht die Schrift, rückt in den Mittelpunkt der Kulturgeschichte.
Das kulturelle Gedächtnis wird damit frei für die oben beschriebenen Prozesse des Wederanknüpfens (Hypolepse) und der Variation jener Inhalte,
die es in Form situationsunabhängiger Texte aufbewahrt. Jetzt erst sind die
Bedingungen geschaffen, um jene literarischen Kanones zu fixieren, denen
das Prädikat »klassisch« zugesprochen werden kann. Das gilt es festzuhalten: Nicht die Rezeption im Sinne des Aneignens, sondern der aus der
Kulturkrise geborene Akt erinnernden Wiederanknüpfens entscheidet über
108
die Gestalt dessen, was als universell anschlußfähiger, nämlich »klassischer«
Textkanon in Geltung bleibt.
Was in Alexandria geschieht, hat eine fast zeitgleiche Parallele in der he-
bräischen Kultur. Wird in der griechischen Kultur Homer zum »Kristallisationskern« des Klassikerkanons, so spielt dort die Torah eine vergleichbare
Rolle (279). Beide Entwicklungen stehen in Kontakt, und beide schaf-
fen die Bedingungen für jenes zeitresistente textuelle Gedächtnis, an das
spätere Epochen um der Kontinuität willen wieder anknüpfen werden: das
kulturelle Gedächtnis des säkularen »Abendlandes« an die griechische Klassik, das der Christen und Muslime an die hebräische Bibel (280). Dieser
Schritt vom Geltungsbereich der gelebten Tradition zur bewußten Stiftung
eines literarischen Kanons als Medium soziokultureller Neuorientierung
verläuft gleichwohl in den genannten Kulturen unterschiedlich. Denn in
Griechenland besteht nicht der von der Religion ausgehende Zwang zur
Festschreibung eines einzigen, von Priestern überwachten, widerspruchsfreien Kanons. Hier begünstigt die Literarisierung vielmehr die Gesetze
der streitbaren Auslegung, die nicht nur zur weiteren Kulturdifferenzierung, sondern auch zur Ausbildung autonomer kritischer Diskurse beitragen. Die nun entdeckte Möglichkeit, kritisch auszuwählen, setzt ein
kodifiziertes, institutionell eingehegtes Wissen voraus; mit anderen Worten: ein mnemotechnisch organisiertes »Gedächtnis«, das sich im Medium
von literarischen Klassifizierungen, intertextuellen Beziehungen und ästhetischen (nicht religiösen) Diskursen entfalten kann. Zwar verändert allein
schon das Aufschreiben den präsentischen Zeithorizont, da es die Möglichkeit schafft, durch Auswahl und Kanonisierung die Gegenwart an dieser
oder jener im Gedächtnis der Schrift aufbewahrten Vergangenheit teilhaben zu lassen. Doch erst die von den Griechen entwickelte Mnemotechnik
hat die absolute Verbindlichkeit des kanonisierten Textbestandes abgebaut
und die Kanonbildung dem Wandel unterworfen. Seitdem sind die Geltungsgründe traditional legitimierter Sinnbestände wie diese selber offen
für Kritik. Das vom Klassikerkanon Ausgeschlossene fällt nicht dem kategorischen Imperativ der damncttio memoriae zum Opfer, sondern steht,
sozusagen abgeschattet, für künftige Renaissancen zur Verfügung (121).
Die Wirkungen dieser Innovation, resümiert Assmann, dauern an und
bestimmen »die konnektive Struktur unserer eigenen Kultur, das kulturelle
Gedächtnis der westlichen Welt, bis heute« (300). Die oben beschriebenen Untersuchungen über die mittelalterlichen und humanistischen Anknüpfungen an die antike Literatur scheinen dem Recht zu geben. Sie
könnten darüber hinaus Anlaß sein, die These vom Traditionsbruch als
Ausgangspunkt für eine Reorganisation des kulturellen Gedächtnisses an
109
den europäischen Gesellschaften des 12. Jahrhunderts und der frühen Neuzeit zu überprüfen.58
Medien des Gedächtnisses und
kulturwissenschaftliche Erinnerungsarbeit
Assmanns allgemeine Kulturtheorie korrigiert mit guten Gründen die Auffassung, schon die Evolution bestimmter Schriftsysteme habe einen kulturellen Wandel herbeigeführt.59 Der Kulturbegriff bezeichnet in seiner Konzeption die Organisation jenes Wissens, das die Identität gesellschaftlicher
Formationen garantiert.00 Dieses, etwa in der Form des Mythos narrativ,
in kanonischen Texten präskriptiv codierte Wssen verscharrt der Gruppe den »Gemeinsinn«, auf den sie ihre Selbstdefinitionen stützen kann
(S.140ff). Eine Bedingung sind entsprechende Formen öffendicher Repräsentation: Inszenierungen im Medium ritueller, zeremonieller oder textzentrierter Handlungen. Diese Formen bedürfen der Institutionalisierung
und der Herausbildung kulturtragender Eliten, die zur Produktion, Reproduktion und Zirkulation des sinnstiftenden Wissens beitragen. Je komplexer eine Gesellschaft, desto stärker die Tendenz zur sozialen Differenzierung zwischen kultur-repräsentativer Elite und Kollektiv, so daß nicht nur
von einer integrativen, sondern auch von einer dissoziierenden Funktion
der Kultur die Rede sein muß. Es bedarf daher, um die identitätsbildende
Kraft der »Kultur« zu sichern, ihres Heraustretens aus der »habitualisierten
Selbstverständlichkeit« (S. 151). Sie muß objektiv werden im materiellen
Sinn der Verfügbar- und Sichtbarkeit. Und genau diese objektivierende
Fixierung bezeichnet der Begriff des »kulturellen Gedächtnisses«, der freilich die grundsätzliche Ambivalenz der so »integrativ gesteigerten Kultur«
nicht aufhebt, da auch diese zur Produktion von nach außen wirkenden
Feindbildern eingesetzt werden kann (S.124 ff).
Assmanns Entwurf rückt Kultur und Gedächtnis eng zusammen. Die
beiden Zentralbegriffe - »Kultur« und »Gedächtnis« - sind keine historischen, sondern theorieabhängige Konzepte, die den Vorteil haben, daß sie
nicht nur passive, sondern auch aktive Kompetenzen umschreiben.61 Die
altehrwürdige, auf antike Quellen zurückgehende Auffassung vom Magazin oder Speicher des Gedächtnisses wird zwar nicht ganz aufgegeben, aber
entschieden erweitert. »Erinnern« steht im Rahmen der von Assmann skiz-
zierten mnemotechnischen Organisation für eine bedeutungs-, ja kulturstiftende Kompetenz, deren »griechische« Variante das Wechselspiel zwischen Kontinuität und Wandel ausdrücklich einschließt.
110
Problematisch erscheint mir indessen die Verbindung ritueller Identitätsstiftung mit dem Zwang zur möglichst »abwandlungsfreien Wiederholung« (S. 89). In Assmanns Theorie bildet diese den GegenbegrifF zu
jener »Textualität« des schriftkulturellen Gedächtnisses, die durch variierendes »Wiederanknüpfen« immer wieder - um im Bildfeld zu bleiben
— neue, wenn auch nicht fremde Webmuster möglich macht. Die Mnemotechniken eines kulturellen Systems schließen jedoch die mechanische
Repetition aus, versteht man sie - wie ich vorschlagen möchte - generell
als ein Zusammenwirken zwischen Anamnese und Mnemosyne. Rituelle
Handlungen mit symbolischer Konnotation sind selten als bloße Wiederholungen gedacht. Vielmehr bestätigen sie - >als wäre es das erste Mal< die kollektive Ordnung, indem sie, Initiationsriten sind ein prominentes
Beispiel, auf paradoxe Weise die Dialektik von Anarchie und sozialer Kontrolle zur Darstellung bringen. In der Aussageperspektive philosophischer
Verallgemeinerung: »la repetition est la difference sans concept.«
Der begriffsfernen, nämlich bildzentrierten und rituellen Konstruktion
soziokultureller Erinnerung haben Susanne Küchler und Walter Melion ein
interdisziplinäres Projekt gewidmet, dessen Ziel eine »kulturübergreifende
Gedächtnistheorie« ist. Im Einleitungskapitel des von ihnen edierten Sammelbandes Images of Memory, der philosophische, kunsthistorische und
ethnologische Studien zusammenfaßt, erläutern sie den interdisziplinären
Rahmen ihres Forschungsprogramms. In dessen Mittelpunkt steht die Frage, welche Formen und Funktionen die über Generationen geübte Weitergabe (transmission) von Bilddarstellungen in verschiedenen Kulturen zeigt.
Methodisch gesehen sollen bildliche Repräsentationen auf die spezifischen
Handlungskontexte der einzelnen Kulturen bezogen und die Funktionen
sowohl der »Kanonbildung« (kunsthistorische Perspektive) als auch der
»sozialen Kohäsion« (ethnologische Perspektive) in das Spiel einer wechselseitigen Auslegung gebracht werden. Ausgangspunkt ist die Hypothese, daß durch »image production« die Wechselbeziehung zwischen Erinnerungsprozeß und Kulturentwicklung nachhaltig gesteigert werde (2 ff.).
An diesem komplizierten Prozeß interessiert die hier zu Wort kommende Forschung nicht in erster Linie die durchgehaltene Topik, sondern die
bedeutungsbildende Differenz, die in der Transmission der visuellen Artefakte innerhalb eines kulturellen Systems aufbrechen kann.
Dieses Forschungsprogramm wendet sich entschlossen vom passiven
Gedächtnismodell ab, um folgende Prämissen zu statuieren (7):
1. »memory« bezeichnet eine soziokulturelle Konstruktion;
2. es operiert dynamisch und entfaltet seine aktive Kraft über das Medium
bildlicher Repräsentationen;
111
3. alle Formen kollektiven Erinnerns (recollection) sind historisch bedingt
und daher von dem, der sie verstehen will, zu kontextualisieren;
4. Vergessen und Erinnern sind als korrelative Funktionen zu betrachten, da das kollektive Gedächtnis um der soziokulturellen Bestimmtheit (Standardisierung) willen eine Wahl treffen muß, die das NichtRelevante ausschließt resp. methodisch vergißt.
Der Katalog lenkt den Blick auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten
zwischen den kunsthistorisch-anthropologischen und den oben abgehandelten historisch-philologischen Forschungsperspektiven. Gemeinsam ist
beiden die Betonung der aktiven, der bedeutungs-, kulturkonstitutiven
und vergesellschaftenden Funktionen kollektiven Erinnerns im Rahmen
eines kulturhistorischen Erklärungsmodells, das Kontinuität und Wandel
bedenkt. Indessen gewichtet die amerikanische Forschungsgruppe stärker
die innerhalb der Tradierungsprozesse auftretenden Verschiebungen, die
historisch-philologische Richtung (Coleman; Assmann) stärker die kontinuitätsstiftenden Funktionen. Am auffallendsten aber ist die unterschied-
liche Wahl der Erinnerungs-Medien: Hier ist es die Schrift-, dort die
Bildkultur.63
Man geht sicher nicht fehl, wenn man die mnemonischen Funktionen der visuell wahrnehmbaren Artefakte und Praktiken (Ritual, Tanz) im
Zivilisationsprozeß genauso hoch einschätzt wie die Evolution der Schriftkultur. Und doch liegt es auf der Hand, daß diese Funktionen sich mit dem
Übergang von einem schriftlosen zu einem schriftkulturellen System entscheidend verändern. Festrituale, in deren Zentrum Bildwerke oder Tänze
stehen, regulieren den Wechsel zwischen sozialer Distanz und Partizipation naturgemäß in weitaus direkterer Weise als der wie immer szenische
Vortrag (Lesung, Schauspiel) von Texten, die auch unabhängig von der
direkten Kommunikation aktualisiert werden können. Das zeigen auch
die Untersuchungen in Images of Memory. Auf der einen Seite stehen die
innerhalb einer entwickelten Schriftkultur entstandenen Bilder mittelalterlicher, neuzeitlicher und chinesischer Malerei.64 In diesen Fällen ist
die produktive Spannung zwischen Schrift und Bild nicht zu übersehen.
Nicht nur die handwerkliche Bildherstellung, auch die Formen und Leistungen sowohl des visuellen Gedächtnisses als auch der symbolischen Ko-
difizierung sind in diesen Fällen in ähnlicher Weise über Texttraditionen,
Musterbücher und Lehrsysteme (z. B. der Rhetorik und Hodegetik) vermittelt wie der kontrapräsentische Kanonwandel, der die Erfindung der
Renaissancearchitektur begleitet hat. Auf der anderen Seite stehen jene
Untersuchungen, die sich solchen mnemonischen Funktionen szenischer
und zugleich bildlicher Darstellungen widmen, die dem von Assmann beschriebenen Typus der »rituellen« oder »zeremoniellen Kommunikation«
112
zuzurechnen sind.65 In diesen Fällen beruhen die bildlichen Herstellungsprozesse und rituell aktualisierten Funktionen auf mündlicher Tradierung
und auf der unmittelbaren kinästhetischen Partizipation des Kollektivs im
Moment der Aufführung. Das kollektive Gedächtnis kennt hier nicht die
räumliche und zeitliche Distanz zu einer Vergangenes dokumentierenden
und doch immer wieder aktualisierbaren, weil latent gegenwärtigen Textwelt. Es konstitutiert sich vielmehr nach dem Rhythmus der vom rituellen Kalender vorgeschriebenen Performances über die Modi der sinnlichkörperlichen Erfahrung.
Mir scheint, daß die hier verglichenen Konzepte einander nicht ausschließen, sondern ergänzen. Natürlich ist Assmann historisch im Recht,
wenn er mit der entwickelten Schriftkultur eine neue Form der kulturellen
Mnemotechnik heraufziehen sieht. Im Rahmen einer allgemeinen Kultur-
theorie beanspruchen anderseits auch diejenigen Formen der Gedächtnisbildung einen festen Ort, die mit visuellen, ja allgemein sinnlichen Erfahrungen in Zusammenhang stehen.615 Soll der Satz »Durch Erinnerung wird
Geschichte zum Mythos« (Assmann, 52) Allgemeingültigkeit beanspruchen,
so muß »Erinnerung« — wie das einer vormodernen rhetorischen Tradition
entsprach — mit der bildschaffenden Kraft, mit der Imagination, zusammengedacht werden. Denn die zeichenschaffende Arbeit der Imagination
ist es, die eine bloße Reproduktion des in die Gegenwart gerufenen Inhalts verhindert. Unter dieser Voraussetzung ist Erinnerung schon »eine
Stufe der >Reflexion<«, da sie die Inhalte »als etwas Vergangenes und dennoch für [das Bewußtsein] selbst nicht Verschwundenes im Bilde vor sich
hinstellt.«67 Die kognitive Semantik geht noch darüber hinaus. Denn sie
behauptet — Mark Johnson weist daraufhin — die Fundierung bildschematischer Wahrnehmungsmuster in körperlichen Erfahrungen und begreift
diese sogar als Substrat für alle Leistungen symbolischer und intellektueller
Abstraktion. 8 Von dieser Seite bedarf, wie mir scheint, Assmanns Kulturtheorie der Ergänzung. Immerhin ist die Bildwelt Griechenlands zu einem
der antiken Schriftkultur mindestens ebenbürtigen Anknüpfungspunkt für
die europäische Kunst- und Kulturentwicklung geworden.
Die Erinnerungsarbeit der historisch-philologisch verfahrenden Kulturwissenschaften, das mögen die hier diskutierten Forschungserträge gezeigt haben, ist Teil der Kultur, die sie erklärt. So decken sich weitgehend die von Assmann an den frühen Umbruchstellen der okzidentalen
Kulturgeschichte abgelesenen Prinzipien der Textualität, des hypoleptischen
Wiederanknüpfens und der kontrapräsentischen Erinnerung mit den noch
heute in den historisch-philologischen Disziplinen gültigen Normen. Gewiß, unter den Bedingungen der modernen Medienrevolution und transkulturellen Überschneidungen verstehen sich diese Disziplinen nicht mehr
113
als Hüter oder gar Erneuerer des Kanons.® Und dennoch weben sie eine Kultur dritter Ordnung - unter Anwendung der genannten Prinzipien weiter an jenem Textkontinuum, das dem kulturellen Gedächtnis der
westlichen Gesellschaften zugrunde liegt, und tragen die Erinnerung an die
»klassische Tradition« weiter.
Gibt es eine Alternative? Michel Foucault hat sie, denke ich, mit
dem Hinweis auf den ethnologischen Blick angedeutet. Die kulturanthropologischen Studien in Images of Memory haben nicht das Gedächtnis
der eigenen, sondern fremder Kulturen zum Gegenstand. Sie sind we-
niger der Geschichtsschreibung als der sozialwissenschaftlichen Beobach-
tung verpflichtet und können daher mit dem Kontinuitätsparadigma der
historisch-philologischen Wissenschaften wenig anfangen. Überträgt man,
was Foucaults Hinweis nahelegt, diese Einstellung auf die Erinnerungsarbeit an der eigenen Kultur, so hat das Folgen, die auf eine Verfremdung des
habituell verfestigten kulturellen Gedächtnisses hinauslaufen. Die »klassische Tradition« erscheint dann nicht mehr als selbstverständlich Gegebenes, und die Geschichtsschreibung nähen sich dem, was Paul Veyne
einmal die »Wissenschaft der Differenzen« genannt hat.70 Ein derartiger
Perspektivwechsel ist möglich, wenn die theoretische Fiktion des unendlich anschließbaren Textkontinuums gegen die theoretische Fiktion eines
zwar unüberschaubaren, aber an jeder beliebigen Stelle zugänglichen symbolischen Gewebes ausgetauscht wird. Textualität ist im Rahmen der »in-
terpretive anthropology«, auf die ich hier anspiele, nicht schriftkulturell
definiert, sondern Metapher für die analytische Lesbarkeit diverser kultureller Praktiken im Kontext sozialen Handelns - gewissermaßen Kritik am
konventionellen Textmodell durch Erweiterung seiner Grenzen. Die Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft legt den Grund für eine
differenzierende Interpretation, die von der Spannung, nicht aber von der
Kongruenz beider Institutionen ausgeht. Auch methodisch kehrt die »interpretive anthropology« die Verfahren der historisch-philologischen Kon-
ventionen um, indem sie nicht von Traditionen, sondern von dem ausgeht,
was Clifford Geertz »local knowledge« nennt.71 Unter dieser Bedingung
fällt der ethnologische Blick zunächst auf das mikrologische Detail des zu
beschreibenden Textmusters, um, von dort ausgehend, nach und nach befremdliche Zusammenhänge zu entdecken, für die das Pathos der »Großen
Tradition« blind ist.
Die hier angedeutete Alternative mag eines deutlich machen: Sie
nimmt nicht Abschied von jenen Errungenschaften der mediengeschichtlichen Revolution, die Jan Assmann am Beispiel der achsenzeitlichen Hochkulturen beschrieben hat. Lesbarkeit und Textualität liegen auch ihrem
Selbstverständnis zugrunde, werden aber mit dem Ziel der Verfremdung
114
umkodiert, umgruppiert oder - um einen Schlüsselbegriff Foucaults zu
verwenden - neu konfiguriert. Die Alternativen liegen demnach, so möchte
ich schließen, im kulturellen Gedächtnis selbst. Sie müssen nur gesucht
werden.
Anmerkungen
1 Vgl. z. B. folgende Sammelbände: R. Herzog/R. Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987 (insbes. die Beitr. von Fuhrmann, Herzog, Meier); W. Vbßkamp (Hg.): Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart/Weimar 1993; H. Flashar (Hg.): Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995.
2 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 464. —
Zum Funktions- und Bedeutungswandel der thematischen Konzepte vgl. die von
mir hrsg. Anthologie Die Erfindung des Gedächtnisses (Frankfurt/M. 1991) und
meinen Artikel »Gedächtnis und Erinnerung«, in: Vom Menschen. Handbuch
Historische Anthropologie, hg. v. C. Wulf, Weinheim/Basel 1997, S. 738-744.
3 I. Rosenneid: The Invention of Memory. A New View of the Brain, New York
1988.
4 P. Rossi: »La scienza e la dimenticanza«, in: Iride VIII/14 (1995), S. 157, zitiert
u. a. Francis Bacon: »Scientia ex naturae lumine petenda, non ex antiquitatis ob-
sucritate repetenda est. Nee refert quid factum fuerit. Illud videndum quid fieri
possit.« Die ars oblivionis ist im Grunde nichts anderes als eine listige Variante der
ars memoriae. Das belegt u. a. das schöne Buch von H. Weinrich: Lethe. Kunst
und Kritik des Vergessens, München 1997.
5 P. Rossi: II passato, la memoria, l'oblio. Sei saggi di storia delle idee, Bologna
1991, S. 155 ff.
6 »Wissenschaftliches Gedächtnis« verwende ich in der Bedeutung von »konttapräsentischer Erinnerung« nach G. Theissen: »Tradition und Entscheidung. Der
Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis«, in: Kultur und
Gedächtnis, hg. v. J. Assmann/T. Kölscher, Frankfurt/M. 1988. Theissen spricht
zwar die »kontrapräsentische« Funktion dem zu, was er das »kulturelle Gedächtnis« nennt: »Kulturelles Gedächtnis hält konttapräsentisch fest, was ohne die bewußte Anstrengung der Erinnerung verlorenginge. Das von ihm Erinnerte muß
nicht aktuell sein, kann aber immer wieder aktuell weiden« (171). Diese Beschreibung möchte ich aber nur für die Art der Gedächtnisbewahrung gelten lassen, die
im Sinne des historischen Bewußtseins den Zeilenabstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart reflektiert.
7 Hinweise auf die kultur- bzw. sprachwissenschaftlichen Beiträge zur >Erfindung< von Nationalismen bei B. Anderson: Imagined Communities. Reflections
on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.
115
8 Vgl. zur Geschichte dieses Deutungsmusters die Untersuchung von G. Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters,
Frankfurt/M. 1994.
9 Thepast is aforeign country lautet der Titel eines Buches von David Löwenthal
(Cambridge 1985).
10 Zur legitimatorischen Funktion kultureller Muster für die Anwendung und
Aufrechterhaltung physischer und struktureller Gewalt vgl. den systematischen
Aufriß von J. Galtung: »Cultural violence«, in: Journal of Peace Research 27/3
(1990), S. 291-305, und den Beitrag von A. und J. Assmann »Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns«, in: J. Assmann/D.
Harth (Hg.): Kultur und Konflikt, Frankfurt/M. 1990, S. 11-48.
11 Vgl. auch den interessanten, vom Generationenabstand ausgehenden Erklärungsversuch J. Assmanns in seiner unten genannten Untersuchung (Anm.13,
S.21ff.).
12 »Quali interrogativi la scienza pone alla filosofia? Conversazione con Massimo
Cacciari«, in: P. Alferi/A. Pilati (Hg.): Conoscenza e compiessitä, Rom/Neapel
1990, S. 164. Zur permanenten Um-Schreibung des kulturellen Gedächtnisses in der modernen Philosophie vgl. den Sammelband Philosophical Imagination
and Cultural Memory. Appropriating Historical Traditions (hg. v. P. Cook, Durham/London 1993), dessen Titel und Einleitung hinter der nützlichen, von Theissen (Anm. 6) vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen »Tradition« und »kulturellem Gedächtnis« zurückbleibt.
13 Im Zentrum stehen folgende Publikationen: J. Coleman: Ancient and medieval memories. Studies in the reconstruction of the past, Cambridge: UP 1992
(XX+646 S.); M. Carpo: Metodo e ordini nella teoria architettonica dei primi moderni: Alberti, Raffaello, Serlio e Camillo, Genf: Droz 1993 (226 S.); S. Schama:
Landscape and Memory, New York: Knopf 1995 (652 S.)j S. Küchler/W. Melion (Hg.): Images of memory. On remembering and representation, Washington/London:Smithsonian 1991 (265 S.); J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis.
Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München:
Beck 1992 (344 S.).
14 Vgl. insbesondere P. Rossi: Clavis Universalis. Arti mnemoniche e logica com-
binaroria da Lullo a Leibniz, Mailand/Neapel 1960.
15 Das gilt nicht nur für Colemans Studien, sondern auch für die Untersuchung
von Mary J. Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval
Culture, Cambridge 1990.
16 S. meinen Forschungsartikel »Geschichtsschreibung«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. G. Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 832-870.
17 Carruthers (Anm. 15), S. 222 ff.
18 John of Salisbury: Policraticus, hg. v. C. C. J. Webb, Oxford 1909, Prolog.
Vgl. auch die (von Coleman nicht erwähnte) ausführliche Untersuchung von P.
von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike
116
zur Neuzeit und die historiae" im Policraticus Johanns von Salisbury, Hildesheim
1988.
19 M.-D. Chenu: La Theologie comme science au XIHieme siecle, Paris 1957,
S. 15 ff., 37 ff.
20 P. Ricoeur: »Le temps raconte«, in: Revue de Metaphysique et de Morale 89/4
(1984), S. 448.
21 S. Colemans Kritik an den Thesen Peter Burkes: op. cit., S. 563 ff.
22 Vgl. P. Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart 1990, S. 45 ff.
23 Dazu S. Settis: »Continuitä, distanza, conoscenza. Tre usi dell'antico«, in: S.
Settis (Hg.): Memoria dell'antico nell'arte italiana, Bd. III, Turin 1986, S.373-
486.
24 Zur Sakralierung eines verpflichtenden Kanons durch die Kirche s. Assmann
(Anm. 13), S. 116 ff.
25 Zit. nach J. B. Metz: »Erinnerung«, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. v. H. Krings/H. M. Baumgartner/C. Wild, Bd. 2, München 1973,
S. 388. Zahlreiche Bibel-Belege für die imperativische Mnemonik der jüdischchristlichen Glaubensdoktrin zitiert J. Le Goff: »Memoria«, in: Enciclopedia Einaudi VIII, Turin 1979, S. 1081 ff. Vgl. allgemein J. Le Goff: Histoire et memoire,
Paris 1986.
26 Zur sozialen und politischen Funktion der Gedächtniskultur im Mittelalter
s. die Einzelstudien in: Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. v. D.
Geuenich u. O. G. Oexle, Göttingen 1994.
27 Zur theoretischen Grundlegung M. Foucault: L'archeologie du savoir, Paris 1969. Paradoxerweise greift Foucault zur Kennzeichnung der wissenschaftli-
chen Gegenstandskonstitution jenseits von Text- sowie hermeneutisch erschließbaren Sinngestalten (= »document«) auf den Begriff des »monument« zurück, um
das Forschungsobjekt aus der konventionell unterstellten geistesgeschichtlichen
Dienstleistung zu entlassen.
28 Vgl. E Burke: Tradition and Innovation in Renaissance Italy. A Sociological
Approach, [o. O.] 1974, S. 340.
29 Zur Verschiebung der ars musica von der mittelalterlichen Zahlenlehre zur
humanistischen Poetik, von der imitatio zum ingenium, vgl. K W Niemöller:
»Zum Paradigmenwechsel in der Musik der Renaissance. Vom numerus sonorus
zur musica poetica«, in: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter
zur Neuzeit, hg. v. H. Boockmann et al., Göttingen 1995, S. 187-215.
30 L. A. Ciapponi: »II >De Architectura di Vitruvio nel ptimo Umanesimo«,
in: Italia medievale e umanistica 3 (1960), S. 95 ff. L. Callebat: »La Tradition
Vitruvienne au Moyen Age et ä la Renaissance. Elements d'Interpretation«, in:
International Journal of the Classical Tradition 1.2 (1994), S. 3-14.
31 F. Zöllner: Vitruvs Proportionsfigur. Quellenkritische Studien zur Kunstliteratur des 15. und 16. Jahrhunderts, Worms 1987.
117
32 L. B. Alberti: De re aedificatoria, hg. v. M. Finoli u. P. Portoghesi, Mailand
1966, Bd. II, S. 441. Vgl. C. Thoenes: »Anmerkungen zur Architekturtheorie«,
in: Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti
bis Michelangelo, hg. v. B. Evers, München/New York 1995, S. 28-39; H.-W.
Kraft: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart,
München 31991,S. 47 ff.
33 Kraft (Anm. 32), S. 49.
34 Zur Anwendung der divisio in der mittelalterlichen Sakralkunst s. W. Kemp:
»Visual Narratives, Memory, and the Medieval Esprit du System«, in: Küchler/Me-
lion(Anm. 13), S.87ff.
35 N. Leoniceno: In libros Galeni greca in latinam linguam a se translatos prae-
fatio communis, Venedig 1508. Zur Rolle Galens in der Ausbildung methodischen Denkens vgl. N. W. Gilbert: Renaissance Concepts of Method, New
York/London 1960, S. 3 ff.
36 Zu den über Carpo hinausgehenden Beispielen vgl. L. Bolzoni: »II gioco delle
immagini. L'arte della memoria dalle origini al Seicento«, in: La Fabbrica del Pensiero. Dan"Arte della Memoria alle Neuroscienze [Ausstellungskatalog], Mailand
1989, S. 22 ff.
37 S. Serlio: Regole generali di architettura sopra le cinque maniere degli edifici,
Venedig 1537/1551. Zu Camillo vgl. P. Rossi (Anm. 14) und L. Bolzoni: II teatro
della memoria. Studi su Giulio Camillo, Padua 1984.
38 Zur kosmologischen Bedeutung dieser Transformation der antiken Mnemotechnik im Werk Camillos und Giordano Brunos vgl. E Rossi (Anm. 5) S. 15.
39 S. auch die Studie von L. Olivato: »Dal teatro della memoria al grande teatro
deU'architettura: Giulio Camillo e Sebastiano Serlio«, in: Bollettino del C. I. S. A.
XXI (1979), S. 233-252.
40 Vgl. zur weiteren Entwicklung Kraft (Anm. 32), S. 80 ff.
41 Jan Assmann (Anm. 13, S. 107) unterscheidet vier Gebrauchsweisen des Ka-
nonbegriffs: »Maßstab, Richtlinie, Kriterium; Vorbild, Modell; Regel, Norm; Tabelle, Liste«.
42 M. Pardo: »Memory, Imagination, Figuration: Leonardo da Vinci and the
Painter's Mind«, in: Küchler/Melion (Anm. 13), S. 47-73.
43 M. Kemp: »II concetto dell'anima in Leonardos Early Skull Studies«, in: Jour-
nal of the "warburg and Courtauld Institutes 34 (1971), S. 129 ff. S. auch M.
Pardo, op. cit., S. 220.
44 P. Rossi (Anm. 5), S. 164.
45 Schamas Interpretationsansatz in diesem Buch steht, auch wenn er keinen
Lärm darum macht, jener ikonographischen Schule nahe, deren systematisches
Fundament Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen gelegt hat. Im
übrigen schließt das Buch an eine historiographische Forschungstradition an, die
in England mit Trevelyans Name verbunden ist. Zum Vergleich mit einem ganz
118
anderen, nämlich vegetationshistorisch ausgerichteten Forschungsansatz bietet sich
an: Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit
bis zur Gegenwart, München 1995.
46 Vgl. zum Methodischen den nach wie vor lesenswerten Aufsatz von Carlo
Ginzburg, auf dessen englische Übersetzung Schama im Bibliographie Guide sei-
nes Buches (621) verweist: »Da A. Warburg a E. H. Gombrich. Note su un
problema del metodo«. In: Studi Medievali VII (1966), S. 1015 ff.
47 »Ach, lieber Gott!« möchte Rezensent zusammen mit dem vom Autor auf
Seite 236 erfundenen Chor der Deutschen ausrufen, wenn er ebd. auf einen Satz
wie den folgenden stößt: »Herder was by far the most adamant and eloquent voiee
raised on behalf of the sacred and tribal continuities of Deutschtum.« Auch wenn
Gott den Urhebet eines dicken Buches nicht vor allen »Holzwegen« bewahren
kann, so ist doch nicht zu leugnen, daß hier der Autot vor lauter »Wald« die
Bäume nicht sieht. Denn Herder war kein Nationalist und noch viel weniger ein
Deutschtümler.
48 R. L. Rothwell (Hg.): Henry David Thoreau: An American Landscape, New
York 1991, S.126f.
49 Cicero: De oratore, 11.86.351 ff.: Dicunt enim, cum cenaret Crannone in
Thessalia Simonides apud Scopam fortunatum hominem et nobilem cecinissetque id catmen, quod in eum scripsisset, in quo muita ornandi causa poetarum
more in Castorem scripta et Pollucem fuissent, nimis illum sordide Simonidi dixisse se dimidium eius ei, quod pactus esset, pro illo carmine daturum; reliquum
a suis Tyndaridis, quos aeque laudasset, peteret, si ei videretur. Paulo post esse
ferunt nuntiatum Simonidi, ut prodiret; iuvenis stare ad ianuam duo quosdam,
qui eum magno opere evocarent; surrexisse illum, prodisse, vidisse nemimen: hoc
interim spatio conclave illud, ubi epaluretur Scopas, coneidisse; ea ruina ipsum
cum cognatis oppressum suis interisse: quos cum humare vellent sui neque possent obtritos internoscere ullo modo, Simonides dicitur ex eo, quod meminisset
quo eorum loco quisque cubuisset, demonstrator unius cuiusque sepeliendi fuisse; hac tum re admonitus invenisse fertur ordinem esse maxime, qui memoriae
lumen adferret. (Man etzählt nämlich, Simonides habe zu Krannon in Thessalien
bei Skopas gespeist, einem reichen und vornehmen Mann, und dort ein diesem
gewidmetes Gedicht vorgetragen, in dem er - wie das so Dichterart ist - um der
Ausschmückung willen auch viele Worte über Castor und Pollux verlor. Dar-
aufhin habe der überaus geizige Skopas zu Simonides gesagt, er werde ihm nur
die Hälfte des vereinbarten Honorars zahlen, die andere möge er sich gefälligst
von den Tyndariden besorgen, die er zu gleichen Teilen mit Lob bedacht habe.
Kurz darauf, heißt es weiter, habe man Simonides gemeldet, er möge vors Haus
kommen, es warteten am Tor zwei junge Männer, die ihn dringend zu sprechen
wünschten. Er habe sich erhoben und sei hinausgegangen, habe aber niemanden gesehen. Unterdessen sei der Versammlungsraum, in dem Skopas tafelte,
eingestürzt und habe ihn mitsamt den Seinigen unter den Trümmern begraben
und zugrunde gerichtet. Als die Angehörigen dann die Toten bestatten wollten,
hätten sie die verstümmelten Leichen überhaupt nicht identifizieren können. Da
soll Simonides, indem er sich den Sitzplatz eines jeden in Erinnerung rief, jeden
119
einzelnen fiir das Begräbnis bezeichnet haben. Durch dieses Ereignis belehrt, so
erzählt man, habe er herausgefunden, daß es vor allem die Ordnung sei, die dem
Gedächtnis ein Licht aufstecke.)
50 J. Assmann (Anm. 13), S. 33.
51 Für die erstgenannte Position vgl. z. B. S. N. Eisenstadt (Hg.): Kulturen der
Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt, 2 Bde., Frankfurt/M. 1987; für die
andere die Arbeiten von E. A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet
als kulturelle Revolution, Weinheim 1990, und J. Goody: The Logic of Writing
and the Organisation of Society, Cambridge 1986.
52 Vgl. insbes. die Beiträge von E. Berger und H. Philipp in: Polyklet. Der
Bildhauer der griechischen Klassik, hg. v. H. Beck et al., Mainz 1991. S. auch W.
G Moon (Hg.): Polykleitos, the Doryphoros, and Tradition, Madison, WI/Lon-
don 1995.
53 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, S. 188.
54 »Die Kanonmetapher postuliert zugleich mit der Konstruktivität der Welt —
der Mensch als Baumeister seiner Wirklichkeit, seiner Kultur und seiner selbst
— die Letztinstanzlichkeit und Hochverbindlichkeit der Prinzipien, denen solche
Konstruktion sich unterwerfen muß, wenn das >Haus< Bestand haben soll.« (Assmann, op. cit., S. 127)
55 Zur Definition des Kanons als »Norm zweiter Ordnung« s. D. Conrad: »Zum
Normcharakter von >Kanon< in rechtswissenschaftlicher Perspektive«, in: A. u. J.
Assmann: Kanon und Zensur, München 1987, S. 46—61.
56 Ich folge hier nicht Assmanns Sprachgebrauch, sondern übernehme und variiere den Begriff »zweite Ordnung« von Y. Elkana: »Die Entstehung des Denkens zweiter Ordnung im antiken Griechenland«, in: Eisenstadt (Anm. 51: Bd. I,
S.52ff.).
57 Zum Begriff der »großen Tradition« vgl. R. Redfield: Human Nature and the
Study of Society, Chicago 1962.
58 Vgl. zum 12. Jh.: C. H. Haskins: The Renaissance of the 12th Century
[1927], New York 1961; R. L. Benson/G. Constable (Hg.): Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Cambridge. MA 1982 [ND 1991].
59 Vgl. auch Assmanns Hinweise auf analoge Entwicklungen in den asiatischen,
auf nicht-alphabetische Schriftsysteme gebauten Kulturen (etwa S. 148 ff.).
60 Hier ist kritisch anzumerken, daß die Identitätsbildung nicht nur auf symbolisch strukturierten Kontexten beruht, sondern auch von den je spezifischen Organisationsformen der Arbeit (Ökonomie) und der Herrschaft (Politik) in einer
Gesellschaft abhängig ist.
61 Merkwürdig ist die versteckte Beziehung zwischen Assmanns kulturhistorischen Paradigmen (monumentale Kultur Ägyptens / bewahrend-verehrende jüdische Kultur / Wissenschaft! -kritische Kultur Griechenlands) und den drei historischen »Betrachtungsarten« Nietzsches in Vom Nutzen und Nachteil der Historie
120
für das Leben: monumentalische/antiquarische/kritische Historie; »Betrachtungsarten«, die dazu beitragen sollten, unter Wiederanknüpfung an einen Kanon der
Meisterwerke, die Produktivkräfte der Kultur im Sinne der Remythologisierung
wiederzubeleben.
62 G. Deleuze: Difference et repetition, ParisM984, S.36.
63 Assmann geht kurz auf die Bedeutung der Bilder als Medium des kulturellen
Gedächtnisses Ägyptens ein, erkennt aber in der Evolution des spätägyptischen
Schriftsystems den entscheidenden »Innovationsschub« (op. cit., S. 192, 265 f.).
64 W. Kemp: Visual Narratives, Memory, and the Esprit du System (S. 87 ff.);
M. Pardo: Memory, Imagination, Figuration: Leonardo da Vinci and the Painter's
Mind (S. 47 ff.); W. Melion: Hendrick Goltzius (S. 8 ff.); R. Vinograd: Private Art
and Public Knowledge in Later Chinese Painting (S. 176 ff.).
65 S. Küchler: Malangan (S. 27 ff.); A. L. Kaeppler: Memory and Knowledge
in the Production of Dance (S. 109 ff.); G. Feeley-Harnik: Finding Memories
in Madagaskar (S. 121 ff.); A. G. Miller: Transformations of Time and Space:
Oaxaca, Mexico, circa 1500-1700 (S. 141 ff.).
66 Vgl. etwa die Versuche, über Bildinterpretationen einen Zugang zur Fremdheit der griechischen Kultur zu gewinnen, in: C. Berard, J.-E Vernant et al. (Hg.):
La che des images, Lausanne 1984.
67 E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I: Die Sprache, Darmstadt 1973, S. 23.
68 »Image Schemata that are grounded in our bodily experience are the basis for
metaphorical and metonymic mappings by which we understand various nonphysical, abstract domains, such as those of mental processes and epistemic relations.« M. Johnson: »The Imaginative Basis of Meaning and Cognition«, in:
Küchler/Melion, op. cit., S. 85. S. auch H. Weinrich: »Über Sprache, Leib und
Gedächtnis«, in: Materialität der Kommunikation, hg. v. H. U. Gumbrecht, K.
L. Pfeiffer, Frankfurt/M. 1988, S. 80-93.
69 »Aus den Horizonten normativer und formativer Wertsetzungen kommen wir
nicht heraus«, bemerkt Assmann und weist den »historischen Wissenschaften« die
Aufgabe zu, die Kanon-Grenzen ins Bewußtsein zu rufen (op. cit., S. 129).
70 P. Veyne: L'inventaire des differences, Paris 1976. - Wer glaubt, der Klassizismus habe als Ideologie kollektiver Identitätsbildung längst ausgedient, der greife
zu R. Scruton: The Classical Vernacukr. Architectural Principles in an Age of
Nihilism, New York 1994.
71 Vgl. C. Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York
1973. Ders.: Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology,
New York 1993.
121
II
Die Geburt der Antike aus dem
Geist der Moderne
Aktuelle Dimensionen des Themas
Sprechen wir heute von »der Antike«, so setzen wir - ohne es uns bewußt
zu machen - voraus, daß diese Bezeichnung der Welt, die sie benennt,
unbekannt war. Denn dieser Epochen-Name, der doch für etwas sehr Fernes steht, hat ein geradezu intimes Verhältnis mit »der Moderne«.1 Das
heißt aber: mit jener neuen Welt, die glaubt, im reifen, erfahrungsgestählten Mannesalter auf die Antike als Kindheit und Jugend zurückblicken zu
können.2 Im Denken und Dichten der durch historische Kämpfe und Differenzierungsprozesse belehrten Bewohner der Neuzeit erscheint die perspektivisch zur Ruhe gebrachte und in eine symbolische Ordnung aufgehobene geistige Welt der Griechen und Römer wie ein unerschöpflicher
Fundus der Parolen und Masken, die sich lange genug im je aktuellen Ideenstreit als nützlich erwiesen. In »der Antike« — so lautete ein geläufiger
Spruch - soll die Geburtsstunde des europäischen Geistes - der Künste und
Wissenschaften — geschlagen haben. Und wer diesen Geist beschwört, steht
schon in der Schuld der Alten, hat schon über die fundamentale Differenz
zwischen Damals und Jetzt hinweg den Bogen der Analogie, wenn nicht
der Genealogie geschlagen. Woher kommt das? Was sind die Gründe?
Die ersten Spuren für die auf Tiefenschärfe bedachte Unterscheidung
zwischen »dort die Antike - hier die Moderne« reichen zurück in den
Frühhumanismus.3 Schon in dieser historischen Situation läßt sich das intellektuelle Muster in Umrissen erkennen, das die (Wieder-) Aneignung/Er-
findung der Antike unter den Bedingungen eines gebrochenen Zeitbewußtseins durchzieht: Negation der geltenden Ordnung unter Rückgriff
auf eine zwar heterodoxe, aber nicht gänzlich fremde kulturelle Semantik. Erst im Barock jedoch löst die europäische Geschichtsschreibung die
heilsgeschichtliche Prozession der biblischen Monarchien vollends auf: Altertum und moderne Zeit werden nun als exponierte, mit klaren Kennzeichen versehene Altersstufen unterschieden, zwischen ihnen ein vergleichsweise diffuses Mitderes. Und trotz des unübersehbaren Abstandes soll die
moderne der antiken Welt näher als der des Mittalters stehen.
Oft genug, doch letztenendes erfolglos ist diese Dreiteilung zusammen
mit ihren relativistischen Wertsetzungen kritisiert worden. Sie scheint be125
quem genug, um ein Bedürfnis nach triadischen Denkfiguren zu befriedigen und zugleich damit die Überlieferung wie ein dreigeschossiges, mit
einem Blick zu umfassendes Gebäude überschaubar, sie erinnerungs- oder
vergessensfähig zu machen.
Die beständige Aneignung und unaufhörliche Neu-Interpretation der
antiken Kultur gehört noch in unserer Gegenwart zu den widerstandsfähigsten Bestandteilen der staatlich dotierten Gedächtnispflege in Akademien,
Universitäten, Museen. Diese Arbeit dient - so scheint es — dazu, den harten Kern der europäischen Kulturüberlieferung zu wahren, an dem sich
die Kritiker jenes Segregationsbewußtseins die Zähne ausbeißen, für das
die Differenz zwischen europäischer »Kultur« als exklusivem Einheitsbegriff und außereuropäischen fremden, also exkludierten »Kulturen« selbstverständlich ist. Es ist nicht zu verkennen: Die in der Modernisierungsperspektive als identifikationsfähige und universelle symbolische Ordnung
konstruierte »Antike« hat die Ab- bzw. Ausgrenzung von nicht dazugehörigen, z. B. orientalischen, asiatischen, afrikanischen Kulturen überhaupt erst
möglich gemacht. Sie ist andererseits ein Ferment jener Modernisierung,
die den Prozeß der die Sache erinnernden und zugleich transzendierenden Aneignung der Antike reflektiert, der zu Beginn der Neuzeit in Gang
kommt, um im frühen 19. Jahrhundert in die arbeitsteiligen, professionalisierten Strukturen der Kulturwissenschaften eingebettet zu werden.
In dem folgenden Essay möchte ich einige Materialien aus dem TextArchiv dieser Konstruktions- und Erinnerungsarbeit zusammentragen. Es
sind dies Materialien, die sich auf wenige dominante Strukturen und Prozesse in der Geschichte vor allem Frankreichs und des deutschen Sprachraums im 17. und 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung und des
Idealismus, beziehen. Dieses an Verallgemeinerungen interessierte Vorhaben ist umständlich, und deshalb komme ich um Vereinfachungen nicht
herum. Vereinfachungen vor allem begrifflicher Art, die keinerlei Originalität beanspruchen. Mein Vorgehen verstehe ich eher wie das des Schuldeneintreibers, der einst in der englischen Tradition die Berufsbezeichnung
»remembrencer« trug.
Beginnen wir mit mit einem kurzen Blick auf die heute verbreitete Semantik des Modernisierungsbegriffs, der den mit westlichem Ideengut verknüpften Begriff der »Aufklärung« in auffallender Weise ersetzt hat. Es waren die Sozialwissenschaftler (vor allem in den USA), die nach dem Zwei-
ten Weltkrieg und nach der gleichzeitigen Entkolonialisierung den allgemeinen historischen Wandel von Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen
unter dem Begriff der Modernisierung zum Thema gemacht haben.5 »Modernization« wurde von ihnen nicht selten als »Westernization« gedeutet:
126
Es ging zunächst und allererst um die Evolution und den künftigen Status der eigenen Gesellschaften innerhalb der miteinander konkurrierenden
entwickelten Systeme und dann erst — in einem zweiten Schritt — um die
Frage, ob und wie die außerwestlichen, die sog. nicht-entwickelten Gesellschaften am westlichen Entwicklungsmodell zu orientieren sind. Modernisierung wurde hier also als Universalie verstanden, die überall in der
Welt Geltung besitzt und mit positiv aufgeladenen Wertideen gleichzusetzen ist: z. B. Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheit durch kodifizierte Gleichheitsgarantien, Demokratisierung der traditionellen politischen Herrschaftsstrukturen, Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder an
den Entscheidungen der Politik, ökonomisches Wachstum, kulturelle Alphabetisierung bis in die Peripherie sozialer Felder und anderes mehr. Der
Begriff der Modernisierung hat in dem skizzierten Rahmen neben einer
deskriptiven unverkennbar auch eine normative Bedeutung: Er bezeichnet die stets zu vollbringende Einlösung jener praktischen Ideen einer am
Gleichheitsprinzip orientierten gesellschaftlichen Evolution, die im Zeitalter der europäischen Aufklärung ihre Ursprünge hat und in den Menschenrechtserklärungen mit postkonventionellen Geltungsansprüchen kodifiziert worden sind.
Inzwischen aber hat diesen ja noch sehr jungen, diesen optimistischen
Modernisierungsbegriff eine eher skeptische Vorstellung abgelöst. Eine iro-
nische Umkehrung im Verhältnis von Moderne und Tradition ist an die
Stelle des früheren Optimismus getreten. Diese läßt sich am eindrucksvollsten mit dem Einwand umschreiben, die optimistische Geschichte der
Modernisierung produziere nichts anderes als einen neuen Mythos, der die
Tatsache verschleiere, daß eben das, was diese optimistische Geschichte feiert, zur Vernichtung alternativer außerwestlicher Kulturen und - was genau
so wichtig ist - zur Stärkung eines anonymen, nichtsdestoweniger praktisch
äußerst wirksamen staatlichen Gewaltmonopols und damit zugleich zur
Schwächung individueller Verantwortung beigetragen habe. Dieser skeptische Standpunkt wirft einen tiefdunklen Schatten auf die optimistische
Idee der durch Modernisierung einzulösenden Veränderung des Alten und
scheint nach Alternativen in der Bewahrung heterodoxer und fremdkultureller Traditionsbestände und nicht in deren permanent fortschreitender
Überwindung zu verlangen. Das Rationale schlägt um ins >Irrationale<,
in einen neuen Mythos: So sprechen die entscheidungsindifferenten Beobachter dieser Entwicklung vom Eintritt in die postmoderne Sinnleere
und antworten darauf mit einer ästhetischen Therapie, die im unverbindlichen Zitat ornamental erinnert, was der Modernisierungsprozeß funktionalisiert oder hinwegeschwemmt hat.6 Die unbeirrbaren Wahrheitssu-
127
eher klammern sich in dieser Situation an eine Denkfigur, die ihrerseits zu
den Elementen des europäischen Modernisierungsprozesses gehört: Sie rufen nach der Rehabilitierung vormoderner, insbesondere antiker, z. B. neoaristotelischer Problemlösungen auf der Ebene ethischer, über die Zukunft
des Planeten entscheidender Fragen.7 Dem steht entgegen, daß sich »die«
Menschheit längst nicht mehr allein an die vom westlich-abendländischen
Denken definierten Grenzen hält. Modernisierung ist auch ohne Verwestlichung, ja sogar gegen das westliche Weltbild möglich. Der Begriff löst
sich mithin aus der — sei es komplementären, sei es antithetischen - Koppelung an das Gegenbild des Alten, des Traditionellen bzw. der Antike,
um mit ganz verschiedenen Kulturmustern sich zu verbinden. Es ist nicht
auszuschließen, daß diese globale Diversifikation des Modernisierungsprozesses zu Zivilisationskonflikten führen wird, in deren Verlauf die Legitimationsstragien der Konfliktparteien wieder auf die ältesten Gehalte ihres
Kulturkanons zurückgreifen werden.8
Natürlich setzen alle optimistischen oder auch bloß deskriptiv gemeinten Modernisierungsgeschichten etwas voraus, das sich von der Moderne
- hier als makrostruktureller EpochenbegrifF im Sinne eines offenen Systems gebraucht - augenfällig unterscheidet; genauer: etwas, das bis in die
Einzelheiten des habituellen Lebensstils als eine Gegenposition erscheinen
muß. Dieses im Verhältnis zur Moderne ganz andere heißt je nach historischem Standort: »Antike« oder neutraler: »Tradition«. Es ist trivial, aber
nichtsdestoweniger zutreffend: Was solche Begriffe bedeuten, das hängt
von denen ab, die sich als »Moderne« von Ursprungsdenken und Traditionalismus unterscheiden wollen. Und so ist denn im Grunde meine Frage
nach dem Begriff der Modernisierung eigendich schon beantwortet.
Ein so dürftiges Ergebnis befriedigt niemanden. Die Frage bedarf, um
übers Triviale hinauszukommen, der historischen Konkretisierung, will sagen: einer eingehenderen Betrachtung der Ideenkämpfe, die auf der Grenzlinie zwischen Tradition und Moderne geführt worden sind. Ich möchte im
folgenden an einigen historischen Beispielen zeigen, welche Bilder der Antike und welche Konstruktionsmechanismen im Untersuchungszeitraum
zwischen etwa 1650 und 1810 aus diesen Kämpfen hervorgegangen sind,
wie sie schließlich das Alte in jene Alterität transformierten, an der die Epoche der Moderne einerseits ihren eigenen, dauernd fortschreitenden und
permanent sich verändernden offenen Prozeßcharakter, anderseits aber so
etwas wie die Orientierungspunkte in einem Fluß permanenten Wandels
ablesen konnte. Meine Belege beziehe ich hin und wieder ohne strenge
Quellenanzeige aus z. T. weit auseinanderliegenden wissenschaftlichen Archiven, und ich folge streckenweise den Schlüsselbegriffen einer teils systemisch, teils historisch interpretierenden kultursoziologischen Diskussion.9
128
Drei Merkmalsbereiche des Modernisierungsbegriffs lassen sich aus dieser Diskussion herausschälen. Danach bedeutet Modernisierung:
1. Genese eines neuen Zeitbewußtseins, das den dynamischen Wandel als
seine eigene Bedingung entdeckt. Stichwort: Historisierung von Vergangenheit und Gegenwart.
2. Genese einer neuen Einstellung zur Kultur als der mundanen Selbstschöpfung der menschlichen Gattung. Stichwort: kulturelle Universalisierung.
3. Genese einer neuen Form der Erfahrung, die - als ästhetische - Natur
und Artefakt unter den Bedingungen ihrer Erscheinungsweise, also als
ein Reflexionsprodukt und nicht als kultisches Zeichen, als Illustration, als schönes Dekor oder bloße Einkleidung wahrnimmt. Stichwort:
Asthetisierung.
Antike und Moderne im Wechselspiel
In der Geschichtsschreibung seit dem Altertum war es üblich, die Zeiträume von den ersten Anfängen der Zivilisation bis in die jeweilige Gegenwart nach Lebensalterstufen zu ordnen: von der Kindheit über Jugend und Mannesreife bis zum Greisenalter. Erst relativ spät in der eu-
ropäischen Kulturgeschichte — im Frühhumanismus des 14. Jahrhunderts
— kommt (wie schon gesagt) eine neue Form der Periodisierung auf, die
am Ende des 17. Jahrhunderts zwischen Antiquitas - der später so genann-
ten »Antike« - dem Mittleren Alter (medium aevum) und einer Neuen
Zeit unterscheidet.10 Was in einer langen Generationenfolge verwandt-
schaftlich verbunden blieb, wird - wie der agrarische Sippenverband durch
die Quartiere der Stadtgesellschaft - in die Topographie selbständiger Geschichtsprovinzen aufgelöst: ein erster Schritt zum Relativismus.
Die Denker der Neuen Zeit nennen sich »moderni« nach der lateinischen Vokabel »modernus«, die nichts anderes als »jetzt« oder »neu« bedeu-
tet. Sie setzen sich damit von den »antiqui« ab, von den »Früheren« oder
»Alteren« (lat. ante). Das klingt plausibel. Denn die Scheidung von Alt und
Neu, von Damals und Jetzt, von Reife und Jugend gehört - so möchte man
meinen - zum Grundbestand einer individuellen Lebensgeschichte und ist
- bei vergröberter Optik - auf die kollektive Kulturgeschichte übertragbar.
Die Unterscheidung von »modern« und »antik« beruht auf einer einfachen Korrelation und erfüllt eine andere Funktion als die historiographische Zeitalterrrechnung. Sie steht für ein Drama von Identitätssuche und
Sich-unterscheiden-Wollen, das mit der Suche nach einer symbolischen
Ordnung zu tun hat, in deren Zentrum der autonom handelnde Mensch
129
steht. Es ist fair gewöhnlich die Aufgabe der intellektuellen Eliten in einer Kultur, diese Autonomie gegen die Unvollkommenheiten der hier und
jetzt existierenden Ordnung einzuklagen.11
In der Spätphase der Renaissance entsteht eine Vergleichsliteratur, die
im Laufe des 17. Jahrhunderts vor allem in Frankreich, in der »Querelle des
Anciens et des Modernes« — im sog. »Streit um den kulturellen und wissenschaftlichen Vorrang der Neueren gegenüber den Alten« - öffentliche Resonanz findet. Verglichen werden in dieser Diskussion die intellektuellen und
künstlerischen Leistungen der alten, d. h. der griechisch-römischen und der
neuen, d. h. der gegenwärtigen Welt. Parteien bilden sich heraus: dort die
Antiqui als Vertreter der alten, vorbildlichen, hier die Moderni als Vertreter
der fortschreitenden, vom Alten sich lösenden Wissensinhalte, Wertideen
und Verfahrensweisen. Mit einem Wort: Die Jetztzeit entdeckt sich selbst
als etwas, das anders ist als das vorhergehende, das zeitlich Frühere, das
autoritätsbesetzte Wissen, das der Gegenwart so lange als nachahmenswert
galt. »Jetzt« im Verhältnis zu »früher«, das ist ein Thema, das nicht nur auf
einen Bruch in der Zeit, sondern vor allem auf das Vermögen hinweist, via
negationis kulturelle Differenzen zu statuieren, aus deren Konflikten eine
neue, vollkommenere Ordnung entstehen soll. Im Verlauf der »Querel-
le« werden Antworten auf die Frage nach den Orientierungsmaßstäben für
die neu entdeckte, die Jetztzeit gesucht: ob die Gegenwart diese aus sich
selbst entwickelt - Standpunkt der radikalen Moderni - oder ob sie diese
mit neuer Begründung der Tradition entnimmt - Standpunkt der Antiqui.
Ob zukunfts- oder vergangenheitsorientiert - der Kampf der intellektuellen Parteien fuhrt zur besseren und genaueren Bestimmung differierender
symbolischer Ordnungen, deren Verhältnis untereinander durch Abgrenzung neu festzulegen ist.
Der Vergleich zwischen Antike und Moderne war zwar ein gesamteuropäisches Thema. Doch rief es vor allem in jenen Gesellschaften die
heftigsten und folgenreichsten Kontroversen hervor, deren politische und
kulturelle Eliten besonders aufwendige Projekte betrieben. Und das waren
Projekte, deren gleichzeitig oder rückblickend zugeschriebene Epochentitel offenkundig den Wettbewerb mit der Antike, zugleich aber auch die
Ablösung von einem überkommenen Weltbild suchten: Spaniens »Siglo de
Oro« - eine Anspielung auf den antiken Mythos vom Goldenen Zeitalter-,
Frankreichs »Siecle classique«, Englands nach dem römischen Kaiser Augustus so genanntes »Augustan Age«. In der Folge dieser Projekte, die etwa in
Frankreich unter dem Absolutismus Ludwigs XTV. einen Modernisierungsschub einleiteten, indem sie zur Rationalisierung und Universalisierung der
Künste, der Wissenschaften, der Politik, der Ökonomie und des höfischen
Lebensstils beitrugen, wurde die Jetztzeit als Höhepunkt gegenüber der
130
unmittelbaren Vergangenheit aufgewertet und in ein produktives Konkur-,
renzverhältnis zur römischen Antike gesetzt; zu einer kulturellen und politischen Ordnung, aus deren vielfältigen Leistungen die Epoche der Jetztzeit
ein mächtiges kulturelles Normensystem herausbuchstabierte.12 »Antique«
hießen dementsprechend diejenigen Dinge, die - so schrieb der Gelehrte
Thomas Corneille in seinem »Dictionnaire« von 1694 - von der modernen
Zeit nicht mehr gebraucht werden,13 ein Hinweis auf eine nicht nur zeitliche Distanz, da der vom praktischen Bedürfnis befreite Gegenstand sich
umso eher für historisierende Betrachtungen eignet.
Die Konkurrenz mit dem, was nicht mehr in Gebrauch - also »antik« - war, ist »produktiv« nicht nur im Sinne der Selbstbestimmung der
Gegenwart zu nennen, sondern auch im Hinblick auf die Konstruktion
eines historischen Kreislaufs, in dessen Bewegungsbild die Phasen der Kultivierung und der Barbarei einander wie Morgen- und Abendröte ablösten.
Mit den prophetischen Worten des französischen Schriftstellers und Philosophen Francois Fenelon von 1688: »Man muß nur Geduld haben, und
wir werden nach einer lang dauernden Folge von Jahrhunderten wieder zu
Zeitgenossen der Griechen und Römer.«14
In dieses zyklische, die Wiederkehr des Früheren beschwörende Bild
paßte nach Fenelon bequem auch die rhetorische Denkfigur einer »translatio imperii«, einer Verschiebung früherer kultureller und politischer Macht,
so daß in Paris als dem neuesten Rom sich das Bild einer wiedererwach-
ten, aber modernisierten, also qualitativ gesteigerten Antike wiedererkennen ließ. Was tatsächlich bedeutete, daß Paris die Zentrale der kulturellen
Hegemonie in Europa werden wollte und wurde.
Zugleich aber überlagerte das Bild des kulturellen Kreislaufs, das lange
vor 1789 mit dem Begriff der »Revolution«, der zyklischen Umwälzung,
verbunden war, eine andere nicht minder wirksame Geschichtsmetapher:
nämlich das Bild eines linearen, eines unaufhaltsamen, vom Früheren im-
mer weiter sich entfernenden Fortschreitens in die Zukunft. Eine pro-
zeßhafte Vorstellung, die sich mit den teleologischen, also zielgerichteten
Begriffen der Perfektion und der qualitativen Steigerung verschwistert hat.
Die teleologische Zeitstruktur in der Bedeutung einer weltlichen Heilsgeschichte, nämlich einer Soteriologie der menschlichen Vernunft, wurde
auch auf das Altertum übertragen. Und dieses erschien nun dem progressiven Blick als ein zeitlich und institutionell fortschreitender Weg zum Besseren, der von den scheinbar naiven und relativ unzivilisierten Anfängen
der Griechen, über die römische Geschichte, die anschließende christliche
Entwicklungsphase und die Überwindung eines kulturellen Zwischentiefs
bis in die Gegenwart führte. Und diese das Frühere übertreffende Gegenwart ließ sich nun als Garant für eine verheißungsvolle, noch vollkomme131
nere Zukunft deuten, weil sie fest an die Perfektibilität der Menschenwelt
glaubte. Ein Optimismus, der den politischen Mächten, vor allem dem
absoluten Staat, die Fähigkeit zuerkannte, die Zukunft unabhängig von
der Nomothetik sakraler wie profaner Prophetien selbst in die Hände zu
nehmen.15
Der Streit um den Vorrang
Das Besondere an dem Nebeneinander verschiedener Geschichtsmetaphern
- der zyklischen Wiederkehr und der zielgerichteten Progression — liegt
in der Vorbereitung eines veränderten, die Zukunftszeit einschließenden
Zeitbewußtseins und in der Anerkennung perspektivisch gebundener Geschichtserwartungen. Geschichte ist danach nicht mehr allein die Darstellung des Vergangenen, sondern richtet sich auch auf die Zukunft: Die
Vergangenheit wird an der Zukunft gemessen, der historische Blick zurück
zum Leuchtturm der Modernisierung.
Je nach Standort in der Kultur der Gegenwart konnte man die Historie als Verfallsprozeß oder als Lernprozeß, als Tribunal oder als magistm
vitae, als Lehrmeisterin des Lebens, betrachten.16 Es ist daher kein Zufall,
wenn Mitte des 18. Jahrhunderts dieser historische Perspektivismus als ein
fundierendes Prinzip der Universalgeschichte anerkannt wird und zugleich
mit dem Universalismus den Kulturrelativismus verschärft.17 Schon im
Gelehrtenstreit über die Geltung Homers als Gesetzgeber der Dichtung, in
der »Querelle d'Homer«, tauchen zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Leitbegriffe auf, die nach einer anderen als der autoritativen Rechtfertigung
für die normative Vorbildlichkeit antiker Muster verlangen. So schreibt
1715 der englische Arzt und Schriftsteller Richard Blackmore in einem Essay über die epische Dichtung: »Unser Glaube [in Dichtungsfragen] darf
nicht auf die Autorität der größten Meister vertrauen, sondern muß sich
an zwingende Evidenz halten.« Zur gleichen Zeit erläutert der französische
Abbe Terrasson in einer kritischen Untersuchung über Homers Ilias, was
unter dieser Evidenz zu verstehen ist: allein das, was sich vor dem Tribunal
der Vernunft bewährt.18
Mit dem Kriterium der Vernunft aber wurde ein Prinzip ins Spiel ge-
bracht, das als voraussetzungslos und insofern auch als geschichtslos galt,
ein Prinzip also, von dessen scheinbar reinem Boden aus ein vollständig
neues und vorurteilsloses, eben ein »modernes« Denken anheben konnte.
Diderots Encyclopedie hat um die Mitte des 18. Jahrhunderts - übereinstimmend mit diesem universellen Vernunftbegriff- die Geburt der neuen
Zeit auf den Beginn eines bis dahin unbekannten wissenschaftlichen Den132
kens datiert: Die Astronomie des Kopernikus, die Physik eines Descartes
und Newton bringen ein entzaubertes, ein rationales Weltbild hervor. Es
sind demnach vor allem die Fortschritte in Wissenschaften und Technik,
die als Anzeichen der Modernisierung allgemein anerkannt werden.19
In den Feldern positiven Wissens und analytischen Denkens hat die
Moderne die Antike hinter sich gelassen; eine Zäsur wird bewußt, die
zur Unterscheidung zwischen neuem und altem Denken anregt und zu
jenen kritischen Bestandsaufnahmen fuhrt, deren Monumente in den Enzyklopädien von Pierre Bayle bis d'Alembert/Diderot vorliegen. Diesem
neuen Bewußtsein entspricht die erwähnte Bedeutung des Prädikats »antique«: Es steht für das, was nicht mehr gebraucht wird, was aber als Beleg
ftir den Fortschritt in die kritische Registratur gehört. Und dahin gehören
vor allem — wie Pierre Bayle, der Verfasser des ersten mit traditionskritischem Anspruch geschriebenen Dictionnaire, überzeugt ist — die Irrtümer
der Vergangenheit, ja die Irrtümer selbst der anerkanntesten Autoritäten.20
Mit einem Wort: Die früheren Erkenntnisse werden Geschichte, sie werden — wie es später bei Hegel heißen wird — im »Tempel der Mnemosyne«
hinterlegt.21 Wir sehen Descartes vor uns, wie er Aristoteles den Totenschein ausstellt, um an seine Stelle treten zu können.
Allein, was für Wissenschaften und Technik gilt, das soll in Literatur
und Künsten anders sein, da in diesen nicht der messende und rechnende
Verstand, sondern der abwägende Geschmack regiert. Das Geschmacksprädikat »moderne«, so belehrt uns wiederum die Encycloptdie, steht nicht
zu »ancien« sondern zum »mauvais goüt«, zum schlechten Geschmack der
Gothik, in Opposition; andererseits aber sei nur die moderne Architektur
schön zu nennen, die sich dem »goüt de l'antique« annähere.22 Noch immer scheint hier - um die Mitte des 18. Jahrhunderts - j ener klassizistische
Code zu gelten, den das Zeitalter Ludwigs XIV. zur Norm erhoben hatte.
Zwar interessierte sich niemand mehr für den Gebrauchswert der antiken
Kunst- und Architekturelemente, aber genau das unterscheidet die neue
Ästhetik vom Klassizismus.
Der damals übliche Kunstgeschmack legte ja nicht den Maßstab materieller Wertideen an noch bezog er die kanonischen Werke auf den Vergänglichkeitsmodus der historischen Zeit. Vielmehr urteilte dieser Geschmack,
wie es bei einem zeitgenössischen Theoretiker hieß, »von der Schönheit
der Kunstwerke nach ihrem Verhältnis mit der Natur«.23 Bis weit ins
18. Jahrhundert bezeichnete der Naturbegriff etwas Konstantes, etwas, das
vom Zahn der historischen Zeit unberührt schien. Und es hielt sich unglaublich lange unter Künstlern und Gelehrten der feste Gemeinplatz, daß
Kunst und Literatur der Antike - trotz aller längst bemerkten zahlreichen
lebensweldichen Unterschiede mit der Gegenwartszeit - zu jener natürli133
chen Ordnung gehörten, hinter der die Idee einer vernunftgemäßen Vollkommenheit steht. Nicht die wilde, sondern die formal gebändigte, wie
im französischen Garten domestizierte Natur befriedigte den rationalen
Anspruch an eine gleichsam in die Zentralperspektive verlegte historische
Wahrnehmung. Zugleich hat diese Beziehung der freien Künste und der
politisch-moralischen Normen auf ein gemeinsames, dahinter verborgenes
Vernunftprinzip die Kooperation zwischen den Vertretern des modernen
Denkens, den philosophes, und dem aufgeklärten Adel erleichtert.
Aufgrund dieser Prämisse erschienen die antiken Kunstwerke dem Auge der Traditionalisten als etwas Formvollendetes, und ihre Mustergültigkeit für den eigenen kulturellen Kosmos wurde im System der artistischen
Logik immer wieder aufs neue umgeschrieben. Ein Verfahren, das Traditionalisten und Modernisten gemeinsam war, auch wenn sie über den
Inhalt des antiken Kanons im Streit lagen. Ohnehin gingen bald beide
Parteien von der Vollendung der Kunst-Antike im Sinne einer in Distanz
gebrachten Abgeschlossenheit aus. Das war zugleich eine notwendige Bedingung für den Vergleich zwischen Jetzt und Damals und für den Entwurf
eines kulturellen Codes, der die Antike in ihrer Abgeschlossenheit als ein
Modell anerkannte, ein Modell, das es zu studieren galt und mit dem man
in Konkurrenz treten konnte, ohne das Neue verleugnen zu müssen.24
Diese Modellkonstruktion der Kunst-Antike verlangte nach dauernd
zu verbessernder Evidenz im Sinne der historisch-philologischen Kritik.25
So daß der Streit um die Geltung des klassischen Kanons - und das gilt
für ganz Europa - der Produktion gelehrten Wissens über die Alte Welt
eine enorme Konjunktur verschaffte. An der zugleich damit einsetzenden
methodischen Objektivierung der Antike als einer eigenständigen und einheitlichen, ja wie ein Organismus als Ganzheit zu betrachtenden Lebensform konnte sich dann der Gedanke festmachen, daß die eigene Zeit einen
höheren Grad an kultureller Komplexität aufzuweisen hatte und schon al-
lein dadurch sich von der Tradition klar unterschied. So wurde die für
den Klassizismus repräsentative Figur des poeta doctus auf ein Lernpensum
verpflichtet, das dieser beobachteten kulturellen Differenzierung und ihrer
historischen Vielfalt Rechnung trug. Um ein frühes englisches Beispiel zu
zitieren: Der Publizist und Dichter John Dryden verlangte im Sinne rhetorischer Schulvorschriften vom epischen Dichter zugleich Erfindungs- und
Urteilsvermögen. Aber das allein genügte ihm nicht. Er forderte darüber
hinaus vom Dichter »die Kenntnis der freien Künste und Wissenschaften,
besonders aber der Moralphilosophie, der Mathematik, Geographie und
der Geschichte«.26
Das sind Forderungen, die den Abstand zwischen Homer und dem
Dichter der Moderne unübersehbar hervortreten lassen. Zwei Generatio134
nen später aber wurde dieses Argument überraschenderweise umgekehrt:
Homer wurde nun zum Paradebeispiel für eine ohne Gelehrsamkeit auskommende, für eine naturgemäße bzw. naive Poesie, für die Genie-Dich-
tung.27 Gleichwohl, in beiden Fällen war der zeitliche Abstand die notwendige Bedingung für den Ausbau des antiken Kanons zu einem maßstabsetzenden Modell.
Der kulturelle Imperativ des esprit classique aber lautet seitdem: Die
Antike muß studiert werden! Winckelmann, Diderot und viele andere
haben diesen Imperativ propagiert und befolgt. In welchem Maße dieses Gebot den übergreifenden Code eines europäischen Kulturbewußtseins
ausgebildet hat, das gehört zur Geschichtsschreibung der pädagogischen
Ideen und Bildungsinstitutionen. Jedenfalls überlebte es bis weit ins 19.
Jahrhundert im Gymnasium und in der Universität.28 Und es ist verantwortlich für jene Konkurrenz zwischen den Normen einer wissenschaftlichtechnischen Kultur einerseits und einer klassisch-literarischen Kultur andererseits. Ein Konkurrenzverhältnis, das zuerst im Zeitalter der »Querelle«
bemerkt worden ist und in bildungspolitischen Fragen die Auseinandersetzung zwischen Modernisten und Traditionalisten nie wieder hat zur Ruhe
kommen lassen.
Dieser Streit zwischen einerseits durch Alter und Tradition beglaubigten und anderseits zukunftsbezogenen Normen und Wertideen macht aber
nur deutlich, wie sehr der Gedanke permanenten Lernens zum Selbstverständnis der Moderne gehört. Denn je radikaler die evolutionäre Struktur der Moderne als ein unendlicher Lern-Prozeß verteidigt wurde, um so
klarer trat das Bild einer vollendeten, aber ein für allemal abgeschlossenen Antike hervor. Dies voraussetzend hat der französische Schriftsteller
Voltaire die Universalgeschichte der europäischen Kultur in vier Perioden
eingeteilt: 1. das Zeitalter Alexanders oder des Perikles, dessen Kultur in
Opposition zur Barbarei der übrigen Welt stand, weshalb sie sich als Urszene der Kulturentstehung betrachten ließ; 2. das Zeitalter Cäsars und des
Augustus; 3. die Epoche der Medici - die Renaissance - und schließlich
4. das »Siecle de Louis XIV«. Was diese Zeitalter im Sinne einer evoluti-
onären Wertsteigerung miteinander verbindet, beschreibt Voltaire mit folgenden Worten: »In diesen vier glücklichen Zeitaltern wurden die Künste
perfektioniert. Sie stehen seitdem im Dienst der Größe des menschlichen
Geistes und sind ein vorbildliches Muster für die Nachwelt (Fexemple de
la posterite).«29
In dieser die Geschichte der Künste und des Geistes zur Deckung bringenden Beobachtung zählt nicht mehr die Antithese oder Konkurrenz zwischen Antike und Moderne. Was zählt, das ist allein ihr Beitrag zu jenem
Lernprozeß des »esprit humain«, der in der vierten Epoche einen für al135
le kommenden Zeiten exemplarischen Höhepunkt erreicht hat. Damit ist
das Zeitalter des Sonnenkönigs und des absoluten Staates an jene Stelle getreten, die in der »Querelle« auf Seiten der Traditionalisten noch die Antike
eingenommen hatte. Dem kulturellen Zentralismus dieser neuen Blütezeit,
der die Künstler und Architekten Ludwigs XIV. in Paris und Versailles ein
ästhetisch wahrnehmbares Gesicht verliehen haben,30 entsprach eine intellektuelle Zentralperspektive, die alle kulturellen Erscheinungen auf den
einzigen Fluchtpunkt des Vernunftprinzips bezog. »La raison humaine en
general s'est perfectionee«, schrieb Voltaire schwärmerisch über die Vervollkommnungen der menschlichen Vernunft, und er fugte sogleich hinzu: »Das hat zu einer allgemeinen Umwälzung (une revolution generale) in
unseren Künsten, in unserem geistigen Leben, unseren Sitten wie auch in
unserer Regierungsform gefuhrt.«31
Die Antike als Denkbild der Moderne
Man muß nur die Perspektive zurechtrücken, um zu erkennen, daß es diese von Voltaire vertretene, unter der Vormundschaft des >esprit classique<
ausgebildete Wahrnehmungsweise war, die jener Asthetisierung und Universalisierung der Kunst-Antike den Boden bereitet hat, als deren Urheber
der deutsche Gelehrte und Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann
anzusehen ist. Mit Winckelmanns Name ist jene Entwicklung verbunden,
die im deutschen Idealismus die Modernisierung der Antike vollendet, in-
dem sie deren Idee - wohlgemerkt: nicht ihre historische Realität - als
einen tragenden Baustein ins Systemgebäude der geschichtsphilosophisch
fundierten Ästhetik einfügt. Dieses geht aus dem Protest gegen die Hegemonie des >esprit classique< hervor.32 Insofern verdankt die neue Konstruk-
tion ihre entscheidenden Impulse dem übermächtigen kulturellen Code
des an Rom geschulten französischen Klassizismus, den sie studiert und
bekämpft hat. Das Resultat, die geschichtsphilosophische Konstruktion
der griechischen Antike, setzt voraus, daß sowohl auf der Makro- wie auf
der Mikroebene das scheinbar einheitliche Geschichtsbild der Antike sich
sowohl in wertender als auch in zeitlicher Perspektive in mehrere Facetten
zerlegt hat. Zu erinnern ist hier auch an die ideologische Opposition von
griechischer (Athen) und lateinischer (Rom) Antike, an die Aufgliederung
in Stilperioden und an jenes Modelldenken, das die nach Maßgabe des jeweiligen Anteils an Rationalität zu unterscheidenden Vergangenheiten in
den Evolutionsprozeß der Vernunft eingebunden hat.
Im deutschen Sprachraum blieb die Diskussion über den Vorzug von
Antike oder Moderne zunächst akademisch.33 Sie war weitgehend von
136
theologisch-protestantischen Ideen geprägt. Das bedeutendste Resümee
erschien 1735 in Leipzig bezeichnenderweise noch in der lateinischen Gelehrtensprache: Georg Heinrich Ayrer Dissertatio de comparatione eruditionis antiquae et recentioris. Und wenn von Fortschritten im Sinne der Modernisierung die Rede war, dann verwiesen die gelehrten Autoren lieber auf
Luthers Reformation denn auf die katholische Renaissance oder gar auf die
Ära des französischen Sonnenkönigs. Was neu war, erschien daher nicht
im Licht weltlicher Fortschritte, sondern als Reform religiöser Inhalte und
Institutionen. Damit war aber das Vernunftprinzip eines neu anhebenden
Denkens schwerlich zu vereinbaren. Wer das moderne Denken favorisier-
te, war wie Lessing gezwungen, streng zwischen Vernunftfortschritt und
symbolischer, wohl auch moralischer Zuständigkeit der Offenbarung zu
unterscheiden.34 Im Reich der Künste und Poesie ließ sich - wie Lessing
wußte - die »Schule der Alten« auch ohne Klassizismus nutzen. Es kam
nur darauf an, ihre Muster und Kriterien zu »modernisieren«. Und das warf
die Frage nach dem auf, was zum Kanon dieses Studiums gehören sollte. Lessing fiel die Entscheidung leicht: Die dramatische Schule der Alten
lag für ihn dort, wo die griechische Aufklärung, d. h. die sokratische Philosophie mit ihrem »Erkenne Dich selbst!« ihre mächtig weiterwirkenden
Spuren hinterlassen hatte: in den attischen Irrtumstragödien des Sophokles
und Euripides.
Für Winckelmann, mit dem Lessing sich gründlich im Laokoon auseinandersetzte, lagen die Dinge anders. Der Kulturhistoriker Egon Friedell hat
Winckelmann nachgesagt, er habe die griechische Antike schlicht erfunden, ja sie in eine blutleere Attrappe verwandelt. Wenn man »Erfindung«
in das lateinische Wort »inventio« rückübersetzt und nicht als substanzlose
Phantasterei wie Friedell versteht, so ist dem durchaus zuzustimmen. Denn
»inventio« bezeichnet eine heuristische, methodisch vorgehende Untersuchungsart, die gerade nicht frei phantasierend erfindet, sondern sich an gegebene Materialien und Quellen hält. Winckelmann hat eine Qualität an
der griechischen Plastik des 5. vorchristlichen Jahrhunderts entdeckt, die
schon in ihrer Entstehungszeit, also von den Griechen selber, als eine Neuerung, als ein Zeichen der Ablösung von Traditionen begriffen worden ist.
Bevor ich das genauer erläutere, möchte ich jedoch einige Randbedingungen skizzieren, die für das Verständnis dieser inventio und ihre nachhaltige
Wirkung im Feld der allgemeinen und der Kunst-Geschichte notwendig
sind.
Zu der mit Winckelmann einsetzenden Ästhetisierung der griechischen
Antike gehören einige Voraussetzungen, die den allgemeinen Wandel der
Kunstauffassung im späten 18. Jahrhundert betreffen. Auf der Ebene der
materiellen Forschung hat die Unterscheidung zwischen römischer und
137
griechischer Bildkunst überhaupt erst in diesem Jahrhundert Fortschritte
gemacht.35 Bis dahin war das Bild der antiken Kunst weitgehend von literarischen Interessen beherrscht: Antiquare, Philologen und Historiographen sahen in der Bildkunst vor allem das Illustrationsmaterial für vergangene Ereignisse und philologisch-historische Streitfragen.
Mit der Rehabilitierung der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft
durch Sensualismus und Empirismus setzt eine Umwertung ein. So wird
die antike Mythologie kräftig als ein eigenständiger, auf die schöpferische
Imagination verweisender Bereich der Bildproduktion aufgewertet. Sie ist
nicht mehr allein, was an der Homer-Diskussion zu belegen wäre, die bildliche Einkleidung allegorisch zu enträtselnder Ideen oder Ausdruck eines
ästhetischen Manierismus.315 Sie wird vielmehr als Kriterium der imaginativen Sprachkunst aufgewertet. Hier sind symbolische Formen gefragt,
die sich gerade nicht in Bekanntes rückübersetzen lassen, sondern zur unendlichen Auslegung herausfordern. Eine späte Bemerkung Goethes bringt
diese ästhetisierende Wiederanknüpfung an das »unendlich Motivbare« der
antiken Symbole auf den Begriff: »Die griechische Mythologie, sonst ein
Wirrwarr, ist nur als Entwickelung der möglichen Kunstmotive, die in einem Gegenstande lagen, anzusehen«.37
Die einer solchen Auffassung zugrundeliegende Bildtheorie, die im
deutschsprachigen Raum von den Schweizern Bodmer und Breitinger und
in England von Edmund Burke vorbereitet worden ist, spricht dem My-
thologem eine semantische Kraft zu, die dem logischen Vermögen, nämlich
dem begrifflich operierenden Verstand, unzugänglich bleibt, eine Kraft der
Evokation, die sich nicht der Rationalität, sondern nur der Wahrnehmung
und Erfahrung, oder mit einem Schlüsselwort Herders zu sprechen: der
»Empfindung« des Betrachters erschließt.38
Diese Entdeckung erlaubte es, der vom Rationalismus geübten Reduktion der Phänomene auf das zentrale Vernunftprinzip eine ganz andere Argumentation entgegenzusetzen. Ihre theoretische Grundlegung findet die-
se neue Position in der ersten systematischen Lehrschrift der Kunstphilosophie, die Alexander Gottlieb Baumgarten — noch in lateinischer Sprache
- 1750/58 unter dem Titel Aesthetica veröffentlicht hat. Ungeachtet ihrer
rhetorischen Form und ihrer rationalistisch-schulphilosophischen Methode setzt diese Schrift sich dafür ein, dem herrschenden Muster rationaler Erkenntnis eine andere Erkenntnisweise an die Seite zu stellen. Eine
Erkenntnisweise, die nicht allein den logischen Zusammenhalt der Welt,
sondern vor allem die Erfahrung des anschauenden Subjekts in Rechnung
stellt. Die sinnliche bzw. ästhetische Erkenntnis reduziert das Wahrgenommene nicht im Sinne der vergleichenden, auf gemeinsame Merkmale, auf Klassifikation zielenden Abstraktion. Im Gegenteil: Sie erfährt die
138
Dinge in ihrer Einzigartigkeit, in ihrer unvergleichlichen, unreduzierbaren
Fülle {plenitudo) und d. h.: in der Art und Weise, wie sie erscheinen. Als
Erscheinung (phaenomenori) ist der Anschauungsgegenstand ein Produkt
der ästhetischen Erkenntnis und insofern abhängig vom perspektivischen
Standort des anschauenden Subjekts.35
Winckelmanns Bild der griechischen Antike ist im Kontext dieser neuen, der ästhetischen Anschauungsform zu deuten, auch wenn er Baumgartens Lehrschrift nicht gekannt haben sollte. Denn auch Winckelmann
konzentriert sich auf das einzelne Bildwerk, und er interpretiert es in der
Weise seines Erscheinens als Ausdruck einer nur gleichnishaft zu umschreibenden Fülle. Deren Schönheitsmaß, das Winckelmann zur Norm erhebt,
lautet: Einheit in der Mannigfaltigkeit. Auch dies ist eine Kategorie des
Maßes, der ausgeglichenen Spannung. Die vollkommene griechische Plastik, schreibt Winckelmann, ist »wie die Einheit der Fläche des Meeres,
welche in einiger Weite eben und stille wie ein Spiegel erscheint [!], ob es
gleich alle Zeit in Bewegung ist und Wogen wälzt«.40
Das Maß der Vollendung und Schönheit beruht also auf einer prekären,
auf einer augenblickshaften Balance, die den Extremen der zeitresistenten
Starre und der zeitlichen Bewegung nicht abgeschaut, sondern geradezu
abgetrotzt ist. Deshalb kann Winckelmann sagen, daß die griechischen
Künstler nicht die äußerliche, sondern »eine im Verstand entworfene geistige Natur« zum »Urbild« hatten.41 Nicht die Natur, wie sie ist, sondern
ihre Idee, wobei zu erinnern ist, daß das griechische Wort »idea« nichts
anderes bedeutet als ein geistig wahrnehmbares Bild. Damit verändert
Winckelmann nicht nur den Sinn der traditionellen NaturnachahmungsFormel, er gibt auch der ästhetischen Mimesis, der Kunst der Darstellung,
eine neue Bedeutung, die bis heute Bestand haben kann. Vorausgesetzt,
wir sind bereit, unter dem Begriff der Mimesis die Fähigkeit der Künste
und Poesie anzuerkennen, das Unsichtbare sichtbar, das Unsagbare sagbar,
das Unhörbare hörbar zu machen, es also in seiner Fülle zur Erscheinung
zu bringen und nicht auf konventionelle Wahrnehmungs- und Bezeichnungsmuster zu reduzieren.
Winckelmanns »Natur« ist - das gilt es zu bedenken - kein Beschrei-
bungs-, sondern ein Reflexionsbegriff. Will sagen, ein Begriff, der sich
nicht auf das äußerlich wahrnehmbare Naturbild bezieht - auf die Oberfläche der Landschaft oder eines organischen Körpers, sondern auf die in
der Natur wirkende schöpferische Kraft. Er überträgt ihn auf die Antike
und zwar auf die ganze nach ihm so benannte »klassische« Epoche der griechischen Plastik des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Ein außerordendich
gut gewähltes Paradigma, hervorragend geeignet, um dem normativen Antikebild des französischen Klassizismus entgegenzutreten. Denn die älte139
re griechische Plastik des 6. vorchristlichen Jahrhunderts war in ähnlicher
Weise normativ auf die Befolgung traditioneller Schemata festgelegt wie
der französische Klassizismus und dazu noch Ausdruck einer aristokratischen Lebensordnung, in der das unveränderliche Gesetz althergebrachter
Lebensformen mehr Geltung besaß als die Freiheit der Innovation und die
Idee der Veränderung.42 Mit der Wahl der spannungsgeladenen, die Archaik durch die Bewegungsfigur überwindenden Plastik wendet sich Winckelmann jener Epoche zu, in der die Griechen die Geschichtsschreibung
entdeckt haben und vom politischen Nomos zur Demokratie übergingen.
Unter dieser Voraussetzung kann Winckelmanns »Erfindung« der klassi-
schen Antike - in der austauschbaren Bedeutung der Skulptur und der
Epoche43 - durchaus als eine kongeniale Leistung angesehen werden.
Und doch ist nicht zu übersehen, daß diese »Erfindung« unter dem
Zeichen jener Modernisierung steht, die ich eingangs mit kultursoziologischen Begriffen umschrieben habe. Denn Winckelmanns Entwurf ist nicht
aus historisch-antiquarischen Interessen entstanden. Er folgte vielmehr einer geschichtsphilosophischen Intuition, die in der Kunstphilosophie des
Idealismus aufgegriffen und zu einem Phänomen ausgebildet worden ist,
das keine Ähnlichkeit mit der historischen Antike hatte und diese auch gar
nicht suchte. Grund war die Erfahrung eines Mangels, eine Erfahrung, die
von vielen deutschen Autoren formuliert worden ist: das Fehlen einer kulturellen, einer identitätsstiftenden Einheit, ein Mangel, den die deutschen
Intellektuellen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gern mit der Metapher
der »Zerrissenheit« in Verbindung gebracht haben. Die auf die klassische
Antike übertragene Einheit von Natur, Geist und Kunst soll — schrieb Winckelmann - dem modernen Künstler zur Regel werden: »Die Begriffe des
Ganzen, des Vollkommenen in der Natur des Altertums werden die Begriffe des Geteilten in unserer Natur bei ihm läutern und sinnlicher machen: er wird bei der Entdeckung der Schönheiten derselben diese mit
dem vollkommenen Schönen zu verbinden wissen, und durch die Hilfe
der ihm beständig gegenwärtigen erhabenen Formen wird er sich selbst
eine Regel werden.«44 Der Umgang mit der Antike ist, wie diese Formulierungen zeigen, einerseits begriffliche Arbeit, andererseits aber begriffslose
Anschauung. Wo beides zusammenkommt, wo die Synthese von sinnlicher
Anschauung und Reflexion gelungen ist, dort entsteht ein schöpferisches
Selbstbewußtsein im Künstler, dort wird er »sich selbst« zur Regel.
In ähnlicher Weise argumentiert Winckelmann in seinen Aussagen über
den Begriff des Schönen. Denn das Erhabene der Formen - und das ist ein
Kriterium vollkommener Schönheit - entzieht sich nach seinem Verständnis der rationalen Identifizierung, vergleichbar der Resistenz der phänomenalen Fülle gegenüber den Begriffen, wovon Baumgartens Ästhetik sprach.
140
Winckelmann bemüht daher die Gleichnissprache der christlichen Mystik,
um die schöpferische Potenz anzudeuten, die sich in der Anschauung des
in der antiken Plastik verkörperten erhabenen Schönen dem Betrachter
mitteilen soll: »Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist, welcher sich sucht ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der in dem Verstände der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen
Kreatur.«45
Nach diesen Worten ist es der Geist der Schönheit, der noch einmal
— im Zeitalter des Mangels und der Zerrissenheit - das Bild jenes Menschen zu formen versteht, der vor dem Sündenfall, d. h.: vor der Zeit der
Teilung existiert haben soll. Dieses Bildnis ist In-dividuum, ein unteilbares
Ganzes, und zugleich - durch den objektiven Ausdruck seiner erhabenschönen Form - Repräsentant eines Allgemeinen, nämlich der Menschheit
im Zustand ihrer Erlösung von der Endlichkeit der Zeit und vom Verlust
der Ganzheit.46
Antike und Moderne treten in Winckelmanns Konzeption in ein Verhältnis der theoretischen Vermittlung, das mit der historischen Epochengliederung nichts mehr zu tun hat. Der klassischen Antike wird vielmehr
als eines Symbols für die Überwindung der in der Gegenwartszeit erfahrenen Mängel gedacht. Sie ist das Denkbild der mit sich selbst versöhnten Moderne. Dieser Konstruktion liegt die Bewegungsformel für jenen
geschichtsphilosophischen Dreischritt zugrunde, der in der idealistischen
und romantischen Kunstphilosophie zwischen (1) ursprünglicher, vorreflexiver Einheit, (2) Zerfall durch Widerstreit in der Gegenwart und (3) künfl
^ tiger Wiederherstellung im Sinne einer vom philosophischen Gedanken ausge-
henden eschatologischen Utopie unterscheidet. Der christlich-theologische
Hintergrund, der Dreischritt Paradies - Sündenfall - Erlösung, ist hier
ebensowenig zu übersehen wie in Winckelmanns Synthese des biblischen
Schöpfungsmythos mit der antiken Ethik des zwischen Extremen vermittelnden Maßes.
Was aus diesem Prozeß einer Asthetisierung der griechischen Antike
hervorging, an dem sich fast alle deutschprachigen Schriftsteller beteiligten, das war ein Kulturideal, in dessen reflexiv hervorgetriebenem Gegenbild die moderne Kultur - als nationales System verstanden - sich spiegeln
konnte, um - paradox genug - ihre Besonderheit, ihre grundsätzliche Andersartigkeit wahrzunehmen. Andersartigkeit insbesondere im Vergleich
mit dem kulturellen Code der französischen Nachbargesellschaft. Denn
eine Spiegelung zeigt sich überall dort, wo die Epoche der griechischen
Antike als ein Kunstwerk angesehen wird, dessen Form die ausgehaltene
Spannung zwischen den Extremen der Starre einerseits und der Bewegung
andererseits zum Ausdruck bringt. In dieser Sicht wird die von Winckel141
mann für die ganze »klassische« Antike symbolisch eingesetzte skulptierte
menschliche Gestalt lesbar als Emblem der zwischen Beharrung und Aufbruch vermittelnden Stellung des modernen Intellektuellen. Eine Stellung,
die für das Selbstverständnis der deutschen in viel höherem Maß als für
die französischen Intellektuellen kennzeichnend war und je verschiedene
Formen der Traditionskritik in der einen wie anderen Gesellschaft hervorgebracht hat.
Ende des 18. Jahrhunderts - anders als zur Zeit der französischen
»Querelle« - haben die deutschen Intellektuellen nicht mehr den Wettbewerb mit der Antike gesucht. Die auf Kunst, Poesie und Politik der
Griechen projizierte Totalität in der Bedeutung einer kollektiven, als Kulturnation gedachten >natürlichen< Lebensform gehörte, wie Friedrich Schiller immer wieder bemerkte, jener symbolischen Ordnung des ästhetischen
Scheins an, von der aus sich der trügerische Schein einer ohne Verluste
fortwurstelnden Moderne kritisch betrachten und - im subjektiven Raum
der ästhetischen Erfahrung - überwinden ließ.
Vor dem Hintergrund der theoretisch und ästhetisch konstruierten virtuellen Realität der Antike hob sich nun auch die Moderne als genauer zu
bestimmende Wirklichkeit ab. Schiller beschrieb »unsere unpoetischen Tage« mit Worten, deren Kern Kampf und Desorientierung bedeutet: Vereinzelung, Trennung, Absonderung, Antagonismus usf.47 Die Moderne
besitzt, wie Friedrich Schlegel in seinem Essay Über das Studium der griechischen Poesie andeutet, die Einheit des Labyrinths, entbehrt also eines leicht
zugänglichen und verbindlich ordnenden Zentrums.48 Die Zeitstruktur
der Moderne ist offen wie der ewig suchende Gang durch den verschlun- s
genen Bau des Labyrinths. Und gerade um dieser Offenheit willen bedarf
der Künstler und Poet, der in dieser Konzeption als ein Leitbild des modernen Weltbewohners und als Produzent zunkunftsweisender Symbole - der
sog. »neuen Mythologie« - erscheint, eines Ariadnefadens. Diesen soll ihm
noch einmal die »verstehende« und d.h.: die hermeneutisch aneignende
Anschauung der »reinen Griechheit« in die Hand geben.45 »Reine Griechheit«: Das war Schlegels abstrahierender Einheitstitel für jene Universalien,
die der deutsche Intellektuelle als Spitzenwerte seines eigenen kulturellen
Codes hochschätzen sollte. Mit Schlegels Worten: »sittliche Fülle, freie
Gesetzmäßigkeit, liberale Humanität«. Und mit unverkennbar nationalem
Pathos faßt er zusammen: »In Deutschland, und nur in Deutschland, hat
die Ästhetik und das Studium der Griechen eine Höhe erreicht, welche eine gänzliche Umbildung der Dichtkunst und des Geschmacks notwendig
zur Folge haben muß.«^°
Die Historisierung der Antike, die in Herders Forderung, sie nicht
nachzuahmen, sondern vielmehr zu erklären, Programm geworden ist, hat
142
ihre normative Geltung als Vergleichs- und Gegenmodell zur Moderne relativiert. Die Ästhetisierung soll den so angeschlagenen Grund wiederherstellen, auf dessen schmaler intellektueller Basis die antike griechische
Kultur als Denkbild der mit sich selbst, nämlich mit ihren utopischen Idealen versöhnten Moderne zu errichten ist. Der kulturelle Universalismus,
der die Welt der Griechen zum Menschheitsideal erhebt, stößt jedoch an
Grenzen, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit wiederum relativieren. Denn es ist nicht zu übersehen: Die deutschen Intellektuellen im hier
betrachteten Zeitraum kämpfen mit dem Instrument der klassischen Bildung für einen nationalen Mythos, der nicht nur mit dem französischen
Universalanspruch konkurriert, sondern ihn zu überbieten sucht, indem er
die dynamischen Fortschritte der französischen Moderne mit dem statuarischen Idealbild der griechischen Antike zusammenzwingt.51 Ein Traum,
der rasch zerstört wird, da die Revolutionskriege bald die kulturellen Ansprüche der einen wie anderen Seite in die Sprache der Gewalt übersetzen. An die Stelle der universalistischen antiken Denkbilder, die an einen
gemeinsamen Kulturhorizont erinnern, rücken die Bilder des nationalen
Mittelalters. Damit tritt die Moderne jener zweideutigen Gestalt näher,
in der sich das Nebeneinander von nationalkonservativen sowie völkischen
Ideologien und zukunftsstürmenden Fortschrittseuphorien ungestört entfalten kann.
Anmerkungen
1 Zu Entstehung und Bedeutungswandel der Leitbegriffe vgl. die Artikel »Antike«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. I, Darmstadt 1971, S. 385-392, und »Modern, Modernität, Moderne«, in: Geschichtliche
Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner et al„ Bd. IV, Stuttgart 1978, S. 93-131. S. auch
Jacques Le Goff: Geschichte und Gedächtnis, Frankurt/New York 1992, S. 49—
82. Zur Rechtfertigung der Moderne unter Berufung auf die Andersheit der Antike vgl. die aufschlußreiche Studie von Federico Vercellone: Identitä dell'antico.
L'idea del classico nella cultura tedesca del primo ottocento, Turin 1988.
2 Für viele Autoren des 18. Jh. - etwa für Thomas Blackwell und Joh. Gottfried
Herder - war die historiographische Kindheitsallegorie positiv besetzt; sie diente
dazu, die erwünschte Ähnlichkeit zwischen Altem (Kind) und Neuem (Mann)
zu begründen und ist symptomatisch für die genetische Strukturformel des europäischen Philhellenismus. Vgl. auch Norbert Miller: »Europäischer Philhellenismus zwischen Winckelmann und Byron«, in: Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. IV: Aufklärung und Romantik 1700-1830, Berlin 1983, S. 315 ff Noch
143
Marx, der sein Antike-Verständnis zugleich an Winckelmann und den Junghegelianern geschult hat, macht vom Kindheitsbild Gebrauch, um die ihm merkwürdige, anscheinend a-historische Geltung des klassischen Ideals zu umschreiben.
Dazu Panajotis Kondylis: Marx und die griechische Antike, Heidelberg 1987,
S.64ff.
3 Eckhard Kessler: Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 1978.
4 Hinweise und Anregungen verdanke ich den Arbeiten von Hans Robert Jauß,
insbes. dem Aufsatz »Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der
Modernität«, in: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 31973,
S. 11-66.
5 Vgl. etwa die von S. Rokkan hg. Beiträge in: Comparative Research across
Cultures and Nations, Paris 1968.
6 Siehe die kritischen Analysen von Zygmunt Bauman: Intimations of Postmodernity, London 1992.
7 Franco Volpi: »Praktische Klugheit im Nihilismus der Technik: Hermeneutik, Praktische Philosophie, Neoaristotelismus«, in: Internationale Zeitschrift für
Philosophie 1 (1992), S. 5-23.
8 Daß sich daraus eine neue Qualität globaler Zivilisationskonflikte ergeben
könnte, vermutet Samuel P. Huntington: »The Clash of Civilizations?«, in: Foreign Affairs 72/3 (1993), S. 22-49.
9 Shmuel N. Eisenstadt: Tradition, Change, and Modetnity, New York/Sydney/Toronto 1973. Richard Münch: Die Kultur der Moderne, 2 Bde., Frankfurt/M. 1986.
10 Christoph Cellarius: Historia Universalis [...] in antiquam et medii aevi ac
novam divisa, 1685-1696. Vgl. dazu Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft
im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus,
München 1991, S. 122 f.
11 Vgl. dazu die systematische, auf den Wandel der Hochkulturen bezogene Skiz-
ze von S. N. Eisenstadt: »Die Mitwirkung der Intellektuellen an der Konstruktion lebensweltlicher und transzendenter Ordnungen«, in: A. Assmann/D. Harth
(Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/M. 1991, S. 123-132.
12 Zur ethnozentrischen, also relativistischen Bedeutung des mit dem französischen »esprit classique« verbundenen Universalismus vgl. Tzvetan Todorov: Nous
et les autres. La reflexion francaise sur la diversite humaine, Paris 1989, S. 19 ff.
Zur Geschichte des »esprit classique« nach wie vor unentbehrlich die Untersuchung von Rene Bray: La formation de la doctrine classique, Paris 1926.
13 Thomas Corneille: Le dictionnaire des ans et des sciences, Tome I, Paris 1694.
Eine ähnliche Bedeutung hat »ancien« im Dictionnaire de lAcademie Francaise
(T I., Paris 1695, S. 24), während »antique« hier als Bezeichnung für »sehr alt« in
Opposition zu »moderne« steht.
14 »II ne faut qu'avoir patience; et par une longue suite de siecles, nous devien144
drons les contemporaines des Grecs et des Latins.« R Fenelon: Digressions sur les
anciens et les modernes (1688). Zit. nach W. Krauss/H. Kortum (Hg.): Antike
und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts, Berlin 1966, S. 67.
15 In diesem Kontext ist die Entscheidung der Modernisten für die zeitgenössischen Pionierleistungen der Technik und Naturwissenschaften bezeichnend. Diese entzogen sich nicht nur dem Vergleich mit den klassischen Idealen, sondern
verweigerten sich auch — siehe das Beispiel der Schraube - dem Modell der Naturnachahmung. Damit konnte der Kampf gegen das alte Weltbild sich auf eine
Ebene zutückziehen, die in ähnlicher Weise von Traditionsbeständen frei schien,
wie die tabula rasa der cartesischen Vernunft. Zum ideengeschichdichen Hintergrund vgl. Hans Blumenberg: »»Nachahmung der Natur<. Zur Vorgeschichte
der Idee des schöpferischen Menschen«, in: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir
leben, Stuttgart 1986, S. 55-103.
16 Zur Ablösung des magistra-Topos durch die historische Zeiterfahrung der
Moderne vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, S. 38 ff.
17 Joh. Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, Leipzig 1752,
S. 100.
18 R. Blackmore: Essay upon Epick Poetry (1716); Jean Terrasson: Dissertation
critique sur l'Iliade (1715); beide zit. nach A. Owen Aldridge: »Ancients and
Modems in the Eighteenth Century«, in: Dictionary of the History of Ideas, hg.
v. P. P. Wiener, Bd. I, New York 1973, S. 77.
19 Charles Perrault, der Wortführer der Modernen in der Querelle, hat ausdrücklich die methodische Konstruktion der Maschine als Fortschrittszeichen dem Prinzip der Naturnachahmung entgegengesetzt. Vgl. dazu Hans Robert Jauß: »Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der »Querelle des Anciens et des
Modernes<«, Einleitung zur Neuausgabe von Perraults Parallele des Anciens et des
Modernes [1688-97], München 1964, S.49.
20 Vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 31973, S.
269 ff.
21 G. W F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 51970, S. 4.
22 Encyclopedie, T. X, Paris 1765, S. 601.
23 Johann Adolf Schlegel: »Abhandlungen«, in: Charles Batteux: Einschränkung
der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz, Leipzig 21759, S. 253.
24 S. zu dieser Art der Modernisierung des Alten Luc Ferry: Der Mensch als
Ästhet. Die Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie, Stuttgart
1992, S. 54 ff.
25 Vgl. zu diesem gelehrten Aneignungsprozeß Arnaldo Momigliano: Wege in
die Alte Welt, Berlin 1991. Über die Vorbereitung der ästhetisierenden Kunstbetrachtung durch die gelehrte Archäologie: Luigi Beschi: »La scoperta dell'arte greca«, in: S. Settis: Memoria dell'antico nell'arte italiana, III, Torino 1986, S. 293372.
145
26 Zit. nach AJdridge [Anm. 18], S. 78.
27 Vgl. dazu Jochen Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens 1750-1945.
I: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985, S. 27 u. ö.
28 Zu den philologiehistorischen Grundzügen dieser Entwicklung vgl. Rudolf
Pfeiffer: Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, München 1982,
S. 207 ff.
29 Voltaire: Le siecle de Louis XIV, I, Paris 1966, S. 35.
30 Vgl. Francis Haskeil & Nicholas Penny: Taste and the Antique. The Lure of
Classical Sculpture 1500-1900, New Haven/London 1981, S. 36 ff.
31 Voltaire [Anm. 29], S. 36.
32 Zu Winckelmanns Kenntnis französischer Quellen s. Martin Fontius: Winckelmann und die französische Aufklärung, Berlin 1968.
33 Vgl. Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur
Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München
1981.
34 Vgl. die entsprechenden Kapitel in meinem Buch: G. E. Lessing oder die
Paradoxien der Selbsterkenntnis, München 1993.
35 Vgl. Orietta Rossi Pinelli: »Chirurgia della memoria: scultura antica e restauri
storici«, in: Settis [Anm. 25], S. 181-250.
36 Zur neueren Geschichte der Homer-Kritik vgl. Glenn Most: »The Second
Homeric Renaissance. Allegories and Genius in Early Modern Poetics«, in: P.
Mutray: Genius. The History of an Idea, Oxford 1989, S. 54-7537 Goethe: Berliner Ausgabe, XIX, Berlin 1973, S. 378. J. W. Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, XXII, Zürich 1949, S. 566. Zur zeitkritischen, die modernen Anfechtungen aushaltenden Funktion dieses Denkens
vgl. Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der
»Wahlverwandtschaften«, Frankfurt/M. 1986, S.29ff.
38 Vgl. z. B. Herders frühe »Fragmente einer Abhandlung über die Ode«
[1765]. in: Sämmtliche Werke, hg. von B. Suphan, XXXII, Berlin 1899, S. 6185.
39 Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden
Abschnitte aus der »Aesthetica« (1750/58), übers, u. hg. v. H. R. Schweizer, Hamburg 1983, Einleitung des Hg., S. XIII.
40 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums [1764],
Darmstadt 1982, S. 152.
41 J. J. Winckelmann: Ausgewählte Schriften und Briefe, hg. v. W. Rehm, Wiesbaden 1948, S. 9.
42 Vgl. Tonio Hölscher: »Tradition und Geschichte. Zwei Typen der Vergangenheit am Beispiel der griechischen Kunst«, in: J. Assmann/T. Hölscher (Hg.):
Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 115-149. Zur dialektischen, die
Spannung zwischen Starre und Bewegung aushaltenden Tendenz in Winckel146
manns Ästhetik vgl. Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I: Antike
und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung,
hg. v. S. Metz/H.-H. Hildebrandt, Frankfurt/M. 1974, S. 43 ff.
43 In der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste von Ersch &
Gruber (4. Theil, 1820, S. 300 ff.) schreibt Bouterwek, erst das Studium des »Antiken im ästhetischen und artistischen Sinne« habe »das Moderne« hervorgebracht.
Noch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm von 1854 (Bd. I, S.500)
finden sich unter dem Lemma »Antike« nur die aufs Kunstwerk verweisenden
Primär-Erläuterungen: »opus antiquum, artis opus«.
44 Ausgewählte Schriften [Anm. 41], S. 13 f.
45 a.a.O., S. 124.
46 Die intendierte semantische Ähnlichkeit zwischen dem Ganzen einer Kulturnation, eines ästhetischen Werkes und universeller Menschheitsrepräsentanz faßt,
soweit hier Präzision überhaupt möglich, am genauesten Wilhelm von Humboldt
in seinen verschiedenen Studien über die identitätsbildende Funktion der klassischen Bildung: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik, Werke II, hg. v. A.
Flitner/ K. Giel, Darmstadt 1961.
47 F. Schiller, Sämtliche Werke, Säkular-Ausgabe, Stuttgart/Berlin [o.J.], XII,
S. 22, 228; XVI, S. 227.
48 F. Schlegel: Schriften zur Literatur, hg. v. W. Rasch, München 1972, S. 156.
49 Schlegel a.a.O., S. 178. Zu Schlegels »ästhetischer Hermeneutik« vgl.
Heinz-Dieter Weber: Friedrich Schlegels »Transzdentendalpoesie«. Untersuchungen zum Funktionswandel der Literaturkritik im 18. Jh., München 1973, S. 156 f.
50 Schlegel a. a. O., S. 190.
51 Wie viele seiner Zeitgenossen weist Schlegel selber auf die kulturrelativistische
Geltung des Universalismus hin: »Sollte der jetzige französische Nationalcharakter
nicht eigentlich mit dem Kardinal Richelieu anfangen? Seine seltsame und beinah
abgeschmackte Universalität erinnert an viele der merkwürdigsten französischen
Phänomene nach ihm« (a. a. O., S. 77).
147
Der deutsche Idealismus und die
Suche nach kultureller Identität.
Fünf Szenen
Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut
und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern
das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur,
indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst
findet.
G.W. F. Hegel
Erste Szene
»Nachtstück: Auf der Bühne steht ein Mensch. Er ist überlebensgroß, vielleicht
eine Puppe... « Etwas fährt über die Bühne, der Puppenmensch will es fassen,
kommt zu Fall, macht seinen Körper dafür verantwortlich und zerreißt ihn
Stück für Stück. Eine Maschine fahrt auf ihn los, blendet ihn. »Aus den leeren
Augenhöhlen des Menschen, der vielleicht eine Puppe ist, kriechen Läuse und
verbreiten sich schwarz über sein Gesicht. Er schreit. Der Mund entsteht mit
dem Schrei.
(H. Müller 1977, 74)
Die Bilder der Geschichte sind Bilder der Gewalt. Keine Frage - die Ak-
teure wissen das und wenden ästhetische Mittel an, um diesen Sachverhalt
zu verhüllen. Doch das moderne Theater kehrt die Ästhetik um und rückt
grell ins Licht, was vor dem Auge des Publikums absichtsvoll verklärt wurde.
Unmißverständlich zeigt Heiner Müllers Germania Tod in Berlin, wo
die Ursache fiir jene Zerrissenheit der deutschen Nation zu suchen ist, über
die ein revanchistisches Häuflein zu jammern nicht aufhört.
Wieder ist heute ein großes Gerede über die mangelnde Identität der
Deutschen im Entstehen. Der Geist von Fichtes vaterländischen Reden
wird wieder beschworen und die Gewalt der Deutschen mit der Gewalt
der anderen verrechnet. Es sind Versuche der Selbstheilung. Was zerrissen
ist, das soll von der Drohung des Schuldvorwurfs entlastet werden. Heiner
Müllers dramatische Bilderrede gibt dem keine Chance. Sie bleibt dabei:
Gewalt ist eine Signatur der deutschen Geschichte. Doch Gewalt erzeugt
149
Gegengewalt, eine Wahrheit, die der Aggressor an den Verstümmelungen
ablesen mag, die er sich zugezogen hat.
Der Vorwurf, die Deutschen besäßen ein intimes Verhältnis zur Gewalt und zu ihren selbstzerstörerischen Folgen, ist freilich nicht neu. Lange bevor Müllers Theater diesen Vorwurf in provozierenden Szenen ausmalte, hatte er schon bei den Nachbarn der Deutschen Schule gemacht.
Mehr noch: Die Gewaltneigung wurde als besonderes Kennzeichen ihrer
Identität gedeutet. Georges Clemenceau unterstellte den Deutschen im
Rückblick auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs die Mentalität des
Wildbeuters, der sich todesverachtend in Gefahr begibt, um selbst töten zu
können. »Der Deutsche«, bemerkte er, »liebt den Krieg aus Selbsdiebe und
weil an dessen Ende das Blutbad wartet« (zit. nach K. Barth 1945, 342).
Ein des Deutschenhasses gänzlich unverdächtiger Zeuge, der schweizerische Theologe Karl Barth, zog sofort nach dem Zweiten Weltkrieg ei-
ne perspektivische Linie von Luther über Bismarck zu Hitler, die manche Ähnlichkeit mit dem verhängnisträchtigen Faden der Vorsehung auf-
weist. Luthers Trennung zwischen weltlichem Gesetz und religiöser Glaubenswahrheit - so lautet sein Argument - habe eine Herrschaftsgesinnung
ermöglicht, die einen heidnischen Kult der Gewalt an die Stelle chrisdicher
Überzeugung setzte (K. Barth 1945, 358 f.).
Solche wenig schmeichelhaften Urteile ließen sich leicht noch vermehren. Ihr Gemeinsames ist, daß sie die Identität der Deutschen in Eigenschaften suchen, die der Kultur fremd, ja zerstörerisch gegenüberstehen.
Die Deutschen sind Barbaren, und mit dieser Aussage waren die Deutschen - bzw. einige ihrer geistigen Repräsentanten - zeitweise durchaus
zufrieden. Man erinnere sich nur des Lobs einer barbarischen, nämlich ungekünstelten, unverdorbenen Nation, das Thomas Mann 1914 so beredt
dem demokratischen Westen entgegenschleuderte. Und der Schriftsteller
hielt sich durchaus nicht mit Differenzierungen auf. Für ihn stand fest,
daß die Besonderheit der Deutschen innerhalb der europäischen Völker
kein leicht zu tragendes Schicksal sei. Das deutsche Volk, so schrieb er,
»hat es schwer mit sich selbst, es findet sich fragwürdig, es leidet zuweilen
an sich selbst bis zum Ekel« (Th. Mann 1977, 36). Warum? Die Antwort
ist naheliegend: Die Identifizierung mit einem zugeschriebenen Feindbild
macht niemanden glücklich. Und doch ist dieses »unglückliche Nationalbewußtsein« nach wie vor als ein Instrument konservativer Propaganda in
Gebrauch. Nur daß es heute verbunden mit der selbstquälerischen Dia-
gnose einer kollektiven Krankheit auftritt: »Die deutsche Neurose. Über
die beschädigte Identität der Deutschen« (A. Peisl/A. Mohler 1980).
Der Befund ist paradox. Identität durch Verneinung des Lebens, durch
Abnormität - das sind Folgerungen, die den Verdacht nahelegen, die Rede
150
von kollektiven Identitäten sei bar jeder empirischen Rechtfertigung. Gewiß unterstellt sie dem Kollektiv eine Subjekthaftigkeit, die ihm in Wahrheit gar nicht zukommen kann. Andererseits aber sind solche metonymischen Redeweisen im politischen Diskurs gang und gäbe und werden
eingesetzt, um Stereotypen der Selbst- und Fremddeutung zu erzeugen, die
nicht nur als Vorurteile wirksam werden. Nationale Identitäten sind, so
gesehen, nur schwer meßbar im Sinne empirisch überprüfbarer Einstellungen. Aber es sind Redeweisen, die nicht selten mit handfester Symbolik
verbunden auftreten, ja auch von oben organisiert werden können und eine relativ dauerhafte semantische sowie materiale Präsenz im kulturellen
Diskurs einer Gesellschaft erwerben. Sie schaffen den Deutungsrahmen,
innerhalb dessen zugleich mit dem Selbstbild des Kollektivs die Orthodoxie für das Aus- und Eingrenzen der einzelnen Mitglieder entsteht. Und sie
sind auf die Anerkennung durch diejenigen Kollektive angewiesen, von denen sie sich unterscheiden wollen. Die Nation der Deutschen zum Beispiel
auf die der Franzosen.
An den Folgen revolutionärer Umbrüche läßt sich ablesen, wie eng gesellschaftliche Symbolik und behauptete bzw. zu ändernde kollektive Iden-
titäten verknüpft sind. Das soll nicht heißen, daß Kultur in sozial restriktiver Bedeutung - zum Beispiel Wissenschaften und Künste - dem
raschen Umbau der Kollektividentität zum Opfer fallen müßte. Im Ge-
genteil: Nicht selten werden die Voraussetzungen für das Neue lange vor
dem Umbruch des gesellschaftlichen Systems auf kultureller Ebene geschaf-
fen. In diesem Sinne sind politische oder soziale Revolutionen stets auch
Revolutionen der Kultur. Das gilt für die Französische Revolution von
1789, für die Russische Revolution von 1917 und für die faschistischen
Revolutionen unseres Jahrhunderts, für diese freilich in einem besonderen,
erläuterungsbedürfiigen Sinn.
Eine geglückte Revolution kann die Definition dessen, was zur nationalen Identität gehört oder von ihr auszuschließen ist, in nachhaltiger Weise verändern. Es ist nicht übertrieben, in einem solchen Fall von der Entstehung eines neuen »Mythos« zu sprechen, versteht man den Begriff als
Sammelbezeichnung für die komplexe Semantik, die das neue Selbstbild
verkörpert. Dieser Mythos bildet die strukturelle Gesamtheit aller Texte,
Symbole und Zeichen, die von einer kulturellen, sozialen oder ethnischen
Einheit als Identifikationsmarken anerkannt werden. Die Französische Revolution von 1789 hat einen solchen Mythos produziert, den Mythos der
Nation, dessen zentrale politische Bedeutung, die Souveränität des aus
eigener Kraft sich emanzipierenden Bürgertums, an die vorrevolutionäre
Kultur der Aufklärung anknüpfen konnte.
Die Französische Revolution - auch das, was ihr folgte - ist jedoch
151
kein simples Beispiel für den allgemein zu beschreibenden Prozeß nationaler Identitätsbildung. Sie hat überhaupt erst das Bewußtsein für jene
Fragen der kollektiven Identitätsbildung geweckt, von denen hier die Rede
ist, und gehört insofern zur Genese des heutigen Problemstandes. Niemand anders hat zur Zeit des Ereignisses sensibler auf den jähen Schub der
nationalen und kulturellen Selbstfindung reagiert als die literarische Elite
der deutschen Nachbargesellschaft. Hier wurde als Ungenügen empfunden, was in Frankreich gelungen schien, die Integration des neuen, des
Dritten Standes, der traditionsreichen Adelskultur und der nach Modernisierung trachtenden Intelligenz. In Deutschland wurde die Abwesenheit
eines Zentrums der aristokratischen und dann auch bürgerlichen Kultur,
wurden politische Territorialisierung und damit einhergehende Regionalisierung der öffentlichen Kommunikation als schwere Mängel empfunden. Verhinderten sie doch die Normierung einer nationalen Kultur und
entsprechenden Identität. Diese Erfahrung motivierte die einheimischen
Schriftsteller, einen hochkarätigen ästhetischen und theoretischen Diskurs
über die Frage zu entwickeln, wie die Kultur beschaffen sein sollte, mit
der diejenigen sich identifizieren konnten, die einer politischen und sozialen Integration - vergleichbar der in Frankreich sich anbahnenden —
entbehrten. Die Suche nach dieser Kultur war zugleich ihre Produktion
und wurde von einer unablässigen Reflexion über die Bedingungen ihrer
möglichen Gestalt begleitet. Auch hier gilt: Die Bestimmung des Eigenen
war zugleich ein Akt des Sichunterscheidens.
Wenige Jahre vor der Französischen Revolution schrieb Immanuel
Kant, das »äußerste Ziel der Kultur« sei »eine vollkommene bürgerliche
Verfassung« (I. Kant 1968, 117). Es war für ihn selbstverständlich, daß
nationale, d.i. bürgerliche Ordnung und Kultur zusammengehörten. Die
Grenze zum Fremden lag nach seiner Auffassung dort, wo die gesellschaftliche Ordnung sich mit weniger als Kultur begnügte, wo sie — um sogleich
den entscheidenden Abgrenzungsbegriff zu zitieren — die »Zivilisierung« als
höchsten sozialen Wert betrachtete. Damit gab Kant das Stichwort für jene
antithetische Unterscheidung zwischen Zivilisation und Kultur, die immer
wieder ausgeschlachtet wurde, um die deutsche »Bildung« als etwas Besonderes von der französischen »Form« abzusetzen. Der Philosoph konnte den
späteren Mißbrauch seiner Formel nicht voraussehen. Seine Begründung
war noch nicht an Nationalstereotypen orientiert. Sie bezog sich vielmehr
auf einen von Haus aus ungeselligen Menschen, den Kultur/Bildung erst
zum gesellschaftsfähigen Wesen macht.
Im achtzehnten, vor allem aber im neunzehnten Jahrhundert wurde
der Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation nach und nach zur Losung
der nationalistischen Identitätsapostel. Bald war »Kultur« das Schlagwort
152
derjenigen, die den Institutionen der modernen Gesellschaft das Bild eines
sozialen »Organismus« entgegenhielten, das rationale oder gar demokratische Entscheidungs- und Kontrollinstanzen als spezifisch moderne Krankheitssymptome denunzieren sollte. Damit sind wir bei einer Variante der
Identitätsrede, die dort, wo sie mit einem kulturkritischen Akzent versehen wird, nämlich bei J.-J. Rousseau, nicht der nationalen Stereotypenbildung verdächtig ist. Es ist der Gegensatz von Organismus und Maschine,
in dem die »Maschine« als Bild einer zwar funktional eingerichteten, aber
gerade deshalb leblosen Gesellschaftsordnung erscheint und sich als Auktionierender Mechanismus< mit der bloßen Formalität der »Zivilisation«
gut verträgt. In der deutschen Zivilisationskritik des späten achtzehnten
Jahrhunderts kommt der moderne Mensch - also ein Organismus - nicht
selten als Funktion des maschinenantreibenden Rädchens vor. Zwei einander ausschließende Bildfelder kreuzen sich in einer solchen Redeweise.
Der Organismus bezeichnet einen allseitigen Zusammenhang von Teilen
und Ganzem, der es zuläßt, sogar das Anorganische und Technische noch
in Analogie zum natürlichen Lebensprozeß zu verstehen. Anders das Bild
der Maschine: Es steht für den toten Funktionalismus, der die Auswechselbarkeit der Teile einkalkuliert und ausdrücklich die Abstraktionen mechanischer Gesetze voraussetzt. Die Katachrese von Organismus und Maschine kann daher als Ausdruck einer Dissonanz betrachtet werden, die, in
den synonymen Begriffen der Entzweiung und Zerrissenheit vervielfältigt,
nicht nur als das Merkmal einer spezifisch deutschen Identitätssuche gilt,
sondern darüber hinaus die soziale Desintegration und Dysfunktionalität
des Intellektuellen unter den Bedingungen der modernen Massengesellschaft kennzeichnet.
Zweite Szene
Im Mittelpunkt steht ein junger Mann etwa um die Mitte Zwanzig - vielleicht in abgewetzter Reisekleidung, auf jeden Fall mit dem offenen Kragen,
der den Liebhaber der Freiheit vor dem pflichtbesessenen Beamten und Funkti-
onärauszeichnet. Die Schauplätze seines Auftretens wechseln rasch: Tübingen,
Waltershausen, Jena, Frankfurt am Main. Überallhin begleitet ihn eine Scha-
tulle mit Schreibzeug. Von Ort zu Ort wächst ein Manuskript. Und eines
Nachts, in trüber Herberge, ertappen wir ihn bei der stockenden Niederschrift
der folgenden Sätze: »Es ist ein hartes Wort und dennoch sagichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen.
Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und
gesetzte Leute, aber keine Menschen — ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo
153
Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen
das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?«
Etwa zur gleichen Zeit — wir schreiben das Jahr 1793 oder 1795 (es kommt
in unserem Drama auf ein paar Jahre nicht an) — sitzt ein leidlich bestallter
Schrifisteller, etliche Jahre älter als der andere, an seinem Schreibtisch in einer
kleinen Residenzstadt unweit von Weimar und vergleicht die «Polypennatur
der griechischen Staaten« mit dem »Uhrwerk« der gegenwärtigen Verhältnisse.
Das soeben Niedergeschriebene liest er, wie um die rhetorische Wirkung abzuschmecken, noch einmal laut vor sich hin: »Auseinandergerissen wurden jetzt
der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der
Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden.
Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich
der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des
Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß
zum Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.« — Der Leser scheint zufrie-
den mit dem, was er zu Papier gebracht hat, denn schon setzt die Feder wieder
an. Sie beendet schließlich die Klage mit dem eindringlichen Satz: »Der tote
Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtnis leitet
sicherer als Genie und Empfindung.«
So verständlich diese Äußerungen wirken, so vertrackt ist die Form, deren
sich ihre Autoren bedienten. Die zitierten Sätze Hölderlins (1957, 153)
und Schillers (1959, 584) stehen in Briefen, nicht in echten, sondern in
fiktiven Briefen. Hölderlin legt sein Urteil über die Deutschen einer Romanfigur in den Mund, einem Griechen zudem: Hyperion. Schiller, der
die Katachrese von Maschine und Organismus ausbeutet, antwortete auf
die Frage, an wen er seine Briefe über die ästhetische Erziehung adressiert
habe: das tue nichts zur Sache (F. Schiller 1959, 1133). Die literarische
Form gehört der an die Öffentlichkeit gerichteten Rede, sie verbürgt VerAllgemeinerung und gibt die Botschaft an die ganze Nation weiter, soweit
diese zu lesen vermag.
Zur Zeit der Veröffendichung der fiktiven Briefe Hölderlins und Schillers gab es jedoch weder eine deutsche Nation noch eine überregionale
Öffentlichkeit noch jenes große Publikum, das sich hinreißen läßt, solche
Botschaften kontrovers zu debattieren. Hölderlin und Schiller schrieben
bewußt für kleine »Zirkel« und bedienten sich einer Sprache, die dem exklusiven Idiom einer unter dem Schutz des Geheimnisses handelnden Elite
gleicht. Den deutschen Beobachtern der Französischen Revolution entging nicht der Terror. Aber von den Zerreißproben innerhalb der einander
154
bekämpfenden Revolutionsparteien unterschied sich in auffallender Weise
der mit Zwang aufrechterhaltene politische Quietismus in den deutschen
Kleinstaaten. Eine Identität der Deutschen, die mit den zustimmungsfähigen Symbolen der Revolution vergleichbar war, lag daher außerhalb der
politischen Realität. Um so stärker wurde sie vermißt.
Den Fleiß des Sklaven - so hieß es in Hölderlins Hyperion - übten die
Deutschen, ihr Sinn sei »Knechtssinn«, und sie zerrissen zugleich mit der
»schönen Natur« die Grundlagen ihrer Kultur (F. Hölderlin 1957, 153f.).
Hyperion, der Grieche, verachtet in ihnen jene »Barbaren«, deren Kultur-
mißbrauch sie nur tiefer in die Barbarei hineinstößt. Die Gegenwelt ist
imaginär, sie heißt Griechenland und ist das Symbol ftir jene Integration
von individuellem Dasein und allgemeiner Lebensordnung, die auch Schillers Bild des Polypen beschwört. Dieser regeneriert immer wieder nach
jeder erlittenen Zerstückelung in ganzheitlichen Organismen.
Die Metapher der »Zerrissenheit« enthält, darüber belehrt der Blick
zurück in die idealisierte Vergangenheit, einen geschichtsphilosophischen
Kern. Was einst war, die naturwüchsige Identität von kulturellem, politischem, sozialem Leben, das ist jetzt zerstört, und die kritische Reflexion,
die sich auf den Gang der zugrundeliegenden Entzweiung richtet, hat die
Aufgabe, aus den zerstückten Teilen das Bild eines kommenden Ganzen zusammenzusetzen. »Versöhnung« lautet das Zauberwort dieser Arbeit. Aber
sie hat es schwer, denn die Kultur selbst scheidet - so scheint es wenigstens
- als Heilmittel aus. Sie war es, sagt Schiller, »welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug« (F. Schiller 1959, 583).
Freilich ist das kein typisch deutsches Thema. Davon war auch schon und hier mit viel schärferen Worten - im Ersten Discours des Jean-Jacques
Rousseau die Rede. Gewiß, der Mythos vom Untergang des authentischen,
mit der Natur (welcher Natur?) in Einklang lebenden Menschen stammt
von dem Bürger aus Genf. Nur haben die deutschen Schriftsteller ihn auf
ihre Weise eingebürgert. Sie haben, um es bildlich anzudeuten, die Stränge
des kulturkritischen und des politikkritischen Diskurses so kunstvoll zusammengewebt, daß daraus ein orientalischer Teppich wurde.
In Hölderlins und Schillers Klage über die Mechanisierung des Lebens schwingt ein besonderer, wie mir scheint, doch sehr deutscher Ton
mit, der die Suche nach Identität in eine merkwürdige Richtung gelenkt
hat. Hölderlins Gegenüberstellung von gesellschaftlichem Rollenhandeln
einerseits und authentischem Menschsein andererseits wertet das Soziale
als eine Form mechanisch ausgeübter Gewalt ab. Die Gesellschaft ist das
Schlachtfeld, auf dem das Blut des einzelnen umsonst vergossen wird: Die
zerstückelten Glieder finden nicht mehr zusammen.
Trotz der offenkundigen Unvergleichbarkeit schließt sich das Bild der
155
Maschine an diese Vorstellung an. Auch Rousseau sprach, wenn er an den
modernen Staat dachte, von der »machine politique«. Aber er betrachtete
den Staat nicht als sinnlosen Unterdrückungsmechanismus, sondern als
eine nach Maßgabe des Gleichheitsprinzips zu verbessernde Form.
Im Altesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, an dem — wie man
annehmen muß - Hölderlin, Schelling und Hegel mitgearbeitet haben,
heißt es über den Staat, dieser sei sowenig eine Idee, »als es eine Idee von
einer Maschine gibt«. »Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee.
Wir müssen also auch über den Staat hinaus!« (zit. nach Frank/Kurz 1975,
110). Weder die moderne Gesellschaft mit der ihr eigentümlichen Rationalität der Arbeitsteilung noch der gesetzgebende Staat waren satisfaktionsfähige Muster der Identifikation für die deutschen Intellektuellen jener
Zeit. Das Bild der Maschine rückt Staat und Gesellschaft auf die Seite jener leblosen Automaten, die nur der technische Verstand hervorzubringen
vermag. Über diesen Verstand klagte Schiller, er kenne nur eine Aufgabe:
alles zu trennen, zu zerlegen, zu analysieren.
Und doch war es gerade Schiller, der sich an die kritische Philosophie,
mithin an den Verstand hielt. Die Leistungen der Rationalität verwarf er
nicht im ganzen. Doch bestand er darauf, das Leben sei stets mehr, als
der Verstand erfassen und klassifizieren kann. An dieser Stelle tritt das
Ästhetische in seine Rechte ein. Denn dieses bezeichnet in Schillers Kulturtheorie eine Erfahrung, die den universellen Antagonismus zwischen
mechanischen (Verstandes-) und organischen (Lebens-)Kräften überwin-
den will. Und so kommt Schiller dazu, die kulturelle Identität in den
Prozeß der Identitätssuche selbst zu verlegen. Jene Kultur, die alle Zerrissenheit überwunden hat — eines ihrer Bilder ist der »ästhetische Staat« -, ist
nur im Durchgang durch den »Antagonismus« des Organischen und Mechanischen erreichbar. Dieser Antagonismus ist, so Schiller wördich, »das
große Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument; denn so lange
derselbe dauert, ist man erst auf dem Wege zu dieser« (F. Schiller 1959,
587).
Verschließt sich Schillers Kulturtheorie auch der banalen Frage nach
ihrer empirischen Geltung, so ist sie dennoch - als Symptom betrachtet von außerordentlichem Wert. Sie dokumentiert nämlich das Reflexivwerden der Kultur, und das ist eine irreduzible Voraussetzung unseres heutigen Kulturverständnisses. Reflexiv ist Kultur, seitdem über ihre Möglichkeitsbedingungen auf eine Weise nachgedacht werden muß, die - auch
wenn das gewöhnliche Bewußtsein das anders empfindet - Unmittelbarkeit ausschließt. Über die Wahl und Geltung kultureller Werte entscheidet verständigungsorientiertes, also sprachliches Handeln. Wo bloß das
Pochen auf Tradition und Autorität einem kulturellen Kanon zum Durch156
bruch verhelfen soll, da empfinden wir heute, wie hohl, weil ungerechtfertigt ein solcher Anspruch ist. Kultur bedarf, auch wenn sie sich in eine
Vielfalt konkurrierender Muster auseinanderlegt, der Legitimation. Das ist
der kritische Sinn der idealistischen Kulturtheorie, die freilich auch noch
andere Züge enthält. Sie ist gewiß nicht nur als autonome Denkübung zu
begreifen. Ihre Genese hat ihre Entsprechungen in der Genese eines na-
tionalen Kulturbewußtseins. Insofern ist das Schauspiel der Französischen
Revolution für Schiller zugleich das Ferment eines neuen Denkens und das
herausfordernde Sinnbild eines leidvollen Umsturzes aller durch Tradition
geheiligten Kulturformen gewesen.
Dritte Szene
Die Bühne — es ist die eines Puppentheaters — zeigt einen gut bürgerlichen Sa-
lon. Hier ist ein Zirkel junger Damen und Herren versammelt; man redet
einander mit lateinischen und italienischen Vornamen an: Amalia, Marcus,
Ludovico, Camilla usw.; man gibt sich großzügig und freisinnig. Aber so recht
überzeugt es nicht. Trotz aller Maskerade — die Puppen sind nun einmal aus
deutschem Holz.
Man feiert gerade eine jener »Orgien der wahren Muse«, wie sie um 1800
in romantischen Zirkeln zum guten Ton gehörten. Da ist von Dichtung und
Schauspiel, von Wissenschaft und Geschichte die Rede, und immer wieder von
Dichtung. Eben versteigt sich Lothario zu der Behauptung, jede Wissenschaft,
die um ihrer selbst willen betrieben würde, erscheine notgedrungen als »Poe-
sie«. Die Behauptung erstaunt niemanden; man ist sich einig: In der Poesie
sind die Gegensätze zwischen Abstraktion und Imagination aufgehoben, wenn
auch nicht vollends versöhnt. Nach etlichem Hin und Her über die Defizite
der modernen Poesie — der Enthusiasmus geht allgemein in die Runde — springt
Ludovico auf die federnden Holzbeinchen und kündigt eine Rede über Mythologie an (F. Schlegel 1967, 311 ff.). Gespanntes Schweigen!
Die Rede, das ist bald herauszuhören, will nicht nur belehren. Sie ist gera-
dezu ein Manifest. Mit feurigen Inzitamenten, wohlklingenden Metaphern
und mehrdeutigen Begriffen wird nicht gespart, kurz: Es ist ein Amalgam
der Diskurse und ein Beispiel für die Grenzverwischung zwischen Wissenschaft
und Poesie, das die bezauberten Hörer zu Ohren bekommen. Ludovico ver-
langt eine »neue Mythologie«, in der die Urgeschichte mit der Zukunft der
Menschheit ein Ganzes bilde. Es fehle, so spricht er, der modernen Poesie an
jenem einheitsstiftenden Mittelpunkt, den die Mythologie der Alten besaß und
überliefert hat. Der moderne Dichter setze die poetische, nichtsdestoweniger
wirkliche Welt aus seiner subjektiven Einbildungskraft heraus, noch ganz ohne
157
Verbindung mit jener »Physik«, mit einem philosophischen Bild der Natur...
Aber, so unterbricht er sich selbst, es gebe bereits so etwas wie einen »geheimen
Zusammenhang« hinter der an der Oberfläche zersplittert auftretenden Kultur,
nämlich den Idealismus. Und dieser sei ja wohl nichts anderes als der »Geist
jener Revolution«, der eine intellektuelle Wiedergeburt verspreche. Ja, auch
andere Anzeichen für die mögliche Wiederkehr des mythologischen Weltbildes
seien längst vorhanden. Und hier nennt er die »romantische Poesie«: Diese
»Symmetrie von Widersprüchen«, so ruft er emphatisch aus, in deren gebrochenen Formen das »ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur« aufscheine.
Nur im Chaos aber, so fährt er fort, liege die noch ungehobene Symbolik für
eine neue Mytho...
Mitten im Wort wird der feurige Redner unterbrochen. Die Tür zum Salon
fliegt plötzlich auf und herein tritt die Zerrissenheit.
Wir haben nun Zeit, der wundersam vertrackten Forderung des Redners
Ludovico näherzutreten. Der romantischen Ästhetik, mit der die Na-
men der Brüder Schlegel, Schellings und Hardenbergs verbunden sind, ist
die Notwendigkeit einer verbindlichen, sinnlich wirkenden, also ästhetischen Symbolik als Medium kultureller Identitätsfindung wohl bewußt.
Es macht gerade den Fortschritt gegenüber Schillers Idealismus aus, daß
sie Kultur als ein Symbolsystem der Selbst-Deutung begreifen. Was diese
Schriftsteller an der Französischen Revolution studieren konnten, die extensive Versinnbildlichung politischer Ideen, das wurde ihnen zum Anlaß,
die Übersetzung der Welterfahrung in Symbole und Bilder auf die Spitze
zu treiben.
Genuin politische Ideen, die sich hätten versinnbildlichen lassen, waren zu jener Zeit noch Mangelware in Deutschland. Der einzige starke und
aufgeklärte Staat, das vielbewunderte und -gescholtene Preußen, barg keine
geschäftsführenden Ideen, die nationaler Zustimmung würdig erschienen.
Mit dem Tod Friedrichs des Großen erlitt es zudem einen Schwächean-
fall, der nur um so blendender das neue Idol der französischen Glorie,
Napoleon Bonaparte, über Europa aufgehen ließ. Die politischen Ideen
Frankreichs hatten schon 1791 in der Declaration des droits de l'homme
et du citoyen den verbindlichen Text gefunden, in dem Freiheit, Eigentum und Sicherheit sowie das Recht auf Widerstand den Status natürlicher Menschenrechte beanspruchten. Diese Erklärung bildete fortan die
Legitimationsgrundlage der bürgerlichen Gesellschaft und sollte von jeder
französischen Staatsverfassung respektiert werden.
Unter den Intellektuellen der deutschen Kleinstaaten erwies sich am
Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Zwang zur Abgrenzung stärker als
die allgemeine Vernunft der Menschenrechte. Hatte Schiller - auch Kant
158
wäre hier erwähnenswert - mit dem Bild der Maschine noch den feudalistischen Staat treffen wollen, so hefteten die romantischen Schriftsteller nun
das gleiche Etikett auf die bürgerliche Gesellschaft und ihren Staat. Der
Staat gleich welcher Art sollte, so hieß es im Altesten Systemprogramm, über-
wunden werden. Die politische Vernunft, so ist diese Forderung wohl auch
zu lesen, ist an und für sich unvernünftig. Denn sie trennt auf mechanische Weise die Funktionen im organisch gedachten sozialen »Körper«, um
Stände, Klassen, Gebildete und Ungebildete, Funktionäre der Macht und
die machtlose Menge ewig auseinanderzureißen. Die bürgerliche Gesellschaft ist, so bemerkt Schelling, »eine Maschine, die auf gewisse Fälle zum
voraus eingerichtet ist, und von selbst, das heißt völlig blindlings wirkt,
sobald diese Fälle gegeben sind; und obgleich diese Maschine von Men-
schenhänden gebaut und eingerichtet ist, muß sie doch, sobald der Künstler seine Hand davon abzieht, gleich der sichtbaren Natur ihren eigenen
Gesetzen gemäß, und unabhängig, als ob sie durch sich selbst existierte,
fortwirken« (F. W. J. Schelling, 1. Abt., 3. Bd., 584).
Den unaufhaltsamen Gang des künstlichen »Räderwerks«, in dem die
Entfremdung zwischen öffentlichen Gewalten und privaten Bedürfnissen
die Gestalt einer mechanischen Notwendigkeit annimmt, ist nur durch ei-
ne »Revolution« zu überwinden, in deren Verlauf - mit den Worten des
Philosophen - das Volk sich »selbst wieder als Individuum constituiert«.
Eine solche Revolution ist, nach allem, was wir bisher gehört haben, kaum
als politische zu denken. Identität im Sinne einer sich selbst erzeugenden
kollektiven Individualität kann nach Meinung der romantischen Denker
allein über jene allgemeine Symbolik erfolgen, von der in den Gedanken
über die »Neue Mythologie« und über deren Vorstufe, die »romantische
Poesie«, die Rede war. Repräsentiert die Poesie die höchste Form einer nach
Versöhnung trachtenden Sprache, so fügt die künftige Mythologie dem jene religiöse Verbindlichkeit hinzu, deren die identitätsstiftende Semantik
bedarf, soll sie als sittliches System die Totalität der >Gemeinschaft< normieren. Sie wird zur »sinnlichen Religion«. Die Legalität einer so gedachten
organischen Ordnung beruht mitnichten auf dem allgemein verbindlichen
Recht oder auf einer gesetzten politischen Verfassung. Sie besitzt vielmehr
die Qualität einer »wahren Kultur«, und nur diese allein soll - nach einem
Wort Hardenbergs - die »Zahl der Gesetze« vermindern können (Novalis
1968, 284).
Was Kant von der Kultur erwartet hatte, die »vollkommene bürgerliche Verfassung«, das gaben die romantischen Idealisten auf. Zwar erkannten sie einen beklagenswerten Mangel an sinnlicher Evidenz innerhalb der
formalisierten, abstrakten Regeln des geordneten Zusammenlebens. Doch
sind die hochkomplexen, stilisierten und überaus interpretationsbedürfti159
gen Formen der ästhetischen Kultur, die sie als Muster vor Augen hatten,
weit von jener öffentlichen Sprache entfernt, die als Medium kollektiver
Identitätsfindung in Frage kommt. Mehr noch: Die radikale Ablehnung
politisch-rechtlicher und sozialer Ordnungsprinzipien hat die Kluft zwischen Realpolitik und Kultur in einem Maße vertieft, das eine Verständigung zwischen Macht und Geist nicht gerade begünstigt.
Fortsetzung der dritten Szene
Herein kommt die Zerrissenheit. Sie trägt die bleichen Züge Hegels, tanzt aber
jene Pantomime, die Diderot unter der Maske von Rameaus Neffe vorgeführt
hat. Diese Figur deklamiert nun ohne jedes entschuldigende Wort:
» Was sagte der Herr denn? —
Entfernt von dem Orte,
Vernahm ich nicht deutlich die köstlichen Worte.
Mir bleibet noch dunkel
Die herrliche Spur,
Nicht seh ich das Leben
Der tiefen Natur.«
Ein kleiner Tumult entsteht auf der Bühne; ungraziös sinken die Puppen zusammen, die Beleuchtung erlischt, und es erhebt sich die zornige Stimme des
Puppenspielers Friedrich Schlegel. Laut schimpft er auf den Unbekannten, dessen rohe Hand auf so mystische Weise Ludovicos Rede unterbrochen hat.
Die Versöhnungsarbeit des deutschen Idealismus mündete nicht allein in
Poesie und Mythologie. Sie fand auch einen andern, nicht minder exklusiven Ausweg in die Philosophie. Hegels Auftritt brachte die Spiele der
poetischen Imagination zwar durcheinander, aber er war zugleich mit dem
Anspruch verbunden, die Probleme der Selbstbestimmung auf der Seite
des absoluten Denkens ins reine zu bringen. Auf dieser Seite zeigt sich in
ganz besonderem Maße, daß jene Spezifika der deutschen Kultur, die unter den Markenzeichen des Idealismus, der Romantik und der spekulativen
Dialektik im Umlauf sind, den Bewegungen der Nachbarkultur weit mehr
verdanken, als sich bornierte Nationalisten je träumen ließen. Hegels Philosophie nahm die denkwürdige Anstrengung auf sich, die Französische
Revolution von der Stunde ihres Erscheinens an in Gedanken zu fassen.
Seinem gebannten Blick auf die Ereignisse in Frankreich entgingen nicht
deren Zweideutigkeiten. Die Revolution ist die »Furie des Verschwindens«
(G. W. F. Hegel 1952, 418). Ihr schreckenerregendes Auftreten paart sich
mit dem Ende all dessen, was im Abendland noch als heilig galt. Ihre
160
epoche setzt die Gegenwart absolut, und das bis dahin Gültige entpuppt
sich vor den Augen des faszinierten und entsetzten Zuschauers als brüchiges Gut. Das berührt selbstverständlich die normative Kraft der tradierten
Kultur. Zeitgenössisches Philosophieren ist für Hegel Denken im Vollzug
der Gegenwartszeit. Diese Philosophie hebt das Geschehene in Gedachtes
auf, zurück bleiben — wie es in seiner bilderreichen Sprache heißt — nur
die »Spuren« und »Schattenrisse« der alten Kultur, eine »Kollektion von
Mumien« (G. W. F. Hegel 1952, 27; J. Ritter 1957, 13).
Die Folge der durch die Revolutionsereignisse sichtbar gemachten Entwertung der Kultur (als eines Überlieferungszusammenhangs) faßt der Philosoph unter das Bild der Zerrissenheit. Zerrissen sind die naturwüchsigen
Bindungen ans Vergangene, zerrissen ist aber auch das organische Verhältnis des einzelnen zum Kollektiv, und zerrissen ist nicht zuletzt das moderne
Subjekt im Verhältnis zu sich selbst. Seine Existenz ist, wie Hegel mit unverkennbarer Faszination für das Schauspiel des sich selbst fremd gewordenen Handelns am Beispiel des Neveu de Rameau (Diderot) zeigt, eine Folge
widersprüchlicher Entäußerungen der Natur und des Intellekts.
Schuld an den Entzweiungen hat jedoch nicht das politische Ereignis,
sondern jene Aufklärung durch den Verstand, die durch das Ereignis in
die Wirklichkeit eintritt und diese verändert. Hegel teilt die Ansicht seiner geistigen Brüder, daß die verdinglichende Macht des Verstandes ein
Zerrbild der vom geistigen Dasein verlockten Kultur erzeugt habe. Doch
anders als die Dichter sucht er nach Lösungen nicht allein in der Rückkehr
zum Denken in Mythen. Die Mängel der Französischen Revolution lagen
für ihn nicht zuletzt in der ungebrochenen Vorherrschaft des katholischen
Prinzips, das eine dieses Namens würdige Aufklärung verhindert hat. Im
katholischen Mythos wohnten noch die Gespenster des heidnischen Polytheismus, die vom Geist des Christentums den Dienst am formellen Kult
verlangten. Dies mußte ihm die katholischen Restaurationsversuche mancher Romantiker suspekt werden lassen. Nur die Reformation war mit
dem substantiellen Wandel der Französischen Revolution vergleichbar, da
sie den Weg zu einer mit der Freiheit des Subjekts zu vereinbarenden Religiosität gewiesen hatte. Auch der romantische »Atheismus der sittlichen
Welt« konnte von Hegel nur als Gefahr für die Freiheit des Subjekts verstanden werden.
Die Gefahren der Restauration einerseits und der Traditionsverleugnung andererseits zu vermeiden, setzte die rückhaltlose Anerkennung jener
Zerrissenheit voraus, die mit der Revolution ins Leben getreten war. Denn
die revolutionäre Forderung nach einem die Bedürfnisse befriedigenden
System, dessen einziges Rechtsprinzip Freiheit lautete, sollte zugleich die
Besonderheit der Individuen und die Individualität des Gemeinwesens ga161
ränderen. Der Bürger der neuen Gesellschaft war Träger einer öffentlichen
Rechtsposition, als Privatmann aber war er Mensch, und das heißt: Herr
seiner selbst. So erkannte Hegel in der Entzweiung von gesellschaftlichem
Sein und selbstbewußter Personalität die Möglichkeit, die abstrahierende
Gewalt des Verstandes und die bedeutungsbildende, wertsetzende Macht
der Gefühls- und Gesinnungskultur wenn auch nicht zu versöhnen, so
doch wenigstens zu vermitteln. Doch soll es allein dem philosophischen
Gedanken möglich sein, über den Schmerz der Entzweiung hinauszugehen. Die Philosophie tritt, wie es scheint, gleichsam als säkulare Mythologie an die Stelle jener einheitsstiftenden Interpretationsschemata, die in
der alten Welt ein jedermann zugängliches Wissen über die Zugehörigkeit
zu einem mit bestimmter Identität ausgestatteten Kollektiv vermittelten.
Damit ist aber auch angedeutet, welchen Beitrag der deutsche Intellektuelle zu den Problemen leisten konnte, die von der Revolution aufgeworfen worden sind. Schon dem jungen Hegel und seinen Freunden Sendung und Hölderlin erschienen die Ereignisse in Frankreich nach eigener
Aussage wie ein »philosophisches Schauspiel«. Aus Distanz reflektierender,
aber nimmermüder Zuschauer blieb Hegel zeitlebens. Die Revolutionen
des frühen neunzehnten Jahrhunderts beschäftigten ihn ebensosehr wie die
Revolutionskriege Napoleons und ihre Folgen. Ein Ende der Gärungen sah
er nicht voraus. So daß sich die Frage stellte, ob die modernen Gesellschaften der nachrevolutionären Epoche selbst mit Hilfe der Philosophie jemals
imstande sein würden, eine politische und kulturelle Identität auszubilden.
Es ist bekannt und oft beredet worden, daß Hegel mit dem Neuen,
das die Revolution in die Welt gebracht hat, das Ende der Geschichte der
Kunst und der Philosophie zusammendachte. Das ist gewiß nicht so zu
verstehen, als habe die Revolution die Kulturüberlieferung insgesamt vernichtet. Ans Ende gekommen ist jedoch das Einfache, das Modell einer
Welt, in der alles mit allem, so schien es, auf organische Weise zusammen-
hing und daher kaum einer Rechtfertigung bedurfte. Ans Ende gekommen ist auch die selbstverständliche Funktion der kulturellen Arbeit im
Dienst politischer, moralischer und gesellschaftlicher Übereinstimmung.
Die moderne Entzweiung hat den Legitimationskreislauf zwischen Sittlichkeit, Machtausübung und Religiosität zerrissen. Als Folge sondert sich die
Kultur in autonomen Provinzen von der unterm Gesetz arbeitsteiliger Ab-
straktion stehenden Lebenswelt ab. Ja sie tritt — zumindest im Bereich der
Kunst und Literatur - zu dieser in bewußten Gegensatz.
Hegels Analyse entzieht dem ehrwürdigen Einverständnis zwischen
Kultur und Gedächtnis den Boden. Sie erkennt die Selbstgenügsamkeit
einer aus Traditionen sich nährenden kulturellen Identität nicht mehr an.
Deshalb gießt der Philosoph auch einen düsteren Spott über die Mytho162
logen und Poeten des Gedächtnisses aus: »Das Gedächtnis ist der Galgen,
an dem die griechischen Götter erwürgt hängen. Eine Galerie solcher Gehenkten aufweisen, mit dem Winde des Witzes sie im Kreise herumtreiben,
sie einander necken machen und in allerlei Gruppen und Verzerrungen blasen, heißt oft Poesie — Gedächtnis ist das Grab, der Aufbehälter des Toten.
Das Tote ruht darin als Totes« (zit. nach Frank/Kurz 1975, 204). Die kulturelle Überlieferung ist bereits das Präparat des Historikers, dem Leben
entfremdet und der einheitsstiftenden semantischen Kraft verlustig gegangen. Nur als er-innerte verdient Überlieferung den Namen »Geschichte«.
Denn er-innert ist sie auch schon begriffen, vom Geist aus der tötenden
Zeit in das reine Medium des Allgemeinen versetzt. Die Geschichte ist,
so lesen wir in der Phänomenologie, die »Schädelstätte des absoluten Geistes« (G. W. F. Hegel 1952, 564). Endgültig ist der naturwüchsige Zusammenhang zwischen Kultur (Tradition) und Gedächtnis (memoria) aufgesprengt. Kollektive Identität oder, wie es bei Hegel heißt, »Individualität des Gemeinwesens«, stellt sich nicht mehr über die Anschauung und
Aneignung heiliger, von allen geteilter Überlieferungen her. Sie ist etwas
Partikulares und von dem nach innen wie außen wirksamen Selbstbehauptungswillen des modernen Territorialstaats abhängig.
Diese im Verhältnis zum Ganzen einer Welt zerfallene Lebensordnung
hat ihre Entsprechung im Verhältnis des Individuums zum Staat. Eine von
allen zu teilende kulturelle und sittliche Norm ist in der Moderne weder
durch universelle Moralbegriffe noch durch kosmische Religion, weder in
einem neuen Mythos noch in einer poetischen Universalsprache repräsentierbar. Es ist vielmehr der Krieg, dessen Gewalt die konkrete Einheit des
souveränen Staates nach innen wie außen bestimmt. »Die negative Seite des Gemeinwesens«, schreibt Hegel in der Phänomenologie des Geistes,
»nach innen die Vereinzelung der Individuen unterdrückend, nach außen
aber selbsttätig, hat an der Individualität seine Waffen. Der Krieg ist der
Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Sub-
stanz, die absolute Freiheit des sittlichen Selbstwesens von allem Dasein, in
ihrer Wirklichkeit und Bewährung vorhanden ist« (G. W. F. Hegel 1952,
341). In der Rechtsphilosophie (§ 325) geht Hegel sogar noch weiter, da er
»die Aufopferung für die Individualität des Staates« zur Pflicht eines jeden
einzelnen macht (G. W. F. Hegel 1952a).
Selbst wenn Hegel an jene revolutionären Kriege gedacht haben soll-
te, die das »Versumpfen« gesellschaftlichen Lebens in unproduktiven Ego-
ismen verhindern mögen, so ist das Argument immer noch befremdlich
genug. Und doch hieß es, das Gemeinwesen habe, geht es um seine Selbst-
behauptung, »an der Individualität seine Waffen«. Mit anderen Worten:
Die Sicherung, ja Abgrenzung der Identität einer Gesellschaft besitzt die
163
Form des Kampfes. Ja das Herzstück dieser Identität, die »absolute Freiheit des sitdichen Selbstwesens«, wird nirgendwo deudicher als im Krieg,
den Hegel sich nicht scheut, in einem Atemzug mit dem Allgemeinen des
Geistes zu nennen.
Auch wenn man mit Jacques d'Hondt Hegels Worte über den Krieg
historisch relativiert und mit des Philosophen Sympathie für die Girondisten erklärt, so bleibt doch ein zweifelhafter Rest. Keine Frage: Hegel
hat nach einer neuen kulturellen Identifikationsmatrix gesucht, die - nach
dem Ereignis der Revolution - ein gemeinsames Interpretationsschema für
individuelle, gesellschaftliche und globale Deutungsbedürfnisse zu liefern
vermochte. Er glaubte sie in der Philosophie gefunden zu haben, hoffte für
die Masse aber auf jene Art aufgeklärter Religiosität, die er im Protestantismus erkannt haben wollte. Beides aber blieb gleichermaßen exklusiv. Und
er gibt zu weiteren Mißverständnissen Anlaß, wenn er in der Aufzählung
der welthistorischen Reiche am Ende der Rechtsphilosophie dem »germanischen Reich« die Fähigkeit zugesteht, die erhoffte Versöhnung jenes Gegensatzes ins Werk zu setzen, der die moderne Welt entzweit.
In den letzten Sätzen dieser Vision preist Hegel noch einmal den Wert
einer solchen Versöhnung: Sie entfalte »den Staat zum Bilde und zur Wirk-
lichkeit der Vernunft« (G. W F. Hegel 1952a, 456). Es ist hier nicht der
Ort, auf die berüchtigte Staatsvergottung der Rechtsphilosophie zu sprechen zu kommen. Doch das Zitierte enthält, wie nach der Deutung des
Krieges wohl zu vermuten war, eine Aussage über den Charakter der anvisierten Identitätsbildung. Der Staat als »Bild« der Vernunft, damit ist ein
symbolisches Repräsentationsverhältnis supponiert, das den Mitgliedern
des Gemeinwesens die Identifikation mit der ausübenden Macht - in der
Rechtsphilosophie ist es der Monarch - nahelegt. Doch im Verhältnis zu
den anderen Staaten ist der besondere Staat stets auf das »Spiel« wechselsei-
tiger Anerkennung angewiesen, das Kriege von Zeit zu Zeit unterbrechen.
Daher ist die »Selbstständigkeit des Staats der Zufälligkeit ausgesetzt«. Es
gibt ebensowenig eine politische Identität, die auf dem Fürsichsein des Kollektivs beruht, wie es eine Ich-Identität geben kann, die ohne Anerkennung
durch die andern auskommt.
Diesem Bild fügt sich die Unterordnung der Partikularinteressen unter
die Staatsräson im Kriegsfall. Wenn Kriege - wie die Rechtsphilosophie
behauptet - den Kampf um Anerkennung, also um kollektive Identität
bedeuten, so ist die Forderung nach Aufgabe individueller Interessen, ja
der Selbsterhaltung des Einzelsubjekts zwar erschreckend, aber folgerichtig. Hegel geht aber noch einen Schritt darüber hinaus. Die Gefährdung
der nationalen Besonderheit durch Kriege eröffnet dem Individuum die
Chance, das abstrakte Ganze der Staatsidee zu interiorisieren und so die
164
Entzweiung zwischen dem Allgemeinen der im Staat verkörperten Vernunft und dem Besonderen der persönlichen Bedürfnisse aufzuheben. Die
Vermittlung zwischen Objektivem und Subjektivem soll einer Gesinnung
gelingen, die zwar unter dem alten Namen der »Tapferkeit« in der Rechtsphilosophie auftaucht, aber nun als die höchste Form der Identifikation
mit dem absoluten Zweck des Gemeinwesens verstanden wird. »Der Gehalt der Tapferkeit als Gesinnung liegt«, so heißt es in § 328, »in dem wahrhaften absoluten Endzweck, der Souveränität des Staates« (G. NV E Hegel
1952a). Die Tat des Tapferen hebt den Gegensatz zwischen individuellem
Fürsichsein und Anerkennung der Staatssouveränität auf: Sie ist »Existenz
der Freiheit«. Denn wer sich dem Staat opfert, der opfert sich der Vernunft;
alle nationalistischen Rattenfänger haben diese simple Identifizierung wiederholt.
Mit der düsteren Feststellung, daß der Streit zwischen Staaten eher
durch Krieg denn Übereinkunft entschieden wird, verabschiedet Hegel die
Idee des ewigen Friedens. Das mag zur Zeit der sich konsolidierenden Na-
tionalstaaten realistisch gewesen sein. Die Geschichte der nationalen Identitätsbildung in Deutschland widerspricht dem ja nicht. Im Gegenteil: Die
Deutschen haben den Krieg - und das gilt seit den Freiheitskriegen, deren
Zeuge und Opfer Hegel war - mit besonderer Liebe als Mittel kollektiver
Identitätsbildung verstanden und gefeiert. Darüber ist ihnen der Unterschied zwischen Kultur und Krieg oft genug ganz unerheblich erschienen.
Wie schrieb doch Thomas Mann 1914?
»Der deutschen Seele eignet etwas Tiefstes und Irrationales... Es ist
ihr >Militarismus<, ihr sittlicher Konservatismus, ihre soldatische Moralität,
- ein Element des Dämonischen und Heroischen, das sich sträubt, den
zivilen Geist als letztes und menschenwürdiges Ideal anzuerkennen« (Th.
Mann 1977, 36).
Letzte Szene
Spielt in Berlin im Führerbunker. Es treten auf der Diktator, der Klumpfuß,
das Volk in Gestalt einer Ehrenkompanie, die Heiligen Drei (Allierten) und
Germania. Die Drei überreichen Hitler die Folterinstrumente, darunter eine
Kanone. »Hitler lädt die Kanone. Germania wird von der Ehrenkompanie
vor die Kanone gebunden. Mit der Detonation fällt der Vorhang« (H. Müller
1977, 63).
165
Literatur
Barth, K.: Eine Schweizer Stimme, 1938-1945, Zollikon-Zürich 1945.
d'Hondt, J.: De Hegel ä Matx, Paris 1972.
Frank, M./Kutz, G. (Hg.): Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen,
Frankfurt/M. 1975.
Frank, M.: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frank-
furt/M. 1982.
Fulda, H. F./Henrich, D. (Hg.): Materialien zu Hegels »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt/M. 1973.
Goethe, J. W. v.: Faust. Paraiipomena. Dramatische Dichtungen Bd. IV, Berlin
(Ost) 1978.
Günther, H.: Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher
Schriftsteller und Historiker, Frankfurt/M. 1985.
Habermas, J.: »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?«, in: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frank-
furt/M. 1976.
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1952 (= Hegel 1952).
Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. E. Gans, Jubiläumsausgabe, Bd. 7, Stuttgart 1952 (= Hegel 1952a).
Hölderlin, F.: Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Stuttgarter Ausgabe,
Bd. 3, hg. v. F. Beissner, Stuttgart 1957.
Jahnig, D.: Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, Köln 1975.
Kant, Li Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. Akademie-Ausgabe,
Bd. VIII, Berlin 1968.
Mann, Th.: »Gedanken im Kriege«, in: ders.: Essays, Bd. 2. Politische Reden und
Schriften, Frankfurt/M. 1977.
Müller, H.: Germania Tod in Berlin, Berlin 1977.
Novalis: Schriften, Bd. 3, hg. v. R. Samuel u. a., Darmstadt 1968.
Riedel, M. (Hg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt/M.
1975.
Ritter, J.: Hegel und die französische Revolution, Köln/Opladen 1957.
Rousseau, J.-J.: Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l'inegalite, hg. v. H.
Meier, Paderborn 1984.
Schelling, F. W. J.: Sämtliche Werke, hg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart 1856-61.
Schiller, F.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von
Briefen. Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. G. Fricke/H. G. Göpfert, München
1959.
Schlegel, F.: Gespräch über die Poesie. Kritische Ausgabe, Bd. 2, hg. v. H. Eichner,
München/Paderborn/Wien 1967.
166
Revolution und Mythos.
Sieben Thesen
Les mythes modernes sont encore moins com-
pris que les mythes anciens, quoi-que nous soyons
devores par les mythes.
Balzac: »La Vieille Fille«
Der Revolutionsbegriff ist in einem janusköpfigen Sinne zwießltig, da er auf
die alte Welt als seine Heimat zurückblickt und zugleich ans Tor zur Moderne
angeschlagen ist.
Von wissenschaftlichen Begriffen darf man erwarten, daß sie klar und deut-
lich sind, daß ihre Semantik - und das heißt ihr Gebrauch in der Rede nicht mühsam ausgegraben bzw. dechiffriert werden muß. In diesem Sinn
ist der Revolutionsbegriff kein wissenschaftlicher Begriff. Ja fast sind wir
versucht, ihn gar nicht als einen Begriff, sondern viel eher als ein Fahnenwort aus dem Arsenal des Aktionismus anzusehen. Und das heute mehr
denn je, da unsere lebendige Vorstellung stark von den Revolutionsbildern
eingefärbt ist, die das Jahr 1989 auch zu einem Jahr der Medienrevolution
gemacht haben.
Was heißt es aber, wenn hier behauptet wird, der Revolutionsbegriff
sei »zwiespältig«? Heißt es: Er ist - wie angedeutet - antik und zugleich
modern; oder heißt es: Im Wort selbst liege ein zweifacher oder gar widersprüchlicher Sinn?
Betrachten wir zunächst das zuletzt Gesagte. Wort und Begriff sind
zu unterscheiden. Das Wort hat - an und für sich, das heißt: isoliert
vom Text - noch nichts ergriffen, es ist - so läßt sich präziser sagen -
eine rein lexikalische Größe und insofern nichts anderes als ein Eintrag im
Wörterbuch. Schlagen wir daher nach!
Im lateinisch-deutschen Wörterbuch wird das aus der Spätantike stammende Wort »revolutio« übersetzt mit »Umdrehung« und »Umwälzung«.
Schon hier werden zwei Bedeutungen vorgeschlagen, die sich indessen
noch weiter verzweigen, nimmt man das Verb »revolvere« hinzu, von dem
das Nomen »revolutio« abgeleitet ist. Denn »revolvere« bedeutet in unserer
Sprache - ich wähle nur einige der im Wörterbuch eingetragenen Möglichkeiten aus: »zurückrollen«, »wiederholen«, »auf etwas zurückkommen«.
Die lateinische Vorsilbe »re-«, die wir aus zahlreichen Fremdwörtern ken167
nen, bezeichnet demnach das, was in der Wortbedeutung von Re-volution
nach rückwärts weist.
Das ist merkwürdig, da wir den Begriff- nicht das Wort - für gewöhnlich mit der Vorstellung eines plötzlichen, ja gewaltsamen Vorwärtsdrängens verbinden, mit dem Zerschlagen der alten Formen, Strukturen, Ordnungen, Systeme zugunsten des noch unbestimmten, in der Zukunft utopisch sich abzeichnenden Neuen.
Nun heißt es im Wörterbuch, das Wort »revolvere« habe auch die Be-
deutung »wiederholen«. Setzen wir das Verb einmal probeweise in substantivierter Form an die Stelle des Begriffs, so bedeutet die Französische
Revolution (und nicht nur diese) sowohl Umwälzung als auch Wiederholung. Damit haben wir nun aber einen Schlüssel zu jener Zweideutigkeit,
die hier behauptet wird. Die Revolution ist demnach nicht nur als ein
Umsturz des Alten zu verstehen, sondern auch als die Wiederholung eines
Alten. Ja mehr noch: Das, was hier Wiederholung heißt, scheint ein geheimes Einverständnis mit dem Mythos anzudeuten. Ist dieser doch nichts
anderes als die dauernde Wiederholung eines Ereignisses in der Form eines unter mannigfachen Umständen mehr oder weniger gleich bleibenden
narrativen Textes oder Bildzusammenhangs.
In dieser Beobachtung ist auch der Schlüssel für die Behauptung enthalten, der Begriff der Revolution spiele zugleich auf antike und moderne
Verhältnisse an, er bezeichne den Anbruch der geschichtlichen Moderne
und sei doch zugleich auch ein Zeugnis der naturwüchsigen Tradition. Es
ist ja nicht nur die Herkunft aus dem Lateinischen, die das Wort mit der
Tradition verbindet. Es ist auch die Tatsache, daß der Begriffsinhalt selbst noch in seiner heutigen Verwendung - Vorstellungen gleichsam mitschleppt, die zum alteuropäischen Erbe gehören. Um nur an das Bekannteste zu erinnern: Die Französische Revolution - exemplarischer Referenz-
punkt des modernen Revolutionsbegriffs - hat auf Schritt und Tritt den
symbolischen Text der altrömischen Republik zitiert. Und dennoch wurde
und wird die Ereigniskette, die mit dem Jahr 1789 begann, als Vollendung
jener Aufklärung verstanden, die es darauf angelegt hatte, die Gegenwart
von der mythischen Präsenz des Traditionserbes zu befreien.
Doch nicht nur bewahren die Grundbegriffe geschichtlichen Denkens
die untilgbaren Spuren erinnerter Tradition - weshalb sich ihre Geltung
am ehesten auf dem Umweg über das Studium ihrer Genesis erschließt.
Auch die historischen Ereignisse, die sie bezeichnen, können in der ungeschichtlichen Einstellung kollektiv geteilter Überzeugungen remythisiert
werden, so daß der Name nicht mehr nur als Index für ein historisches Datum, sondern als affektiv besetztes Symbol für eine bis in die Gegenwart
hineinwirkende Ursprungshandlung erscheint. Welche mythenkonformen
168
Merkmale eine solche Enthistorisierung historischer Ereignisse aktivieren
kann, das hat der französische Historiker Francois Füret in seinem Buch
Penser la Revolution Francaise (1978) beschrieben: »Seit bald zweihundert
Jahren [ist] die Französische Revolution immer noch ein Heldenlied von
den Ursprüngen und also ein Diskurs über die Identität. Im 19- Jahr-
hundert unterscheidet sich diese Geschichte kaum von dem Ereignis, das
sie aufzeichnen soll, da das Drama, das 1789 beginnt, sich von einer Generation zur anderen immer wiederholt, mit den gleichen Einsätzen und
den gleichen Symbolen; wobei die Erinnerung unablässig in einen Gegenstand der Verehrung oder des Schreckens verwandelt wird« (Füret 1980,
S. 13 f.). Nicht von ungefähr bemüht Füret in diesem Text die Begriffe der
antiken Tragödientheorie: Die Französische Revolution gehört zum unverwüsdichen Repertoire der nationalen politischen Inszenierungen, weil
ihre dauernd wiederholte Darstellung wie die Orestie des Aischylos den
Ursprungsakt einer neuen Ordnung beschwört. Jede Remythisierung ist,
das unterstellt Furets Äußerung, ein Akt der kollektiven Anamnesis, der
die wissenschaftliche Entzauberung des Mythengedächtnisses ignoriert.
Revolutionen spielen sich nicht nur auf Erden ab, sie spielen auch am Himmel;
will sagen: nicht nur in der Praxis, sondern auch in den Köpfen.
1543 veröffentlichte der Mathematiker und Astronom Nikolaus Kopernikus eine Abhandlung mit dem Titel De revolutionibus orhium coelestium. Mit diesem Buch ist der Begriff jenes heliozentrischen Weltbildes
verknüpft, das zu denken als >kopernikanische Wende< in die entmytho-
logisierte Geschichte des Universums und der Ideen eingegangen ist. Diese
Wende ist selbst also wie eine Revolution der Welt-Anschauung zu verstehen, da sie den Glauben an den ptolemäischen Geozentrismus mit ratio-
nalen Mitteln umgestürzt hat.
228 Jahre nach des Kopernikus Abhandlung, 28 Jahre vor der Großen
Revolution - im Jahre 1771 -, schreibt der französische Philosoph Voltaire
in einem Brief: »II s'est fait dans les esprits une plus grande revolution
qu'au seizieme siecle. Celle de löeme siecle a ete turbulante, la notre est
tranquille« (Reichardt/Lüsebrink 1988, S. 53). Voltaire vergleicht hier den
bewegten kulturellen Umbruch in der Zeit der Renaissance - vermutlich
unter Anspielung auf die kopernikanische Wende der Reformation - mit
der stillen Revolution in den Köpfen der Aufklärer, die so still nicht war,
bedenkt man ihre exuberante Rhetorik. Er nimmt mit diesen Worten eine
Begriffsveränderung vorweg, die es schon seinen aufgeklärten Zeitgenossen
ermöglicht hat, vom Zeitalter Voltaires als dem Zeitalter einer geglückten
169
sittlichen und geistigen Revolution (revolution dans les moeurs et dans
Fesprit) zu schwärmen.
Beide Revolutionsbegriffe, der des Kopernikus und der Voltaires, sind
auf den ersten Blick inkompatibel. Die Revolutionen am Himmel, man
hat darunter die Umlaufbahnen der Planeten zu verstehen, sind ja in einem wörtlichen Sinne weit, sehr weit von der geistigen Revolution des 18.
Jahrhunderts entfernt. Betrifft die »Revolution in den Köpfen« das irdische Dasein, so beschreibt die »Revolution am Himmel« das kosmische
Sein. Und doch muß es eine Brücke geben, die von der Astronomie des
16. Jahrhunderts zur Philosophie der Aufklärung fuhrt.
Die Konstruktion dieser Brücke deutet sich bereits in den Spekulatio-
nen an, die in der Asrrologie früherer Jahrhunderte zu finden sind. An diese
Tradition knüpft Johannes Kepler an, wenn er den Potentaten und Feldherrn seiner Zeit, unter ihnen Wallenstein, das Horoskop stellt. Da ist von
»stattlichen« und »guten Revolutionen« die Rede, die dem widerfahren,
dessen Sterne in günstiger Konjunktion sich befinden (GG, S. 721). Die
>Gewißheit< ihrer Voraussagen gewann diese Astrologie jedoch nicht aus
den Spekulationen der Magie, sondern aus der wissenschaftlichen Himmelsmathematik, aus der Astronomie. Irdische und kosmische Ordnung
wurden hier in ein Verhältnis gesetzt, dem die Hypothese zugrunde lag,
die Planetenbewegungen am Himmel und der Gang der Geschichte auf
Erden verhielten sich zueinander wie Bild und Abbild. Was auf Erden geschieht, das liegt nach dieser Ansicht nicht mehr in Gottes Hand, sondern
ist den mathematischen Gesetzen einer entgötterten Himmelsmechanik
unterworfen. Ein neuer, dem theologischen Wahrheitsbegriff widersprechender wissenschaftlicher Wahrheitsanspruch trat mit Kopernikus und
seinen Nachfolgern auf, und darin liegt der wahre Grund für die rerrospektive Rede von einer »Revolution des Wissens« zu Beginn der Neuzeit
(Nelson 1984, S.94ff.). Aus der Perspektive der Wissenschaftsrevolutionäre sah das indessen anders aus, da ihnen die irdische Geschichte noch
nicht als ein dem sujektiven Wollen unterworfenes Geschehen erschien.
»Die Revolutionen des Globus«, soll Galileo Galilei einmal bemerkt haben, »bewirken die Unfälle und Zufälle des Menschenlebens« (Griewank
1973, S. 144).
Es war ein relativ kleiner Schritt, der nun noch vollzogen werden muß-
te, um den Begriff der Revolution in die Sprache der Politik einfuhren zu
können. Bereits im 14. Jahrhundert finden sich erste Spuren eines solchen
Gebrauchs. Doch erst im 17. Jahrhundert emanzipiert sich der Begriff von
der Sinnbildrede der Astrologie und bezeichnet nun die Veränderungen im
politischen System: den Wechsel der Herrscher, Aufruhr, Rebellion und
Bürgerkrieg. Gleichwohl bleibt ihm ein wesentliches Merkmal seiner Her170
kunft aus der Astronomie noch lange Zeit eingeschrieben. »I have seen in
this revolution a circular motion«, schrieb Thomas Hobbes hellsichtig über
die politischen Wirren im England des 17. Jahrhunderts.
Es ist dieses Moment der Wiederholung, das den Revolutionsbegriff
an den in Analogie zum Umlauf der Sterne begriffenen Zirkel einander
ablösender und wiederkehrender politischer Herrschaftsformen knüpft.
Noch sprengen die Revolutionen nicht den Kreislauf von Harmonie und
Disharmonie. Sie bezeichnen vielmehr einen Wandel, der wie ein Karussell
auf einer Kreislinie verläuft und immer wieder dieselbe begrenzte Zahl von
Stationen passiert.
Erst die selbstbewußte Revolution in den Köpfen - »la revolution dans
les esprits« -, die sich im Stillen vollzieht, modifiziert die Idee der automatischen Wiederkehr. Das Denken wird in radikaler Weise progno-
stisch, weil es über das alte Modell der schieren Repetition das neue der
Wertakkumulation legt. Dieses Denken sagt - in den Werken vor allem
der französischen Aufklärer - einen Umsturz voraus, von dem her gesehen
die Geschichte eine offene, zukunftsorientierte Richtung erhält. So verblaßt allmählich die alte, von fern noch an einen mythischen Weltzusammenhang gemahnende Analogie von Planetenbahn und Geschichtsverlauf,
und »la revolution« wird im Kontext des von der Tradition sich kritisch
abstoßenden Denkens zum »Zukunftsbegriff« (GG, S. 721) par excellence.
Doch hätte die Revolution in den Köpfen wohl ohne Anschauung in
der Realität nicht zu dem Gedanken geführt, daß - wie Diderot und Raynal 1781 in der Histoire des Deux Indes schrieben - mit der politischen
Revolution an einem Tag ein neues Zeitalter anbrechen kann (vgl. auch
Reichardt/Lüsebrink 1988, S. 46 ff.). Als Beleg für diese Behauptung verwiesen sie auf die Amerikanische Revolution. Diese wurde damit in den
Augen der Aufklärer zum unanfechtbaren Beweisstück im Prozeß um die
Frage, wer in der Geschichte siegen wird: die Zukunft der Freiheit oder die
Despotie der Vergangenheit.
Mythen sind wie Spielmarken in einem Erinnerungsspiel. Sie können - hat
man sie erst einmal aus ihrer Bindung ans Heilige gelöst - mit veränderten Wertzuschreibungen verbunden und in verschiedenen Kontexten eingesetzt
werden, ohne daß sie ihr zeit-übergreifendes Gepräge je ganz verlieren.
Der Antike war die krasse Trennung zwischen Mythos und Geschichte, die
wir heute für verbindlich halten, unbekannt. Mythos - das war auch Geschichte, wenn er den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nicht widersprach;
und diese legt das religiöse Bewußtsein eher großzügig aus.
171
Zu den frühen Formen der Mythenrede mit politischer Absicht gehören
die Genealogien. Sie geben der mythischen Zeit des immerwährenden Einstands eine neue, auf die geschichtliche Zeit der laufenden Chronik bereits
vorausdeutende Form. Genealogien, das sind zeitmessende Stammbäume
und dynastische Namenskataloge, die Auskunft über die Personen- oder
Generationenkette geben, in die sich ein Einzelner oder eine Familie einreihen möchte, um an der Würde vergangener Taten oder — mangelt es
an diesen - wenigstens an der Würde der Dauer teilzuhaben. Sie bleiben
interessante Zwitter dort, wo die Namens- und Geschlechterkette zugleich
Anteile an Mythologie und Geschichte besitzt.
In dieser Doppeldeutigkeit meldet sich eine Funktion zu Wort, die
auch für die Erklärung späterer Rückgriffe auf Mythologie nützlich sein
kann. Markiert doch die Stellung zwischen mythischer und historischer
Zeit eine Epoche, deren Anfang das Heroenzeitalter und deren transitorisches Ende die Gegenwart bildet. Wenn die Genealogie des Spartanerkönigs Leonidas, wie Herodot berichtet, über eine Reihe von Vorläu-
ferkönigen auf Agis, den Sohn des Herakles zurückfuhrt, so verbindet sie
nicht nur Mythologie und Geschichte (Graf 1987, S. 125). Sie legitimiert
auch den politischen Anspruch des Königs durch die Deduktion seiner
Macht von jener heroischen Gewalt, für die der Name des Herakles steht.
Eine wichtige Unterscheidung liegt in der Gegenüberstellung von Mythos einerseits und Mythographie bzw. Mythologie andererseits. Denn den
Mythographen und Mythologen, die den einst mündlich tradierten Mythos aufgeschrieben, kommentiert und geordnet haben, ist u. a. jene Hierarchie der Götter, Dämonen, Heroen und Sterblichen zu verdanken, die
bis weit in die Neuzeit als diesseitiges Ordnungskonzept für machtlegitimierende Zwecke in Anspruch genommen worden ist (Prinz 1979; Vernant
1980, S. 107).
In der römischen Antike, die das griechische Erbe ausgebeutet und
in traditionsbildender Weise verwaltet hat, weitet sich die Verwertung der
Mythologie für politisch-legitimatorische Zwecke enorm aus. Berühmtestes Beispiel ist die Aeneis des Vergil, ein Epos, das in der Nachfolge der
homerischen Gesänge steht und zusammen mit diesen lateinische My-
thenüberlieferungen verarbeitet hat. Vergil schafft in diesem Werk mit
literarischen Mitteln einen Kunst-Mythos, der im Sinne der Genealogie
die Geschichte Roms auf die Geschichte Trojas bezieht. Doch wird hier
der Untergang Trojas umgedeutet in den Aufstieg Roms. In dieser Umkehrung, die in der Umstellung von Was und Odyssee in der Aeneis ihre formale
Entsprechung besitzt, zeigt sich bereits eine Besonderheit des literarischen
Mythenumgangs, die in den späteren Epochen der entmythologisierten Erfahrung verstärkt zu beobachten ist. Denn der Kunstgriff der Umkehrung
172
deutet an, daß die Mythen nun nicht mehr als geheiligte, der Kritik und
Bearbeitung entzogene Texte gelten, sondern als Überlieferungen, die in
mannigfacher Weise verwertbar sind: Die Mythologie, das Nachdenken
über den Mythos, ist an die Stelle seiner rituellen Wiederholung getreten.
Diese Befreiung des Mythentextes aus kultisch-rituellen Bindungen hat
in der politischen Kultur der römischen Kaiserzeit zu allerlei pseudoreligiösen Anwendungsweisen geführt, unter denen die allegorische vielleicht
die bedeutendste war. Unter Allegorie verstehen wir die bildliche Darstellung einer Lehre, einer Aussage oder einer Norm, die sich auch in Begriffen formulieren lassen. »Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen
Begriff, den Begriff in ein Bild,« notierte Goethe 1807, »doch so, daß der
Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu
haben« ist (Goethe 1972, S.638). Im Unterschied zur undurchsichtigen
Sprache des Mythos, die immer etwas Rätselhaftes und Diffuses bewahrt,
ist die Allegorie also leicht aufzuschließen, sobald man nur den ihr zugrunde liegenden, zwischen Bild und Begriff vermittelnden Code erkannt hat.
Insofern bezeichnet ihr Auftreten einen Abstand zwischen dem Mythos,
den sie benutzt, und der propagandistischen oder didaktischen Botschaft,
die sie mit seiner Hilfe verbildlicht.
Berühmt für die politische Asthetisierung der Mythologie sind die Re-
liefs an der Ära Pacis in Rom. Das Bildprogramm dieses Friedensaltars, der
auf Geheiß des Kaisers Augustus errichtet worden ist, zeigt die Allegorien
des befriedeten italischen Landes und der waffentragenden Roma sowie die
Gründungsmythen der Romus und Remulus säugenden Wölfin und der
Landung des Aeneas an Latiums Küste (Schindler 1988, S. 207 ff). Die
Mythenverwertung ist, wie die Aufzählung andeutet, komplex. Um nur
eine Bildkomposition herauszugreifen: Für die Darstellung des befriedeten
Landes hat der Künstler Tellus benutzt, die lateinische Version der mythi-
schen Erdmutter. Sie sitzt auf einem Felsen in der Mitte des Bildes, Früchte
im Schoß und zwei nackte Knäblein auf den Knien, zu ihren Füßen Schaf
und Rind, an den Seiten flankiert von den weiblichen Allegorien der Landund Seewinde, die, von Schwan und Drachen getragen, über Quell- und
Meerwasser schweben.
In seiner Gesamtheit ließe sich das Bildprogramm der Ära Pacis wie ein
Text lesen, der recht detailliert Macht und Legitimität des augusteischen
Rom verherrlicht, ohne daß an einer einzigen Stelle der Name des Augustus zu fallen hätte. Diese Lesart setzt indessen eine Kenntnis der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Grammatik der Symbolsprache voraus, mit
der, wie zu vermuten ist, nur wenige Zeitgenossen selbst des Augustus ganz
vertraut waren.
173
Aus dieser Tatsache folgt eine weitere, für das Verständnis der instrumenteilen Mythenverwertung wichtige Einsicht. Mythologische Bildprogramme mit allegorischem Zweck - so fasse ich diese Einsicht zusammen erschöpfen sich nicht in der Decodierung der Botschaft, die sie umschreiben. Sie lassen vielmehr - und damit teilen sie eine Eigenschaft aller bildlichen Darstellungen - mehrere Betrachtungsweisen zu. Und trotz oder
vielleicht sogar wegen dieser Ambiguität eignen sie sich hervorragend zur
Machtrepräsentation in der Öffentlichkeit.
Die zentralen weiblichen Figuren auf der Ära Pacis z. B. sind an ihren
Attributen als kriegerische und mütterliche Personifikationen zu erkennen.
Der unbefangenen Betrachter mag sich, ist er im Bildersehen bewanden,
vage an die eine oder andere vergleichbare mythologische Götterdarstel-
lung erinnern. Den Gesamtsinn aller Bilder aber - die Herleitung des
auf dem Waffengebrauch beruhenden Friedens und der Macht des Augustus aus der Gründungssage Roms - vermag nur der Eingeweihte genau zu
erkennen. Daher lassen sich, nach einem Vorschlag des Kunsthistorikers
Erwin Panofsky an jeder bildlichen Darstellung der auf die unmittelbare
Erscheinung bezogene »Phänomensinn« und der auf verborgene Kontexte
bezogene »Bedeutungssinn« unterscheiden (Panofsky 1974, S. 86 f.). Diese
Unterscheidung nimmt Rücksicht auf einen im Bild, und das heißt - im
Rahmen unserer Fragestellung - auf einen in der Mythologie latent enthaltenen Reichtum an Bedeutungen, der in der beabsichtigten propagandistischen Funktion nicht aufgeht, die ihm der politische Gebrauch abverlangt.
Alle Mythenzitate — so läßt sich dieser Gedanke vereinfachen — besitzen einen Mehrwert an Bedeutung, der ihren bloßen Gebrauchswert als
Spielmarken innerhalb des machtpolitischen »Mensch-ärger-Dich-nicht«
überschreitet. Als Zitat im neuen Kontext übernimmt das Mythologem
nicht selten die Funktion der Metapher (vgl. auch Burkert 1981, S. 12).
Metaphern indes lassen sich nicht wie Nüsse knacken. Sie sind eher dem
Regenbogen vergleichbar, der zwei unbestimmte, am Standort des Betrachters haftende Blickpunkte in der Landschaft verbindet/nicht verbindet und
dessen erhabene Schönheit uns staunen macht. Erhabenheit aber ist das
wirksamste Medium öffendicher Machtrepräsentation.
174
Einschneidende oder gar plötzlich eintretende politische und soziale Veränderungen schaffen Sinndefizite. Nicht selten werden diese durch Rückgriff auf
den Fundus der Mythologie ausgeglichen, so daß über dem Neuen das Alte erscheint wie die segnende Hand des Vaters über dem Scheitel des heimgekehrten
Sohnes.
Mythen werden erzählt — so legt es Piaton in den Mund des Philosophen
und Dichters Kritias — wenn eine Zeit der Not und des Mangels von ei-
ner Zeit der Muße abgelöst wird {Kritias, 110 A). Denn erst nach dem
Kampf kann sich das Bewußtsein wieder jener Suche nach dem Vergangenen zuwenden, aus dem es die Zeichen und Bilder schöpft, deren es zur
Konstruktion einer geordneten Welt bedarf. In der aufgeklärten Perspektive des Philosophen ist die Mythenrede schon Erinnerungsrede.
Die Wirklichkeit ist also komplizierter, als es die Theorie der tabula
rasa wahrhaben will. Eine Revolution bricht nicht unversehens wie ein
Naturereignis herein und macht auch nicht — was nur bornierter Mythenglaube behaupten kann - völlig reinen Tisch. Revolutionen werden vorbe-
reitet, und was man sich an und nach ihrem Ende erzählt, das bedient sich
der Muster und Bilder, die zu ihrer Inkubationszeit gehören. Die Französische Revolution hat nicht nur den Vandalismus, sondern auch das moderne
Museum hervorgebracht (Vovelle 1987, S. 109). Auf dieser Grundlage gilt
es zu differenzieren. Denn nicht jede nachrevolutionäre Zeit greift auf die
ältesten Mythen zurück, um den historischen Augenblick darzustellen oder
im ersten Anlauf zu deuten.
Auch hierfür sind die Revolutionen des 18. Jahrhunderts lehrreiche
Beispiele. Fabre d'Eglantines »Revolution« des Kalenders in Frankreich
vom Oktober 1793 wollte einen absoluten neu-zeidichen Anfang im Sinne der tabula-rasa-Theorie setzen und zählte in bewußter Gegenstellung
zum Sonnenumlauf (zur traditionellen »Revolution«!) der Erde die Wochen nach Dekaden (12x30 Tage im Jahr). Die fehlenden 5 Tage wurden
als Feiertage - die sog. »Sansculottiden« - zum Jahr hinzugefügt. Dieser
Versuch, der Geschichtszeit einen neuen genealogischen Ursprung zu geben, ein Versuch, der sich übrigens des Lateinischen zur Bezeichnung der
Wochentage bediente, mußte scheitern. Denn er widersprach dem kosmopolitischen Anspruch der revolutionären Ideen.
Weitaus wirksamer im Sinne der revolutionären Ideenpolitik war jedoch der Anschluß der Revolutionsfeste an ein mythologisches Bildprogramm, dessen Quelle in der Renaissancemalerei zu suchen ist und bis
auf die Zeit des Augustus zurückverweist. Antoine Carons (1521-1599)
Gemälde »Augustus und die Sibylle von Timur«, ein Werk, das dem emblematischen Concettismo und der Malerschule von Fontainebleau nahe175
steht, zeigt in der Manier eines Bilderrätsels Szenen aus der Legendentradition um den römischen Kaiser. Die Legende erzählt u. a., daß in Rom
zum Zeitpunkt von Christi Geburt die Ära Pacis und die dort aufgestellte
Säule des Romulus einstürzten, woraufhin sich Augustus dem neuen Weltherrscher in Frömmigkeit gebeugt habe. Caron hat das Bild für Heinrich
III., den letzten König aus dem Hause Valois, gemalt und die dargestellten
Figuren, Symbol-, Schrift- und Architektur-Elemente so angeordnet, daß
der königliche Betrachter vor dem Bild in der genealogischen Abfolge des
frommen Augustus zu sich selbst kommen konnte.
Aus dieser Darstellung der Pietas Augusti, der erhabenen Frömmigkeit
des Herrschers, zitiert etwa 200 Jahre später der Revolutionsmaler JacquesLouis David, und zwar in seinen Allegorie- und Architekturentwürfen für
die am 10. August 1793 zu feiernde »Fete de l'Unite et de l'Indivisibilite de
la Republique«. Auf der Ebene des Phänomensinns gibt es zahlreiche Übereinstimmungen, die zeigen, daß Davids Revolutionsdenkmäler die Vorlage
bis in Einzelheiten kopierten. Einen gemeinsamen, dem Bedeutungssinn
angehörigen Hintergrund beider so weit auseinanderliegender Projekte bildet die neuplatonische Lichtmetaphysik. In Carons Gemälde im Bild des
»sol invictus« als Zeichen für Christi Macht, in Davids Festarrangement
als die über der Personifikation der Natur, dem »Brunnen der Emeuerungs
aufgehende Sonne dargestellt.
»Die [... ] unverändert neuplatonisch fundierten Mythologien der Revolution fanden einen Gebrauch, der [... ] an die Herrschertheatralik der
Könige anknüpfte und versuchte sie umzudeuten«, bemerkt Gerhart von
Graevenitz, der diesen Zusammenhang in seinem lesenswerten Buch über
den Mythos als Denkgewohnheit untersucht (1987, S. 166). Fragen wir
nach der Art der Umdeutungsversuche, so zeigt uns Graevenitz, daß sie in
ähnlichen Umkehrverfahren bestehen, wie oben bereits an Vergils Aeneis
beobachtet. Der Höhepunkt des Revolutionsfestes vom 10. August 1793
war der Schwur auf die neue Verfassung am Autel de la Patrie (Ära Patriae), am Altar des Vaterlandes, auf dem Marsfeld. Hier hatte jedoch schon
Ludwig XVI., eingerahmt vom Pomp eines christlichen Herrscher-Rituals,
den Eid auf die Verfassung abgelegt, so daß David, um die Republik aus
dem Bildgedächtnis der Monarchie zu befreien, an eine öffentlich wirksa-
me Korrektur denken mußte. Er fand diese in der Umkehrung der auf
Carons Gemälde dargestellten Legende: Auf dem Altar des Vaterlandes
renovierte David die einst durch Christi Erscheinen im Tempel der römischen Ära Pacis gestürzte Romulussäule, gekrönt von der roten Mütze und
den Farben der Revolution.
Vielleicht erscheint nirgendwo anders die Zweideutigkeit der Revolu-
tion als Inversion von Altem und Neuem in so drastischer Weise wie in
176
Davids Entwürfen und Bildern. Umsturz und Wiederbelebung gingen hier
Hand in Hand, und das war wohl auch der Sinn der von einem Zeit- und
Zunftgenossen Davids ausgegebenen Parole: »Die Lichtfackel der Antike
wieder anstecken« (Starobinski o. J., S. 80).
Die Rechtfertigung der Revolution und ihres Übergangs in einen Verfassungsstaat war jedoch durch solche Operationen auf symbolischem Feld
allein nicht zu leisten. Insofern sind Zweifel gegenüber der legitimatorischen Verwertung der Mythologie in diesem Fall angebracht. Der menschenvertilgende Gang der Revolution war dadurch jedenfalls nicht zu
stoppen. Dazu bedurfte es erst eines Rückfalls in die Herrschaft des einzel-
nen, der sich — wie ja bekannt ist - in exzessiver Weise des alten HerrscherMythologems bediente, das von den Artisten der Revolution wie ein abgetragener Rock gewendet und prächtig herausgeputzt worden war.
Auch die andere, die amerikanische Republik hatte vom Licht der Antike geborgt. Es wäre lohnend, einmal zu vergleichen, welche Rolle die
römische Dichtung für die amerikanische wie für die französische Revolution gespielt hat. Hannah Arendt nennt die Aeneis, aber auch den Pentateuch als die Fundstätten für jene Gründungslegenden, deren die Revolutionäre bedurften, um in der Neuen Welt einen neuen Anfang machen
zu können (Arendt 1979, S. 197). Den revolutionären Übergang von der
britischen Ungerechtigkeit zur amerikanischen Freiheit in den Bildern des
Exodus aus der ägyptischen Knechtschaft in das Gelobte Land Kanaan zu
deuten, erfüllt auf den ersten Blick freilich den Tatbestand der Hochstapelei. Verständlicher wird die Aktivierung dieses Musters für die Interpretation der amerikanischen Revolution, wenn der Exodus aus Ägypten als
Metapher für den Auszug der Kolonisten aus dem Ancien Regime Europas gelesen wird. Von Bedeutung für die Adaptationsfähigkeit der biblischen Geschichte ist, daß ein neuer Bund am Sinai die Überwindung der
Knechtschaft gekrönt hat, ein Bund, dem kein Despot vorsaß, sondern an
dem »das Volk« partizipierte. Die Stationen, die der Mythos erzählt - Auszug aus der Despotie, Ankunft im gelobten Land, Kampf in der Wüste und
Politik des Neuen Bundes -, liefern geradezu ein Handlungsmodell für den
Ablauf revolutionärer Prozesse.
Michael Walzers Studie Exodus and Revolution (1985) hat uns die Augen für die universelle Anwendbarkeit dieses altbiblischen Mythos auf die
Revolutionsgeschichten der westlichen Gesellschaften geöffnet. Daher gibt
es zu denken, wenn im Revolutionsjahr 1989 die Cover Story des amerikanischen Wochenmagazins »Time« (25.9.89, p. 15) die Flucht aus der
DDR wie selbstverständlich als Exodus aus der Knechtschaft in eine neue
Freiheit beschreibt. Denken wir diese Redeweise in den Begriffen Michael
Walzers zuende, so hätte auch dieser Exodus zu einer revolutionären Poli177
tik mit dem Ziel eines neuen Bundes, nämlich eines neuen Bündnisses der
politischen und gesellschaftlichen Kräfte am Zielort führen müssen. An
diesem Fall zeigt sich indessen noch einmal, daß sich die alte Mythenrede
nur um den Preis ihrer Inversion aktualisieren läßt. Denn die als eine Folge der Massenflucht in den Städten der DDR eingetretene revolutionäre
Situation verlangte - in genauer Umkehrung des Mythos - nach einem
neuen Gesellschaftsvertrag an dem Ort, von dem der Exodus seinen Ausgang nahm.
Nicht nur Revolutionen, auch Mythen sind zweideutig. Und das in einem
durchaus zweifelhaften Sinn. Als Urszene einer bannenden Macht, die von
Göttern oder gottähnlich sich dünkenden Menschen ausgeht, verschleiert der
Mythos jene revolutionäre Kraft kritischen Denkens, die sich vorgenommen hat,
eben diese Macht zu entzaubern. Als symbolische Urschrift einer vortheoretischen Einheit von Mensch und Natur erinnert aber der Mythos im Bilde an
das, was die Revolutionen des Fortschritts zerstört haben.
Das Alter des Begriffs »Mythos« reicht weit zurück hinter das des Revolutionsbegriffs. Lebten wir in einer vormodernen Zeit, so wäre schon das
Alter allein ein hinreichender Grund, dem ersteren mehr Geltung als dem
letzteren zuzugestehen. Doch die Geltungsfrage auf theoretischer Ebene ist
ganz anders gelagert. Ich frage hier ja nicht nach der lebensweltlichen Normativität der Begriffe, sondern nach ihrer Leistung im Kontext historischer
Erkenntnis. Da die Begriffe selbst aber historische sind, so ist der Interpret
gezwungen, ihre Geltung an den Prämissen zu messen, die als theoretische
Rahmenbedingungen über ihren jeweiligen Gebrauch entscheiden. An dieser Stelle ist das jedoch nur andeutungsweise möglich.
In der Bedeutungsgeschichte des Mythosbegriffs taucht immer wieder
eine Denkfigur auf, die den Übergang vom mythischen zum entzauberten Weltbild, vom vortheoretischen zum theoretischen Bewußtsein - mit
den Worten eines oft zitierten Buchtitels: Vom Mythos zum Logos (Nestle
1975) - behauptet und diesen Übergang als epochale Kulturwende interpretiert. Mit den Worten Ernst Cassirers: »Wie nach dem griechischen
Mythos ein Biß in den Apfel der Proserpina die Seelen für immer dem
Reich der Schatten verstrickt und ihnen die Rückkehr zum Licht des Tages
verwehrt - so scheint umgekehrt der Anbruch des Tages, der Anbruch des
wachen theoretischen Bewußtseins und der theoretischen Wahrnehmung,
keinen Rückweg mehr in die Welt der mythischen Schattenbilder zu verstatten« (Cassirer 1972, S. 91). Dieses Gleichnis ist ein schönes Beispiel für
die Beständigkeit dessen, was in ihm verabschiedet werden soll. Der Apfel
178
vom Baum der Erkenntnis und der Apfel vom Baum des Todes bleiben
doch immer Apfel, und in diesem gemeinsamen Dritten sind Erkenntnis
und Mythos über ein Sinnbild vermittelt.
Denn die Mythen sind, darüber hat uns nicht zuletzt die Ethnologie
belehrt, nicht völlig blind. Nur läßt sich das, was sie an Wissen und Erkenntnis enthalten, nicht in logisch sauber getrennten Kategorienfächern
unterbringen. Cassirers Gleichnis macht auf listige Weise bewußt, daß der
Entgegensetzung von Mythos und Theorie eine Erfahrung vorausliegt, die
den Beginn des Denkens in einer von mythischen Anschauungen gereinigten Erkenntnissphäre als Illusion enthüllt. Das Denken in Bildern, das
unsere unmittelbaren Erfahrungen durchdringt und das die ästhetischen
Künste als ihre hauseigene Domäne betrachten, schließt die mythische Anschauungsform ein und hält hartnäckig den Platz besetzt, an dem die theoretisch eingestellte Reflexion mit viel Mühe beginnt, zwischen Begriffen
und Bildern zu unterscheiden.
Es ist daher, wenden wir das Gesagte auf die hier vorgetragenen Thesen an, sinnvoll, auf theoretischer Ebene zwischen mythischen Bildern und
mythischer Anschauung zu unterscheiden. So enthalten z. B. die Texte
des Exodus, der Odyssee, der Aeneis symbolische Konnotationen, die immer
wieder und - so scheint es — in variierenden historischen Situationen und
für unterschiedliche Zwecke reaktiviert werden können. Auf diese Weise
entstanden mythische, d. h. erzählte Sinnbilder kollektiver und individueller Lebenszyklen, die - eingespannt zwischen Aufbruch und Ankunft diese Mythentexte als Gleichnisse für den Weg der heimkehrenden Seele, den Weg einer revolutionären Gesellschaft, den Weg des modernen Ich
oder für den philosophischen Weg des zu sich selbst kommenden Geistes
lesbar gemacht haben. Ich nenne diese Überlieferungen Mythologoumena
(vgl.auch Panikkar 1990, S. 129 f.); auf Deutsch: Mythen-Erzählungen eigendich ein Pleonasmus, da das griechische Wort »mythos« schon soviel
wie »Sage« und »Erzählung« bedeutet, aber eben doch ein solches Erzählen
meint, das einer anderen Logik von Raum und Zeit, von Denken und Sein
folgt, als sie beispielsweise dem Roman, jenem Epos der bürgerlichen Neuzeit, oder dem modernen Geschichtsbuch zugrunde liegt.
Von den Mythologoumena ist die mythische Anschauung unterschie-
den wie die Intuition vom ausgeführten Werk. Mythische Anschauung,
das ist soviel wie totalisierende Intuition, und diese ist trennfaul. Sie liebt
den Zusammenhang zwischen dem, was die Logik trennen muß, zwischen
Zeichen und Bild, zwischen Glaube und Wissen, zwischen Magie und Empirie, zwischen Menschen und Göttern. In der modernen, von Rationalität
beherrschten und daher auf Trennungen bedachten Welt wird diese Verei-
nigungskraft der mythischen Anschauung - wie mir scheint: auf ideolo179
gisch verzerrte Weise - gerade wiederentdeckt. Darin liegt eine Gefahr,
da im einseitigen Streben nach Einheit, das die Alterität dogmatisch ausschließt, stets ein Moment des Totalitären zur Geltung kommt. Vielleicht
war die ältere mythische Anschauung wirklich offener für die heterogensten
Erscheinungen, begreift man als ihren angestammten Ort das Pantheon, an
dem ausnahmslos alle Götter zusammentrafen (Blumenberg 1979, S. 264).
Nicht wenige Revolutionsgruppen der modernen Geschichte - seien
sie im linken oder im rechten Spektrum angesiedelt - haben sich in bestimmten Phasen ihres revolutionären Kampfes gerade des ideologisch ver-
zerrten Vereinigungsmodus in der mythischen Anschauung bedient, um
die revolutionäre Lehre mit überhistorischer Macht auszustatten. Sorels
Mythos vom Generalstreik und die faschistischen Mytheninszenierungen
sind Beispiele für die narkotisierenden Gefahren der mythischen Anschauung, wird nur die totalisierende Tendenz zum Gegenstand entprechender
Verstärkungsmanipulationen gemacht. Die Vereinigung zielt hier auf die
Indifferenz von Einzelnem und Masse. Und die so bewußt aktivierte mythische Anschauung greift, um an die angeblich naturwüchsige und durchaus blutige gemeinsame Urmutter zu erinnern, nicht selten auf die Bilder
unvorhersehbarer, menschlichem Eingriff entzogener Naturkatastrophen
zurück: die Revolution als Vulkanausbruch, als Gewitter, als Erdbeben,
als Dammbruch, Feuersturm usf. Die Beispiele für die Konstanz dieses naturmythischen Schemas reichen von den Jakobinern über Engels bis Che
Guevara (Lasky 1989, S. 111 ff.). Oder sie bedient sich des modernen Mythos des militärisch-technischen Uhrwerks, das Mensch und Apparat auf
einen mechanischen Nenner reduziert und das Subjekt durch das System
ersetzt.
Die modernen, von der mythischen Anschauung produzierten Mythen
haben jedoch - und das unterscheidet sie vom Weltbild der alten Mythen
- ideologisch exklusive Funktionen. Gerade ihre pseudomythische Eigenart macht sie besonders brauchbar für revolutionäre Bewegungen. Denn
als »Mythen« sind Ideologien scheinbar gefeit gegen Kritik, obwohl diese
Grenze in der Regel nur auf einem Kritikverbot beruht, das die machthabende Fraktion durchsetzt und überwacht. Der Historiker Füret hat
einen solchen ideologiebesetzten Pseudo-Mythos im Anspruch der Jakobiner aufgedeckt, mit der Einheit des französischen »Volkes« zu denken,
zu fühlen und zu handeln. In Wahrheit war das eine Fiktion, der Club
»stellte« das Volk nur »dar«, mit Robespierre - wie Füret bemerkt — als
»endgültige[r] Verkörperung dieser mythischen Identität« an der Spitze.
Robespierre selbst verbrämte demnach die Diktatur des Schreckens, die er
faktisch ausübte, mit einem Diskurs der Volksherrschaft, der die fehlen-
180
de Legalität der Revolution durch die Beschwörung ihrer Legitimität zu
ersetzen suchte (Füret 1980, S. 90f.).
Es ist nun interessant, daß Füret mit dem 9. Thermidor, das ist das Datum von Robespierres Sturz, das Ende der Revolution verbindet. Denn sie
tritt mit dem Zusammenbruch der Suche nach einer dauerhaften Identität
von Macht und Volk, die sich mythischer bzw. imaginärer Repräsentationsformen bedient und mit deren Hilfe die revolutionäre Ideologie weiterentwickelt, in das Stadium der Konkurrenz gesellschaftlicher Interessen. Man
könnte auch so sagen: Die heroische Phase der Revolution, deren blutigen
Höhepunkt die Diktatur Robespierres darstellt, da sie mit dem terreur sich
ein göttliches Recht über Leben und Tod anmaßt, ist beendet. Und das
Bündnis von Macht und Ideologie, in Furets Worten: die »Dialektik der
Macht und des Imaginären«, zerbricht zugunsten einer bourgeoisen Geldund Interessenpolitik. Ziel der damit verbundenen Entmythologisierung
der Revolution ist die Wiederherstellung des Königtums in modernisierter
Gestalt, in Verbindung mit einer reformierten, funktionelle Strukturprinzipien aufbietenden Bürokratie.
Es geht mir nicht um die historische Stichhaltigkeit von Furets Aussa-
gen. Interessant erscheint mir vielmehr die Rolle dessen, was der Historiker
»mythisch«, »symbolisch«, »ideologisch«, »imaginär« nennt oder auch mit
dem Begriff des »Diskurses« umschreibt. Er bezeichnet damit Formen der
Kommunikation, die sich verschiedener Medien bedienen und offenbar für
die Interpretation des Ablaufs der Revolution genauso wichtig wie die politischen Ereignisse selbst, wenn nicht sogar wichtiger sind. In aller Kürze
lassen sich Furets Thesen, die sich auf Vorarbeiten eines anderen Forschers
(Augustin Cochin) stützen, wie folgt zusammenfassen: Seit Mitte des 18.
Jahrhunderts entwickeln die Societes de pensee in Frankreich - das sind
philosophische Gesellschaften, Geheimbünde, Freimaurerlogen — die Idee
einer »reinen« Demokratie, eine Idee, die schließlich Gemeingut der Ja-
kobiner wird und mit diesen die Form einer politischen Partei annimmt.
Ein Kult des Gesellschaftlichen mit den Zügen einer Ersatzreligion entsteht
zusammen mit der Theorie der »reinen« Demokratie und macht die jakobinischen Akteure während der Revolution zu Gefangenen ihrer eigenen
mythischen Vorstellungen. Denn sie versuchen nun, die Idee der »reinen«
Demokratie mit Gewalt auf Staat und Gesellschaft auszudehnen, da diese
Idee in ihren Köpfen bereits die Differenz zwischen ihrer Partei und diesen
Institutionen ausgelöscht hat (Füret 1980, S. 197 ff.).
Was auf der Ebene der Ideologie als falsches Bewußtsein erscheint,
das inszenierten die Subjekte desselben in ihren öffentlichen Aktionen mit
den Mitteln kollektiv wirkender Bild- und Symbolarsenale (les imaginai-
181
res: Baczko 1984). Es geht in diesem Zusammenhang nicht nur darum,
noch einmal anhand eines prominenten Beispiels auf die totalitäre Tendenz
der mythischen, die Vereinigung von Idee und Wirklichkeit erzwingenden
Anschauung hinzuweisen. Es geht vielmehr auch um die Paradoxie, daß
eine philosophische Bewegung, die mit den Mitteln kritischen Denkens
und der begrifflichen Rede politische Mythen entzaubern wollte, an einem
bestimmten Punkt ihres Weges hinter ihre Zielvorstellungen zurückfiel, ja
sich nicht einmal gegen das Umschlagen in neue Mythenbildungen mit
den Mitteln jener Vernunft zu schützen vermochte, in deren Zeichen sie
das Geschäft der Emanzipation begonnen hatte.
Marx hat der Möglichkeit einer historisch sinnvollen Remythisierung
zwar in den Grundrissen von 1857 mit der rhetorischen Frage widersprochen: »Wo bleibt Vulkan gegen Roberts & Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Credit mobilier?« (Marx o.}., S. 30). Aber, so
möchte ich zurückfragen, kehren nicht die alten Götter in entpersönlichter
Form zurück, wenn derselbe Marx die »Revolutionäre« einer neuen Zeit als
»Dampf« und »Elektrizität« beim Namen ruft (Griewank 1973, S. 218)?
»Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte«, sagt Marx. Diese Lokomotiven werden, sobald sich die poetische Einbildungskraft ihrer bemächtigt,
mit mytho-logischem Brennstoff geheizt. Und sie fahren dann nicht selten im
Gleis des ironisch gebrochenen Mythenkommentars.
Wenn alte und neue Mythen, wie wir gehört haben, nach dem Kampf
erzählt werden, so darf die Einbildungskraft der Dichter nach der Revolu-
tion fröhliche Urständ feiern. Doch ob die Lokomotiven dann in jedem
Fall im Bahnhof der Befreiung ankommen, das steht dahin. Revolutionen
können bekanntlich scheitern, und das in den Augen der Dichter sogar
dann, wenn der Praktiker sie für gelungen hält. Doch ich halte mich nicht
bei der poetischen Kritik der Revolution auf, sondern untersuche in aller
Kürze anhand von zwei Beispielen aus der dramatischen Literatur unseres
Jahrhunderts, welche Rolle Mythologoumena in der ästhetischen Darstellung unmittelbar vergangener Revolutionsprozesse spielen können.
Eine Vorbemerkung scheint mir indes vonnöten, die anzeigt, welcher
kategotiale Unterschied zwischen Mythen in ideologischer und in ästhetischer Perspektive besteht. In den nachaufklärerischen Zeitaltern tritt, was
vor allem die letzte These zu erläutern suchte, die mythische Anschauung
arbeitsteilig neben die theoretische, die ideologische, die ästhetische Anschauung. Ihr alter Universalitätsanspruch ist gebrochen, und die Mythen,
die sie unter dieser Bedingung hervorbringt, werden wiederum verwertbar
182
als Symbole für ideologische und ästhetische Zwecke, und darüber hinaus werden sie — was nicht gering zu veranschlagen ist — kritikwürdig, da
sie in ein schiefes Verhältnis zu den Welten der praktischen und theoretischen Wahrnehmung geraten. Die Verwandtschaft der mythischen Anschauung mit dem falschem Bewußtsein macht sie bedenklich. Will man
aber den Unterschied zwischen beiden betonen, so gilt für das falsche (ideologische) Bewußtsein, daß es das Mißverhältnis zwischen Idee und Wirk-
lichkeit leugnet, für die mythische Anschauung, daß sie das Unmögliche,
nämlich die deckungsgleiche Übereinkunft von Idee und Wirklichkeit erzwingen will - und zwar mit Mitteln, die an magische Praktiken erinnern.
Die ästhetische Perspektive jedoch nimmt den Bruch mit der Tradition
in ihr Handwerk auf, indem sie Mythologien und Mythologoumena ironisch zitiert. In den Fällen, in denen die ästhetische Anschauung diesen
Bruch verleugnet, verstößt sie gegen ihre eigentümlichen, dem Schein antizipierter Versöhnung zu verdankenden Gesetze, und wird dafür in ihren
Werken mit einer blöden Irrationalität bestraft.
Noch im Jahr der Oktoberrevolution (1917) beginnt Wladimir Majakowski mit der Niederschrift einer Art Mysterienspiel, das 1918, am ersten
Jahrestag der russischen Revolution, unter dem Titel Mysterium bujfo. Heroisches, episches und satirisches Abbild unseres Weltalters in Petersburg, dem
Ausgangsort der Oktoberrevolution, uraufgeführt wird. Dieses erste sowje-
tische Revolutionsschauspiel beginnt mit der Sintflut und endet mit der
Ankunft des befreiten Proletariats im »Gelobten Land«. Dazwischen liegen
der Bau einer neuen Arche Noah, auf deren Deck Monarchie, Demokratie
und proletarische Revolution einander ablösen, die Erstürmung der Hölle
und des Paradieses und die Aufräumarbeiten im »Tal des [ökonomischen]
Ruins«.
Natürlich ist die Absicht des Stücks agitatorisch, es feiert die Weltrevolution und ihren neuen technischen Geist, und zugleich wirft es die Konventionen der Stanislavskij-Bühne zum alten Eisen. Daß es uralte Mythenerzählungen verwertete, ist bemerkenswert, weil es ihm dadurch leichter
wurde, ein Ereignis - die aktuelle Revolution -, das für die Zeitgenossen
noch nicht ans Ende gekommen war, ohne historische Erzählmittel als ein
Geschehen darzustellen, das im Selbstverständnis der Akteure den Anfang
für eine neue Geschichtsepoche setzen sollte.
Legt man dem Stück das mythologische Exodus-Schema zugrunde,
wozu die Ankunft im »Gelobten Land« der Kommune ja allen Anlaß bietet, so stellt sich die Frage nach der revolutionären Politik des neuen Bundes. Bezeichnenderweise fehlt aber eine solche Politik am Ende des Stücks.
Das neue Bündnis erstreckt sich nämlich auf die Vereinigung des Proletariats mit den animistisch belebten Produktionsmitteln und deren Produk183
ten. So sprechen die Maschinen zu den Arbeitern: »Wir Wiegenwagen auf
Doppelrädern,/mit Schwanken und Um-die-Kurven-Federn,/beflissen, die
Satten und Fetten/ans Ziel zu befördern,-/wir Helfershelfer von Dieben
und Mördern./Triebscheibe, Schwungrad und Kurbelwelle — da gabs keinen Halt./wenns euch zu verstümmeln, zu rädern galt./Treibriemen, Stahlbrücke, Bunkergefälle,/alles war/als Gefahr/euch zur Stelle... /Nun aber
brüllt auf, Motoren!/ Gestürzt sind Protzen und Götzen./Sperr auf, Jubel,
Mund und Ohren!/Wir dürfen euch nützen, euch ergötzen.—/befreitl/Jetzt,
Bahnen, flutet, Sirenen, tutetl/Jetzt mögt ihr euch recken, Eisenbahnstrekken!/In Lust-Karussellen die Nacht erhellen,/sind, Arbeitervolk, wir von
nun an bereit!« (Majakowski 1964, S. 113 f.).
Man versteht gut, daß Majakowski ganz am Ende sein Stück von den
Schauspielern selbst als Theater entzaubern läßt und das eigentliche Bünd-
nis als das zwischen Szene und Auditorium inszeniert. Die Zuschauer
werden auf die Bühne gerufen und singen dort zusammen mit den Spielern: »Wollt euch, Freunde, der Sonne verschwören!« (Majakowski 1964,
S. 119). Plötzlich ist die Maschinenideologie vergessen und die Erinnerung
an die Sonne, das alte Emblem der Vernunft, wieder aufgegangen.
Auf diese heiter-ironische Weise rettet Majakowski wenigstens seine
ästhetische Revolution. Was von det politischen bleibt, das erscheint dem
heutigen Leser, der sich um die Absicht des Autors nicht kümmern mag, als
eine lächerliche Vergötzung der Produktionsmittel, für die manche Äuße-
rungen der Götter Lenin und Marx das Material geliefert haben. »Das
Wunder macht/die Elektrifizierung«, ruft der Lampenanzünder, der schon
vor den andern einen Blick ins Gelobte Land werfen darf. »Elektrisch
der Zug;/elektrisch die Saat;/elektrisch der Pflug;/elektrisch die Mahd;/und
endlich der elektrische Drusch./Alles - auf Draht./Eine Sekunde — nicht
Stunde - hernach/ist das Brot/-husch-!/schon gebacken« (Majakowski
1964, S. 108).
Hat Majakowski die biblische Mythenerzählung travestiert, um damit
auch die chrisdiche Tradition als Ideologie der Ausbeuter zu treffen, so
bedient sich fast zur gleichen Zeit Bert Brecht mit anderem Ziel der Heimkehrergeschichte der »Odyssee«. Brechts Drama Trommeln in der Nacht,
dessen Titel eher steinzeitliche Assoziationen weckt, ist 1919 unter dem
unmittelbaren Eindruck der gescheiterten Novemberrevolution entstanden. Es spielt nicht in einem mythologischen Niemandsland, sondern in
den Lokalen der »großen Stadt«: der bürgerlichen Wohnstube, der Kneipe
und der Straße.
Aber die Revolution ist nur eine Kulisse von Bürgerkriegsgeräuschen
und ein wildes Gerücht über den Sturm der Spartakisten im Zeitungsviertel. Die Revolution ist abwesend anwesend, ein Geschehen, das sich in
184
der Ferne vollzieht, ja eigentlich schon vollzogen hat, wie es im Lied des
»besoffenen Menschen« heißt: »Meine Brüder, die sind tot/Und ich selbst
wär's um ein Haar/Im November war ich rot/ Aber jetzt ist Januar« (Brecht
1967, S. 112).
Vor diesem Hintergrund wird die Geschichte des aus den Kolonien
heimkehrenden Soldaten Kragler erzählt, der sich wie Odysseus »Niemand«
nennt und nun, als er nach vier Jahren Abwesenheit seine Braut umarmen
will, das Bett besetzt findet. Kragler besäuft sich, und Kragler geht ein
paar Schritte mit den Aufrührern mit. Aber am Ende wendet er sich von
der Revolution ab und nimmt doch wieder die entehrte Braut an, während
im Hintergrund die Artillerie dem Aufruhr im Zeitungsviertel ein Ende
macht: »In der Luft, hoch, sehr fern, ein weißes, wildes Geschrei: das ist in
den Zeitungen«. Eine merkwürdig ambivalente Regieanweisung, die den
historischen Augenblick zugleich als Siegesstunde der weißen Partei und
als journalistische Zankerei auf Zeitungspapier erscheinen läßt. Und auch
Brecht läßt seinen mythologisch-historischen Zwitterhelden die Szene entzaubern. »Es ist gewöhnliches Theater.« - sagt Kragler im letzten Akt - »Es
sind Bretter und ein Papiermond und dahinter die Fleischbank, die allein
ist leibhaftig« (Brecht 1967, S. 123). Doch es gibt keine Verbrüderung auf
der Bühne, ja nicht einmal ein Aufräumen durch Odysseus-Kragler. Die
Mythologie kippt vielmehr um in ein sinnloses Scheitern der Geschichte,
der Kragler das Gesetz ewiger Repetition zuschreibt, indem er den Leierkastensong vom Hund anstimmt, der in die Küche geht, dem Koch ein Ei
stiehlt, getötet und begraben wird und in dessen Grabinschrift sich dieses
Geschehen unablässig und ohne jede Veränderung wiederholt.
Mir scheint, daß es Brecht mit dem Zitieren und Umwenden der alten
Mythenerzählung in der Vordergrundsgeschichte gelungen ist, das aktuelle
Geschehen vor einer schlechten Remythisierung zu bewahren und zugleich
einen Wink zu geben, warum die Revolution nicht auf die Bühne gehört.
Der einzige, der einen guten Grund hätte, sich aufzulehnen, ist der verelendete und betrogene Kragler. Aber gerade er rebelliert nur gegen das Theatralische und verweist ausdrücklich den, der nach der realen Geschichte auf
der Bühne sucht, auf die »Fleischbank« draußen.
So bleibt das Gesetz der Wiederholung allein das Gesetz der auf der
Bühne erzählten Geschichte. Denn diese poetisch und dramatisch erzählte
Geschichte lebt vom Zitat und ist als Text in ihrem Ablauf ein für allemal
(die späteren Bearbeitungen des Autors nicht gerechnet) festgeschrieben.
Indem diese Geschichte sich in Kraglers Worten als eine ästhetische reflektiert, zerstört sie die Illusion, ein politischer Kommentar zur gewalttätigen
wirklichen Geschichte sein zu wollen. Ihr Ende zeigt einen Anti-Helden,
einen umgedrehten Odysseus, der nichts anderes will als zur Frau ins Bett.
185
So verschieden der Gebrauch der Mythologoumena in Majakowskis
und Brechts Dramen ist, er zeigt doch auch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Beide Autoren scheinen aus verwandten Gründen bei der Mythentradition geborgt zu haben. Sie wollten etwas darstellen, was sich noch
nicht darstellen ließ, da es noch nicht im Sinne historischen Erinnerns vergangen war: Majakowski die Oktoberrevolution als hoffnungsvollen Beginn einer neuen Zeit, das jämmerliche Ende der deutschen Novemberrevolution Brecht. Anders als die politischen Agitatoren verwerteten sie
das Alte mit ästhetischer Ironie. Sie zitierten die Mythologie, während die
Sieger — ob Revolutionäre oder Konterrevolutionäre — sie zelebrierten.
Zwischen den Begriffen »Revolution« und »Mythos« besteht ein geheimes semantisches Einverständnis, von dem bis heute die politische Rhetorik Gebrauch
macht, indem sie der Geschichte das überhistorische Schema von Aufbruch,
'Wandlung und Ankunft überstülpt.
Schon die Beziehung zum Kollektiv verbindet beide Begriffe, zeigt aber
auch ihre kategoriale Differenz. Denn »Revolution« bezeichnet einen kollektiven Aktionszusammenhang, »Mythos« aber einen kollektiv tradierten
und erinnerten Erzähltext oder Bildkomplex. Nun gehört aber der unvermittelte Übergang des gesprochenen Wortes in die Tat nicht nur zu
den ältesten kosmogonischen Mythologemen, sondern findet sich immer
wieder — gleichsam als energetische Enthusiasmosformel — in der revolutionären Rhetorik. Davon sprechen nicht nur zahlreiche literarische, sondern auch politische Texte. Nachdem er noch einmal die Gleichheitsfor-
derung erneuert hat, ruft Büchners St. Just aus: »Jedes Glied dieses in
der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet«; Robespierre ist skeptischer: »Ob der Gedanke Tat wird, [... ] das ist Zu-
fall« (Büchner 1974, S. 46, 29); der russische Revolutionär Plechanow aber
schreibt: »Ein Begriff mit revolutionärem Gehalt wirkt wie eine Art Dynamit und ist durch kein anderes Sprengmittel zu ersetzen« (zit. nach Lasky
1989, S. 114).
Wieder wirkt das Zitierte wie Negation und Umkehrung der Mythenrede von der Erschaffung der Welt aus dem göttlichen Wort. Und doch:
die meisten archaischen Kosmogonien erzählen von der regelmäßigen Wiederkehr des Chaos, aus dessen Trümmern eine neue, eine ganz andere als
die alte, weil gereinigte Ordnung hervorgeht. In der christlichen Mythentradition steht dafür die Apokalypse, vielfach ausgeschöpfte Quelle revolutionärer Rhetorik. Die strukturellen Analogien zum Ablauf gewaltsamer
Revolutionen liegen auf der Hand, rückt man nur an die Stelle des göttli186
chen Weltenrichters ein säkulares Subjekt. Sie bekräftigen im Unterschied
zur Exodus-Mythe das Moment der elementaren Gewalt und die damit
einhergehende plötzliche Übertretung der bis dahin geltenden sozialen, politischen und moralischen Codes. Es scheint fast, als ließe die öffentliche
Sakralisierung des Neuen, die an jede erfolgreiche Revolution anschließt,
keine andere Wahl als den Rückgriff" auf die uralten Bilder der mit Ikonoklasmen und Blutopfern verbundenen Reinigung und Verjüngung der
Welt.
Alles, was seit dem spätantiken Rhetorik-Traktat De sublimitate des
Pseudo-Longin zur Topik des Erhabenen gehört, findet sich in der propagandistischen Mythenverwertung revolutionärer und nachrevolutionärer
Situationen wieder: die vulkanische Eruption, der reißende Strom und
nicht zuletzt die als Besessenheit, als heiliger Furor, gedeutete Selbstentäußerung von Akteuren und Zuschauern. Der Nexus zwischen natürlicher Elementargewalt und menschlicher Gewalt renaturalisiert nicht nur
das Subjekt der revolutionären Handlung, sondern vergrößert das Ereignis
auch ins Metaphysische. Beides zieht die ältesten Mythologeme geradezu
magisch an. Diese oder jene Revolution als schicksalhafte Elementargewalt
zu sehen, ist ein nur zu vertrautes Muster der modernen Mythopoiese, in
der sich die abgegriffensten Bilder über den analytischen Logos legen.
Die Revolution »ist der Natur verwandt«, schreibt z. B. 1918 der russische Symbolist Alexander Block und fährt fort: »Eine Revolution bringt
wie der Orkan, wie der Wirbelsturm stets etwas Neues und Unerwartetes. Viele werden grausam getäuscht, oft reißt der Sog die Würdigen in
die Tiefe, während die Unwürdigen häufig wohlbehalten trockenes Land
erreichen; das sind jedoch Kleinigkeiten, die weder die Hauptrichtung
der Sturzfluten ändern noch ihr mächtiges, betäubendes Tosen dämpfen
können. In dem Tosen steckt trotzdem etwas Großartiges - immer« (Block
1978, S. 171). Das erinnert an den großen Reinigungsmythos der Sintflut,
auch wenn Block ihn hier für den Zufall öffnet. Block hat das Erhabene
(»etwas Großattiges«) nicht auf die Naturbilder beschränkt. Sein Revolutionsgedicht Dvenatcat (Die Zwölf) macht vielmeht ausgiebig Gebrauch
von dessen Topoi, und er verwertet hier ohne Bedenken die Bilder der neutestamentlichen Mythologie: der revolutionäre Führer Christus, die Jünger
Rotarmisten.
Der erwähnte antike Traktat Über das Erhabene {De sublimitate) hat
die Mythologie im Sinne einer pathetischen Stilkategorie literarisiert. Aber
nicht er hat ihre Fabeln ins literarische Gedächtnis eingeschrieben. Das ist
eine ältere Geschichte, die bis auf die frühgriechische Epik und Tragödi-
endichtung zurückreicht. Die christliche Mythologie jedoch ergänzte die
tragische Erniedrigung des Erhabenen durch die Figur der Erwartung, ein
187
anderes Wort für Erlösungshoffnung. So entstand ein in ähnlicher Weise
wie die Odysseus- und Exodus-Mythen verzeitlichtes, wenn auch unhistorisches Schema von Aufbruch und Ankunft, das sich, anders als jene
Erzählungen, wie eine Liturgie des qualitativen Sprungs lesen läßt. Denn
zwischen Aufbruch und Rückkehr bzw. Ankunft liegt im christologischen
Mythos jene Wandlung, die sogar den gewaltsamen Tod (des Märtyrers)
heiligt.
Die Auferstehung Christi in Alexander Blocks, von Trotzkij als das
bedeutendste Werk der Epoche gefeiertem Revolutionsgedicht, ist keine
singulare Erscheinung. Schon Marx hatte in den Ökonomischen und philosophischen Manuskripten — freilich in abstrakter und nicht in bildlicher
Rede — von dem christologischen Mythenschema >Aufbruch - Wandlung
- Ankunft< Gebrauch gemacht. Hieß es in Hegels Religionsphilosophie,
mit der Auferstehung Christi sei die Negation überwunden und als Negation der Negation Teil der göttlichen Natur geworden, so übersetzte Marx:
Der Kommunismus bezeichne das Stadium der Negation der Negation und
sei daher ein notwendiges Movens auf dem Weg zur emanzipativen »Wiedereinsetzung des Menschen« (Olssen 1968; Lasky 1989, S. 107). Hinter diesen christologisch strukturierten und insofern einer imaginären Zeit
verhafteten Schemata steht als mythologischer Urtext die Vorstellung vom
unmittelbaren Sprung der Idee in die Wirklichkeit, des Wortes in die Tat.
Die liturgische Wandlung, die Transsubstantiation des Wortes in Fleisch
und Blut, die im christologischen Mythos diesen Sprung ersetzt, eignet
sich daher auch als ein Bild für die revolutionäre Umwandlung des alten
Adam.
Werden gewaltsame Umsturzprozesse, die manchmal - wie die Französische Revolution - als Transsubstantiation der Vernunft in die befreiende Tathandlung interpretiert werden (Marcuse 1970), in der angedeuteten
Form remythologisiert, so zeigt sich darin nicht nur - um ein berühmtes
Wort von Horkheimer/Adorno zu variieren - ein bedenkliches Umschlagen der emanzipatorischen Vernunft in Mythologie. Blocks Beispiel - und
nicht nur dieses — belegt, daß die mythologische Überschreibung eines historischen Ereignisses auch noch die ethischen Gehalte dessen überwinden
kann, was zum Kern der zitierten Beglaubigungsmythe gehört: es ist »trotzdem« großartig. Die literarisch-propagandistische Verwertung des christologischen Schemas läßt sich daher wieder nur als eine Inversion begreifen.
Denn der Märtyrertod Christi stand ja nicht unter dem Zeichen jener Gegengewalt, von der die agitatorische Revolutionsrhetorik schwärmt, sondern unter dem des Endes aller Gewalt.
Der rhetorische Logos der Revolutionsrede steht daher mit der ihm
notwendig erscheinenden Rechtfertigung von Gewalt immer schon im
188
Zentrum des Mythos. Vor diesem Problem löst sich die begriffliche Differenz zwischen »Mythos« und »Revolution« ins Diffuse auf. Denn als
natürliche Elementargewalt gedeutet, entzieht sich die revolutionäre Aktion vernünftigen Urteilskriterien; und die Übertretungen der bestehenden
Ordnung, die sie nicht nur duldet, sondern geradezu fordert, fallen unter diesem Bild in die Verantwortung von Mächten, die gerade nicht zur
Verantwortung zu ziehen sind.
Hier zeigt sich eine dunkle, gefährliche Seite der Remythologisierung
und Resakralisierung, die im deutschen Äquivalent für »Revolution«, im
Begriff des Umsturzes, an metaphorischer Deutlichkeit gewinnt. Denn das
Wort umschreibt ja nichts anderes als jene Verkehrung der bestehenden
Ordnung, die sich in zufälligen, aber auch institutionalisierten Ausnahme-
situationen ereignet und in solchen Fällen in offener oder verdeckter Weise
mit dem apotropäischen Stigma des Heiligen versehen wird.
Die gesellschaftlichen Funktionen des Heiligen lassen sich am besten
an den in seinem Namen veranstalteten Festen studieren. Zugleich zeigt
sich aber, worauf Roger Caillois hingewiesen hat (1988), eine überraschende Funktionsanalogie zur Ausnahmesituation des Krieges. Und hier liegt
der unheimliche Sinn der Mythenistrumentalisierung mit Blick auf die gewaltsamen Revolutionen. Immerhin, die von der Geschichte verzeichneten, für den Begriff der »Revolution« paradigmatischen Umsturzbewegungen waren ausnahmslos mit Kriegen verbunden.
Krieg aber wird - selbst noch in der Moderne - als ein notwendiger, die
lebensweldiche Normalität umwendender Eingriff metaphysischer Mächte
in die säkulare Geschichte gedeutet. Auf das Böse, das sich im Ausbeuter,
Unterdrücker, Aggressor verkörpert, ist mit Aktionen zu antworten, die
— weil die Ausnahmesituation danach verlangt - die Übertretungsverbote
des Alltags in vollem Bewußtsein verletzen müssen — eine negative, zynische Theodizee. Im Krieg — wie in der gewaltsamen Revolution: Friede
den Hütten, Krieg den Palästen! - wird immer noch das honoriert, was die
Gesellschaft in Friedenszeiten mit schwersten Strafen ahndet: Verschwendung der materiellen Ressourcen, Unberechenbarkeit, Betrug und Mord.
»Der Krieg«, bemerkt Caillois, »gilt wie das Fest als heilige Zeit, als Periode
der Epiphanie des Götdichen« (1988, S.229). Eine These, die erklären
mag, warum eine Gesellschaft, die ihre Identität auf einen Umsturz, d. h.
auf Nicht-Identität zurückführt, eher der Mythisierung der Revolution vertraut als ihrer historischen Erzählung. Die Darstellung der »heiligen Zeit«
der Revolution ist auf den Mythos verpflichtet.
Hier liegen auch die Schwierigkeiten für jene historische Kritik revolutionärer Ereignisse, die das von diesen Ereignissen sich nährende gesell-
schaftliche Imaginaire im Namen rationaler Gründe entzaubern möchte.
189
Die schwankenden Kohäsionskräfte der soziopolitischen Identität einer Gesellschaft sind stets zu erneuern. Was ist da naheliegender, als in periodischen Feiern den Mythos jener »heiligen Zeit« zu vergegenwärtigen, in der
die Gründer der Gesellschaft um der Reinigung und Verjüngung der Welt
willen Schuld auf sich laden mußten? Der Erneuerung der »heiligen Zeit«
in den zyklisch wiederkehrenden Ritualen der Revolutionsfeiern - kulti-
sche Repräsentation des Mythos par excellence - entspricht die Litanei der
»heiligen Texte«. Beides steht im Dienst einer aus Nicht-Identität, aus
dem gewaltsamen Bruch mit der Geschichte geborenen neuen Identität.
Darin ist bis heute, so scheint mir, der allegorische Kern der modernen Re-
volutionsmythen enthalten, den die identitätsstiftende Rhetorik aller auf
einen Umsturz der Geschichte zurückzuführenden Sozialsysteme — von der
französischen Nation bis zur nachrevolutionären islamischen Gesellschaft
- für ihre Zwecke instrumentalisieren kann.
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192
III
Kritik der Geschichte im Namen des Lebens
Herder 1774 und Nietzsche 1874
Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
und Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie fiir das Lehen liegen genau einhundert Jahre auseinander.' Dennoch gehören sie aus innerer Verwandtschaft zusammen. Beide Schriften sind hervorragende Dokumente jener radikalen Wissenschaftskritik, die das Anrecht der Lebenswelt
auf Veränderung, Kreativität und Vitalität gegen rationale Ordnungsstiftung und Kalkulierbarkeit einklagen möchte. Schon an der Sprache, wenn
auch nicht an ihrer Form, und am Umfang des Kritisierten läßt sich die
Ähnlichkeit der Schriften mühelos ablesen. Beide schütteln bewußt, mit
der Lust des Polemikers an der Hyperbel, Diskursivität und Metaphorik
durcheinander und provozieren so die Grenzbefestigungen der argumentativen Ausgewogenheit. Sie verlieren sich nicht im Detail, sondern gehen aufs Ganze, begreift man darunter den Lebensstil, die Kultur, den
Geist ihrer Zeit.2 Damit treffen sie auch noch unser heutiges Zeit- und
Geschichtsverständnis, das, wie im folgenden zu zeigen ist, von gewissen
Grundsatzfragen der beiden Autoren nicht loskommt.
Widersprüche der Moderne
Herders und Nietzsches Angriff auf die akademische Geschichtsforschung,
der sich zugleich auf bestimmte Formen der wissenschaftlichen Historiographie richtete, ist ein Beleg für die These, daß das geschichtliche Selbstverständnis der Moderne mit tiefgreifenden Widersprüchen durchsetzt ist.
Schon früh hat sich der kritische Diskurs, den wir mit Recht zu den Kennzeichen aufgeklärten Denkens zählen, auf dieses selbst zurückgebeugt. Und
das nicht nur in Rousseaus für die Moderne so bedeutungsvoll gewordener
Kulturkritik, sondern in vielfältiger und dauernd wechselnder Form überall
innerhalb des Zeitraumes zwischen 1774 und 1874, den Erscheinungsjahren der zitierten Schriften. Was die Genannten so aufbrachte, das war letztenendes die hemmungslose Ausdehnung der Rationalitätsforderungen auf
alle Belange des Denkens und Handelns. Eine Expansion der rechnenden
und wägenden Vernunft, deren Erfolg in ökonomischen und kameralistischen Fragen den Zeitgenossen so offenkundig in die Augen sprang. So
195
hat, um ein Beispiel für den damaligen Enthusiasmus der Vernunftsgläubigen zu nennen, der von Herder niederrezensierte Historiker August Ludwig
Schlözer der universalhistorischen Vernunft die antiquierte Aufgabe zugesprochen, zu zeigen, »daß nichts neues mehr unter der Sonne geschehe«.3
Dieser Optimismus berief sich auf die von den Schulphilosophen gern behauptete Analogie zwischen einer (metaphysischen) Vernunft, die sich in
der Weltordnung manifestiert und einer im Wissenschaftler bzw. Philosophen verkörperten (diesseitigen) Vernunft. Die Metapher vom schöpferischen Historiker, der dem System zuliebe alle Unterschiede zwischen den
Völkern ausklammert, mag verdeutlichen, welche Gewalt die Konzeption
bereit war, den partikularen Gehalten der Lebenswelt anzutun, um an En-
de dann doch, als »Dienerin der Religion«, in dem Stand zu verharren,
gegen den die aufgeklärte Vernunft rebellieren wollte.
Der Zweifel an der Verfügungsmacht wissenschaftlicher Rationalität
hat längst die Aktualität auf seiner Seite. Auch in der geschichtswissen-
schaftlichen Grundlagendiskussion meldet er sich wieder mit der Frage, ob
der historische Diskurs überhaupt die Rampe des Expertengesprächs überwinden könne, um für lebenspraktische Fragen nützlich zu werden. Wenn
hier nun zwei eminente Texte der Wssenschaftskritik erneut in den Fokus der Interpretation rücken, so soll damit nicht behauptet werden, daß
sich aus ihnen für die Lösung der qualitativ andersartigen Probleme gegenwärtiger Geschichtsforschung und -darstellung etwas gewinnen ließe.
Wohl erscheinen mir aber die Texte Herders und Nietzsches als eindrucksvolle Beispiele eines nonkonformistischen Diskurses, wie ihn nur wissenschaftliche Außenseiter zu schreiben vermögen. Und ich werde versuchen,
dieser Wertschätzung durch die Analyse der Stil- und Argumentationsebenen auf den Grund zu gehen. Aber im Zentrum soll doch vorab ein systematisches und zugleich historisches Problem stehen, das ich zunächst nur
thesenhaft und daher relativ allgemein umschreiben möchte, um es nach
der vergleichenden Lektüre der Texte wieder aufzunehmen. Es betrifft den
von Daniel Bell - übrigens mit einem Blick auf Nietzsche - diagnostizier-
ten Gegensatz zwischen moderner Wissenschaft und Kultur.5
Historisch gesehen deckte der Kulturbegriff nicht nur die Formen expressiver Symbolisierung in Künsten und künstlerischen Medien ab. Von
Herder bis Nietzsche bewahrte der Begriff nämlich etwas von der alten lebenspraktischen Bedeutung der Veredelung, Reife und Nutzung natürlich
gegebener Ressourcen. Kultur schloß Natur nicht aus, sondern bezeichnete deren vom Menschen bearbeitete, nicht ausgebeutete Form, mit einem
Wort: zweite Natut. Wo die Kultur diese ihre Genese aus dem ihr scheinbar Entgegengesetzten verleugnete, da traf sie seit Rousseau das Verdikt
des Künstlichen und Lebensfremden. Diese Einsicht emphatisch auszu196
sprechen und zugleich - anders als Rousseau - der schlichten Gegenüberstellung von Natur und Kultur durch den Nachweis ihrer genetischen Be-
ziehung zu widersprechen, gehört zu den ersten und produktivsten Antrieben in Herders Denken. Und wir werden sehen, daß die Beziehung
zwischen Natur und Kultur in eine eigentümliche Konfiguration mit dem
Geschichtsdenken der Moderne eingetreten ist. Das Bild einer toten, berechenbaren Ordnung der Welt ist die Maschine, von Herder dort polemisch
zitiert, wo er die Möglichkeit einer begrifflichen Mimesis der geschaffenen Natur in Zweifel zieht. »Gemeiniglich ist der Philosoph am meisten
Thier, wenn er am zuverlässigsten Gott sein wollte.«6 Das ist bereits Kritik am Selbstverständnis der Erkenntnis, die glaubt, der Natur die Gesetze diktieren zu müssen, nach denen sie >funktioniert<. Eine Kritik, die
den positivistischen Hochmut zu Fall bringt und naturwissenschaftliche
Erkenntnis dem moralischen Urteil zugänglich machen will. Schlichter,
aber auch deudicher ist die Kritik Nietzsches: »Wir sprechen von Natur
und vergessen uns dabei: wir selber sind Natur, quand meme -. Folglich
ist Natur etwas ganz anderes als das, was wir beim Nennen ihres Namens
empfinden.«7
Die Skepsis beider Autoren veranlaßt sie, Abstand zu den Autorität
beanspruchenden wissenschaftlichen Denkmodellen ihrer jeweiligen Zeit
zu wahren. Dafür zahlen sie den Preis des unsystematischen Diskurses,
der die Kehrseite ihrer spontanen und unzeitgemäßen (Nietzsche spricht
einmal privat von »Unmäßigkeit«)8 Äußerungen bildet. Sie suchen - so
könnte man sagen - die Nähe der Natur, an der sie freilich kein bloß
moralisches Vergnügen finden, sondern die tätige und verändernde Kraft
bewundern. Nicht zuletzt äußert sich das in ihrer Vorliebe für das Genie und dessen >natürliche< Lizenz gegenüber der Konvention. »Der geniale Autor«, bemerkt Nietzsche in der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung,
»verrät sich aber nicht nur in der Schlichtheit und Bestimmtheit des Ausdruckes: seine übergroße Kraft spielt mit dem Stoffe, selbst wenn er gefähr-
lich und schwierig ist. Niemand geht mit steifem Schritte auf unbekanntem und von tausend Abgründen unterbrochenem Wege: aber das Genie
läuft behend und mit verwegenen oder zierlichen Sprüngen auf einem solchen Pfade und verhöhnt das sorgfältige und furchtsame Abmessen der
Schritte.«9 Das Genie folgt seiner Natur und verachtet die Vorschrift.10
Wo es schreibt, sprengt es, ganz seiner eigenen Kraft vertrauend, die Gren-
zen der Kompetenz. Nicht von ungefähr erinnert das Bild von den zierlichen Sprüngen über dem Abgrund an den Seiltänzer, der seine Kunst vor
großem Publikum zur Schau stellt. Wendet man diese Charakteristik des
genialen Autors auf die zu interpretierenden Schriften Herders und Nietzsches an, so ist zu bedenken, daß diese nicht auf den Beifall, sondern auf
197
den Skandal spekulierten. Ihre >Kunst< ist nicht selbstgenügsam, sie sucht
den Konflikt und gibt daher der Provokationsstrategie den Vorzug vor dem
Verständigungsgestus. Das ist kein Wunder, denn sie wählten ihre Gegner
nicht nach den Grundsätzen der Schwäche aus.
Natur als Maßstab
Auch eine Philosophie und Vom Nutzen und Nachteil der Historie gelten
als Frühschriften. Beide Autoren waren zur Zeit ihres Erscheinens dreißigjährig und in festen Ämtern. Nietzsche lehrte als Professor der Philologie an der Universität Basel, Herder genoß in Bückeburg, als Consistorialrat am Hofe des Grafen zu Schaumburg-Lippe, eine Sinekure. Zwei
rastlose und unbequeme Köpfe, deren intellektuelle Unzufriedenheit an
der Enge ihrer sozialen Verhältnisse sich nährte — und ausbrach. Herder,
der in Bückeburg immerhin einen Ehestand gründete, sah sich dort in »literarischer Wüste«;1' Nietzsche betrachtete den akademischen Beruf in der
Schweiz als »Philisterei«.12
Im August 1773 meldete Herder seinem Verleger Hartknoch, daß der
»Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts«, die Bückeburger Geschichtsphilosophie, fertig sei. »Es ist Feur darinn u. glühende Kolen auf
die Schädel unsres Jahrhunderts«, schrieb er und bat um anonyme Veröffentlichung.13 Herder fürchtete die Reaktion seines Hofes, an dem der aufgeklärte Despot jenen Rationalismus hochhielt, den die Schrift bekämpfte.14 Weder Herder noch Nietzsche waren Neulinge auf dem Feld der
Polemik, und ihr Unbehagen an zeitgenössischen Geschichtsphilosophien,
ja an der geradezu modischen Universalität der die Zeit prägenden historischen Vernunft begleitet schon ihre frühesten Äußerungen. Beide bestimmten ihre Epochen als Verfallszeiten. Den allenthalben ausgerufenen
Fortschritt denunzierten sie als Selbsttäuschung und Heuchelei. Denn
worüber sich dieser hinwegsetzte, das sei die menschliche Natur, das Substrat allen Handelns - sei diese nun gut oder böse. Weder Nietzsche noch
Herder folgten sklavisch den orthodoxen Lehren von einer guten oder
bösen Natur.15 Zwar ist sie für den einen innerhalb bestimmter Grenzen gut, für den andern aber indifferent, wiewohl als Kulturtrieb ganz
unentbehrlich. Vivo, ergo cogito! war ihre lebensphilosophische Antwort
auf die notorische Trennung zwischen Gestaltungswille und abstraktem
Wissen.16 Beide gaben der Neigung nach, in beschränkten, frühgeschichtlichen Zuständen menschlichen Lebens die Zeichen einer vormodernen
und ungekränkten Existenz aufzusuchen, die dem Kulturbetrieb der Natur
weder entraten wollte noch konnte. Herder pries unverhohlen den Zu198
stand, in dem »das menschliche Herz in Hand hatte und übersähe, was
man sprach«,17 während der Spätere stärkere Palliative bemühte: die unmittelbaren, in Traumbildern und Rauschzuständen sich manifestierenden
Kunsttriebe der Natur.18
Wo die Natur zur Begründung eines eigensinnigen Standpunkts bemüht wird, liegt der Verdacht nahe, daß sich die Argumentation gegen
Kritik salvieren will. Denn vor der Natur fallen die Nöte der Geltungsbegründung und -prüfung fort. Bemerkenswert ist darüber hinaus, wie
zäh Herder und Nietzsche am NaturbegrifT festhielten, wie unterschiedlich aber beide damit operierten. Nicht nur das >Leben<, in dessen Namen
sie bestimmte Spielarten der Geschichtskonzeption destruierten, auch ihre Forderung nach einer »historischen Kunst« hat noch von jenem schwer
faßbaren Phantom geborgt, das sich unter dem Begriff »Natur« eher ins Allgemeine verliert, als an Kontur gewinnt. Einige Anmerkungen zum historisch-semantischen Feld des Begriffs erscheinen dennoch nicht überflüssig. *5
Buffon, Charles Bonnet, Albrecht von Haller, der frühe Kant, G. W
Leibniz, J. B. R. Robinet, Christian Wolff- das waren, um nur die wichtigsten zu nennen, Herders frühe naturhistorische bzw. -philosophische
Lektüren.20 So vielfältig wie die mit diesen Namen bezeichneten Positionen gegenüber der Natur mußte Herder auch deren Begriff erscheinen, und er verallgemeinerte diese Erfahrung mit dem Satz: »Kein Wort
in der menschlichen Sprache ist vieldeutiger als die Natur.«21 Diese Vieldeutigkeit spricht, zusammen mit den um Natur kreisenden Theorien des
18. Jahrhunderts, für die semantische Konvertierbarkeit des Begriffs. Was
Jean Ehrard am französischen Sprachgebrauch der ersten Jahrhunderthälfte gezeigt hat,22 läßt sich cum grano salis auch auf die deutsche Literatur
übertragen: Es gab systemische, mechanistische, soziale, politische, ästhetische, moralische und selbstverständlich religiöse Theorien, die den letzten
Grund ihrer Aussagen in die Natur verlegten. Nicht selten erinnert der Begriff daher an jenes Symbol, das unter dem Wort »Gott« als Regulativ für
die Bilder eines geordneten Universums diente und zugleich als unteilbare
Ursprungspotenz dessen Erhaltung garantieren sollte.23
Zwei bemerkenswerte Verschiebungen in der Semantik des Naturbegriffs haben das 18. Jahrhundert überdauert und bilden noch die Folie für
Nietzsches zweideutige Wendung gegen die Kultur der Moderne. Die Frage nach den Bedingungen der Naturerkenntnis ist vor allem von Kant mit
Nachdruck gestellt und schließlich auch beantwortet worden. Zwei Bemerkungen aus der Herder wohlbekannten Untersuchung Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 umschreiben in populärer
Sprache die Neuerungen. Sie lauten: »Die Schöpfung ist nicht das Werk
von einem Augenblick.« und »Die Schöpfung ist niemals vollendet.«24 Bei199
de Sätze sind Resultat einer naturwissenschaftlichen Prüfung der Kosmogonie, die ohne Rücksicht auf metaphysische Lehrsysteme mit rationalen
Beweggründen und Hypothesen argumentiert. Erkenntnis der Natur ist
keine kontemplative Betrachtung gegebener Gesetze, sondern ein Konstruieren ihrer empirischen Anschauung aus Begriffen. Das ist das eine. Das
andere betrifft die Entfaltung eines genetischen Naturbegriffs, der die Vorstellung vom Anfang und Ende der Schöpfung zugunsten evolutionärer
Konzepte überwunden hat.25
In Herders Gedankenwelt treten beide Errungenschaften in eine merkwürdige Konjunktion. Dabei wirkt das Gravitationsfeld der Leibnizschen
Naturphilosophie offensichtlich als Energiespender. Mit Leibniz teilt
Herder die Ansicht, daß die Ordnung des Universums auf den Prinzipien
der Analogie und der Kontinuität beruhe. Diese Prinzipien haben jedoch
kategoriale Funktionen: Sie sind Zuschreibungen des Ordnungsbegriffs.
Der erste - Analogie - bezeichnet die räumliche, der zweite - Kontinuität die zeitliche Strukturierung des Weltganzen. Beide benutzt der Interpret als
Werkzeuge, mit deren Hilfe er den an den »Ursprung« gesetzten »Prototyp«
aller Erscheinungen sowie seine Relationen zu andern Gegenständen aufschließen möchte.27 Das genetische Modell ist einfach: Es erscheint unter
der Metapher von Keim und ausgebildeter Pflanze (Baum) als Progressions-
modell mit eigener Kraft, in dem die Entwicklungen der Natur und ihrer
Formen vom Einfachen zum stets reicher Ausdifferenzierten fuhren. Diese Entwicklungen verlaufen jedoch nicht linear, sondern setzen sich, wie
der Kraftbegriff lehrt, aus einander anziehenden und abstoßenden Ener-
gien zusammen.28 Erst deren Aufeinander-Einwirken schafft Veränderung
und Bewegung. Was jenseits dieses Kräftespiels liegt, ist tot. Daher kann
Herder Leben, Geschichte, ja die gesamte Kultur, aus dem Spiel der Kräfte
herleiten. Denn sie alle sind unablässigen Veränderungen in Raum und
Zeit unterworfen, sie tragen auf jeder Stufe ihrer Entwicklung die Merkmale ihrer früheren Kämpfe in sich und enthüllen ihre Wesensidentität nur
dem, der ihre Geschichte bis zum Ursprung zurückverfolgt.2'
Auch der Mensch selbst ist nach Herder, und darin liegt die anthropologische Pointe seines Erkenntnismodells, als leiblich-geistige Entität ein
Schauplatz einander anziehender und abstoßender Kräfte. Darum vermag
er die Welt in Analogie zum eigenen Selbst zu erschließen.30 Die damit an-
gedeutete intuitive Struktur der Erkenntnis gilt, zusammen mit der implizierten zeitlichen (historischen) Bedingtheit des Erkennens, unterschiedslos für alle Gegenstände, solange es um den Begriff ihrer ganzen Wahrheit
geht. Keine Erkenntnis, die bilden und das heißt für Herder als Kraft
wirksam werden will, darf aber den Totalitätsanspruch aufgeben. Denn
das Ganze bezeichnet die raumzeitliche Einheit des jeweiligen Erkenntnis200
objekts in der Art, wie es mit andern Objekten verwandt ist, sich von ihnen
unterscheidet und im Lebensprozeß vereinigt, trennt und auflöst, um neue
»Bildungen« hervorzubringen. Mit dem Modell eines quasi-organischen
Kräftespiels versinnbildlicht Herder die gewöhnliche Erfahrung, daß alles
mit allem zusammenhängt und gleichwohl - bis zum Absterben der Ener-
gie - in ständigem Austausch und Streben, in dauernden Kämpfen und
Steigerungen sich weiterbewegt. Die Grundbegriffe dieses dynamischen
Weltmodells stammen aber aus der zeitgenössischen Naturwissenschaft31
und lassen den Schluß zu, daß die Übertragung der dort ausgeliehenen
rationalen Instrumente auf die Geschichte dazu dienen soll, deren vorei-
lige Rationalisierung in die Schranken zu weisen. Deutlicher noch zeigt
sich das in den zahlreichen Denkbildern, deren Verwendung Herder auch
theoretisch verteidigt.32
Das Bild des Meeres und der Wellenbewegung, um zunächst nur ein
Bildfeld zu erwähnen, begegnet häufig in Herders Texten an Stellen, an denen vom dynamischen Ineinander generalisierender Abstraktion und partikularer Anschauung die Rede ist. Leben, Zeiten, Gestalten und Geschichte erscheinen unter dem Naturbild des Meeres, an dessen Küste der nach
Begriffen ringende Interpret steht: »wie? wenn man das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und Länder übersehen, in einen Blick, ein Gefühl, ein
Wort fassen soll! Mattes, halbes Schattenbild vom Worte!«33 Die Metapher vom Meer des Lebens ist alt und vertraut in Verbindung mit den auf
unsicherem Element reisenden Staaten und Völkern.3* Herder verwendet
sie aber im Sinne jener Erkenntnisschwierigkeit, die der Naturforscher mit
einer disparaten, bewegten Menge von Elementen hat: Er vermag im allgemeinen Durcheinander nichts zu unterscheiden und findet daher auch
keine identifizierenden Begriffe. Die Metapher lehnt die distanzierte Analyse als unbrauchbares Verfahren ab; der Historiker muß, um erkennen d. h. »verstehen« - zu können, in das Chaos hinabtauchen, er müßte, wie
Herder bemerkt, »sympathisiren«.35
Sphinxgestalt der Natur
Es verwundert nicht, daß Nietzsche, der schon früh die metaphorische
Struktur der Begriffsbildung analysierte, das Bewegungsbild des Wassers in
kritischer Weise gegen die eigene Gegenwart wendet. In der Dritten Un-
zeitgemäßen Betrachtung fuhrt er das »atomistische Chaos« der Gegenwart
zurück auf den Druck, den ein von Wrtschaftsegoismus und militärischem
Machthunger besessener Staat auf die Menschen ausübt. Und er setzt diesen gleich mit der Repression, die von der Kirche des Mittelalters ausging.
201
Wir befinden uns, so fährt er fort, »auch jetzt noch im eistreibenden Strome des Mittelalters; er ist aufgetaut und in gewaltige verheerende Bewegung geraten. Scholle türmt sich auf Scholle, alle Ufer sind überschwemmt
und gefährdet. Die Revolution ist gar nicht zu vermeiden, und zwar die
atomistische: welches sind aber die kleinsten unteilbaren Grundstoffe der
menschlichen Gesellschaft?«36
Physikalische und Naturmetaphorik gehen hier eine befremdliche Ver-
bindung ein. Der vom Staat ausgehende Druck wirkt als Energieschub
auf die Gesellschaft und weckt in dieser, wie in einem zunächst ruhenden
Körper, so starke Repulsionskräfte, daß dieser sich explosiv in seine unteilbaren Elemente aufzulösen droht. In dieses physikalische Bild, das politische und soziale Veränderungen, in ähnlicher Weise wie Herders Kräftemodell, aufeinander anziehende und abstoßende Energien zurückführt, ist die
Strommetapher eingewebt, die der Geschichtsbewegung eine deterministische, aber zerstörerische Richtung zuschreibt. Das Kräftespiel erscheint
nun nicht mehr als Agens einer allmählichen naturwüchsigen Evolution,
die es nur noch auf den Begriff zu bringen gelte. Der Mensch und die ihn
schützenden Institutionen sind drauf und dran, zwischen den Kräften zerrieben zu werden, deren zerstörender Wucht und paralysierender Kälte sie
selbst nichts entgegenzusetzen haben.
Nietzsches Kulturkritik setzt nicht nur die Erfahrung der Revolution
und der auf sie antwortenden politischen Reaktion votaus. Sie widersetzt
sich auch bewußt jenem Evolutionsdenken, das in den teleologischen Geschichtsmodellen seiner Zeit das Erbe des 18. Jahrhunderts fortschreibt.37
Dunkelstes Mißtrauen gegenüber den Bildern einer guten und zähmbaren
Natur wirft seinen Schatten auf alle kulturphilosophischen Äußerungen
Nietzsches. Die Natur ist ihm keine aufbauende Macht, die es zu Bewußtsein zu bringen gilt. Sie ist vielmehr eine untergründige Drohung,
die das Bewußtsein von ihr zur Selbsttäuschung erniedrigt. Der Mensch
hängt »in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens [.-..] gleichsam auf dem
Rücken eines Tigers in Träumen.« - so lautet der bildliche Kommentar zu
dieser Gegenvorstellung in der Vorrede Über das Pathos der Wahrheit von
1872.38 Doch Nietzsches Naturbegriff erschöpft sich nicht in bloß negativen Vorstellungen. Das Bedrohliche äußert sich im Exzeß jener Energien,
die für den Prozeß des Lebens fundamental sind. Insofern verläßt er nicht
die natürlichen Voraussetzungen, ohne die Kultur kaum denkbar ist. Doch
das Böse, das Verschlingende und Zwingende der Natur sieht er nicht mehr
im Sinne sittlicher Strebungen in der Kultur aufgehoben und geläutert. Im
Gegenteil: Es gibt dieser eine zweideutige Gestalt. Sie ist, wie die in ihr
weiterwirkenden Naturenergien, Zeugung und Zerstörung in einem.
202
An den Bedingungen großer kulturschaffender Leistungen liest Nietzsche ab, wie es zu dieser Ambivalenz kommt. Bewußt wählt er das Beispiel
der griechischen Kultur, die er von früh an gegen falsche Bewunderung in
Schutz genommen hat. Der Idealismus ihrer rückblickenden Verehrung ist
ihm suspekt, und er stellt ihn mit der Frage nach den Bedingungen der
Kunstproduktion und der politischen Geschichte Griechenlands auf die
Probe. Freilich will er mit dieser Prüfung auch die Gesinnungs-Humanität
seiner Zeit treffen.
Die Geringschätzung der körperlichen Arbeit, die Selbstverständlichkeit der Sklaverei und der Despotie, so argumentiert er, finden ihre Rechtfertigung vor der Tatsache, daß auf ihnen die bewunderten Schöpfungen
der griechischen Kultur aufruhen: Kunstwerke, Philosophie und Gesellschaftsform. Arbeit und Sklaverei sind die Mittel, die der Kultur überhaupt
erst einen eigenen Wert geben, da sie die Wenigen, die an ihr mitschaffen, vom »Existenzkampf« entbinden.35 Indessen bleibt ein Gefühl der
Scham über diese Bedingung bei ihnen zurück, das Nietzsche als getrübten
Einblick in den notwendigen Charakter der Unterdrückung interpretiert.
»In diesem Schamgefühl birgt sich«, so heißt es in Der griechische Staat
von 1872, »die unbewußte Erkenntnis, daß das eigentliche Ziel jener Voraussetzungen bedarf, daß aber in jenem Bedürfnisse das Entsetzliche und
Raubtierartige der Sphinx Natur liegt, die in der Verherrlichung des künstlerisch freien Kulturlebens so schön den Jungfrauenleib vorstreckt. Die
Bildung, die vornehmlich wahrhaftes Kunstbedürfnis ist, ruht auf einem
erschrecklichen Grunde.«*5
Sind es hier Kunst und Bildung, die - mit der Allegorie der zweigestaltigen Sphinx zu reden — die schöne Vorderseite einer triebhaften Natur ausmachen, so tritt diese noch weitaus gewalttätiger in ihre dubiosen Rechte,
wo es um Staat und Gesellschaft geht. Die Natur als Subjekt der Geschichte schmiedet, so liest es sich in der zitierten Schrift, »das grausame Werkzeug des Staates«, um unter seinem despotischen Schutz jene Vergesellschaftung voranzutreiben, aus deren Schoß am Ende das kulturschaffende
Genie hervorgeht. Man sieht: Auch Nietzsche arbeitet an einem Entwicklungsmodell der Kultur.41 Es hat indessen wenig mit den zeitgenössischen
Modellen der Biologen zu tun, die auf wissenschaftliche Erklärung aus
sind. Auch fehlt ihm das hermeneutische Pathos der Historischen Schule, das sich auf Herder beruft.42 Nietzsche antwortet als Schüler Schopenhauers sowohl auf die wissenschaftliche Neutralisierung des Naturbegriffs
als auch auf das immer noch mächtige Paradigma des Idealismus. Nicht
der Geist, sondern die Natur kommt in der großen kulturellen Tat - und
auch das nur »im Scheine« - zu sich selbst.43 Nietzsches Remythisierung
203
der Kultur, die zur gleichen Zeit in der Geburt der Tragödie ausführliche
Gestalt gewinnt, zerstört den rationalen Konsens über die Erklärbarkeit der
Geschichte. Die blinde Macht der Natur bleibt, wie es in vielen ähnlichen
Wendungen immer wieder heißt, undefinierbar, unerklärlich, ein Gegenstand der Anrufung;44 und so auch ihr griechischer Weg in die Kultur, den
wir - so behauptet Nietzsche im Fragment von 1872 - nur als »geheimnisvollen Zusammenhang« zwischen »Staat und Kunst, politischer Gier und
künsdicher Zeugung, Schlachtfeld und Kunstwerk ahnen« können.45
Natürlich steht dieser Angriff auf wissenschaftliche Rationalität und
philosophisches Systemdenken im Dienst der von Nietzsche erträumten
Kulturrevolution. Denn die Sphinxgestalt der Natur deckt sich mit dem
»unheimlichen Doppelcharakter« des Menschen,46 den moderne Philosophie und Wissenschaft verleugnen, um den Abstand zwischen Bildung und
Leben zu vergrößern. Dieser Doppelcharakter läßt sich jedoch nicht unterdrücken, allenfalls täuscht der Mensch sich über sich selbst und verfehlt
so die dem vitalen Impuls entspringenden kulturellen Werke, denen Nietzsche das Prädikat der heroischen Größe zugesprochen hat. Nicht daß seine
Zeit bildungslos wäre, sie leidet eher unter deren Übermaß, und zwar in der
Form jener »historischen Bildung«, die glaubt, durch Begriffssysteme von
der Geschichte loszukommen, die sich in der Lebenswelt aber hinterrücks
von deren blinder Macht überwältigen läßt. 7
Bilderschrift der Geschichte und Erfahrung des Andern
Nietzsches Kritik trifft jenen Historismus, der die Geschichte als Einheit
des Werdens und sinnvollen Ausdruck der Vorsehung begreift. Damit trifft
sie nicht nur die Position Rankes und der »Preußischen Schule«, son-
dern auch die Vorstellungen Herders. Nietzsche verwirft den »Sinn«, jenen
Ariadnefaden historischen Verstehens; in Menschliches, Allzumenschliches
höhnt er: »im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott!,
und Gott (göttlich) war der Unsinn.«49
Herder hat den »Sinn« gerade erst entdeckt und ihn zum Drehpunkt
seiner affektiven Hermeneutik gemacht. Seine Entdeckung hielt er triumphierend dem historischen Akademismus seiner Zeit entgegen, der die Vergangenheit entweder vom Richterstuhl der Vernunft aus betrachtete oder
unter Bedingungen der akademischen Vorlesung als Lehrgebäude nach einem - wie Herder sich ausdrückt - »Deklamationsplan« konstruierte.50
Herders ätzende Kritik am Mißverhältnis zwischen Rhetorik und Wirklichkeit der Aufklärung muß hier nicht noch einmal dargestellt werden.
Es lohnt sich aber, seine Polemik gegen das diskursive Medium der Auf204
klärungsschriftsteller genauer zu untersuchen, da ihr der durchaus diskutable Gedanke zugrunde liegt, daß dieses Medium zur praktischen Folgenlosigkeit der Erkenntnisfortschritte beitrage.51 Selbstverständlich vermeidet
Herder das, was er kritisiert, weshalb seine eigene Sprache in höchstem
Maß deutungsbedürftig ist. Gewiß, er möchte die seit Rousseau viel beklagte Scheidung zwischen Theorie und Praxis - in der Sprache der Zeit:
zwischen »Kopf und Herz« - nicht mitmachen und sucht daher nach Ausdrucksmöglichkeiten, deren Expressivität bewußt jene ästhetische Sinnebene aktiviert, die von rhetorischer Deklamation und philosophischer Schlußfolgerung ausgeschlossen wird. Aber weitaus interessanter ist, daß sich in
den Verwerfungen seiner Sprache eine Form der Rationalität niederschlägt,
die - auch um den Preis des Mißverständnisses - die plane Logik zweckrationaler Argumentation verläßt. Mit dieser >anderen< Rationalität meine
ich die Kraft der Selbstreflexion, die sich nicht nur in der Methodenskizze,
sondern schon in der Form von Auch eine Philosophie äußert.
So beginnt die Schrift mit der Beschreibung jener Bilder, die Herder,
wie andere Autoren vor ihm, unter die beziehungsreiche »Analogie« bzw.
»Allegorie« der Lebensalter faßt. In diesem ersten Abschnitt meldet sich bereits die >Unordnung< des Verfahrens an den Stellen, an denen der Autor die
hymnische, an die »Vorsehung« adressierte Form der Beschreibung unterbricht, um ganz knapp einen »Seitenblick des Unwillens und Ekels« auf die
bekämpften Geschichtstheorien zu werfen. Am Ende des Abschnitts steht
er auf dem »Ufer«, von dem aus er das »Meer« der Geschichte überblickt;
und dieses Ufer entpuppt sich, im nächsten Paragraphen schon als eine
recht unkonventionelle und bunte Methodenskizze. Der zweite Abschnitt
setzt die Übersicht fort und greift, nachdem die Lebensalter-Analogie mit
dem Mannesalter der Römer nicht mehr fortsetzbar ist, auf die Metapher
des Baumes zurück, um die Diversifikationen der kulturellen Entwicklung
auf ein sinnliches Motiv zu fixieren.52 Die kulturellen Verzweigungen bergen indessen die Folgen der Auflösung und der Entzweiung von Theorie
und Praxis, von Wissen und Leben, die Herder - darin mit Nietzsche einig - an der Gegenwart diagnostiziert und beklagt. Die »Seitenblicke«
des ersten Teils werden hier nun zum Hauptthema, und die Zeitkritik
geht über in ein eklektizistisches Unterscheiden zwischen dem, was an der
Aufklärung unnütz und nützlich (im praktisch-ethischen Sinne). Das Ende des dritten Abschnitts hat die Form einer adhortativen Zukunftsvision
und bestätigt den Eindruck, den die Lektüre schon der ersten Sätze weckte, daß Geschichte in praktischer Absicht zu schreiben, heißen sollte: die
Gegenwart über das Studium der Vergangenheit auf eine bessere Zukunft
vorzubereiten.53
Der Text ist einem mit Bildern übersäten Patchwork vergleichbar, durch
205
dessen Gewebelücken und Nähte der Handwerker seine grimmige Miene
sehen läßt. Subjektivität drängt sich in den zitatenreichen Diskurs und
sprengt seine regelhaft bestimmten Grenzen, so daß er unter keine Gattungsschablone mehr passen will. Die Schrift ist Polemik, Universalgeschichte, Satire, Dichtung und Predigt und bleibt am Ende Fragment.54
Herder hat den Text zwischen zwei griechische Zitate aus der heidnischen
und christlichen Antike gestellt: ein Hinweis auf die Gleichwertigkeit bei-
der Traditionen, wovon auch im Innern die Rede. Das Eingangsmotto
aus dem Enchiridion des Sklaven Epiktet55 hat zum Inhalt, daß sich nicht
Dinge und Menschen, wohl aber die Lehrmeinungen über sie aus der Fassung bringen ließen. Zu Herders dogmenkritischem Engagement paßt diese stoische Zurückhaltung nicht gut, da er der Spracharbeit doch durchaus
einen Einfluß auf künftiges Handeln zubilligt; in diesem Kontext ist kaum
ein anderes Wort häufiger zu lesen als das der »Würkung«.
Auf der andern Seite ist der Theologe Herder ein Freund des paulinischen Erkenntniszweifels, den er als starke Coda im Schlußmotto wörtlich
zitiert: »Wir sehen itzt durch einen Spiegel in einem tunckeln wort/ Denn
aber von angesicht zu angesichte. Itzt erkenne ichs stückweise/ Denn aber
werde ich erkenen gleich wie ich erkennet bin. Nu aber bleibt Glaube/
Hoffnung/ Liebe diese drey/ Aber die Liebe ist die grössest unter inen.«56
Herders Text liest sich über weite Strecken wie eine geschichtsphilosophische Auslegung dieser Stelle vor einer Gemeinde Schwergläubiger. Was ist
die von ihm geschmähte »Papier- und Letternkultur« der philosophes denn
anderes als das tönende Erz und die klingende Schelle, die Paulus aus jener
Rede heraushören möchte, die - in der Interpretation Luthers - Geist und
Sinn über dem Buchstaben vergißt, und — in Herders Interpretation — die
»Sprache des Herzens« hinter die des Kopfes zurücksetzt? Nun ist Herder zwar aufgeklärt genug, um als Panentheist gelten zu können. Allein,
er rückt den Zweifel an der Erkennbarkeit der Geschichte mit dem Pauluszitat doch in Zusammenhänge, die der zeitgenössischen Religionskritik
fremd sind. Hat er denn gute Gründe gegen den historischen Skeptizismus ins Feld zu führen, der den Gang der Geschichte an bloß irdische
Fatalitäten bindet?
Nach Herder bereiten sich solche Theorien ihren Schiffbruch selbst,
da sie, den prätendierten Begriff der ganzen Geschichte verfehlend, nur
einzelne »Wellen« aufrühren, nicht aber das »Meer« aller Begebenheiten
in seiner Einheit zu vermessen imstande sind.57 Denn dazu bedarf es eines übergeordneten, außerhalb stehenden Subjekts, das - wie Hegel später
formulieren wird - als »Weltgeist« die »Totalität aller Gesichtspunkte« repräsentiert.58 Für Herder ist die Annahme eines allgemeinen, außerhistorischen Subjekts unerläßlich, soll die Geschichte überhaupt »Sinn« ha206
ben. Diesen »Sinn des Ganzen« zu erkennen, ist dem Menschen indessen
verwehrt, weil er ein historisch partikulares und kontingentes Dasein hat;
bildlich gesprochen: Weil er nicht aus dem Strom der Geschichte heraussteigen kann. Er ist immer beides zugleich: Zuschauer und Mitspieler. Ja
er soll sich, nach Herders Wunsch, sogar in die Akteure fremder Szenen
einfühlen, um auf diesem Weg zum »Sinn des Ganzen« sich vorzutasten.55
Der Sinn des Ganzen ist nach dieser Auffassung ein Annäherungswert. Auf ihn zu verzichten, würde bedeuten, daß Geschichte unverständlich wäre, schärfer formuliert, daß es sie in der Bedeutung eines die Gegenwart umfassenden Geschehenskontinuums überhaupt nicht gäbe. Auf
dieser Prämisse baut Herders Kritk am rationalistischen Begriff der Universalgeschichte auf. Er wirft seinen Vertretern (aber nicht nur diesen)
mit Gründen vor, sie beurteilten vergangene Ereignisse nach unpassenden Maßstäben. »Jeder vernünftelt doch nur nach seiner Empfindung«,
heißt es einmal in Parenrhese, und damit wird die Vernunft in ihrer
trockenen Form des Raisonnements in die Abhängigkeit von Emotionen
gebracht, die das Urteilssubjekt auf die kontingente Form der Erfahrung
verweisen.61 Herder nähert sich der Einsicht, daß der Vernunftgebrauch
historischen Bedingungen unterliegt, ohne das in direkter Weise aussprechen zu können. Er nähert sich ihr auf dem Weg einer Vernunftkritik, die
sich über deren more-geometrico-Anwendung auf die durch Mannigfaltigkeit ausgezeichneten Situationen des Lebens mokiert.
Die Schwierigkeit des »allgemeinen Charakterisierens«, der vernünftigen »Schilderung« der Menschheitsgeschichte, macht er sich in der Methodenskizze bewußt. Und er argumentiert dort wieder mit der gewöhnlichen
Erfahrung: »Wer bemerkr hat, was es für eine unaussprechliche Sache mit
der Eigenheit eines Menschen sey, das Unterscheidende unterscheidend sa-
gen zu können? wie Er fühlt und lebet? wie anders und eigen Ihm alle
Dinge werden, nachdem sie sein Auge siehet, seine Seele mißt, sein Herz
empfindet-«.62 Die Individualität des Subjekts gilt als Analogon für die
Besonderheit historischer Kollektive, sprich »Nationen«. Auch das einzelne Volk in seiner Lebensfülle ist individuum ineffabile. Es hat Charakter
und seine eigene, nur ihm zugehörige Art, Wirklichkeit anzueignen und zu
gestalten.
Das Individuum zu charakterisieren, dazu bedarf es zwar des Wortes,
aber eben in dessen Gebrauch liegt auch die Gefahr, das zu verfehlen, was
es von allen andern unterscheidet. Es genügt Herder daher nicht, nur eine Sprache zu finden, deren rhetorische oder logische Qualitäten mit dem
Modell übereinstimmen, das der Historiker und Philosoph sich vom Ganzen der Geschichte zurechtgelegt hat. Vor der Darstellung durch den historischen Diskurs soll die Erfahrung dessen liegen, was die Besonderheit
207
des Andern ausmacht: die Betrachtung der geographischen und klimatischen Umstände, seiner »Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnisse«.63 Aber
»Betrachtung« ist ein viel zu abstrakter Begriff, um zu kennzeichnen, auf
welche Weise Herders idealer Geschichtsphilosoph verfahren soll. »Fühle
dich in alles hinein - nun allein bist du auf dem Wege, das Wort zu verstehen«, so lautet nämlich der hermeneutische Imperativ.64 Der Erfahrungswelt des Andern nähere ich mich, so schließt er richtig, nur durch
Empathie; sie macht mich frei, so können wir den Gedanken fortsetzen,
ihn als ein von mir unterschiedenes Ich anzuerkennen und somit als andere Identität zu verstehen. ' Diese Annäherung löscht nicht die Differenz
zwischen uns beiden, sondern bestätigt sie, ohne freilich die Kommunikation von Ich zu Ich stillzustellen.66 Herder selbst hat diesen Vorgang
mit andern Worten beschrieben, aber er legt der historischen Hermeneutik doch jenes Muster interpersonaler Verständigung zugrunde, nach dem
das zu Verstehende nicht einem vorgefaßten Urteil subordiniert, sondern
in seinem So-Sein anerkannt werden will; in Herders Begriffen: »jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren
Schwerpunkt!«67
Mit dem Verstehen des einzelnen Glieds ist freilich noch nicht vollendet, was die Darstellung der Geschichte als Einheit ins Werk setzen will.
Und doch läßt sich zwischen den Prinzipien der Hermeneutik und denen
der Historiographie eine Verbindung herstellen, die auf ein gemeinsames
Drittes, auf die lebensweltliche Erfahrung den Blick lenkt. Wenn vergangenes Leben nicht tote Faktur bleiben, sondern dem Leben der Gegenwart
sich mitteilen, auf es »würken« soll, so muß auch der Leser mit der Darstellung »sympathisieren« können; das ist Herders Grundgedanke.
Er findet sich bereits in seinen frühesten kritischen Auseinanderset-
zungen mit der historischen Literatur. Herder mustert 1767, während
seiner Winckelmann-Lektüre, das Zeughaus der Historiographie und ist
mit den Befunden unzufrieden: Er konstatiert Kluft »zwischen Geschichte und Lehrgebäude, zwischen Begebenheit und Urteil«.68 Was er hier
anspricht, das ist die damals von vielen Fachhistorikern als problematisch
empfundene Integration der erzählenden und erklärenden Sätze.65 Herder beschränkt sich zu diesem Zeitpunkt auf den Rat, »Geschichte und
Lehrgebäude [... ] als ganz verschiedenartige Dinge« kenntlich zu machen,
damit der Leser historische und systematische Wahrscheinlichkeit aneinanderhalten und überprüfen kann.70 Schon hier polemisiert er gegen die Geltung normativer Darstellungsregeln, gegen den »historischen Plan«, und
vergleicht sie mit den fragwürdigen Hoheitsansprüchen der klassizistischen
Dramenpoetik.
Wenige Jahre später kritisiert er Carl Renatus Hausens Universalge208
schichte und verwirft ihre romanhaften Züge. Er moniert deren Charakterschilderungen, weil sie die »Erinnerung« des Lesers blockierten, und
fordert eine Darstellungsform, die es erlaubt, aus den Daten und Taten
selbsttätig »Denkart« und »Charakter« der Akteure zu »finden«. Nicht
das fertige »Bild« wirkt, sondern der Prozeß der schaffenden Anteilnahme des Lesers, der den induktiven Weg von der Wahrnehmung der Daten
(=Ereignisse) bis zur Entstehung eines Gesamtbildes einschließt.71 Dazu
äußert Herder sich eindeutiger in der folgenreichen Kritik von 1772 an
August Ludwig Schlözer, einem Exponenten der Göttinger Schule.72 Die
tabellarische Form von Schlözers Universalhistorie ist für den Kritiker willkommener Anlaß, über den Zusammenhang zwischen Anschauung und
Gedächtnis nachzudenken. Er greift dazu auf das alte Modell des theatrum
memoriae7i zurück: »Je mehr Erinnerungsmaale aufgerichtet, und diese
nur in Ein großes Ganzes des Bildes gebracht werden können, daß sie wieder unter sich erinnern, desto sicherer!«7"* Was er an der Tabelle vermißt,
das ist, — und darin liegt der Vorzug des »Bildes« als Verweisungszusammenhang — die Kohärenz der Darstellung.
In der impliziten Anspielung auf das theatrum memoriae ist freilich
ein Rest jener räumlichen Anschauung enthalten, die - so scheint es -
einer verzeitlichten Geschichtsvorstellung fremd ist. Doch wieder hat Her-
der gute Gründe, dem zu widersprechen. In der »Metakritik« belegt er
später am Gebrauch der Umgangssprache, wie die Zeitpartikel »von Bestimmungen des Orts her genommen« sind und entdeckt eine grundlegende »Analogie zwischen Raum und Zeit« in der gelebten Erfahrung.75
Die Einsicht in die räumliche Tiefendimension der Zeiterfahrung unter-
scheidet diese sowohl von der physikalischen als auch von der chronologischen/tabellarischen Zeit-Messung, die beide von Erinnern und Vergessen
gleich weit entfernt sind. In Herders Forderung, aus Geschichte »mehr
Bild, ganzes Continuum« zu machen,76 klingt bereits das poietische Ansinnen mit, die Analogie zwischen Raum (Bild) und Zeit (Continuum) zu
bewahren. Denn die Zeit-Rechnung bindet Historie an die »Zahlenrei-
he«, deren linearer Verlauf kein Gegenstand der Anschauung sein kann; sie
beruht auf Vergessen. Auf Geschichte angewandt, rückt sie vergangene Taten aus der an gegenwärtige Bilder gefesselten Anschauung heraus in eine
tote Vergangenheit. »Tage, Monathe, Jahre«, so heißt es über die Genese der Zeit-Rechnung in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts von
1774, »müssen sich also soviel ins Meer der Vergessenheit gestürzt, Sonnen
und Monden unberechnet untergegangen sein, wenn Zeith-Zahl werden
soll.«77
In der Geschichtsphilosophie des gleichen Jahres endlich findet sich eine Ästhetik des Geschichts-Bildes in nuce, die nicht nur dem Leitfaden von
209
Herders Erkenntnis- und Empfindungslehre, sondern auch seiner Sprachphilosophie verpflichtet ist.78 Denn die Rehabilitierung der Sinnlichkeit
vereinigt äußere und innere Wahrnehmung; anders gesagt: das, was man
sieht, mit dem, was man fühlt und erkennt. Sprache verhält sich nach
diesem anthropologischen Denkmodell zur Vernunft wie das Licht zum
Auge: Sie ist ein »Medium von Absonderungen, Bildern, Karakteren, Geprägen«.79 Sprache ordnet die Welt, jedoch nicht nach logischen Gesetzen,
sondern als »Bildnerin«, die mithilfe der Reflexion den Weg vom Auge,
über die Empfindung bis zum Wort gleichsam in sich aufgehoben hat.80
In diesem Sinne ist sie Medium der Unterscheidung und zugleich »plastische Kraft«.81 Herder benutzt wieder die Brücke der Analogie, um die Gestaltung des Geschichts-Bildes an die Bedingungen sinnlicher Erfahrung
und Versprachlichung binden zu können. Gegner sind die »allgemeinen
Begriffe der Schule«, auf die er mit der Verteidigung »allgemeiner Bilder«
antwortet.82 Wie der ideale Geschichtsphilosoph sieht, das entscheidet
über seine Nähe zum Darstellungsideal, das »Einheit in der Mannigfaltigkeit« heißt. »Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst«, so
bemerkt er in der Methodenskizze, »nie siehest du das ganze Bild - siehest
nichts weniger als Bild! Und wenn dein Kopf von einer Gruppe, in die
du dich vernarrt hat, voll ist, kann dein Blick wohl ein Ganzes so abwechselnder Zeitläufte umfassen? ordnen? sanft verfolgen? bei jeder Szene nur
Hauptwürkung absondern? die Verflößungen still begleiten? und nun nennen! Kannst du aber nichts von alle dem: die Geschichte flimmert und
fackelt dir vor den Augen! ein Gewirre von Scenen, Völkern, Zeidäuften lies erst und lerne sehen!«83
Wenn wir das Gleichnis zwischen Sprache und Licht ernst nehmen, so
läßt sich angesichts dieser Stelle Herder mit Herder kommentieren: »Die
Sprache konnte nur eins, den ganzen dunklen Abgrund der historischen
Welt zum Bilde machen, der Vernunft alles vernünftigen«.84 Wesentlich
ist auch hier wieder, daß die Produktion des Sinnvoll-Sinnlichen, des Bildes, mimetisch dem >natürlichen< Prozeß von der Apperzeption der Sin-
nesdaten bis zu ihrer Versprachlichung sich anschmiegt. Mit dem Unterschied, daß die Daten des »Buches der Geschichte« in anderer Weise
zu lesen sind als die der wahrgenommenen Wirklichkeit. Lassen wir diesen Unterschied zunächst beiseite, so erstreckt sich die Analogie zwischen
sinnlicher und historischer Wahrnehmung auch auf deren relative Unbe-
stimmtheit. Die Gründe dafür liegen ebenso im Fließenden der prakti-
schen Erfahrung (»Verflößungen«) wie in der dramatischen, für den innerhalb stehenden Betrachter nicht ans Ziel kommenden Bewegung der Geschichte. Aus dieser empirisch bedingten Beschränktheit seines Gesichtspunkts folgt die Allgemeinheit, die Abstraktion der Bilder, also das, was
210
wir auf den Begriff des Perspektivismus bringen. Wahrhafte Einheit in der
Mannigfaltigkeit zu sehen und darzustellen, bleibt dem außerhistorischen
Subjekt vorbehalten, dessen darstellende Arbeit mit dem Schöpfungsakt
selbst übereinstimmt.85 Herder resigniert nicht vor dieser Wahrheit. Er
legt dem idealen Geschichtsphilosophen vielmehr nahe, seinerseits die Hilfe des Schöpferischen, der Poiesis, zu suchen. Ohnehin weist die hartnäckige Verwendung des Bild-Begriffs ins Ästhetische, und ein kurzer Vergleich
mit dem Shakespeare-Aufsatz von 1771 mag deudich machen, wie sehr
poetische und historische Darstellung in einem Grund verankert sind.
»Dies Feld >Drammatischer Geschichten< ist so groß, als die Natur!«
heißt es im zweiten Entwurf zum Shakespearß6 »Geschichte« hat hier einen
doppelten Sinn: Der Begriff kennzeichnet einerseits den historischen Stoff,
andererseits das genetische Prinzip: »lebendige Geschichte der Entstehung,
Fortgangs, Ausbruchs, traurigen Endes«. »Durch dies Urkundliche, Wahre,
Schöpferische der Geschichte«, heißt es an anderer Stelle, erreiche Shakespeare jene sinnliche Evidenz, welche die Methodenskizze auch dem Geschichtsbild abverlangt.87 Lassen sich dafür nun Darstellungsregeln for-
mulieren? Bekanntlich verneint Herder; er entwirft jedoch eine Poetik,
deren Ideal (Einheit in der Mannigfaltigkeit), wie wir sahen, dem Histori-
ker als Regulativ dienen soll. Allein das poetische Genie schafft es, die getrennten, zerstückten Einzelheiten vergangenen Geschehens »zum Ganzen
eines theatralischen Bildes« zu gestalten und dem Zuschauer den olympischen Blick des Schöpfers zu leihen. Dafür gibt es keine Vorbilder. Denn
was die moderne von der antiken Welt unterscheidet, das ist die Komplexität ihrer Wirklichkeit.88 Diese fügt sich weder der Einheit der Handlung
noch der von Ort und Zeit. Die moderne Geschichte ist aus den Fugen
geraten, sie ist aus »verschiedenartigste(m) Zeug [...], in der Sprache der
neuern Zeiten Begebenheit (evenement), großes Eräugniß«.85 Disparatheit
und unablässiger Wechsel sind ihre bezeichnenden Merkmale; sie verbieten eine Darstellung, die sich abgeleiteter Muster und Regeln bedient. Sie
zwingt vielmehr zur Historisierung der Tradition, so daß nur jenes Werk
noch Geltung beanspruchen kann, mit dessen Form eine Normativität ins
Leben tritt, die den Erfahrungswandel in sich aufgenommen hat.
Herder hat dies nicht konsequent zuende gedacht; das blieb einer späte-
ren Kunsttheorie vorbehalten. Doch hat der erfahrungstheoretische Fundamentalismus seines Denkens die ästhetische Kategorienlehre entschei-
dend verändert. Ort, Zeit und Handlung der dramatischen wie der hi-
storiographischen Geschichte lassen sich seitdem nicht mehr als sture Regelschemata anwenden, sondern müssen als Funktionen des kulturellen
Wandels begriffen werden.50 Die Theorie der ästhetischen Produktion
nimmt in der Figur des eine Kunstwelt, d.i. eine Welt des Scheins, schaf211
fenden Genies die naturgeschichtlichen Begriffe der Bildungs- und Entwicklungslehre auf. Geschichte der Welt und Geschichte des Kunstwerks
stehen in einem analogen Verhältnis. Insofern sind Historisierung der Poesie und Poetisierung der Geschichte als die zwei Seiten ein und derselben
Sache anzusehen, komplementäre Elemente in Herders philosophischem
Vereinigungsdenken.91 Das läßt sich auch an der Form ablesen, die Herder
dem Gang der Menschheitsgeschichte in der Geschichtsphilosophie von
1774 gegeben hat. Bis zum Ende der »römischen Weltverfassung« wendet er das Schema der einfachen Handlung an, das er im Shakespear als
die angemessene Form des antiken Dramas gelten ließ. In der Epoche der
Alten Welt wachsen die einzelnen Entwicklungsstadien bruchlos auseinander hervor, jedes »bauet auf das Vorige«. Mit dem Ende des römischen
Reichs wird die Einheit der Handlung jedoch fragwürdig, »ein Riß im Faden der Weltbegebenheiten« zerstört den linearen Gang.92 Das Neue der
Geschichte, ihre komplexe Ausdehnung und Dynamik, das »Nicht-Eine,
das Verwirrte« ihrer Ereignisse, schlägt sich in den Metaphern der Gärung
und der Meeresbewegung nieder, Revolutionen verändern gewaltsam die
Stetigkeit der Entwicklung, Zufälle treten in Kraft und das langsame Reifen früherer Epochen löst sich in zerstückte und stoßweise Bewegungen
auf. Dieser komplexen Qualität des Geschehens kann nur eine Form gerecht werden, wie sie die Shakespeare-Ästhetik mit ihrer Anerkennung des
Disparaten im Begriff des dramatischen »Eräugnisses« entwirft.
Doch soll dieses Bild nicht die Unterschiede verwischen, auf die Herder selbst Wert legt. Gewiß, der Poet darf die Rolle des »Schöpfer(s) von
Geschichte und Weltseele« spielen,53 da er mit Traum, Zauber, Täuschung,
Illusion - kurz: mit dem ästhetischen Schein verbündet ist. Seine Wahrheit
beruht auf der Divination des in der historischen Materie enthaltenen Geistes, dem er nachschafft. Der philosophisch denkende Historiker aber soll
den Geist der Vorsehung in der Materie, in den Geschichtsdaten, zugleich
verstehen und erklären. Wie verwandt auch immer seine Intuition mit
der des poetischen Genies sein mag, er kann die Geschichte nicht wie dieses zum Scheine verlassen, sondern ist dazu verdammt, »durch Offnungen
und Trümmern einzelner Szenen« in der neueren Epoche auf das Prinzip
der Entwicklung, den Sinn des Ganzen, zu schließen. Sein Werk bleibt,
wie Herders eigener Versuch, fragmentarisch.
Herders Plädoyer für die Schöpfungsästhetik, das sich auch auf die
Darstellung von Geschichtsbildern bezieht, operiert mit zwei fundamentalen Implikationen. Die eine geht vom Vorrang der praktischen, d. h. der
gelebten vor der theoretischen Erfahrung aus. Die andere betont die wirklichkeitszeugende Kraft der Sprache. Zusammengenommen liefern sie den
Grund für Herders Kritik am Konstruktivismus rationalistischer Denkmo212
delle, der die Welt zwar beschreibt, aber nicht auf sie wirkt. Nach seinem Verständnis wirkt nur jene theoretische Einstellung und ist im Sinne
der Wirkung geschichtsträchtig, die ihre Herkunft aus der gelebten Erfahrung nicht formalistisch abstreift.9^ Die Wahrheit des Wrklichen ist
für sie kein Gegenstand der Erkenntnis, sie kann nur geglaubt werden.
Darum bringen auch alle philosophischen Systeme der Weltauslegung nur
Schein, Herder sagt: Fiktion und Dichtung, hervor.95 Sie amputieren das
theoretische Wissen vom lebensnotwendigen common sense, der es uns
möglich macht, auf einer rotierenden Kugel festen Schritts unsern täglichen Geschäften nachzugehen. Nur in der lebendigen, im weitesten Sinne
poetischen Sprache, bilden theoretische und praktische Erfahrung ein Ganzes. Ihre »natürliche Wahrheit« ist wirklicher, da ihre symbolische Struktur die Trennung zwischen sinnlichem Gehalt (Materie) und intellektuel-
ler Form (Geist) nicht kennt.96 An einer Hyperbel, mit der Herder die
vollkommen philosophische Sprache ironisiert, läßt sich ablesen, wo die
Irrtumsgründe der theoretischen Sprache liegen: »Eine völlig philosophi-
sche Sprache müßte die Rede der Götter seyn, die es zusahen, wie sich die
Dinge der Welt bildeten, die die Wesen in ihrem Zustande des Werdens
und Entstehens erblickten, und also jeden Namen der Sache genetisch und
materiell erschufen.«97 Da die Menschen aber die Dinge nicht erzeugen,
sondern nach Erscheinung und Form bezeichnen, liegt die Trug- und Irrtumsgefahr in ihnen selbst. Die produktive Sprache darf daher nicht nur
bezeichnen, sondern muß jene Empfindung vor sich bringen, die die Form
ertastet und die Erscheinung sinnlich »bemerkt«. Diese Sprache ist in den
Symbol- und bilderreichen Gestalten des Mythos, der lebendigen Religion
und Kunst zu Hause.
Gleichnisrede der Tradition und Wahrheit des Scheins
Die Erfahrung eines unablässigen Wandels der Lebenswelt ist die Erfahrung der Moderne.98 In der sublimierten Gestalt des »historischen Bewußtseins« hat sie sich ein Instrument geschaffen, das es ihr erlaubt, im
begierdelosen Anschauen des vergangenen, gleichsam statuarisch verfestig-
ten Lebens zur Ruhe zu kommen. Die »Antike«, ein Begriff, der Statue
und zugleich abgeschlossene Epoche bedeutet, dient Herder wie Nietzsche
dazu, die von ihnen empfundenen Gegenwartspathologien schärfer zu diagnostizieren und künftige Heilung zu erhoffen. Diese Gemeinsamkeit findet jedoch ihre Grenze an Herders Bestreben, die Geschichte als Ganzes er wendet darauf u. a. auch das architektonische Bild des »Labyrinths« an
- zu vermessen, damit die Gegenwart sich als gewordene erfahren kann.
213
Auf diesem Weg lernt die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, das
präsentische Chaos zu relativieren und das utopische Versprechen einer
besseren Zukunft zu artikulieren.
Dem Therapiewunsch, so ist anzunehmen, muß die Art und Weise
entsprechen, wie vergangenes Geschehen zu interpretieren und für die Ge-
genwart darzustellen ist. Herder gibt zwar keine Regeln, dem steht sein
fundamentalistisches Vereinigungsdenken im Wege. Aber er erkennt neben intuitiven Annäherungsweisen durchaus die Geltung von Kausalität
in der historischen Gesamtentwicklung an. Diese ist demnach nicht nur
auf die Relation zwischen individueller Tat und deren Umstände gemünzt,
sondern bezeichnet auch den Modus, nach dem frühere auf spätere Stufen
wirken.53 Kausalität beschreibt, so würden wir heute sagen, die nichtintentionalen Ursachen historischer Ereignisse.
Besonderer Wert kommt freilich dem Verstehen zu. In der Fassung,
die Herder ihm gibt, stellt es die stärkste Herausforderung an die urteilende Geschichtsschreibung dar. »Hermeneutik«, so bemerkt er in einem
frühen Aphorismus, »ist weniger demonstrative Wissenschaft, als Sache
des Augenpunkts, Gesichtskr., schnelle Bemerkung, sensus communis«.100
Ein Satz, der in plastischer Weise andeutet, welche Bewandtnis das Sym-
pathisieren und Hineinversetzen hat, von dem wiederholt in der Methodenskizze die Rede ist. Verstehen isoliert das Erkenntnis-Ich nicht von der
gewöhnlichen Erfahrung, sondern bindet Erkenntnis geradezu an deren
urtümlichste Bestimmungen. Der Augenpunkt bezeichnet den Standort,
von dem aus der Blick des Wahrnehmenden einen Kreis, den Gesichtskreis,
um sich herum abtastet. Was dieser Kreis einschließt, das ist der am Maßstab des eigenen Leibes ausgemessene »Horizont«. Jedes individuelle Leben
hat seinen eigenen Horizont. Wer fremdes Leben in seiner Besonderheit
erkennen will, ist daher gezwungen, sich in dessen Gesichtskreis zu versetzen. Nichts anderes besagt Herders metaphorisches Umschreiben des hermeneutischen Aktes.101 In der Überschneidung der Horizonte nähern sich
die Standpunkte, ohne daß Identität erzwungen würde, und es kommt, unter Anerkenntnis der Differenz, zum Verstehen. Für solche Subtilitäten hat
Nietzsche keine Geduld. Er, der alles, was er an historischen Ideen vorfindet - und darunter ist selbstverständlich auch der an Herder anknüpfende
Historismus —, mit polemischem Schwung attackiert, lehnt mit dem Sinn
der Geschichte auch dessen wissenschaftlich begründete Heuristik ab. Er
tut das im übrigen nicht ohne die Hilfe der Tradition, die er zu zerstören
sucht.
In vielem ist Nietzsches Begrifflichkeit mit der Herders verwandt. Und
es scheint nicht selten, als hätte beider Faszination für das Leben und
für die mit dessen Prinzipien identifizierten Formen der Kunst ihren Dis214
kurs an solchen Stellen aneinandergerückt, die in der Tiefendimension
der Metaphorik dem widersprechen, was die Argumente an der Textoberfläche behaupten. Wir wollen zunächst aber betrachten, wie reflektiert Nietzsche seine Angriffe gegen Denkmuster führt, die zur geschichtsphilosophischen Tradition der Aufklärung gehören. Herders HorizontBegriff bezeichnet, wir sahen es bereits, eine Daseinsform, die nicht über
sich hinausweist und in allen ihren kulturellen Äußerungen, ungeachtet
der historischen Vorgaben, durch sich selbst bestimmt ist. Was sie vorfand, das hat sie auf unverwechselbare Art in ihr Eigentum verwandelt,
so daß - auf der Ebene des Kollektivs - ein Stil die nationale »Denkart«
durchdringt. Aus dieser kulturellen Bestimmtheit des nationalen Horizonts
erwächst der Gemeinschaft die Kraft, Fremdes auch ohne Selbstverlust zu
assimilieren, ja sie erlaubt es ihr, über den Akt des Verstehens, die eigene
geistige Produktivität zu steigern. Nietzsche sieht diese Hoffnung durch
die Wissenschaft verraten. Diese habe in Gestalt der historischen Forschung alle »Horizont-Umschränkungen« niedergerissen und »den Men-
schen in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens« hineingeworfen.102 Die Metaphorik ballt zusammen, was die Schrift
in breiter Rhetorik ausführt. Wieder überzeugt uns das Meer-Bild, daß das
Denken für und wider Geschichte ohne Natursymbolik nicht auskommt.
Dem >aufgeklärten< Meer der Geschichte ist hier etwas Abstraktes eigen,
so daß nicht nur Raum und Zeit ins Unendliche verflüchtigt erscheinen,
sondern auch das Bewußtsein kein noch so trügerisches Element zu finden
scheint, das auch nur für einen Augenblick tragen würde. Dieses Meer
bedeutet, Nietzsche spricht es aus, Chaos der Sinne und Verlust des Selbst-
bewußtseins; es gibt kein Ufer hermeneutischen Erinnerns, von dem aus
die Bewegungen sich zu Bildern ordnen ließen. Damit pointiert Nietzsche
die Einsicht Herders, daß wir mitten in der Geschichte stehen, lehnt aber
dessen Ansinnen ab, dieses Mitten-Inne-Stehen auf dem Weg hermeneutischer Besinnung vor das eigene Bewußtsein zu bringen und so für das
Erkennen zu objektivieren.
Deutet Herder das delphische Orakel im Sinne der Verständigung (Erkenne dich selbst, indem du die anderen erkennst!), so verbindet Nietzsche
damit den Rückzug aus dem Universum der Kommunikation. Wie jener
solipsistisch in sich versunkene, einem Meer von Qualen trotzende Schiffer, den Schopenhauer bemüht, um die täuschende Macht des principium
individuationis zu illustrieren, soll der einzelne - noch gilt die Analogie zwischen Individual- und Kollektivsubjekt (Nation) - aus eigener Kraft seine
authentischen Bedürfnisse erkennen.103 Das sind Bedürfnisse, die diesseits
der sozialen, als Illusion und Verstellung gedeuteten Konventionen liegen
und mit den naturwüchsigen Kräften eine Allianz bilden.
215
Auch Nietzsche setzt dem Mißvethältnis zwischen Bildungsrhetorik
und -Wirklichkeit seiner Zeit ein Vereinigungsdenken entgegen, das auf den
Universalitätsanspruch theoretisch angeleiteter Erkenntnis mit der Macht
lebensweltlicher Interessen antwortet. Noch 1874 findet er es opportun,
für die behaupteten Verderbnisse der »deutschen« Bildung die Herrschaft
eines »romanischen« Kulturbegriffs verantwortlich zu machen. Sein Schlag-
wort der Kulturerneuerung denunziert die moderne Gesellschaft im Namen einer »Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen«,104 die Begriffe wie Prozeß und Geschichte erübrigt, als Formalismus. Die so angesprochene zeitlose Einheit von Wissen und Leben erkennt allenfalls solche Formen der Historie an, die im epistemischen Sinne
unschuldig sind. Ihre Formen — es sind rhetorische und narrative Formen - entsprechen den Funktionen, die sie im »Dienst des Lebens« zu
erfüllen haben: Bewunderung und Nachahmung (monumentalische Historie), Bewahrung und Verehrung (antiquarische Historie), Verurteilung
und Zerstörung (kritische Historie). Mit dieser Repristination vorrationaler Überlieferungsweisen will Nietzsche den Anspruch der Geschichtswissenschaft auf Autonomie durchkreuzen, und er greift sie daher an der Stelle
an, an der sie am schwächsten ist; nämlich dort, wo sie Objektivität zur methodischen Norm erhebt, ohne den lebensweltlichen Perspektivismus der
eigenen Fragen zu reflektieren. Nietzsche weiß, daß wir unser So-Sein der
Vergangenheit schulden, hält aber dem Determinismus entgegen, es könne
gelingen, »sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der
man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt.«105
Damit redet er dem Mythos das Wort,106 dessen moderne Variante er
in Wagners Musiktheater hervortreten sieht. Er selbst hat, auf mythen-
verwandte Formen zurückgreifend, seine Zweite Unzeitgemäße Betrachtung
mit einer Fabel eröffnet und mit einem Gleichnis beschlossen, und er hat
früh schon die Figur des fragenden und mythenerzählenden Weisen eingeführt, die das Vergangene in der Gegenwart der Jünger(en) verkörpert
und zur lebendigen Nachfolge animiert. Auch Herder kennt diese Gestalt,
betont aber, daß der moderne Sokrates sowohl durch Aufklärung und Verbesserung des Wissens wie auch mithilfe des technischen Mediums der vervielfältigten Schrift zur ganzen »Welt und Nachwelt« zu reden vermag.107
Eben diesen Optimismus verdammt Nietzsche, der vergeblich den Lehrer vorn Aufklärer Sokrates trennen will, und sucht in der Meister-JüngerBeziehung dem Partikularen gelebter Erfahrung gerecht zu werden, für deren ungeschmälerte Lebenskraft die Metapher des Horizonts einsteht.108
Diese Metapher hat bei ihm die Nebenbedeutung der biologischen Umwelt, auf die der tierische Organismus reflexhaft antwortet. Daher stellt
Nietzsche sich das Verhältnis von eigenem zu fremdem Horizont nicht un216
ter Begriffen der Verständigung, sondern unter dem Bild des Fressens und
Verdauens vor. Die »plastische Kraft«109 der Kulturerneuerung ist - als Idee
betrachtet - eine Naturkraft, die, ihrem Doppelcharakter gerecht werdend,
aus eigenem Antrieb Fremdes umbildet und sich unterwirft. Wäre diese
Kraft, so spekuliert der Kulturphilosoph, rein im Menschen vorhanden,
»so wäre sie daran zu erkennen, daß es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde, an der er überwuchernd und schädlich zu wirken vermöchte; alles Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich
heran-, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen.«110 Unter
Nietzsches Blick, so scheint es, verdampft die Geschichte zu dem, was sie
vor ihrer Rationalisierung sein wollte, zur Kompilation funktional erzählter Geschichten. So nebenbei wiederholt er einmal den alten Spruch, daß
sie nichts anderes sei, als Philosophie in Beispielen (exempla).111 Will er
nur beweisen, daß wissenschaftliche Erkenntnis an der Bereitschaft des Alltagsbewußtseins, die Norm historia vitae magistra zu perpetuieren, nichts
ändern kann?1
Schon die Gliederung der Zweiten Unzeitgemäßen legt die Deutung
nahe, daß Nietzsche die Geschichtswissenschaft mit ihren eigenen Waffen zu schlagen sucht.113 Zumindest der Geschichtsbegriff selbst, der ihm
als Maßstab der Kritik dient, ist durchaus theoretisch legitimiert. Theoretisch heißt aber nicht, und das ist entscheidend, autonom und über alle
Zeiten hinweg gültig; theoretisch heißt hier: auf Zeitbedingungen fußend
und aus Bedürfnissen des Lebens erwachsen.11* Mit einem Wort: Theorie
wird nicht dogmatisch, sondern geschichtlich begriffen. Dieser historisierte Theorie-Begriff verschafft der Kritik am Wissenschaftsdogma Plausibilität, weil er dieses selbst dem geschichtlichen Wandel unterworfen sieht
und die Hypothese des überzeitlichen Dritten, in dessen >theoretischem<
Blick sich das verborgene Ganze spiegelt, zerstört hat. Nietzsche richtet
seine Einwände nicht pauschal gegen wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt. Er zeigt sich vielmehr über deren Anspruch verstimmt, auch noch
die Normen der Lebenswelt diktieren zu wollen. Die Gefahr, daß dieser
Anspruch in Praxis übersetzt wird, bekämpft er daher folgerichtig in den
Zerrformen einer die Methoden der Wissenschaften kopierenden Bildung.
In dem frühen Fragment »Wissenschaft und Weisheit im Kampfe« hat er
präzise ausgesprochen, wo die Grenze zwischen Wissenschaft und Lebens-
welt verläuft: »Wissenschaft ergründet den Naturverlauf, kann aber niemals dem Menschen befehlen. Neigung, Liebe, Lust, Unlust, Erhebung,
Erschöpfung - das kennt alles die Wissenschaft nicht. Das, was der Mensch
lebt und erlebt, muß er sich irgendworaus deuten; dadurch abschätzen.«115
Der normative Anspruch der Wissenschaft gegenüber der Lebenswelt ist
deshalb falsch, weil in dieser andere Maßstäbe als die der reinen Wahrheit
217
gelten. Unbewußte Regungen, Wertungen und subjektzentrierte Interpretationen bestimmen den Vollzug unseres lebensweltlichen Handelns; hier
gilt nicht die methodisch geschulte Reflexion, die immer erst im Nachhinein - also historisch - das Erlebte, Geschehene begrifflich vors Bewußtsein
bringt. Diese Konzentration auf den Erfahrungsvollzug rechtfertigt Nietzsches Verteidigung des Augenblicks und des Vergessens. Nur innerhalb der
vom Erinnern abgewandten Unmittelbarkeit des Handelns und Leidens ist
der Akteur ganz mit dem Leben identisch. Und der Augenblick ist, wie das
Wort sagt, mit dem nächsten Lidschlag auch schon vergangen. Erinnern
und Vergessen sind wie Einatmen und Ausatmen uno actu verbunden.116
Nietzsches Rettung der lebensweltlichen Erfahrung verhält sich in manchen Teilen zu Herders Bückeburger Schrift wie die bestimmte Komposi-
tion zur Improvisation. Allerdings hat Herder, wie zu erinnern ist, noch
Erfahrungsmaßstäbe bewahrt, die vom Glauben an die in Geschichte eingesenkte Theodizee abgeleitet sind.117 Wie ist das bei Nietzsche, der diesen Glauben ausdrücklich verwirft?118 Woher hat der aus dem Augenblick
heraus Handelnde die Maßstäbe, an denen er Wert und Zweck seines Tuns
messen, woher nimmt er die Begriffe und Symbole, an denen er die Deutung seines Lebens festmachen kann? Die Antwort ist wohl dort zu suchen,
wo Nietzsche über die Sprachen des Mythos, der Religion und der Künste
nachdenkt. Denn in deren symbolischen Konfigurationen hat sich jene
Spur der Erfahrung niedergeschlagen und erhalten, die durch die Abstrak-
tionen wissenschaftlicher Logik getilgt wird. Es sind diese Spuren, die,
durch die Form gezähmt, der plastischen Natur zum Ausdruck verhelfen
und auf des Betrachters Sinne zu wirken vermögen. Historie, die nicht mit
der begrifflich geklärten Geschichte zu verwechseln ist, hat, das läßt sich
den ihr zugeordneten »Betrachtungsarten« entnehmen, etwas vom Schauen und Wahr-Sagen der Mythen. Indem Nietzsche die monumentalische,
antiquarische und kritische Historie als »Betrachtungsarten« einführt, gibt
er einen Hinweis auf ihren »theoretischem Status;115 >theoretisch< im Sinne
erfahrungsunmittelbarer Anschauung. Diese Betrachtungsarten bezeichnen eine Periode des Ausruhens im Wechsel des Lebens und bringen nicht
totes Wissen hervor, sondern neue Antriebe des Handelns. Für das NichtErkärbare dieser Impulse steht der verfängliche Begriff des »Instinkts«.1
Die »Instinkte« sollen, deshalb wirken sie innerhalb der Betrachtungsarten,
der Relativierung des Vergangenen durch bloßes Wissen mit Notwendigkeit Einhalt gebieten. »Instinktives Richtig-Lesen« der Vergangenheitsspuren, »erratender Instinkt« gegenüber dem Werden und das Schaffen eines
»neuen Instinkts« aus der Anschauung des alten: So charakterisiert Nietzsche die Möglichkeiten der monumentalischen, antiquarischen und kriti-
schen Historie. Auch sie haben - freilich um den Preis der Unfreiheit 218
ihre eigene Wahrhaftigkeit, ohne daß sie indessen des Vakuums praxisfreier Erkenntnissicherung bedürfen. Wenn die Betrachtungsarten, wie Nietzsche lehrt, Möglichkeitswert, also Zukunft besitzen, so steht dahinter die
Überzeugung, daß die Rationalisierungsschübe, die mit der Geschichte der
Wissenschaften einhergehen, rückgängig gemacht oder überwunden wer-
den können.121 Darin drückt sich nicht nur noch einmal der Zweifel am
praktischen Nutzen wissenschaftlicher Erkenntnis aus, sondern auch der
zerstörte Glaube an den von ihr behaupteten Fortschritt. Von dieser skeptischen Warte aus entpuppt sich das lineare Geschichtsdenken als falsches
Bewußtsein, und Herders Vertrauen in die sittliche Steigerung der Kultur erscheint wie eine schöne, aber irreführende Illusion. Der Grund für
Nietzsches Skepsis liegt in der Einsicht, daß der Weg in die Kultur durch
unsägliche Leiden erkauft werden muß. Kultur wird von menschenfeindlicher Unterdrückung, Erkenntnis von Schmerz begleitet.'22 Ja, mehr noch,
selbst Elend und Leiden schaffen nicht beiseite, was in der Doppelnatur
des Menschen als Zerstörungstrieb angelegt ist. Für Nietzsche ist daher das
Mythische nichts Vergangenes. Der Kampf der Götter um die Welt geht
weiter. Nur betrachten die Menschen ihn nun als säkularisierten: Sie selbst
kämpfen um die Form, die die Welt künftig haben soll. Daß der Ausgang
dieses Kampfes nicht wissenschaftlich vorentschieden werden kann, diese
Überzeugung Nietzsches bedarf kaum noch der Erwähnung.
Die Mittel der Kulturerneuerung müssen vielmehr, um in die Lebenswelt hineinwirken zu können, der unmittelbaren Erfahrung zugänglich
bleiben. Die normbildenden Funktionen des Mythischen werden wiederentdeckt und von Nietzsche, so scheint mir, der Historie als therapeutische
Aufgabe übertragen. Wenn das zutrifft, so haben wir es in den Betrachtungsarten der zweiten »Unzeitgemäßen« mit Formen zu tun, die keine
blinden, sondern reflektierte, also rational begründete Muster des Mythischen bilden. Indizien für die strukturelle Übereinstimmung zwischen Historien und Mythen hält der Text selbst bereit. Schon über die erste Betrachtungsart heißt es, es hätte Zeiten gegeben, die »zwischen einer monumentalischen Vergangenheit und einer mythischen Fiktion gar nicht zu
unterscheiden« vermochten. Mythos und Historie stimmen hier nicht nur
im Modus der Analogie-Erfahrung überein, sie führen dem Leben auch
»genau dieselben Antriebe« zu.123 Auch die beiden anderen Betrachtungsarten verheimlichen die Verwandtschaft mit dem vom Logos durchsetzten
Mythischen nicht. Die zweite führt, über Einfühlung in die gewachsene
Struktur der eigenen kulturellen Umwelt, zu einer pflanzenhaften Zufriedenheit mit dem, was ist, vergleichbar dem »Wohlgefühl des Baumes an
seinen Wurzeln«. Erst die dritte Betrachtungsart, die kritische, zeigt Verwandtschaft mit dem Mythologem der Titanenkampfe. Nur sind es hier
219
nicht Götter und Titanen, die um die Herrschaft über die Welt streiten,
sondern die erste und zweite Natur des Menschen.124
Gemeinsam ist den drei Arten historischer Betrachtung, außer dem
Bezug zum Mythischen, ihre lebensformende Kraft. Paradoxerweise sind
sie dadurch >historisch<, daß sie, wie Nietzsche zum Beispiel an Goethes
Straßburg-Erfahrung belegt,125 die geschichtliche Distanz zwischen An-
schauendem und Angeschautem tilgen. Erinnern schlägt um in Vergessen,
und die Gegenwart macht vom Vergangenen Gebrauch für die Zukunft. In
diesem Umspringen vom Betrachten zum Handeln sind die Dimensionen
der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Zeit nicht mehr
getrennt. Trifft dies auf alle drei Betrachtungsarten zu, so mag verständlich
werden, warum Nietzsche auch sie in der Doppelperspektive von Nutzen
und Nachteil interpretiert. Ihr Nutzen liegt in der Entmachtung der Vergangenheit durch den produktiven Impuls des Vergessen-Könnens. Ver-
gessen in einem bewußten Sinne läßt sich aber nur das, was man gleichsam
vor Augen hat, was die Betrachtung >erinnert<. Wenn aber betrachten und
Erinnern vom Vergessen sich lösen und verselbständigen, dann wird das
Vergangene wieder mächtig und hemmt die Lebensbewegung, die, nach
Nietzsches Idee einer wahren historischen Bildung, in der Einheit von Erinnern und Vergessen besteht.
Die Geschichtswissenschaft zur Zeit Nietzsches hat ihren Nutzen mit
dem Ziel verbunden, »die Gesetzlichkeit und Einheit alles Werdens und
Lebens« bis auf die Gegenwart zu verfolgen.126 Ihre Struktur ist die einer methodisch kontrollierten Erinnerung, deren Kontinuitätsbegriff darauf beruht, daß er Vergessen ausschließt. Ihr Ziel ist es, möglichst alles zu
wissen, und selbst dort, wo die Quellen versiegt sind, mit dem Instrument
der Hypothese Kontinuität herzustellen.127 Nietzsches Gegenvorstellung
entlarvt diese Konzeption als Irrtum, der dazu fuhrt, daß die Vergangenheit
Macht über Gegenwart und Zukunft gewinnt. Seine Kritik trifft nicht nur
den akademischen Anspruch historischer Bildung, einen methodisch neutralisierten Erfahrungsbegriff in Fragen des Lebens zur Norm zu erheben;
sie trifft auch die ganz und gar ungeschichtliche Verallgemeinerung des wissenschaftlichen Geschichtsbegriffs. Seine Forderungen, den Ursprung historischer Bildung historisch zu denken und das Problem der Historie mittels Historie zu lösen, enthalten doch nichts anderes als den Appell, durch
Anwendung des Historischen auf Methodik und Wissen endlich ernst zu
machen mit dem Geschichtsdenken.128
Die Bedeutung, die Nietzsche dem Wechselspiel von Erinnern und
Vergessen zuschreibt, hat mit der Einsicht zu tun, daß Leben nur unter
der Form der Zeit anschaulich wird. Erinnern und Vergessen, Werden und
Vergehen sind in seinem Denken zugleich Bestimmungen des Lebens wie
220
der Historie; sie ebnen die Differenz zwischen beiden Begriffen fast völlig
ein. Es geht dem Menschen aber nicht allein ums Überleben. Er strebt
über die tierische Natur hinaus und begehrt ein Dasein, das sich jene als
formbare Materie zurechtlegt. Er schafft aus diesem Bestreben heraus eine
»Kunstwelt«, die ihn schützende Sphäre der Kultur, in der er die Formen
wiedererkennen kann, die er sich selbst geben möchte. Das ist das Thema
der »Geburt der Tragödie«, einer Schrift, die man als Utopie gedeutet hat,
da sie am Gleichnis der griechischen Welt das Bild eines künftigen, die
Kultur insgesamt umfassenden Gesamtkunsrwerks entwirft.
Nietzsche hat hier, zwei Jahre vor der Zweiten Unzeitgemäßen, bereits
in scharfer Form die wissenschaftliche Welterklärung mit ihren normativen
Ansprüchen zurückgewiesen. Ob Naturwissenschaft, Darwinismus oder
Geschichtsschreibung - alle führen, so lautet in jenen Jahren Nietzsches
Hauptargument, zu einer Apologetik der Wirklichkeit, die, auf die Lebenswelt übertragen, paralysierend wirken muß, da sie die unbewußten, lebenskräftigen Triebe zugunsten reiner Erkenntnis denaturiert.129 Die Tragödienschrift erläutert das an dem Kampf zwischen Sokratismus und Mythos,
zwischen wissenschaftlichem und religiösem Weltbild bei den Griechen.
Die Zweite Unzeitgemäße wendet deren Ergebnisse als ein »Gleichnis« auf
die Moderne an.130
Beide Texte kritisieren das Ideologische wissenschaftlichen Denkens,
das sich in dessen universellen Geltungsansprüchen äußert. Die Tragödienschrift antwortet auf dieses Problem mit einer kulturgeschichtlichen
Interpretation, die an den Übergangserscheinungen von Mythos zu Logos
ein inneres Wechselverhältnis zwischen Leben und Wissenschaft ausma-
chen will. Mit der »Duplizität des Apollinischen und Dionysischen« ist
die Notwendigkeit dieser Konfiguration auf Begriffe gebracht, die zugleich
als historische Kategorien und als mythologische Namen gebraucht werden. Vereinzelung des einen oder andern bedeutet Herrschaft des Scheins
der reinen Erkenntnis oder die Barbarei der Triebe. Beide Extreme sind
gleich weit von jenem Begriff der Kultur entfernt, in dem das theoretische
Denken noch nicht von Natur abgefallen ist. Diese These berührt, wie
Nietzsche bewußt war, die Voraussetzungen der eigenen Kritik. Denn die
kritische Denkbewegung darf nicht, will sie nicht in den von ihr aufgedeckten Fehler verfallen, vom Boden der gegebenen Wissenschaft ausgehen. Sie
muß ihre Gegenbilder dort suchen, wo sich das Leben als plastische Kraft
bewährt hat: in der Kunst.131 So ist für Nietzsche die griechische Kunst
nicht das schlechthin Vergangene von bloß musealem Wert, sondern das
Paradigma für eine geschichdiche Erkenntnis der Kultur, die sich ihrer in
Bedürfnissen des Lebens gründenden Voraussetzungen bewußt ist.
In der Kunst triumphieren, so heißt es in der Tragödienschrift, »kräfti221
ge Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche
Tiefe der Weltbetrachtung«.132 Mit anderen Worten: Kunst stellt sich
nicht auf diese oder jene Seite, sie ist vielmehr sichtbarer Ausdruck der
durch die Formkraft gebändigten, nicht aber unterdrückten Triebe, sie hat
die Doppelgestalt der Sphinx.133 Mit den Begriffen des Wahns und der
Illusion erkennt Nietzsche im Bereich der Kunst etwas an, was er den Wissenschaften als trügerischen Schein ankreidet. Die Lebenswelt verliert ihren Eigensinn, ihre Spontaneität und aus heterogenen Quellen gespeiste
Kreativität, wo wissenschaftlich über sie verfügt wird. »Nehmen wir an,«
so bemerkt Nietzsche in einer Notiz über die methodische Geschichtsbetrachtung, »die historische Untersuchung vermöchte in Betreff von etwas
Lebendigem die Wahrheit zu erreichen, z. B. in Betreff des Christenthums:
dann hätte sie jedenfalls den Wahn zerstört, der um alles Lebendige und
Thätige, wie eine Atmosphaere, sich breitet«, die »productive Stimmung«
wäre dahin.13'*
Wahn und Illusion bezeichnen Erfahrungen, die auf Täuschung beruhen. Daß sich aber in diesen Erfahrungen etwas zeigt, das nicht Lüge,
sondern, so könnte man wohl sagen, Wahrheit des Lebens ist, erläutert
Nietzsche, die Ferne des Griechischen mit der Nähe subjektiver Erfahrung
verknüpfend, an den Analogien zwischen Traum und Rausch. Denn beide
bezeichnen die unbewußten Zustände der Selbstgewißheit und der Selbstvergessenheit. Verhält sich der einzelne in diesem passiv, um - unter Gefahr
des Selbstverlusts - nichts anderes als Gattung zu sein, so betätigt er in jenem aktiv seine bildnerische Kraft und schafft sich eine maßvoll begrenzte
»innere Phantasie-Welt«.135 Wichtig ist, daß unter Begriffen des Apollinischen und Dionysischen beide Zustände als »künstlerische Mächte« betrachtet werden, »die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen.«136 Traum und Rausch verbinden, wie die
unter der Form der Kunst sich mitteilenden Regungen des Wahns und der
Illusion, die künstlerische Produktivität mit der Natur, die in dieser Mimesis freilich schon über ihre eigenen Grenzen hinaus in den Raum der
geschichtlichen Zeit übertritt.
Nietzsche ist sich bewußt, daß er diese vermittlungslose Genese der
Kunst aus dem Organischen, aus der Natur, konstruieren muß. In der
Tragödienschrift ist das indirekt spürbar, während er es in den seine Arbeit begleitenden Notizen erkenntnistheoretisch reflektiert. »Ich habe den
Verdacht, daß die Dinge und das Denken mit einander nicht adäquat
sind.« heißt es in einem Nachlaßfragment aus der Zeit um 1870/71.137
Zu den Problemen, die er um der Konstruktion des Kunstursprungs willen zu lösen hat, gehört auch die von Schopenhauer angeregte Frage, wie
das vom Willen in die Welt gebrachte Leiden erträglich gemacht werden
222
kann bzw. wie das dissonante Verhältnis von Schmerz und Genuß zu den-
ken ist. Im Nachlaß heißt es dazu: »Richtung der Kunst, die Dissonanz
zu überwinden: so strebt die aus dem Indifferenzpunkte entstandene Welt
des Schönen, die Dissonanz als das an sich Störende mit in das Kunstwerk
hinüberzuziehen. Daher der allmähliche Genuß an der Molltonart und
der Disssonanz. Das Mitel ist die Wahnvorstellung, überhaupt die Vor-
stellung, mit der Grundlage, daß ein schmerzfreies Anschauen der Dinge
hervorgebracht wird. Der Wille als höchster Schmerz erzeugt aus sich eine
Verzückung, die identisch ist mit dem reinen Anschauen und dem Produzieren des Kunstwerks.«138 Diesem Gedanken ist die Struktur präsent, die
das Verhältnis von Dionysischem und Apollinischem bestimmt, nur ist sie
hier deutlicher auf einen genetischen Vorgang bezogen. Formulierungen
wie »der Wille erzeugt aus sich«, »es erzeugt sich die Vorstellung«, »Welt
ist beides zugleich, als Kern der Wille, als Vorstellung die ausgegossene
Welt der Vorstellung« legen die Annahme einer dialektischen Bewegung
nahe.135 Doch sucht Nietzsche diesem Denkmuster auszuweichen. Wille und Vorstellung wirken zusammen, um als Drittes eine »Welt in der
Welt«, das Kunstwerk, zu zeugen: das Bild des Gebarens mit allen biologischen Nebenbedeutungen drängt sich auf. Andererseits verschiebt die Redeweise diese Bedeutungen wieder ins Metaphorische, ja Unverbindliche.
Was erzeugt wird, kann schlechterdings nicht, wie es im Text heißt, sich
selbst erzeugen. An einer Stelle des Nachlasses ist zu lesen, die Individuation sei »Resultat« des durch den Willen verursachten Leidens, während die
Tragödienschrift dieses Verhältnis umkehrt.140
Auch hier erscheint das Denken wiedet an seine eigenen Voraussetzungen gebunden. Was Schmerz, also bloßer Wille ist, kann nur »unter
Vermittlung von Vorstellungen« gedacht werden.141 Um die Dinge zu haben, wie sie sind, so bemerkt er einmal, dürfte man sie nicht denken.142
Der Grund für den implizierten Abstand zwischen Natur- und Kulturwelt
liegt in der symbolschaffenden Tätigkeit des Denkens und Vorstellens. Der
Mensch >hat< die Dinge durch das Medium der Begriffs- und Bilderrede der
Sprache als »Erscheinung«. Daher kann er über das Dunkle und Abgründige, das vor allem Denken und außerhalb aller Formen liegt, nur in Gleichnissen sprechen.143 So kommt selbst das, was der Mensch Leben nennt,
nur als Gleichnis des Lebens vor seinen Blick, nämlich in den dramatischen
und epischen Formen des Kampfes und der Betrachtung, des Leidens und
des Genusses.144 Wo die Sprache, wie in den symbolischen Konfigurationen der ästhetischen Bilderrede, diese Widersprüche nicht verleugnet,
sondern im Gleichnis deutet, vor allem wo sie sich mit Musik verbindet, in
Lyrik und Tragödie, dort reizen sich das Apollinische und das Dionysische
»immer gegenseitig zur Existenz«.145
223
Die griechische Kunst, in der das Aufeinandereinwirken triebhafter
und formgebender Kräfte zur produktiven Überschreitung mythischer
Grenzen führt, ist - ich folge hier der Interpretation Jähnigs146 - das Muster für jenen geschichtlich tingierten Kulturbegriff, an dem Nietzsche die
Abstraktionen geschichtswissenschaftlichen Denkens zuschanden werden
läßt. Mir scheint jedoch die Zeitlichkeit des Kunstprozesses nicht von der
gleichen Evidenz zu sein wie die der Geschichte. Nietzsche hat Begriffe
wie Zeit und Raum, ähnlich wie Herder, von ihrer Mathematisierbarkeit
gelöst, als Bezeichnungen für letztenendes inkommensurable »Empfindun-
gen« verwendet.147 Wenn man, wie er bemerkt, Anfang und Ende der
Geschichte nicht denken kann, so fällt nicht nur der Begriff des prozes-
sualen Wandels in sich zusammen, auch die Suche nach dem historischen
Ursprung ist dann nicht mehr sinnvoll. Da Nietzsche andererseits vom
Menschen behauptet, »daß er in keinem Moment derselbe ist« und des-
halb zur Selbstvergewisserung der Historie bedarf, so kann er auf ein Modell kulturellen, und das heißt: geschichtlichen Handelns nicht verzichten.
Es wurde bereits gezeigt, daß er den Gedanken einer objektiven Kulturentwicklung nicht schätzt, sondern die Aneignung des Vergangenen unter der
Form des auf Lebensbedürfnisse antwortenden Gleichnisses bevorzugt.1'*8
Diese Form ist auch die seiner eigenen Entwürfe. Insofern bezeichnet der
Hinweis auf das »Gleichnis« der Griechen am Ende der zweiten Unzeitgemäßen die Art und Weise, wie die Tragödienschrift von 1872 zu lesen
ist.
Es läßt sich nun besser begreifen, warum Nietzsche dem historischen
Wissen die Legitimation bestreitet, normativ aufs Leben einzuwirken. Das
lebensweldiche Handeln unterliegt einem andern als dem hypothetisch gesetzten Zeitbegriff der Wissenschaft. Schon das Wechselspiel zwischen Erinnern und Vergessen verweist die Konstruktionen der historischen Zeit
ins Schattenreich der interesselosen Abstraktion. Es setzt den Handelnden
frei, den spontanen Entschlüssen der augenblicklichen Einbildung (»Illusion«) zu folgen, ohne daß die Tradition ihrer unbewußt wirkenden Kräfte
beraubt würde. Nur ist diese nicht mit der methodisch aufbereiteten und
begrifflich rekonstruierten Geschichte zu verwechseln. Im Gegensatz zu
dieser hält, wie Nietzsche einmal notiert, das lebensweltliche Interesse sich
an seine »unhistorische Betrachtung«, die geneigt ist, in »jedem Zeitmoment« den »Sinn des Menschenlebens überhaupt« wahrzunehmen.149
Die Kritik am Konstruierten der historischen Zeit, das Festhalten einer
gleichnishaften Relation zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem nebst
vielen anderen Bestimmungen der Historie, die hier nicht zu wiederholen
sind, treffen sich in der entschiedenen, wenn auch vagen Forderung nach
einer anderen Historiographie.150 In dieser sind sich Herders und Nietz224
sches Vorstellungen wieder sehr nahe. Denn auch der spätere erwartet die
andere, produktiv wirkende Geschichtsschreibung von ihrer Verbindung
mit Kunst. Folgt man dem Griechen-Gleichnis der Tragödienschrift, so
ist das Verhältnis von Historie zu Kunst sogar weitaus radikaler zu denken als eine bloße Übernahme ästhetischer Techniken in den Bereich der
Darstellung.151 Der entscheidende Unterschied zu Herder wie zu den Aufklärungsprogrammen einer poetisch wiederbelebten »historischen Kunst«
ä la Gervinus ist in Nietzsches Glaube an die unvorhersehbaren Veränderungen der Zukunft zu suchen.
Der Doppeldeutigkeit des Kulturbegriffs entspricht das Umschlagen
der Wissenschaft in Kunst, der Zerstörung in produktive Phantasien.152
Die »Baumeister der Zukunft« überschreiten die gegenwärtige Lebenswelt,
ohne sie begrifflich kalt zu stellen, in den Bildern und Symbolen, die sie
aus der »Alltags-Melodie« des Lebens gewinnen. Genauso verfährt der
»echte Historiker«, der als Künsder gleichsam eine neue Vergangenheit
»erfindet«:153 Er »muß die Kraft haben, das Allbekannte zum Niegehörten
umzuprägen und das Allgemeine so einfach und tief zu verkünden, daß
man die Einfachheit über der Tiefe und die Tiefe über der Einfachheit
übersieht.«154 Mit diesen Forderungen, die das Verbergen der Kunst mit
der illudierenden Kraft ästhetischer Bilder verbinden, nähert sich Nietzsche
wieder dem Thema der Bildungsrevolution, das der wahre Quellgrund seiner frühen Wissenschaftskritik ist. Die Jugend, die das letzte Kapitel der
Historienschrift anredet, kann sich von der »historischen Krankheit« nur
reinigen, indem sie die Kunst des Vergessens (unhistorische Betrachtung)
und die Kunst des Erinnerns (überhistorische Betrachtung) aufs neue erlernt. Führt das Vergessen zur Einsicht in die Horizont-Umschränktheit
der eigenen Bedürfnisse und so zu diesen selbst, so zeigt das überhistorische Erinnern dem Handeln-Wollenden in den außer der Zeit liegenden
Bildern der Kunst die Macht lebensformender Kräfte.155
Aktualität
Weder Herder noch Nietzsche haben die Wissenschaft von der Geschich-
te in Bausch und Bogen verworfen. Ihre Kritik richtete sich gegen die
Selbstüberschätzung methodischen Denkens und gegen die falsche Applikation der Erkenntnisse auf Fragen, die andern als wissenschaftlichen Normierungen unterliegen. Ihre Schriften verteidigten den Eigensinn und die
Widersprüchlichkeit des vergangenen wie gegenwärtigen Lebens. Nietzsche konnte freilich weiter sehen als Herder. Ihm schien es, als hätte die
Wssenschaft ihre Normierungen bereits so weit auf die gelebte Erfahrung
225
ausgedehnt, daß diese selbst, wie wir heute mit größerem Recht furchten
müssen, zum Objekt manipulierender Planung verkommt. Herders Kritik präludiert diesem Unbehagen an der Verfuhrungskraft wissenschaftlichen Denkens und an seinen vorab im Technischen greifbar gewordenen
Erfolgen. Beide Autoren markieren mit ihrer Kritik am Hoheitsanspruch
der Wissenschaften bereits die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn es zwischen Lebenswelt und Wissenschaft zu vermitteln gilt.
Für Herder stellte sich der Gegensatz beider Welten noch als ein Problem der »Schule« dar, ohne daß bereits die Machtinstanz einer institutio-
nellen Struktur in den Blick rückte. Umso unzeitgemäßer, weil vor der
Zeit, wirkt auf uns heute seine Dogmenkritik. Ihr ist es zu verdanken, daß
die antiquarischen Neigungen der älteren Historie bald von einer hermeneutischen, die Gegenwartsinteressen reflektierenden Aneignungsform abgelöst wurden.1"5 Der Gewinn für die moderne Geschichtsinterpretation
ist hier deutlicher als bei Nietzsche. Keine noch so ferne Epoche sollte nach
den Gesetzen einer verabsolutierten Vernunft beurteilt werden. Herder forderte Mitempfindung, weil ihm schien, daß die Teilhabe am vergangenen
Leben nur über die Teilnahme an dessen sinnlicher Erfahrung, die gleichsam den materialen Gehalt der historischen Besonderung bildet, möglich
sei. Als Prämisse diente ihm die anthropologische Annahme einer im Kern
gleich bleibenden menschlichen Natur, deren Differenzierungen im Laufe der Kulturgeschichte Gestalt gewinnen. Diese verschiedenen Erscheinungsformen verstehen, das hieß, den eigenen Standpunkt zu relativieren,
was zu einer Gefahr nicht nur für die moralische Interpretation der Geschichte, sondern auch für das Wertsystem des Interpreten werden konnte.
Herder suchte dieser Gefahr durch die Verbindung von panentheistischem
Glauben und Humanitätsdoktrin zu entgehen.
Anders Nietzsche, der, den modernen Wertrelativismus auf die Spitze
treibend, der Geschichte jeden Sinn aberkannte.'57 Da er die Glaubwürdigkeit der alten metaphysischen Systeme durch den Prozeß wissenschaftlichen Denkens zerstört sah, mußte ihm auch die Wertlegitimation suspekt
werden, die sich auf jene Traditionen berief. Er baute daher in seinen
Frühschriften an einem neuen Fundament, an einer Metaphysik des Ästhe-
tischen, das den Schein - die darin liegende Ironie war ihm bewußt -
als Rechtfertigungsgrund des menschlichen Daseins anerkannte. Nur als
ästhetische Erscheinung, so hieß es in der Geburt der Tragödie, seien Welt
und Leben ewig gerechtfertigt. Dem Kunsrwerk, dessen Formbestimmtheit eine eigene, nicht zweckgerichtete Sprache spricht, gestand Nietzsche
ein autonomes, unbedingtes Sein zu. Daher schien es ihm, vor allem in der
Wertbeständigkeit seiner Klassizität, als Gegenstand jener unhistorischen
226
Betrachtung geeignet, die am beispielgebenden Werk plastisch formender
Kräfte ihre eigene kulturerneuernde Produktivität entdeckt.
Die historische Betrachtung relativiert und betont das Einmalige, Unverwechselbare der individuellen Leistung. Ihr muß die besondere Tat, das
besondere Werk gleichnislos erscheinen. Das hat Herder bedacht, als er
Shakespeares Werk aus seinen historischen Bedingungen zu erklären such-
te. Freilich tat er das nicht, um es zu relativieren, sondern um über die
Relativierung der antiken Gegenstücke zu einem für die Moderne verbindlichen ästhetischen Werteparadigma zu gelangen. Diesen Modus historischer Reflexion überspringt die Gleichnisforderung Nietzsches. Sie will
die wirkende Kraft der kanonischen Werke vor der Neutralisierung durch
Begriffsarbeit bewahren,1'8 um, wie der Künsder, frei über das Tradier-
te verfügen zu können. Auf die hermeneutische Vorstellung vom SichEinfühlen ins Fremde, die der Historismus bis zum Extrem der Selbstauslöschung steigerte, antwortete er mit dem gewalttätigen Bild des Sich-
Einverleibens.
So verschieden beide Zugangsweisen sind, sie stehen doch im Dienst
einer gemeinsamen Sache, nämlich im Dienst der praktischen Erfahrung
und ihrer sinnlichen, die Lebenswelt kultivierenden Kräfte. Schon Herder
hat, wie später Nietzsche, ein der Erfahrung innewohnendes Vernunftsinteresse, eine Wahrheit des Empfindens, gegen den Übergriff wissenschaftlicher Denkmuster verteidigt. Gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlicher Luzidität, argumentierten beide gegen den Universalitätsanspruch einer Rationalität, die als wahr nur das anerkennt, was sich in den Begriffen
wissenschaftlichen bzw. logischen Denkens aussagen läßt. Aber erst Nietzsche erfuhr die Wissenschaft als eine konkrete Macht, die ihren Ursprung
aus Bedürfnissen der Praxis verleugnete, um dem Wahn zu verfallen, daß
nur die methodisch erworbene Kenntnis dem Leben nütze. Die Wissenschaften haben seitdem ihre Macht nur noch stärker befestigt, was dazu
führte, daß der autoritäre Spruch science knows best seine Geltung selbst
auf Belange der lebensweldichen Vernunft ausdehnen konnte.
In der modernen Auseinandersetzung um Reichweite und Triftigkeit
wissenschaftlichen Denkens fällt daher der historischen Betrachtung, an-
ders als zur Zeit Herders und Nietzsches, eine vor allem kritische Aufgabe zu. Die selbstkritische Historisierung von Theorien und Methoden entzieht dem Absolutheitsanspruch wissenschaftlichen Denkens den
Boden, und die Wissenschaftslogik kehrt hier und da zu Herders Einsicht zurück, daß Begriffe und Systeme in dem Maße dogmatisch werden, in dem sie ihren geschichtlichen Gehalt eliminieren.159 Die, wenn
ich recht sehe, zuerst in der Kunsttheorie formulierte Erkenntnis, daß die
227
wahre Theorie eines Gegenstandes mit dessen Geschichte zusammenfalle,
gewinnt Bedeutung auch für die mit andern als den in der Ästhetik geltenden Ansprüchen verbundenen Theorien systemischer Natur. Die Hoffnungen Herders und Nietzsches, vom Boden der Kunsttheorie und Kultur-
geschichte aus dem Machtzuwachs der Wissenschaften die Stirn bieten zu
können, haben sich freilich nicht erfüllt. Die Vorstellung, daß die Künste
einen lebensweklichen Sinn tradierten und in ihren Werken zur Umgestal-
tung der Wirklichkeit aufriefen, haben die Künste mit ihrer fortschreitenden Emanzipation von militärischen Normen selbst widerlegt. Was von
anerkannt ästhetischem Wert ist, das ist seit der Zeit Nietzsches durch
den Rückzug in künstliche Paradiese und auf Positionen der Verneinung
gekennzeichnet.160 Andres erschöpft sich in der Erfüllung solcher kompensatorischen Funktionen, wie sie von der populären Kunst aller Zeiten
erwartet wurden. Wertsetzende oder -rechtfertigende Leistungen von den
Künsten zu erwarten, würde nicht nur diese überfordern, sondern auch den
Blick von den tatsächlich wirksamen Medien der Weltveränderung ablenken. Es ist daher auch nicht damit getan, die Gefahren eines wissenschaftlichen Supremats über lebensweltliche Fragen mit ästhetischen Mitteln zu
bekämpfen.
Die Horizont-Umschränktheit des kulturellen Lebens, der sich nach Herder und Nietzsche die natürliche Triebkraft wirklichkeitsformender Werke
verdankt, ist längst jenem unbegrenzten Synkretismus gewichen, den beide als Entartung kritisierten. An diesem kulturellen Synkretismus sind
bezeichnenderweise weniger die Geschichtswissenschaften beteiligt als die
mit technischen Planungsmodellen operierenden Sozial- und Kommunikationswissenschaften. Sie sind es, die am unvermittelsten in die Substanz
der Lebenswelt entwickelter Gesellschaften eingreifen. Es überrascht daher
nicht, in wie hohem Maß die Erfahrungswerte der Moderne, die Daniel
Bell in diesen Gesellschaften ausmachen will, mit den Grundbegriffen der
genannten Wissenschaften übereinstimmen: das Interesse an der quantitativen Steigerung individuell verfügbarer sozialer Beziehungen und Informationen; das Interesse an immer weiter ausgreifenden, gewachsene Bindungen überwindenden Interaktionen; das Interesse an einer auf ummittelbarem Handeln, nicht auf Traditionen gründenden Identität; schließlich
das Verlangen nach Planbarkeit der Zukunft.161 Diesen Bestimmungen ist
eine relative Geschichtsferne gemeinsam. Wenn Beils Diagnose zutrifft,
so haben sie bereits die Macht kultureller Traditionen so weit geschwächt,
daß von einer Autokratie wissenschaftlichen Planungsdenkens über die vi-
talen Fragen des Alltags die Rede sein muß. Der Zerfall der kulturel-
len Gesprächswelt wäre dann freilich weder durch eine Renaissance des
228
Traditionalismus noch durch eine »Religion der Eingliederung« aufzuhalten, die das soziale Leben vom Universalismus wissenschaftlichen Denkens
»erlösen« soll.162
Daniel Beils Thesen zu prüfen, ist nicht Sache der vorliegenden Untersuchung.163 Indessen ist kaum zu bestreiten, daß der von ihm beschworene krisenerzeugende Gegensatz zwischen Technologie als konkreter Form
wissenschaftlichen Planungsdenkens und Kultur als Rechtfertigungsgrund
lebensweldicher Normen vor allem dort die Freiheit des Handelns gefährdet, wo er einseitig zugunsten der Wissenschaften überwunden werden soll.
Der von Herder wie Nietzsche beklagte Gegensatz zwischen Wissen und
Leben besitzt in der aktuellen Gegenwartsdiagnose eine andere, eine beunruhigende Qualität. Daher können die ästhedschen und geschichtsphilosophischen Lösungsvorschläge beider Denker heute nicht einmal mehr zur
tröstlichen Erbauung dienen. Dennoch sind sie erinnernswert, da beide
schon in früher Stunde die Muster für eine Wissenschaftskritik entwarfen,
die das Anrecht des Lebens auf unvorhersehbare und inkommensurable
Entwicklungen auf ihrer Seite hat. In ihrer Verteidigung der sinnlich-ästhetischen Erfahrung und deren wirklichkeitsordnender Kraft steht die Mahnung, in den Konstruktionen der Natur- und Kulturwissenschaften den
Anteil des Willkürlichen und Fiktiven nicht zu verkennen und die relative
Geltung ihrer Aussagen zu achten.
Anmerkungen
1 Zitierweise: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit,
in: Herders Sämmtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan, 5. Bd., Berlin 1891, S.475-
586; abgek. zit.: SW V, 475-586. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für
das Leben, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. K. Schlechta,
München 31962, 1. Bd., S. 209-285; abgek. zit.: I, 209-285. Andere Texte aus
den genannten Ausgaben werden mit Titel in entsprechender Weise abgekürzt,
andere Ausgaben mit ausführlichen Quellenangaben zitiert.
2 Auf Gemeinsamkeiten in sehr allgemeiner Bedeutung zwischen Herder und
Nietzsche weisen hin: A. Brodersen/W. Jablonski, Herder und Nietzsche oder Die
philosophische Einheit des Goethejahrhunderts, Trondheim 1935 (Det Kongelige
Norska Videnskabers Selkabs Skrifter 1934); D. Williams, Herder and Nietzsche,
in: Affinities. Essays in German and English Literature, ded. to the memory of
Oswald Wolff, ed. R. W. Last, London 1971, S. 256-270. G. Haeuptner zieht
Parallelen zwischen Sturm und Drang und frühem Nietzsche und deutet dessen
229
Werk pantheistisch: Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche. Versuch einer
immanenten Kritik der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung: »Vom Nutzen und
Nachteil det Historie für das Leben«, Stuttgart 1936. Eine knappe, aber anregende Diskussion der beiden geschichtstheoretischen Frühschriften findet sich bei
F. Rodi, Provokation — Affirmation. Das Dilemma des kritischen Humanismus,
Stuttgart etc. 1970. Nietzsche selbst hat Herder oft erwähnt und ihm in § 118 von
>Menschliches, Allzumenschliches< ein bescheidenes Denkmal gesetzt, das Herder
als »geistigen Vorkoster« porträtiert. — In der neueren Nietzsche-Forschung finden
sich zahlreiche Hinweise auf die semantischen Affinitäten in den Grundbegriffen
beider Denker; vgl. z. B. H. Schlüpmann, Friedrich Nietzsches ästhetische Opposition. Der Zusammenhang von Sprache, Natur und Kultur in seinen Schriften 1869-1876, Stuttgart, 1977, S.20fT. (zur Sprachphilosophie); F. Kaulbach,
Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, S. 49 ff. (zum
Kraftbegriff).
3 A. L. Schlözer, Vorstellung der Universalhistorie (1772), in: M. Asendorf
(Hrsg.), Aus der Aufklärung in die permanente Restauration. Geschichtswissenschaft in Deutschland, Hamburg 1974, S. 61.
4 Hier sei nur auf zwei Veröffentlichungen verwiesen, die in komprimierter Form
aktuelle Probleme wie die Vermittlung zwischen Forschung und Darstellung bzw.
zwischen Wissenschaftserkenntnis und lebensweltlichen Normen darlegen: Jürgen
Kocka, Gegenstandsbezogene Theorien in der Geschichtswissenschaft: Schwierigkeiten und Ergebnisse der Diskussion, in: Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion, hrsg. v. J. Kocka, Göttingen 1977
(Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3), S. 178—188. J. Rüsen, Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft. Skizze zum historischen Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion, in: Formen der Geschichtsschreibung, hrsg. v. R. Koselleck u. a., München 1982 (Beiträge zur Historik 4),
S. 14-35.
5 Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im
Widerstreit, Frankfurt 1976.
6 SWV, 557.
7 Menschliches, Allzumenschliches I, 1001
8 Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, München/Wien 1978, 1. Bd.,
S. 552
9 I, 187
10 Daher die Verwandtschaft des Genies mit dem antiken Heros. Wie dieser
setzt es mit seinen Werken eine neue Ordnung von imperativischer Wirkung.
11 Johann Gottfried Herder, Briefe, Gesamtausgabe 1763—1803, hrsg. v. den
Nationalen Forschungs- u. Gedenkstätten der klass. dt. Lit. in Weimar, 3. Bd.:
Mai 1773-Sept. 1776, bearb. v. W Dobbek u. G. Arnold, Weimar 1978, S.31.
Zu Herders Bückeburger Zeit: Wilhelm Dobbek, J. G. Herder in Bückeburg 1771
bis 1776, in: Schaumburg-Lippische Mitt. 20, 1969, S. 37-56.
230
12 Janz, Nietzsche 260.
13 Anfang August 1773, Briefe 35.
14 Anfang Nov. schreibt er an Hartknoch: »sonst ist mir, mit der Philosophie der
Geschichte auch wegen meines Hofes nicht recht lüstern zu Muthe.« Briefe 52.
15 Zum modifizierten Rousseauismus des einen vgl. H. Wolff, Der junge Herder und die Entwicklungsidee Rousseaus, in: PMLA 57, 1942, S. 753-819; zum
Anti-Rousseauismus des andern: Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist, Princeton 31968, S. 167 ff.
16 I, 280 bemerkt Nietzsche zur Perversion des Wissens: »Zerbröckelt und auseinandergefallen, im ganzen in ein Inneres und ein Äußeres halb mechanisch zerlegt, mit Begriffen wie mit Drachenzähnen übersät, Begriffsdrachen erzeugend,
dazu an der Krankheit der Worte leidend und ohne Vertrauen zu jeder eignen
Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist: als eine solche unlebendige und doch unheimlich regsame Begriffs- und Worte-Fabrik habe ich vielleicht noch das Recht, von mir zu sagen cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergo
cogito.« - Vgl. Herders anticartesianische Wendung »Ich fühle mich! Ich bin!«
in dem Entwurf Zum Sinn des Gefühls, veröff. v. H. D. Irmscher, Aus Herders
Nachlaß, in: Euphorion 54, 1960, S. 287
17 SWV, 544.
18 Geburt der Tragödie I, 25.
19 Zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel Natur von Heinrich Schipperges, in:
Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. O. Brunner et al., Bd.4, Stuttgart 1978,
S.215-244
20 H. B. Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, Cambridge
1970.
21 Kritische Wälder, SWIV, 181.
22 L'idee de nature en France dans la premiere moitie du XVIIIe siecle, 2 Bde.,
Paris 1963.
23 Die damit angedeutete Aufhebung des Gegensatzes zwischen Immanenz und
Transzendenz führt Cassirer auf Shaftesbury zurück, der die Welt als Kunstwerk
vorgestellt habe. Eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Nietzsche! Ernst
Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 31973, S. 112 ff.
24 Kants Werke, hrsg. v. A. Messer, Bd. 1, Berlin/Leipzig o. J., S. 110.
25 Schon mit Leibnizens Annäherung an eine »Philosophie des Organischen«
eröffnet sich die Denkmöglichkeit, die Beziehung zwischen Erscheinungsformen
und Wesen der Natur dynamisch zu fassen; vgl. Cassirer, Philosophie 110 f.
26 Beate Monika Dreike, Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch
Leibniz' Philosophie, Wiesbaden 1973 (Studia Leibnitiana SupplementaX).
27 Der »Prototyp« weist auf den einen Naturursprung aller Lebewesen hin; vgl.
Dreike, Herders Naturauffassung, 102.
231
28 Robert T. Clark jr., Herders Conception of »Kraft«, in: PMLA 57, 1942,
S. 737-752. Kraft ist Prinzip des Lebens und insofern für Herder kein abstrakter
Terminus, der nach einer einzigen Regel zu verwenden wäre; zur Polysemie des
Begriffs s. Nisbet, Herder and the Philosophy, 15 f.
29 Die Notwendigkeit der »genetischen Erklärung« hat Herder am Beispiel der
Dichtungsgeschichte folgendermaßen erläutert: »Nicht aber allein ergötzend, sondern auch nothwendig ist's, dem Ursprünge der Gegenstände nachzuspüren, die
man etwas vollständig verstehen will. Mit ihm entgeht uns offenbar ein Theil
der Geschichte, und wie sehr dienet die Geschichte zur Erklärung des Ganzen?
Und dazu der wichtigste Theil der Geschichte, aus welchem sich nachher Alles
herleitet; denn so wie der Baum aus der Wurzel, so muß der Fortgang und die
Blüthe einer Kunst aus ihrem Ursprünge sich herleiten lassen. Er enthält in sich
das ganze Wesen seines Produkts, so wie in dem Samenkorn die ganze Pflanze mit
allen ihren Theilen eingehüllet liegt; und ich werde unmöglich aus dem späteren
Zustande den Grad von Erläuterung nehmen können, der meine Erklärung genetisch macht.« Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst SW XXXII,
86 f.
30 Zur Entdeckung des Selbst und der damit verbundenen analogischen Weltbetrachtung in den Frühschriften vgl. Erdmann Waniek, Circle, Analogy and Con-
trast. On Herders Style of Thought in his Journal, in: J. G. Herder. Innovator
through the Ages, hrsg. v. W. Koepke, Bonn 1982 (Modem German Studies 10),
S. 64-84.
31 Ausführlich: Nisbet, Herder and the Philosophy passim.
32 Die Kräfte menschlichen Lebens wirken poetisch, bilderschaffend; daher die
große Bedeutung der sprachlichen Metapher für die vortheoretische, also erfah-
rungsunmittelbare Ordnung der Welt. Vgl. vor allem Über Bild, Dichtung und
Fabel SWXV, 525 ff. und über »Bildwörter«: Adrastea SW XXIII, 323. Herders
Geschichtsmetaphern in Auch eine Philosophie behandelt ausführlich Heinz Mey-
er, Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte XXV, 1981, S. 88-114; dort auch weitere Literaturangaben. Herders von Meyer diskutierte Korrektur der Lebensalter- durch die Baummetapher
enthält wohl auch eine Kritik an Iselin, der die großen Entwicklungsstadien der
Menschheitsgeschichte mit den Lebensstufen des Kindes (Sinnlichkeit), des Jüng-
lings (Einbildung) und des Mannes (Vernunft) in Übereinstimmung sah (Über
die Geschichte der Menschheit, Zürich 1768).
33 SWV, 502.
34 Alexander Demandt, Metaphern ftir Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 190 ff.
35 »Fühlen, Ein Wort finden, in seiner Fülle sich alles denken« heißt es SW V,
502. Herder bleibt stets der in der sprachphilosophischen Abhandlung von 1772
vertretenen Auffassung verpflichtet, wonach die sprachliche Imagination zwischen
Empfinden und Denken zu vermitteln hat, andernfalls bleibt das Wort toter Buchstabe.
232
36 1,314.
37 Dafür stehen Form und Denkbild des Zirkels in seinen Schriften; vgl. Ilse
Nina Bulhof, Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in
Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den Haag 1969.
38 01,271.
39 Die eher darwinistische Interpretationsperspektive der Frühschriften wird spä-
ter durch den »Willen zur Macht« ersetzt; dazu Kaufmann, Nietzsche, 178 f.;
246 f. In einer Nachlaßnotiz um 1872/73 heißt es: »Die entsetzliche Consequenz
des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte.« Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hrsg. v. G. Colli/M. Montinari,
München 1980, Bd. 7, S. 461; abgekürzt zit.: KS 7,461.
40 111,277.
41 Das Genie als Subjekt der Kulturgeschichte enrzieht diese freilich der Erklärbarkeit, wie sie Herder voraussetzt.
42 Geschichtliches Verstehen steht bei Herder durchaus im Dienst der Humanität. Daran hält auch noch die historische Bildung des 19. Jh. fest; nach Johann
Gustav Droysen ist es der »ethische Zug der Geschichte«, der alle sirtliche Bildung
zum »Ergebnis der geschichdichen Arbeit« macht. Historik, hrsg. v. R Hübner,
Darmstadt 1972, S. 301 ff. Nietzsche indes erklärt die von der Geschichte ererbten Irrtümer zum Wesen der Humanität: »Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist
das Resultat einer Menge von Irrtümern und Phantasien, welche in det gesamten
Enrwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, ineinander verwachsen sind und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als Schatz: denn der Wert unseres Menschentums ruht darauf.«
Menschliches, Allzumenschliches I, 458 f.
43 »im Spiegel des Genius«! Der griechische Staat, III, 280.
44 »Gedrückt und halb zerquetscht durch hochmütige Kasten, erbarmungslosen
Reichtum, durch Priester und schlechte Erziehung verderbt und vor sich selbst
durch lächerliche Sitten beschämt, ruft der Mensch in seiner Not die »heilige Na-
tur< an und fühlt plötzlich, daß sie von ihm so entfernt ist wie irgendein epikurischer Gott. Seine Gebete etreichen sie nicht: so tief ist er in das Chaos der
Unnatur versunken.« Schopenhauer als Erzieher, I, 315.
45 111,281.
46 111,291.
47 Für den Wissenden, heißt es in der Zweiten Unzeitgemäßen (I, 218), ist die
Macht der Geschichte »machtlos geworden: vielleicht noch nicht für ihn, den
Lebenden.« Später bemerkt er, daß die Wissenschaft »die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesendich zu btechen vermag.« Menschliches, Allzumenschliches, I, 459.
48 Vgl. zu deren Position Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart,
München 1971, S. 120 ff.
233
49 1,750.
50 In der Schlözer-Rezension von 1772: SWV, 438.
51 Wie jede Polemik übertreibt auch die Herders. So übergeht er souverän die
Bestrebungen der zeitgenössischen Theorien der Geschichte, die Autorität der rhetorischen narratio rerum gestarum durch Anerkennung der Geschichte als Form
der Erkenntnis zu überwinden. Zur Bedeutung dieser Diskussion für die Genese der Geschichtswissenschaften vgl. Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Historie und die Asthetisierung der Darstellung, in: Formen der Geschichtsschreibung a. a. O., S. 147—191.
52 »Von Orient bis Rom wars Stamm: jetzt gingen aus dem Stamme Aste und
Zweige; keiner an sich Stammvest, aber ausgebreiteter, luftiger, höher!« SW V,
528.
53 Das Disparate zum Ganzen zu verknüpfen und zugleich den genetischen Zusammenhang zu wahren, ist für Herder das Ideal einer Darstellung, die sich auf
praktisches Handeln anwenden läßt: »Wenns mir gelänge, die disparatesten Scenen zu binden, ohne sie zu verwirren — zu zeigen, wie sie sich aufeinander beziehen, aus einander erwachsen, sich in einander verlieren, alle im Einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken - welch ein Anblick! welch
edle Anwendung der Menschlichen Geschichte! welche Aufmunterung zu hoffen,
zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts, oder nicht alles sieht! - »SW V,
513. Wie eng das Thema der Abhandlung mit der populär-philosophischen Frage nach der Verbesserungsfähigkeit der Moralität zusammenhängt, das belegt die
Überschrift des frühesten Entwurfes: »Was für Tugenden oder Untugenden haben
die Menschen zu allen Zeiten beherrscht? und ist der Hang der Menschen mit der
Zeit verbeßert oder verschlimmert worden? oder sich immer gleich geblieben?«
SWV, 587.
54 Die fragmentarische Form kennzeichnet alle historischen Schriften Herders.
Sie gibt auf der Ebene der Form dem Unvermögen des menschlichen Geistes Ausdruck, das Ganze von einem außerhalb der Geschichte angesiedelten Gesichtspunkt aus zu überblicken. Analoges gilt für die Stilmischung: In ihr schlägt sich
die Disparatheit dessen nieder, was unter den einen Begriff der Geschichte subsumiert wird.
55 Enchir.5-
56 Ichzit. Luthers Übertragung von 1. Kor. 13; 12 f. Maria Bindschedler nimmt
diese Stelle in Anspruch, um auch Nietzsches Erkenntniszweifel zu illustrieren:
Nietzsche und die poetische Lüge, Basel 1954 (Philosoph. Forschungen N. F. 5),
S. 37.
57 »Widersprüche und Meereswogen: man scheitert, oder was man von Moralität und Philosophie aus dem Schiffbruche rettet, ist kaum der Rede werth.« SW
V, 512.
58 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I:
Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 32.
234
59 Das setzt voraus, daß der Sinn des Ganzen im Einzelnen zumindest »er-
scheint«. Die analogische Beziehung zwischen Einzelnem und Ganzem in der Geschichte wird von Herder selbst — auch wenn der Begriff fehlt — mit der Struktur
des Textes zusammengebracht: »Groß muß das Ganze seyn, wo in jeder Einzelnheit schon so ein Ganzes erscheint! in jeder Einzelnheit aber nur auch immer so
ein unbestimmtes Eins, allein aufs Ganze, sich offenbaret! Wo kleine Verbindungen schon großen Sinn geben, und doch Jahrhunderte nur Sylben, Nationen nur
Buchstaben, und vielleicht Interpunktionen sind, die an sich nichts, zum leichtern Sinne des Ganzen, aber so viel bedeuten!« SW V, 584. Die Bindung des
Ganzen an ein metaphysisches Subjekt (Gott, Vorsehung) interpretiert Panajotis
Kondylis als Denknotwendigkeit, um den ansonsten drohenden Relativismus zu
vermeiden: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 632 ff.
60 SWV, 482.
61 In der Frühschrift Wahrheiten aus Leibnitz schreibt er über den natürlichen
Grund gesellschaftlicher Moralität: »Gewohnheit, Erziehung, Tradition, Vernunft
tragen viel dazu bei, aber doch Grund in der Natur. — Ohne Vernunft zwar freilich nicht überzeugend; aber doch eine Empfindung, ein dunkles Gefühl einer
eingeborenen Wahrheit, ist, die aufgeklärt werden muß.« Für diese eingeborene
Wahrheit gebraucht er auch den bei Nietzsche so geläufigen Begriff des »Instinkts«
SW XXXII, 221 f.
62 SWV, 502.
63 Ebenda.
64 SWV, 503.
65 Die Dialektik von Ich und Anderem, so scheint es, war Herder bewußt, da
er in einem Fragment notierte: »Was in dem Herzen andrer von Uns lebt, ist unser wahrestes und tiefstes Selbst.« SWXXIX, 142; zit. nach Hans Unterreitmeier,
Sprache als Zugang zur Geschichte. Untersuchungen zu Herders geschichtsphilosophischer Methode, Bonn 1971, S. 70.
66 Zum philosophischen Hintergrund vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 623 f.
67 SWV, 509.
68 SW IV, 202. In der Sprache der damaligen Zeit: die »Zusammenfiigung der
Begebenheiten« zu einem kausal verknüpften Ganzen. Vgl. z. B. Johann Christoph Gatterer, Vom historischen Plan, in: Allgemeine historische Bibliothek 1.
Bd., Halle 1767.
69 SWIV,203.
70 Ebenda.
71 Kritische Wälder SW III, 455. Herder fordert hier vom Geschichtsschreiber eine »Sokratische(n) Manier«, die »nur meine Erinnerung wecket, und nicht
mir vorcharakterisirt, sondern mich aus vorgelegten Einzelnheiten den Charakter selbst finden lehtet«. Droysen hat diese Regel später erweitert; vgl. dazu D.
235
Harth, Die Geschichte ist ein Text. Vetsuch übet die Metamotphosen des historischen Diskutses, in: Koselleck u. a. (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung
a.a.O., S.469ff.
72 In einer Rezension von Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie, Göttingen/Gotha 1772. Im zweiten Teil seiner Vorstellung, die 1773 erschien, antwortete Schlözer mit großer Ausführlichkeit auf Herders Kritik.
73 Zur Tradition vgl. Frances A. Yates, The Art of Memory, London 1966.
74 SWV, 439.
75 SWXXI, 57.
76 SWV, 439.
77 SWVI,294.
78 Zur zentralen Bedeutung der Bild-Konzeption in Hetders Denken vgl. Ernst
Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Nachdr.
Darmstadt 1975; Unterreitmeier, Sprache als Zugang, 73 ff.
79 Uebers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele, SW VIII, 291.
80 Dabei bleibt die Sprache freilich stets hintet der Erfahrung selbst zurück:
»wenn man das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und Länder übersehen, in einen
Blick, ein Gefühl, ein Wort faßen soll! Mattes halbes Schattenbild von Worte!«
SWV, 502.
81 Ich verwende hier bewußt den Begriff Nietzsches, um die Verwandtschaft beider Denker in der Auffassung einer der Begriffssprache entgegengesetzten poietischen Sprache anzudeuten.
82 SW V, 505. Der Begriff des »allgemeinen Bildes« richtet sich wohl gegen
jenen »philosophischen Blick«, mit dem viele Zeitgenossen die Mannigfaltigkeit
historischer Einzelheiten ins »System« einer schlußfolgernden Geschichte zu über-
setzen suchten. - Unterreitmeier weist auf das Anti-Cartesianische in Herders
Bild-Theorie hin und bemerkt, daß nur im Schein des Bildes die Einheit von sub-
jektivem Erkenntnisakt und objektiver Seinsbestimmung gegeben ist (Sprache als
Zugang, 76 f.). Auch in diesem Punkt frappiert die Nähe Herders zu Nietzsche,
der die wahrgenommene und erkannte Welt nur als Erscheinung, also ästhetisch,
anerkannte.
83 SWV, 504f.
84 Im Original lautet der Satz: »Das Licht konnte nur eins, den ganzen dunkeln
Abgrund der Welt zum Bilde machen, dem Auge alles veräugen...« SW VIII, 190.
85 Deshalb ist die moderne Geschichte »Schauplatz der Gottheit, wenngleich nur
durch Öffnungen und Trümmern einzelner Szenen« gesehen. SW V, 513.
86 SWV, 243.
87 SWV, 225.
88 Shakespeare »fand keinen so einfachen Volks- und Vaterlandscharakter, sondern ein Vielfaches von Ständen, Lebensarten, Gesinnungen, Völkern und Sprach-
236
arten... Er fand keinen so einfachen Geist der Geschichte, der Fabel, der Handlung. Er nahm Geschichte, wie er sie fand, und setzte mit Schöpfergeist das verschiedenartigste Zeug zu einem Wunderganzen zusammen ...« SW V, 218 f.
89 SW V, 219. Der Begriff »Eräugniß« erinnert in seiner altertümlichen
Schreibweise noch an das >Eräugen<, das Wahrnehmen eines unmittelbar vor Augen liegenden Geschehens. An diese Bedeutung scheint Nietzsche zu denken,
wenn er bemerkt: »Es ist ein wahres Unglück für die Ästhetik gewesen, daß man
das Wort Drama immer mit >Handlung< übersetzt hat. ... Das Wort Drama ist
dorischer Herkunft: und nach dorischem Sprachgebrauch bedeutet es >Ereignis<,
>Geschichte<, beide Worte in hieratischem Sinne. Das älteste Drama stellte die
Ortslegende dar, die >heilige Geschieht», auf der die Gründung des Kultus ruhte
(-also kein Tun, sondern ein Geschehen: heißt im Dorischen gar nicht >tun<).«
Der Fall Wagner, II, 921 (Anm.). Jähnig (Welt-Geschichte, 233), der die Stelle mit einem sinnentstellenden Druckfehler (statt hieratisch: hierarchisch) zitiert,
weist auf ähnliche Gedanken im Vortrag Das griechische Musiktheater von 1870
hin. - Herder wie Nietzsche stellten die dramatische über die erzählende Ereignisdarstellung, weil sich im Drama keine vermittelnde Erzählerperspektive zwischen
Wirklichkeit und Rezipient schiebt und die Präsenz des Geschehens (Nietzsche:
des Pathos) unter die Zeitform des Gewesenen zwingt.
90 Zur dichtungstheoretischen und kunsthistorischen Relevanz dieser Verschiebung vgl. Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne
in der Ästhetik der Goethezeit, hrsg. v. S. Metz/H.-H. Hildebrandt, Frankfurt a.
M. 1974, S. 47-82.
91 Den Begriff des »Vereinigungsdenkens« entnehme ich Kondylis, Die Aufklärung 615 ff.
92 SWV.514.
93 SWV, 231.
94 Insofern ist das in der Kulturgeschichte wirkende Allgemeine keine logische
Kategorie, sondern steht der psychologischen Wirkung nahe, die das individuelle
Empfingen (Ich) zum allgemeinen Naturgefuhl der Gattung (Selbst) umwandelt:
»Je reiner und edler etwas in unsrer Natur ist, desto mehr gehets aus sich heraus,
entsaget seinen engen Schranken, wird mittheilend, unendlich, ewig.« SW XVI,
37; zit. nach H. D. Irmscher, Herder über das Verhältnis des Autors zum Publikum, in: Bückeburger Gespräche über J. G. Herder 1975, hrsg. v. J. G. Maltusch,
Rinteln 1976 (Schaumburger Studien 37), S. 132. Die Hingabe ans Allgemeine
der »Communicabilität« ist das notwendige Korrelat zur Horizontbeschränktheit
des konkreten Lebens. Über die korrelative Beziehung zwischen theoretischem
Allgemeinem und lebenspraktischem Besonderem belehrt auch Herders Einsicht
in die Genese der theoretischen Neugier aus dem Trieb der Selbsterhaltung: »Da
sie (die Neugierde) eine Mutter der Philosophie geworden, so pflegen ihre Söhne
ihr auch sehr das Wort zu reden. Sie nennen sie die erste, einfachste, wirksamste
Bewegung, ja sogar den Grund alles Vergnügens. Unbestimmt zu reden, haben
sie recht, aber eigendich ist sie nicht der erste Grundtrieb, sondern der Instinkt
der Selbsterhaltung ist ihr Vater: sie ist ein zusammengesetzter Trieb von Selbster237
haltung und Beschützung«. Problem: wie die Philosophie zum Besten des Volkes
aligemeiner und nützlicher werden kann, SW XXXII, 64.
95 »Ich betrachte sein (Berkleys) System, wie das System des Spinoza, Fenelon,
Leibniz, Des-Cartes als Fiktion, als Dichtung (welch System ist etwas anders? und
sollte als etwas anders betrachtet werden?) ...« SW V, 461.
96 Auf die Nähe dieser Konzeption zum Symbolbegriff der Klassik weist Doris
Starr hin: Über den Begriff des Symbols in der deutschen Klassik und Romantik,
unter besonderer Berücksichtigung von Friedrich Schlegel, Reudingen 1964.
97 Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften, SW XXXII, 180.
98 Abzulesen an der zunehmenden Bedeutung der Bewegungsbegriffe im Kontext des modernen Geschichtsdenkens; vgl. dazu den Artikel Geschichte, Historie,
in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. O. Brunner u. a„ Bd. 2, Stuttgart 1975,
bes. S. 647 ff.
99 Rudolf Stadelmann, Der historische Sinn bei Herder, Halle/Saale 1928, S.
68 ff.
100 SW XXXII, 200. Auch der sensus communis modifiziert sich je nach den
besonderen Lebensumständen: »Sehe ich denn nicht, daß eine Nation ihren sens
commun, >das schnelle Gefühl zu fassen« blos noch Proportion ihrer Ausbildung,
blos in ihrer Welt habe?« SW IV, 35.
101 Die Metapher des Horizonts schließt auch die des Standorts, des Gesichtspunkts und die der Perspektive ein. Die Perspektive in der Geschichtsschreibung
hat die Form der optischen Wahrnehmung: »aus meinem Gesichtspunkt nach
meinem Auge (sehe ich) nur eine Fläche und Seite, und in solcher zeichne ich den
an sich vielseitigen Körper projektiert hin, d. h. ich schreibe nur Geschichte, wie
sie mir erscheint, wie ich sie weiß.« SW VIII, 466 (Anm.), zit. nach Stadelmann,
Der historische Sinn 20 f.
102 I, 282. Zur positiven Bedeutung der Horizontmetapher: »Und dies ist ein
allgemeines Gesetz; jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund,
stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend, einen Horizont um sich zu ziehn,
und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschließen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin.« I,
214. - Später entwirft Nietzsche die Vision eines Menschen, der einen Horizont
»von Jahrtausenden vor sich und hinter sich« hat; zit. nach Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 31950, S. 244.
Das muß kein Widerspruch sein, da Nietzsche schon in den Frühschriften die
Vorstellungen der Horizont-Enge und der Horizont-Ausdehnung aufeinander bezieht; und zwar in den Begriffen des Vergessens und des Erinnerns, die beide (siehe
unten) wie Ein- und Ausatmen zum menschlichen Leben gehören.
103 Von Nietzsche in Die Geburt der Tragödie (I, 23) zitiert: »Wie auf dem tobenden Meere, da, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wellenberge erhebt und
senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so
sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und
vertrauend auf das prinicipium individuationis.«
238
104 1,285.
105 1,230.
106 Wie eng Mythos und Kunst und eine künftige Erlösung von der Geschichte
zusammenstehen, deutet ein Schema aus den Nachlaßaufzeichnungen von 1871
an:
»Tendenz und Mythus.
Der Sokratismus bezwingt den Mythus.
Doppelter Gebrauch des Mythus. Beispiel:—
Die bildende Kunst geht an dem Gedanken zu Grunde.
Feindschaft des Christenthums gegen die Kunst: es hält sie
in den Schranken des Symbols.
Endlich siegt die Kunst: die historischen Thatsachen werden
in freies Mythenwesen aufgelöst, mit ewigem Weiterleben derselben Kräfte. Damit ist aber das Christenthum
überwunden und giebt keinen Halt mehr. Also umgekehrt wie bei den Griechen, eist 2, dann 1.« KS 7, 296.
107 »Du kannst, Sokrates unsrer Zeit! nicht mehr, wie Sokrates würken: denn dir
fehlt der kleine, enge, starkregsame, zusammengedrängte Schauplatz! die Einfalt
der Zeiten, Sitten und des Nationalcharakters! die Bestimmtheit deiner Sphäre!«
Mit einem Wort: die Horizontbeschränkung und das mit ihr gegebene überschaubare, einfühlsame >Publikum<. Daher: »Welt und Nachwelt ist dein Athen! rede!«
SWV, 568.
108 Belege bei Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, S. 45 f.
109 Diese von Nietzsche auch als »dichterische« und »mythenbildende« begriffene Kraft bringt Werke hervor, die als sinngebende Instanzen geeignet sind, da
sie, ohne sich vom Leben abzuwenden, dessen Vergänglichkeit Trotz bieten. Vgl.
auch Kaulbach, Nietzsches Idee, S. 52 f.
110 1,213 f.
111 »Die Geschichte soll Exemplifikationen der philosophischen Wahrheiten geben, aber nicht Allegorien, sondern Mythen.« zit. nach Manfred Kaempfert, Säkularisation und neue Heiligkeit. Religiöse und religionsbezogene Sprache bei Friedrich Nietzsche, Berlin 1971 (Philolog. Studien u. Quellen 61), S. 431.
112 Zum Funktionswandel dieses Topos vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zu-
kunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 38-66.
113 Dieter Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von
Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, Köln 1975, S. 71 f.
114 Diese Kriterien sind es, die überhaupt wissenschaftlichem Denken und Handeln einen Sinn geben; vgl. Jaspers, Nietzsche, S. 177 f.
115 111,343.
116 Giorgio Colli mißversteht Nietzsche, wenn er allein den Gegensatz zwischen
Erinnern und Vergessen betont (Distanz und Erinnerung, Frankfurt/M. 1982,
239
S. 40 f.). Schon Jaspers (Nietzsche 243) hat den Widerspruch als nur scheinbaren
erkannt.
117 Noch Droysen schreibt 1843: »Die höchste Aufgabe unserer Wissenschaft
ist ja die Theodicee.« Historik, hrsg. v. Hübner, S. 371.
118 Historie, so moniert Nietzsche, sei »immer noch eine verkappte Theologie«,
und Wissenschaft die neue Religion: I, 260.
119 1,223.
120 In einer Vom Ursprung der Sprache überschriebenen Aufzeichnung von 1969/
70 rückt der »Instinkt« an die Stelle des dem Schein entgegengesetzten Wesens, das
später die Gestalt des Dionysischen annimmt: »Instinkt aber ist nicht Resultat bewusster Ueberlegung, nicht blosse Folge der körperlichen Organisation, nicht Resultat eines Mechanismus, der in das Gehirn gelegt ist, nicht Wirkung eines dem
Geiste von aussen kommenden, seinem Wesen fremden Mechanismus, sondern eigenste Leistung des Individuums oder einer Masse, dem Charakter entspringend.
Der Instinkt ist sogar eins mit dem innersten Kern eines Wesens.« Das »Wesen
des Instinktes« bestimmt er mit Kants Begriffen als etwas, das »zweckmässig sei
ohne ein Bewußtsein«. Nietzsches Werke Bd. XIX, hrsg. v. O. Crusius/W. Nestle,
Leipzig 1913, S. 385 ff.
121 Ausdrücklich wendet er sich »zum Schluß an jene Gesellschaft der Hoffen-
den, um ihnen den Gang und Verlauf ihrer Heilung, ihrer Errettung von der
historischen Krankheit und damit ihre eigene Geschichte bis zu dem Zeitpunkt
durch ein Gleichnis zu erzählen, wo sie wieder gesund genug sein werden, von
neuem Historie zu treiben und sich der Vergangenheit unter der Herrschaft des
Lebens in jenem dreifachen Sinne, nämlich monumental oder antiquarisch oder
kritisch, zu bedienen.« I, 283.
122 »Was Nietzsche dem Selbstverständnis der Antike nicht abgenommen hat, ist
die Verbindung von Erkenntnis und Eudämonie. Er nennt es sein Glaubensbekenntnis<, daß jede tiefere Erkenntnis schrecklich ist.« Hans Blumenberg, Arbeit
am Mythos, Frankfurt/M. 1979, S. 658 f.
123 1,223.
124 I, 230. Als zweite Natur ist die Kultur ein Produkt der Menschen, deren
Schaffensdrang zum Kampf um die Entzauberung der Götter wird: »Der Mensch,
ins Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine Kultur und zwingt die
Götter, sich mit ihm zu verbinden, weil er in seiner selbsteigenen Weisheit die
Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat.« I, 57.
125 Mit den Gaben des »Hindurchfuhlen(s) und Herausahnen(s)«, des »raschen
Verstehen(s)« ausgestattet, »stand Goethe vor dem Denkmale Erwins von Steinbach; in dem Sturme seiner Empfindung zerriß der historische, zwischen ihnen
ausgebreitete Wolkenschleier: er sah das deutsche Werk zum ersten Male wieder,
>wirkend aus starker rauher deutscher Seele<.« I, 226.
126 Aus dem Vorwort zur Historischen Zeitschrift von 1859, zit. nach Geschichte und Geschichtsschreibung. Möglichkeiten, Aufgaben, Methoden. Texte von
Voltaire bis zur Gegenwart, hrsg. v. Fritz Stern, München 1966, S. 176.
240
127 Unter dem Titel Das Finden des Materials empfiehlt Droysen dem Historiker
u. a.: »Endlich die Hypothese, die Voraussetzung eines Zusammenhangs, für den
dann die Evidenz der Beweis ist. Solche Hypothese ergibt sich dem Forschenden aus einer freien und großen Gesamtauffassung, aus der heraus er den Kreis
der Möglichkeiten oder den einer erklärenden Möglichkeit entwickelt und dann
versucht, ob die Fragmente, die noch vorhanden sind, in diese hypothetische Linie sich einfugen. Die Grundlage ist, daß die Dinge, weil sie einmal waren und
wirkten, einen Sinn haben mußten, und daß man nach diesem ihr Werden und
ihren Verlauf sich vorstellt, nicht um der Phantasie damit zu genügen, sondern
um daraus den verlorenen Zusammenhang wiederzufinden.« Historik a. a. O., 88.
128 »Der Ursprung der historischen Bildung - und ihres innerlich ganz und gar
radikalen Widerspruches gegen den Geist einer >neuen Zeit<, eines >modernen Be-
wußtseins< — dieser Ursprung muß selbst wieder historisch erkannt werden, die
Historie muß das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muß seinen
Stachel gegen sich selbst kehren...«I, 261.
129 Ende 1870 notiert Nietzsche: »Daß alle Erscheinung materiell ist, ist klar:
deshalb habe die Naturwissenschaft ein völlig berechtigtes Ziel. Denn Materie sein
heißt Erscheinung sein. Zugleich aber ergiebt sich, daß die Naturwissenschaft nur
hinter dem Scheine her ist: den sie höchst ernsthaft als Realität behandelt.« KS 7,
130 f.
130 1,283 f.
131 »Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen,« heißt es
über die Tragödienschrift in der Selbstkritik von 1886, »welche alle hart an der
Schwelle des Mitteilbaren lagen, hingestellt auf den Boden der Kunst - denn das
Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt
werden. ..«1,10. 1870 notierte er: »Einzige Möglichkeit des Lebens: in der Kunst.
Sonst Abwendung vom Leben. Völlige Vernichtung der Illusion ist der Trieb der
Wissenschaften: es würde Quietismus folgen — wäre nicht die Kunst.« KS 7, 76.
132 1,31.
133 Das gilt vor allem für die Verbindung von Dichtung und Musik. Eine Notiz
von 1872/73 lautet: »Die Musik als Supplement der Sprache: viele Reize, und
ganze Reizzustände, die die Sprache nicht darstellen kann, giebt die Musik wieder.« KS 7, 465. Wortsprache allein bleibt an die Oberfläche der Erscheinungen,
an die symbolische Repräsentationsfunktion gebunden. Musik ist - und dafür
kann Nietzsche sich auf Schopenhauer und auf Wagners Beethoven-Essay von
1870 berufen — kein Medium der Repräsentation für ein ihr Äußerliches, sondern
sie ist sie selbst an und für sich, Wesen und Erscheinung in einem. Belege bei
Michael Silk/Joseph P. Stern, Nietzsche on Tragedy, Cambridge 1981.
134 KS7, 670 f.
135 1,23.
136 I, 25. Zur Tradition dieses auf Mythengestalten zurückgreifenden Vermittlungsdenkens vgl. Silk/Stern a. a. O., S. 209 ff.
241
137 KS 7, 163.
138 KS7, 166.
139 Ebenda.
140 KS7, 166 f.
141 KS7, 197.
142 »Wir können uns die Dinge nicht denken, wie sie sind, weil wir sie eben
nicht denken dürften.« KS 7, 464.
143 Daher bleibt die Wahrheit der Sprache hinter der Realität der Musik zurück:
»die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, kann nie und nirgends
das tiefste Innere der Musik nach außen kehren, sondern bleibt immer, sobald
sie sich auf Nachahmung der Musik einläßt, nur in einer äußerlichen Berührung
mit der Musik«. I, 44. Auf der andern Seite steht das Sprechen nicht nur unter
der Macht eines Allgemeinen (der Grammatik), sondern erlaubt zugleich auch die
individuelle Artikulation (der poetischen Gleichnis- und Bilderrede). Vgl. Josef
Simon, Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulati-
ven Satzgrammatik der metaphysischen Tradition, in: Jörg Salaquarda, Nietzsche,
Darmstadt 1980 (Wege der Forschung 521), S. 185-218.
144 Daß Nietzsche mit dieset Auffassung eine ältere geschichtstheologische Tra-
dition fortsetzt, legt die folgende Äußerung Hamanns nahe: »alle endliche Geschöpfe sind nur im Stande, die Wahrheit und das Wesen der Dinge in Gleichnissen zu sehen.« Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke Bd.l., hrsg. v. J. Nadler,
Wien 1949, S. 112.
145 KS7, 199.
146 Jähnig, Welt-Geschichte, S. 122 ff.
147 Im Frühjahr 1873 hat sich Nietzsche, wie zahlreiche Nachlaßfragmente belegen, ausfuhrlich mit dem Zeitproblem beschäftigt. Er bestreitet vor sich selbst
die Vorstellung temporaler Kontinuität und bemerkt: »Die Zeit ist aber gar kein
continuum, sondern es giebt nur total verschiedene Zeitpunkte, keine Linie.« Daraus schließt er auf eine »Zeitatomistik«, nach der die Beziehungen zwischen den
einzelnen Zeitmomenten selbst nicht zeitlich, sondern aus Kräftewirkungen zu erklären sind: »die Zeitatomistik fällt endlich zusammen mit einer Empfindungsleh-
re. Der dynamische Zeitpunkt ist identisch mit dem Empfindungspunkt. Denn
es giebt keine Gleichzeitigkeit der Empfindung.« KS 7, 579. Mit der Anbindung
der Zeit an die psychische Realität (der Empfindung) ist der Grund dafür gelegt,
daß in die Leere der bloß gemessenen Zeit gelebte Erfahrung einströmen kann.
148 Wie dem Mythos, so räumt er auch dieser Form die Fähigkeit ein, die relativierende Kraft der Zeit aufzuheben: Nach dem »Untergang des Mythus« waren »die Griechen unwillkürlich genötigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die
nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen mußte. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich ebenso der
Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe
242
zu finden. Und gerade nur so viel ist ein Volk - wie übrigens auch ein Mensch wert, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn
damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewußte innerliche Überzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. metaphysischen
Bedeutung des Lebens.« I, 127.
149 KS7, 670.
150 Nietzsche verwirft die interpretierende, die Intentionalität zweckgerichteten
Handelns einschließende Erzählung: »Aber wir fordern gar keine Erzählungen
vom Weltprocess, weil wir es für Schwindel halten, davon zu reden. Dass mein
Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar:
dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas andres. Aber ein Staat hat keinen
Zweck: sondern nur wir geben ihm diesen oder jenen.« zit. nach Müller-Lauter
52, A. 103.
151 Zur fundierenden Rolle der Kunst in Nietzsches Denken vgl. Walter Schulz,
Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie, in: Nietzsche-Studien 12,
1983, S. 1-31
152 Die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, in Kunst umzuschlagen, verweist auf etwas Unlogisches in jener, auf die für Nietzsche unbestrittene Tatsache,
»daß der Intellekt nur ein Organ des Willens ist.« KS 7, 183 (1870/71).
153 Vgl. damit Herders Ausruf: »In allem, was der Mensch thut, und denket welche Schöpfersgabe! welche Nachahmung der Gottheit! Immer mit Plan und
Absicht handelnd! aus dem Vergangenen Zukunft erfindend!« Aelteste Urkunde
des Menschengeschlechts, SW VI, 250.
154 I, 250. Nur so wird Geschichte zur »Sinngebung des Sinnlosen«, wie ein
Buchtitel Theodor Lessings von 1919 diese Ansicht Nietzsches zusammenfaßt.
155 I, 281. Zur Überwindung des »Überhistorischen« in der späteren Metaphysik-Kritik Nietzsches vgl. Müller-Lauter 48.
156 Damit soll Herder nicht (im Sinne älterer Auffassungen) zum Vater des Historismus gemacht werden. Erich Hassinger hat in einer Studie Zur Genesis von
Herders Historismus versucht, eine starke Abhängigkeit von Saint-Evremond zu
belegen (DVjs 53, 1979, S. 251-274). Über historistische Ansätze bei Herders
Zeitgenossen informiert Peter H. Reill, The German Enlightenment and the Rise
of Historicism, Berkeley etc. 1975.
157 Vgl. Kaufmann, Nietzsche, S. 121 ff.
158 Die Neigung Nietzsches zum Kanonischen, Klassischen nimmt in den späte-
ren Werkphasen noch zu; vgl. die Bemerkungen zu Nietzsche und Goethe bei
Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, S. 56-63.
159 Ich beziehe mich auf die sog. diachronischen Wissenschaftstheorien wie
sie etwa der Reader Theorien der Wissenschaftsgeschichte (hrsg. v. Werner Diede-
rich, Frankfurt/M. 1974) dokumentiert, sowie auf die maßgebenden Arbeiten
von Thomas S. Kuhn (The Structure of Scientific Revolutions, 1962) und Imre
Lakatos (History of Science and its Rational Reconstructions, 1971).
243
160 »Die Kunst ist freilich keine Lehrerin und Erzieherin für das unmittelbare
praktische Handeln; der Künstler ist nie in diesem Verstände ein Erzieher und
Ratgeber«. Richard Wagner in Bayreuth, I, 385.
161 Bell, Die Zukunft, S. 112 S.
162 Bell, Die Zukunft, S. 204.
163 Ansätze zu einer Kritik enthält Paul Feyerabends Essay Erkenntnis für freie
Menschen (Frankfurt/M. 1980), der mit polemischer und politischer Absicht den
wissenschaftlichen Rationalitätspostulaten den Wert gewachsener Traditionen für
solche Erkenntnisse entgegenhält, die vom Konsens der Lebensbedürfnisse und
der freien Entscheidung ausgehen.
244
Kulturelle Ressourcen
historiographischen Erzählens.
Eine Skizzensammlung
Geschichte schreiben heißt also Geschichte
zitieren.
Walter Benjamin*
Der Rahmen
Nach dem linguistic turn hat sich hier und da auch in der Geschichtswissenschaft, die bekanntlich gewaltige Textmassen bewegen muß, die Aufmerk-
samkeit den sprachlich-literarischen Produktionsbedingungen der Geschichtsbücher zugewandt. Früher, das heißt in den ersten Blütezeiten
des Historismus, hießen die Hauptstraßen in dieser Wissensprovinz »Forschen« und »Darstellen«, und man hielt sich wie selbstverständlich - wenn
auch widerwillig - an rhetorische Verkehrsregeln. Heute rekonstruieren erkenntniskritische Analysten die epistemologischen und/oder ideologischen
Tiefenstrukturen der in dieser Tradition verorteten Geschichtsbücher mit
den Mitteln der Sprach- und Literaturbeschreibung. Die dem zugrundeliegende archäologische Neugier sucht die Art und Weise aufzudecken, nach
der die historiographischen Klassiker ihre Geschichtsbilder ausgemalt haben. Ihr Interesse gilt weniger dem, was einst unter anderen Bedingungen »historische Wahrheit« hieß. Denn die Voraussetzungen dieser Wahrheit und ihrer Relativität liegen - so lautet die neue Wahrheit der linguistisch und diskurstheoretisch geschulten Relativisten - in den sprachlichen
Usancen und formalen Verfahren der Textproduktion, kurz: in der >Poetik< bzw. >Rhetorik< des Schreibens und der damit verbundenen schriftlichkulturellen Verfahren: von der sog. Quellenkritik und konstitutiven Bildlichkeit der Texte bis zur philologisch-hermeneutischen Parallelstellenmethode und narrativen Kohärenzbildung.2 Geschichte ist demnach nichts
anderes als ein hybrides Konglomerat von Texten, will sagen: das Produkt
einer weitläufigen, schriftzentrierten Sprachhandlung namens >historiographisches Erzählern.
Erzählungen - mündliche und schriftliche, fiktive und historische -
werden vom Forscherverstand gern auf formale und kommunikative Kon245
stanten zurechtgestutzt.3 Der Zuhörer aber erinnert sich des Erzählten mitsamt der besonderen Umstände: Ort, Zeit, Publikum, Gestik des Erzählers
usw. Schreibt er später die Geschichte auf, so wird er den Erzähler zitieren
und in der Regel zugleich erfindungsreich die Lücken schließen, die dieser
oder das eigene schlechte Gedächtnis verschuldet hat. Ob er die Situation
des Erzählens und die Haltung des Erzählers beschreibt, das ist eine Frage
der Zweckmäßigkeit, der Schreiberintention oder auch der institutionalisierten Normen, denen er folgen will bzw. muß. Auf jeden Fall wird der
Schreiber im Akt der erinnernden Niederschrift zu einem Doppelgänger
des Erzählers und Berichterstatters, der seinem Urbild allerdings an Ähnlichkeit so wenig zu entsprechen vermag wie die Zeichnung des Illustrators
der im Epos erzählten Ankunft des Odysseus nach langem Irren im eigenen Heim. Die Erinnerung ist zu undiszipliniert, um sich sklavisch an das
halten zu wollen, was im Augenblick des Geschehens wirklich vorgefallen
ist. Im Medium des Erzählens entfaltet sie ihre eigentümlich selektiven,
evaluativen und kommunikativen Kräfte, Kräfte, denen die Faktizität des
Stofflichen nicht gewachsen ist.
Es gibt eine analoge Beziehung zwischen Erinnern und Erzählen. Denn
jede schriftlich verfaßte Erzählung schießt in dem Maß über das Erzählte
hinaus, mit dem der Leseakt sie an beliebigen Stellen ins Netz der Intertexte, das dem literarischen Gedächtnis entspricht, einfädelt. Diesem Textualitätseffekt öffnen sich die folgenden Skizzen. Sie suchen nach dem Alten
im Neuen, nach den verdeckten und offenen Erblasten der Rhetorik und
der mit dieser verwandten Poetik im Feld der Historiographie.*
Mischtechnik: Ranke und Dublin
Die klassische Rhetorik als das Organon der zugleich erzählenden und argumentierenden Prosa hat schon immer die Abhängigkeit des Handelns
von Umständen, Meinungen, kontingenten Ereignissen und unberechenbaren Widerfahrnissen bedacht. Was die Historiker erzählen, das ist gewissermaßen der Erfahrungsbeweis für die Bedürftigkeit der Handelnden, im
Rede-Agon das Rechte zu ermitteln. Die Geltung des Prinzips vom unzureichenden Grund erstreckt sich daher gleichermaßen auf Historiographie
und Rhetorik. Was geschehen ist {res gestae), galt der Schulrhetorik von
jeher als Demonstrationsmaterial für die Fülle und Unberechenbarkeit des
Handelns. Erst im Verein mit dem argumentierenden Für und Wider der
forensischen Befragung werden aus Ereignissen Fälle, an denen die Reichweite der geltenden Regeln, Normen, Gesetze zu messen und ggfs. zu kor-
246
rigieren ist. Die »Kunde« (histories apodexis), die Herodot über Gegner und
Fremde einholte und phantasievoll schreibend wie redend weitergab, war
ein öffentlichkeitswirksames Argument, mit dessen Hilfe den Schwächen
und Stärken der Eigenkultur tiefenscharfe Bildqualitäten verschafft werden
konnten.
Poetische Verfahren gehen großzügig mit der Erinnerung um. Sie erteilen dem Erzähler, der sich vom Autor unterscheiden darf, die Freiheit, die
Spuren der Vorgänger zu verwischen und nurmehr das Stoffliche der fremden Erzählung in einer von allen Schlacken des Konventionellen gereinigten Form und scheinhaften Optik zu präsentieren. Die modernen wissenschaftlichen Verfahren verlangen vom Erzähler-Autor, er möge Herkunft,
Glaubwürdigkeit und Erkenntniswert seiner »Quelle« prüfen und dies -
sei es im Text, sei es im Anhang - in nachvollziehbarer Weise re-präsentieren. Nicht nur der daraus entstehende Apparat«, auch der Berichtstil des
Erzähler-Autors kann die zeitliche Distanz zwischen vergangenen Ereignishandlungen und gegenwärtiger Ereignisrede signalisieren. Die Erzählrede
bringt erst auf solche Weise zur Sprache, was wir das Historische nennen.
»Will man sich einen Begriff von der Persönlichkeit Wallensteins verschaffen,« so beginnt eine berühmte historisch-wissenschaftliche Erzählung
aus dem Jahre 1869, »wie sie in den ersten Mannesjahren erschien, in denen jeder seine Stellung zu ergreifen pflegt, unmittelbar an der Schwelle des
praktisch-tätigen Lebens, so liegt dafür ein sehr phantastisches Dokument
vor, dessen man sich aber doch bedienen mag.«5 Sich >Begriffe verschaffen« und eines >Dokuments bedienen«: Das sind performative Formeln, die
den Abstand zwischen Sach-Verhalt und erzählender Sach-Bearbeitung ansagen.
Die poetische Erzählung hingegen ist lizensiert, solche umständlichen
Distanzierungen wegzulassen, um jene epische Unmittelbarkeit zu beschwören, die auch vom Leser als ein Angebot wahrgenommen wird, den
Modus des Möglichen gegen die Faktizität des Wirklichen einzuklagen.
»Nachdem die Böhmen besiegt waren«, so beginnt eine 50 Jahre später,
also während des Ersten Weltkriegs entstandene geschichtsskeptische Er-
zählung, »war niemand darüber so froh wie der Kaiser. Noch niemals
hatte er mit rascheren Zähnen hinter den Fasanen gesessen, waren seine
fältchenumrahmten Auglein so lüstern zwischen Kredenz und Teller, Teller Kredenz gewandert. Wäre es möglich gewesen neben dem schweren
kopfhängerischen Büffel zu seiner Linken, dem grauen Fürsten von Caraffa, Hieronymus, und dem stolz schluckenden und gurgelnden Botschafter
Seiner Heiligkeit im heißen Rom - rot schimmernd die seidene knopfgeschlossene Soutane, purpurn unter dem Tisch die Beine mit Strümpfen
247
und Schuhen, bei den schneeweißen zappelnden der deutschen Majestät
-, so hätte Ferdinand jeden den Vorhang durchlaufenden Kammerknaben,
jeden Aufträger Vorschneider, erhaben mit schwarzem Stab abschreitenden
Oberstkämmerer mit üppigem >Halloh< empfangen... «6 - In diesem Text
regiert die Sinnlichkeit, triumphiert der Konjunktiv, schweift das KameraAuge. Rhythmus, Farben, Geräusche, Tempo (fehlende Interpunktion),
Physiognomik, Nah-Einstellung und Kamerafahrt verstricken den Leser
in einen fragmentarisch, kleinteilig und stockend erscheinenden Wirklichkeitsausschnitt. Keineswegs aber steht dieser isoliert für sich selbst. Denn
dem, der weiterliest, wird bald klar, daß die lustvoll beschriebene Lust am
Fressen und Schlucken nur die unersättliche, im Augenblick des Erfolgs
schwelgende Besitzgier der Mächtigen illustriert, die in dem Irrtum befangen sind, daß sie mit ihren Freßwerkzeugen die Geschichte bewegen,
während in Wahrheit diese sie in ihrem konvulsivischen Fluß mitreißt.
Der kurze Vergleich möchte an etwas Triviales erinnern, nämlich an
die Berechtigung, je nach Zweckmäßigkeit unterschiedliche Formen der
erzählenden Darstellung mit je verschiedenen Intentionen zu verbinden.
Das ist ein alter Gemeinplatz der rhetorischen Schulgelehrsamkeit, den
jede moderne Kommunikationstheorie bestätigen wird: Wie einer erzählt,
beschreibt, berichtet - das ist eine Frage der Angemessenheit (aptum), und,
nicht zu vergessen, der Kompetenz. Der Autor, der sich um Begriffe und
Dokumente Sorgen macht, hat eine andere Version der Geschichte im Sinn
als jener, der gleichsam mit dem Kamera-Auge als Produktionsmittel operiert. Weder Rationalität noch Seriosität noch Fiktionalität sind geeignete
Größen, um die Differenz zwischen beiden Versionen auf ein Mehr oder
Minder des Wahrheitsgehalts festzulegen. Denn gemessen an ihren Ausgangsperspektiven haben beide Texte recht. Der von Ranke — der zuerst
zitierte Passus — leitet eine narrative Rekonstruktion der modernen Staatsidee ein, der - so lautet des Autors Überzeugung - Wallensteins Handeln
zum Durchbruch verholfen habe. Hier zeigt sich ein Geschichtsbild, das
gewissermaßen aus der Vogelperspektive entworfen ist: Erst als planende,
selbstbewußte »Persönlichkeit« ist Wallenstein geeignet, die Textfunktion
einer symbolischen Stellvertretung - er verkörpert geradezu die historische
Idee - zu übernehmen. Döblins Romanbeginn - unser zweiter Beleg - plaziert den Leser mitten ins Geschehen und läßt ihn dort auch im weiteren
Verlauf der hin und her wogenden Erzählung verloren gehen, ohne ihm
eine historische Idee und Erklärung als Ariadnefaden anzubieten. Sieht einer im Krieg den Vater aller Dinge, dann gehört auch dieser Roman mit
seinen letzten Worten »... um sich hineinzuwerfen.« zu seinen verkrüppelten Kindern. Döblins Buch ist Mimesis der Pathographie des Krieges; was
ein Historiker vom Schlage Rankes, der noch in der größten Wirrniß nach
248
dem Werden rationaler Strukturen fahndet, vernachlässigen wird. Beider
Geschichtsbilder aber leben von der Rhetorik, sie wollen überzeugen, da es
nichts zu beweisen gibt.
Rhetorik stehe hier als Sammelbegriff: erstens für ein schriftkulturelles Programm, dessen Regeln so ineinandergreifen, daß sich mit gewissem
Recht von einer »Textproduktionsmaschine« sprechen läßt;7 zweitens für
den Namen jener schriftkulturellen Tradierungstechnik (ars memorativa),
der die Europäer das verdanken, was die Formel vom literarischen Gedächt-
nis großzügig zusammenfaßt, nämlich eine Auswahl traditionsbildender
Bücher, ein außerordentlich reichhaltiges, stets erneut refigurierbares Arse-
nal schriftlicher Kommunikationsformen (Gattungen etc.) und eine Hand
voll exegetischer Grundregeln.8 Keine dieser Bestimmungsgrößen ist hier
bloß formalistisch zu denken, auch wenn die Formalität im Sinne eines
vielseitigen Funktionalismus, der weite Spielräume der Rede und Gegenrede offenhält, durchaus zu den Stärken der Redekunst gehört. Von Isokrates
bis Quintilian wurde die rhetorische Eloquenz - Piaton sei's geklagt - als
zivilisierende Kraft gefeiert. Daran gilt es festzuhalten.
Die so knapp umrissene Rhetorik ist die große Formen-Ressource jeder
Art Prosa, ganz gleich, ob diese in poetischen oder in wissenschaftlichen, in
narrativen oder eher argumentativen Systemzusammenhängen beheimatet
ist. Zwar sind im einen und anderen Fall die kommunikativen Normen
und Zwecke je verschiedene. Dennoch garantieren Umfang und Variabi-
lität der rhetorischen Techniken einen zugleich breiten und äußerst plastischen gattungsübergreifenden Anwendungsradius, der sich bis in die grauen Zonen orthogrammatischer >Verstöße< (lapsus linguae) erstreckt; man
denke z. B. an die rhetorische Lizenz, unter bestimmten Redebedingungen
Solözismen, Inversionen, Pleonasmen, Tautologien etc. einzusetzen.
Es gibt daher keinen Grund, die Erzählprosa - sei es die vom Typ Ranke, sei es die vom Typ Döblin - aus dem großen Traditionshaus der Rhetorik auszuschließen. Wo die Rhetorik bekämpft wird, und das geschah
und geschieht immer wieder, gilt der Widerstand selten dem systemischen
Charakter ihrer kommunikationspragmatischen, ja anthropologischen Erkenntnisse, sondern meist ihrer skeptischen Haltung gegenüber vermeintlich authentischen Wahrheitsbehauptungen.5
Weiter Hintergrund:
Konvergenzen zwischen Poetik, Rhetorik, Historie
Der Begriff »Geschichte« bezeichnet eine aus zeitlich zurückliegenden Ereignissen und Daten zusammengesetzte Realität, und diese Realität kann
249
zum Gegenstand von literarischen, wissenschaftlichen, kinematographischen etc. Bearbeitungen gemacht werden. Ist das Resultat gelungen, so
erscheint »Geschichte als Literatur«, »Geschichte als Wissenschaft« usf.
Diese Sichtweise erinnert nicht nur an die Begriffsdichotomie von Stoff
und Form, sondern auch an die alte rhetorische Unterscheidung zwischen
res auf der einen und verba auf der anderen Seite; mit den Worten eines
Theatrum humanae vitae überschriebenen Traktats aus dem 16. Jahrhundert: »In Historia rerum imprimis, deinde etiam verborum habenda est
cura«. Ist die »Darstellbarkeit von Geschichte«, um eine andere geläufige
Formulierung aufzugreifen, im Sinne dieser rhetorischen Unterscheidung
zu verstehen: dort das Geschichtsmaterial (res), hier das der Einkleidung
dienende Wortmaterial (verba)} Der Begriff der Darstellbarkeit macht nur
Sinn, wenn das Darzustellende eine eigene ontische Qualität besitzt und
daher - in den hier zur Debatte stehenden Begriffen - eine Differenz zwischen »Geschichte« und Darstellung vorausgesetzt werden kann.
Meine Frage entspringt der Skepsis gegenüber dem In-Frage-Gestellten.
Und ich sehe nicht, wie diese Skepsis zur Ruhe gebracht werden könnte,
sollte die in der Geschichtswissenschaft übliche Unterscheidung: »zuerst
die Erkenntnisse der Tatsachenforschung - dann ihre sprachliche Einkleidung in wissenschaftlicher Darstellung« nur als terminologische Paraphrase der rhetorischen Redeweise »hie res - illic verba« begriffen werden. Die
zur Verhandlung anstehende Frage lautet also: Wie ist das Verhältnis zwischen »Geschichte« einerseits und »Historie« alias »Geschichtsschreibung«
andererseits zu bestimmen? Das ist nichts Neues, vielmehr das Kernproblem jener metawissenschaftlichen Disziplin, die Gustav Droysen seit 1857
in einer Reihe von Vorlesungen unter dem Namen Historik auf den Weg
gebracht hat, und als deren gegenwärtige Aufgabe nach Jörn Rüsen die
»Selbstreflexion als Rückwendung eines in seine Erkenntnisobjekte denkend versunkenen Erkenntnissubjekts auf seinen Erkenntnisprozeß« anzusehen ist.10
Hier tut sich ein Abgrund auf zwischen Historik und Rhetorik bzw.
der rhetorisch fundierten Poetik, so daß es scheinen könnte, als sei nicht
einmal ein gespanntes, sondern eigentlich nur ein Miß-Verhältnis zwischen
diesen Kunstlehren denkbar. »Selbstreflexion auf den Erkenntnisprozeß«,
das ist eine treffende Beschreibung für das, was in allen metawissenschaft-
lichen Disziplinen auf der Tagesordnung steht. In der Literaturwissenschaft gehört diese Art Selbstreflexion zur Hermeneutik, während Rheto-
rik und Poetik, als Wissenschaftsdisziplinen betrachtet, der Gegenstandsbestimmung, etwa der literaturtheoretischen Abgrenzung der dichterischen
von publizistischen Genres bzw. des einen (z. B. des imaginativen) Literaturtyps von einem anderen (z. B. des pragmatischen) Literaturtyps dient.
250
Als metawissenschaftliche Formaltheorien der Geschichte umfassen
Droysens und Rüsens Historiken jedoch weitaus mehr: nämlich die Erforschung, die Darstellung und die Didaktik der Geschichte. Denn die
reflexionstheoretisch nobilitierte >Historik< gilt als die Grundlagendisziplin
der Geschichtswissenschaft. Von der akademischen Poetik und Rhetorik
läßt sich ähnliches kaum behaupten. Vielleicht von der Hermeneutik, vielleicht von der Literaturtheorie? Ich übergehe lieber diese Zwischenrufe,
um die Verwirrung nicht noch zu vermehren.
Stattdessen möchte ich, ganz im Sinn historischen Betrachtens, einige
weiter zurückliegende Affären zwischen Rhetorik, Poetik und Historik in
Erinnerung rufen. Das fällt mir schon deshalb leicht und gehört nun wahrhaftig hierher, weil die aufgezählten Leitwörter als »köstliche Überbleibsel«
längst vergangener Zeiten - so nannte der große Droysen einmal die anamnetischen Spuren der Literaturgeschichte11 - noch immer gegenwärtig
sind, und weil mein Blick sich auf eben diese Gegenwart des Alten im
Neuen richtet.
In der griechischen Wortkunde, der die kurrente akademische Sprache unentbehrliche Begriffe und Einteilungskategorien verdankt, bezogen
sich historike und poietike auf das gemeinsame Nomen tkhne, im Lateinischen soviel wie ars, zu deutsch Kunst. Wenn unsere gelehrten Ahnen über
»historische« oder »poetische Kunst« schrieben, so dachten sie vorwiegend
an das damit vermittelte technische Wissen, kurz, ans Handwerk, das auf
Fragen wie diese Antwort gab: Zu welchem Anlaß und mit welchen Ab-
sichten bereite ich eine Rede vor? Worauf und wie mache ich ein Gedicht?
Worüber und für wen schreibe ich eine Historie? Es handelte sich also um
Schreib- und Web-Künste in bester textpoetischer Bedeutung, nicht aber
um Reflexions-Künste im besten transzendentalphilosophischen Verstände.
Aber - das darf nicht verschwiegen werden - wenn wir auf diese Weise
über »Rhetorik«, »Poetik«, »Historik« reden, so haben wir die so etikettierten >Künste< schon semantisch entwurzelt. Denn die in den Bezeichnungen
verschlossenen Grundbedeutungen, reichten einst in verschiedene, aber
durchaus vernetzte Tätigkeiten vor- bzw. außerliterarischer Natur zurück:
eirein bedeutete »sagen, reden, erzählen«; poiein hieß »schaffen, handeln,
verfahren, zeugen«; historein aber »beobachten, erkunden, in Erfahrung
bringen«. Bekannter Gelehrtenkram, gewiß, und doch brauchbar, da man
nun in der Rhetorik ein »Kraftwerk der (Erzähl-)Rede«, in der Poetik eine »Verfahrenslehre des Schaffens« und in der Historik eine »Kunstlehre
des Suchens (inventio/Heuristik)« erkennen kann. Geschichte als Suche,
damit läßt sich mehr anfangen als mit der Wendung »Geschichte als Literatur«, macht die Kennzeichnung u.a. doch auch verständlich, warum so
251
traditionsbewußte und einflußreiche Historiker wie Gustav Droysen und
Marc Bloch die »Heuristik« bzw. die »Beobachtung« als den eigentlichen
Ausgangspunkt der historischen Forschung verstanden haben.13
Und womit beginnen die Dichter? Abgesehen von der notorischen
Unvergleichlichkeit ihrer Werke, der Dichtkunst, sie beginnen nicht selten
ebenfalls dort, wo der Historiker beginnt, bei den Überbleibseln vergangenen Lebens. Der Vater der europäischen Dichtung, Homer selbst, scheint
nicht anders verfahren zu sein. Freilich hat er sich, wenn nicht alles trügt,
an mündliche Kunde - an Mythen - gehalten. Das tut aber der Vergleichbarkeit keinen Abbruch, da er zumindest in diesem Verfahrenspunkt als
ein Verwandter des Geschichtsschreibers Herodot gelten kann. Die Redner haben von beiden geborgt, auch die Dichter.
Wenn nun die Historiker und Poeten der klassischen Frühzeit Erfahrungen, oder sagen wir ruhig: Erinnerungen vergangener Zeiten sammelten, so taten sie das, vordergründig gesehen, mit dem von Herodot aus-
drücklich formulierten Ziel, sie vor dem Vergessen zu bewahren. Und
sie waren aus diesem Grund auf solche Formen und Gattungen schriftli-
cher Kommunikation angewiesen, die ihren jeweiligen Absichten und Zielen entsprachen. Also bedurften beide, sollte man denken, der Rhetorik
und Poetik als der Künste, die über Gattungen, Stilregister, Kompositionsregeln, Wirkungsfunktionen, Kommunikationsbedingungen und andere wichtige Ingredienzien der literalen Gedächtniskultur Buch zu führen
hatten.
Doch die große, traditionsbildende Poetik des Aristoteles verschloß sich
bekanndich der Historie, ließ sie allenfalls als Stoffsammlung zu, setzte sie
aber als literarische Gattung vor der »philosophischeren und angesehene-
ren« Dichtung herab. Geschichtsschreibung war in Aristoteles' Augen
ein Spielbrett der Zufälligkeiten, auf dem jene konsequente »Synthesis« der
Ereignisse nicht gelingen wollte, die Tragödie und Epos unter Maßgabe eines einheitlichen Handlungs-Telos ins Werk zu setzen hatten.15 Insofern
kannte die griechisch-römische Antike, wie hier nun einzugestehen ist, we-
der den Namen noch die Sache der »Historik« - jedenfalls nicht im Sinne eines strengen Lehrsystems - sieht man von den Kritikern bestimmter
Historien-Schulen, von Dionys von Halikarnass und Lukian aus Samosata,
einmal ab. Die eigentlich turbulente Affäre mit den klassischen Kunstlehren beginnt also im Grunde erst im 19. Jahrhundert mit dem deutschen
Aristoteles der Geschichtsschreibung, mit Gervinus.
Auch die Kunstlehre der gesprochenen, vor allem forensischen Rede,
die klassische Rhetorik, hatte kein besonders Faible für die historische
Erzählung. Gewiß, diese lieferte dem Redner Beispiele, Präzedenzfälle, induktiv wirkende Vor- und Schreckbilder. Außerdem hat der römische Uni252
versalanspruch der Rhetorik die Geschichtsschreiber wie selbstverständlich
ins kämpferische Redegetümmel eingemeindet: Politik mit erzählenden
Mitteln. Und doch gab es - wie noch Cicero feststellen mußte - nur sehr
dürftige Rezepturen für dieses oratorische Nebenamt. Was der Römer dem
Geschichten schreibenden Rhetor zu sagen hatte, das betraf gar nicht die
Suche, sondern allein die Anordnung der Sachverhalte (rerum ratio) und ihre Repräsentation in einem angemessenen, das hieß »breit und gleichmäßig
dahingleitenden, auf die Härte des Urteils verzichtenden« Redefluß (verborum ratio) }& Immerhin, hier ist nun doch Klarheit zu finden: die Historie — in der Bedeutung von historischer Erzählung und Annalistik — gehörte
zu den genera orationis, zu den Gattungen der wohlgeformten, öffentlichen
Rede und nicht zur Poesie. Das ist für den Kenner der Gattungsgeschichte
überhaupt keine Überraschung, da die klassische Dichtungstheorie ohnehin von den Prosagenres nichts wissen wollte.
Auseinandertreibende Fluchtpunkte:
Ästhetische vs. historische Darstellung
Man müßte hier nun die subtilen Verschiebungen in der Dreierbeziehung
Poetik-Rhetorik-Historik im Laufe der literarischen Kulturgeschichte Europas weiter verfolgen. Doch meine Sache ist das nicht, da ich das Alte nur
deshalb in Erinnerung gerufen habe, um seine bemerkenswerte Präsenz
in den modernen Entwürfen, Programmschriften, Theorien besser in den
Blick zu bekommen.
Unter modernen Theorien verstehe ich im Bereich der historischen
Wissenschaften unter anderm die Historiken von Gervinus und Droysen
und im Gebiet der Literatur die geschichtsphilosophisch fundierten Poetiken der Goethezeit. Was mir an diesen in so unterschiedlichen Domänen
beheimateten Theorien modern, und d. h. noch bedenkenswert erscheint,
das ist die für ihre wissenschaftliche Begrifflichkeit konstitutive Auseinandersetzung mit der Dialektik von System und »Geschichte« (letzterer Begriff in der Bedeutung »Veränderung in der Zeit«). Dieser gemeinsame
Problemkonnex verbindet Poetik und Historik bis zu einem gewissen Grad
in der Theorie und treibt sie in der Praxis doch zugleich wieder auseinander. Denn die moderne Praxis, d. h. die Praxis der wissenschaftlich begründeten Geschichtsschreibung, verfährt nach professionellen Kommunikationsregeln, die eine ganz andere als die poetische Version der Geschichte
zum Ziel haben.
Von wissenschaftlichen und poetischen »Versionen« der Geschichte zu
sprechen, das setzt bereits jene Theoretisierung der Begriffe voraus, die der
253
Tradition, von der bisher die Rede war, die Unschuld genommen hat. In
Poetik wie Rhetorik gehörte zu dieser Tradition das Festhalten an didaktischen Funktionen und wirkungsästhetischen Regeln. Diesem Erbe entzog die Ästhetik der Goethezeit die Legitimation. In einem ersten Schritt
befreite sich die Poetik von ihren rhetorisch-psychologischen Beimengungen, indem sie die didaktischen Gattungen, die traditionellerweise gern
den genera narrationis zugeschlagen wurden, ausschied. In einem zweiten
Schritt verlangte die sich erneuernde Dichtungstheorie nach Synthesen:
zum Beispiel zwischen - um in Abwandlung Kantscher Begriffe zu reden
— imaginatio ex datis und imaginatio ex principiis, zwischen Empirie und
Rationalität oder zwischen Geschichte und System. Komplexe, schwierige
Forderungen, die nun auf Fragen der folgenden Art hinausliefen: Wie ist
Poesie, wie ist Geschichte, wie sind die Begriffe von Poesie und Geschichte überhaupt möglich? Fragen, deren Beantwortung des philosophischen
Gedankens bedurften. Das allgemeine Motto dieses Syntheseverlangens
lautete: Erfahrung wird erst durch Philosophie zum Wissen.'7
Als drittes schließlich emanzipierte sich die vergangene Poesie von der
gegenwärtigen Poesie und schuf auf diese Weise - zumindest in der Theorie
— die Voraussetzungen für die Idealgestalt einer künftigen Poesie. Vielleicht
ist dieser dritte Schritt als der dramatischste zu betrachten. Ging doch die
Unterscheidung zwischen antiker Vergangenheit und moderner Gegenwart
zu Lasten der Gegenwart, so daß die Interpreten dieser Entwicklung von
»der Vergangenheit als Negation det Gegenwart« sprechen.18 Damit ste-
hen wir aber vor der paradoxen Version einer zeitlosen - genauer: einer
enthistorisierten Geschichte.
Der Ort, an dem dieser radikale, scheinbar in die Ewigkeit fuhrende Schritt zuerst vollzogen wurde, war das philosophische Katheder der
Universität Jena in den Jahren 1802/03. Und der Kopf, der auf diese Weise Tendenzen der Zeit zu Ende dachte, der des über Kunst sinnierenden
Schelling. Dieser definierte das poetische Kunstwerk auf folgende Art:
»Gedicht überhaupt ist ein Ganzes, das seine Zeit und Schwungkraft in
sich selbst hat, und dadurch von dem Ganzen der Sprache abgesondert,
vollkommen in sich selbst beschlossen ist.«15
Das »Gedicht überhaupt« ist nicht auf Lyrik beschränkt; der Begriff
umfaßt alle literarischen Hauptgattungen bis hin zur Prosaform des modernen Romans. Das aber ist von vitaler Bedeutung für die ästhetische
Darstellung der enthistorisierten Geschichte in Epos und Roman. Denn
nach Schelling ist es die Aufgabe dieser Zwillingsgattungen, »ein Bild der
Geschichte zu seyn, wie sie an sich oder im Absoluten ist.«20 In diesen
Begriffen also entwirft der ästhetische Diskurs die spezifische Un-Durchsichtigkeit des poetischen Kunstwerks. Er rückt damit eine Qualität in den
254
Brennpunkt des Interesses, die den symbolischen Funktionen der poetischen
Texte einen Vorrang gegenüber dem einräumen, worauf sich ihre Begriffe
beziehen.
Alles das ist nicht nur zeitlich vorauszusetzen, wenn unser Blick nun
auf die andere Seite, auf die Seite des wissenschaftlichen Geschichtsbildes
und seiner Theorie fällt. Gervinus' Historik wurde fünf bzw. sechs Jahre
nach Goethes und Hegels Tod geschrieben, Droysens Vorlesung drei Jahre
nach Schellings Tod begonnen.
Für die Geschichtswissenschaft war die Einheit ihres Gegenstandes kein
bloß formales Problem mehr, sondern abhängig von denselben Grundfra-
gen, die in der Ästhetik wie in der Philosophie überhaupt zur Debatte
standen: Wie lassen sich System und Geschichte (== Veränderungen in der Zeit)
vermitteln? und: Wie wird aus Erfahrungen begründetes Wissen? — in Droysens trefflicher Wendung: »Wie wird aus den Geschäften Geschichte?«21
Doch im Unterschied zum produzierenden Subjekt der Kunst sah sich das
rekonstruierende Subjekt der wissenschaftlichen Geschichtserkenntnis vor
Schwierigkeiten, die den gemeinsamen Fragehorizont sprengten. Denn
die Historisierung der Lebenswelt machte ja vor dem Erkenntnis-Ich nicht
Halt, drohte vielmehr, es völlig an die Kontingenz der dahinfließenden und
- wie es den Zeitgenossen der Französischen Revolution erscheinen mußte
- die Lebenswelt immer schneller unmwälzenden Zeit auszuliefern.22 Und
wenn das einmal anerkannt war, so mußte das nicht nur die Prämissen
der Erkenntnisgewißheit, sondern auch das nach wie vor gültige Ziel, die
teleologische Einheit der Geschichte, in den Grundfesten erschüttern.
Drei fachimmanente Lösungsmöglichkeiten wurden in dieser Lage von
den Experten vorgeschlagen:
erstens die Selbstauslöschung des Erkenntnis-Ich im Namen der Objektivität;
zweitens die Parteinahme des Historikers für die objektiven geschichtsbewegenden Ideen;
drittens die Anerkennung der prinzipiell unvollständigen Objektivität historischer Erkenntnisse.
Alle drei Vorschläge unterstreichen die kategoriale Andersartigkeit des historischen Diskurses im Verhältnis zur ästhetischen Theorie. Und dennoch
suchten nicht wenige Historiographen Erlösung im ästhetischen Diskurs.
Ich übergehe an dieser Stelle die mit Leopold Rankes Namen verknüpfte Selbstauslöschungsthese, die auf eine wissenschaftsethische Norm
zielt, darstellungstheoretisch aber nur von ganz fern noch an das rhetorische Prinzip der dissimulatio erinnert.23 Den zweiten Lösungsvorschlag,
die Parteinahme für historische Ideen, hat vor allem Gervinus vertreten,
der konsequent genug war, den Historiker in der Rolle des Erzählers zum
255
eigentlichen Subjekt der Geschichte zu ernennen.2^ Umso wichtiger war
ihm die Form, in welcher der historische Erzähler seine Leser zur Nachfolge aufrufen sollte. Gervinus' Historik ist nichts anderes als eine Theorie der
Historiographie und geht bewußt der transzendentalen Frage nach den Bedingungen der historischen Erkenntnismöglichkeit aus dem Weg. Für ihn
ist Geschichte noch etwas Gegebenes, das im Dienste praktischer Ideen in
solche Formen zu gießen ist, deren Wirkungen auf Gesinnung und UrteilsSinn des Publikums zielen. Die rhetorische Stoff-Form-Dichotomie bleibt
in dieser Konzeption erhalten, und die Geschichtswissenschaft bleibt ebenso heteronom bestimmt wie ihr narrativer Diskurs, dem Gervinus einen
Platz zwischen Poesie (besser: Poetik) und Philosophie zugewiesen hat.25
Verharrte Gervinus' Einteilung der historiographischen Genres [Hauptgattungen: »Chronik« (Epos) und »Memoir« (Drama)] noch ganz in der
Tradition der diesem Gedanken fremd gegenüberstehenden aristotelischen
Gattungspoetik, so verdankte sich seine Konzeption des »historischen
Kunstwerks« im wesendichen dem ästhetischen Diskurs der Moderne. Aus
dieser Verbindung von Altem und Neuem entspringt der eigentümlich
schillernde Glanz seiner Historik. Denn einerseits soll die Historie im moralischen Sinne kathartisch wirken, andererseits aber jenes Bild der »Geschichte an sich« präsentieren, von dem bei Schelling die Rede war. Das
bedeutete die Austreibung des Zufälligen, das nach Aristoteles die Geschichtsschreibung von der Einheit der epischen und dramatischen Handlung unterschied. Das bedeutete aber auch, in dem von Gervinus positiv eingeschätzten Sinn, Vollendung der Geschichte im narrativen Diskurs,
mit seinen eigenen Worten: »die Geschichte muß, wie die Kunst, zu[r] Ruhe führen«.26 In diesem Satz ist nicht nur von der kontemplativen Ruhe
des zum Nachdenken und Urteilen aufgerufenen Lesers die Rede, sondern
auch von der Form einer enthistorisierten Geschichte.
Die Eintracht von Historik und Poetik mußte dem als ein Greuel und
eine törichte Mesalliance erscheinen, der erkannt hatte, daß Geschichte
nichts Gegebenes, sondern etwas Konstruiertes ist. Es ist die Rede vom
dritten Lösungsvorschlag, von Droysens Historik, die angetreten war, die
Autonomie der Geschichtswissenschaft zu festigen und mit polemischen
Schlägen gegen Rhetorik und Poetik nicht sparte. Schützenhilfe suchte
Droysen in den metawissenschaftlichen Spekulationen Fichtes und in der
Methodik von Humboldts sprachhistorischen Versuchen.27
Die Gesamtkonzeption dieses faszinierenden Entwurfs ist hier nur
knapp anzudeuten. Eines von Droysens Hauptmotiven, von denen indes unter allen Umständen die Rede sein muß, war die Begründung ei-
ner selbständigen, von keiner fremden Disziplin abhängigen wissenschaft-
256
liehen Forschungsmethode. Dieses Motiv veranlaßte ihn, nach den Bedingungen zu fragen, die den zu erforschenden Gegenstand konstituieren.
Seine Antwort »nicht das Geschehene [.,.,] ist Geschichte« führte ihn
weg von der Stoff/Form- und der res/verba-Dichotomie. »Geschichte« ist
vielmehr einem Wahrnehmungsmodus zu verdanken, der Erinnerung und
Antizipation aufeinander bezieht.28 Sie ist keineswegs gegeben, sondern
entsteht aus der »historischen Frage«, die, vergleichbar der künstlerischen
Intuition, »plötzlich [... ] aus der Totalität unseres Ich«, die ihrerseits historisch vermittelt ist, »hervorspringt«.29 Also ist es - so lautet meine Lesart
- die ganz unversehens wie aus der memoire involontaire geborene »historische Frage«, die aus Gegebenem, nämlich aus den »Überbleibseln«, überhaupt erst Dokumente macht. Das Besondere der »historischen Frage«, das
sie von andern Fragemodi unterscheidet, liegt in ihrer Beziehung zur Arbeit
des Erinnerns. Der wahrnehmbare materielle Gegenstand - das »Überbleibsel« des Textfragments, der Tonscherbe, der Denkmalsruine - vermag
zwar allerlei zerstreute Fragen auszulösen, z. B. die nach seiner Nützlichkeit, oder die nach seiner ästhetischen Erscheinung. Allein, nur die »historische Frage« stellt den Gegenstand in einen Erinnerungsraum, in dem
die Suche nach seiner - des Gegenstands - verlorenen Zeit (nach seinem
verlorenen Sinn) beginnen kann. Denn ihr Wortlaut »Wie ist es so geworden?« bringt am Gegenstand einen Kometenschweif diffuser Bedeutungen
zur Erscheinung, der vorher verdeckt war, und nun bis in weit entfernte
Zeiträume hineinleuchtet. So ist die »historische Frage« der Ausgangspunkt
für eine vorausdenkende Suche, die das allgemeine Bild eines Ganzen antizipiert. In diesem Bild macht sich die Ahnung des Fragenden zuerst mit
der Fremdheit des fragmentarischen »Überbleibsels« vertraut, um sie nach
und nach in einen ihm sinnvoll dünkenden Lebenszusammenhang einzubetten.
Natürlich erzeugt die Intuition der »historischen Frage« noch keine
historische Erkenntnis in der Bedeutung von Gewißheit. Sie macht den
Anfang, und das ist schon viel. Aber sie macht den Anfang ohne Notwendigkeit, denn jeder - ob Fachmann oder Laie - kann die »historische Frage«
stellen. Erst die wissenschaftlich eingehegte Arbeit des Erinnerns bedarf einer anderen Disziplin, um dem Anspruch an jene rationalen Verfahren zu
genügen, den Droysen auch an den naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden seiner Zeit ablesen konnte.
Historisches Erinnern aber steht in diesem modernen Wissenschafts-
kontext weder für das Wiederholen einer früheren Erfahrung noch für
jene Mnemotechnik, die zur Buchstabierkunst der klassischen Rhetorik
gehört. Das vergangene Geschehen kann nur dann »Erinnerung« im Sinne
257
des historischen Bewußtseins werden, wenn es »aus seiner Äußerlichkeit in
den wissenden Geist und in dessen Kombinationen verlegt«, anders gesagt:
wissenschaftlich begriffen ist. Historische Erinnerung ist demnach nichts
Natürliches. Was vom Vergangenen noch da ist, in Bruchstücken vor Augen liegt oder von Zeugen berichtet wird, bedarf, um sinnhafte »Totalität«
werden zu können, der methodischen Interpretation. Wie dem Philosophen Hegel so geht es auch Droysen um die Freiheit vom Überkommenen, und ähnlich wie jener begreift er das Erinnern unter der Gestalt der
Reflexion: »Erst mit der Reflexion, in der wir es (das überkommene, unfreie Wissen) als vermitteltes erkennen, trennen wir es von uns selbst; die
erkannte Tatsache der Vermittlung ist die Erinnerung; und diese Erinnerung trennen wir von uns selbst. [... ] Erst damit beginnen wir, frei in uns
selbst zu sein und mit dem, was unmittelbar unser Inhalt war, schalten zu
können.«30
Schra.jfu.ren: Historismus trotz Rhetorik
Bemerkenswert ist immerhin, daß die Disziplin, die Droysen der Ge-
schichtswissenschaft verschrieb, der Form nach und in einem substantiellen
Hauptpunkt der rhetorischen Tradition verhaftet blieb. Die Polemik gegen
die Rhetorik als Pandorabüchse täuschender, dekorativer, trügerischer oder
bloß unterhaltsamer Kunstgriffe hat lange Zeit ihre immerzu fortwirkende Macht über die Polemiker verdrängt — nota bene: eine Wirkung der
antirhetorischen Rhetorik!
Gewiß, die fundamentalen Unterschiede zwischen rhetorischer Vergangenheitskunde und wissenschaftlicher Geschichtskonstruktion sind
nicht zu übersehen. Vom Standpunkt des Rhetorismus aus erschienen die
Schriftzeugnisse über vergangene Ereignisse als nützlicher, je nach Gegenwartsbedürfnis zu aktivierender Thesaurus lehrreicher Exempel. Man griff
wie der Baumeister nach der Spolie nach den mit Altersautorität ausgestatteten Erzählungen, um sie als Beweise, Beispiele, Argumente, kurz: als
Unterpfänder des kulturellen Gedächtnisses in die Sprachspiele der Ge-
genwart einzuschmuggeln. Diese Gebrauchsfunktion der Historien ging
im Zeitalter des Szientismus keineswegs ganz verloren und ist heute noch
in Erbauungs- und Politikerreden gang und gäbe.
Der sinnreiche Spruch, die Geschichte lehre geradezu, daß niemand
aus ihr zu lernen bereit sei, macht indes den ganzen Unterschied aus.
Denn er signalisiert die Gewichtsverlagerung der Geschichtsbetrachtung
und -darstellung vom Erinnern auf die Antizipation und vom exemplarischen Ereignis auf den temporalen Prozeß.31 Wie man ist, so lautet ein
258
anderer weiser Spruch, das ist das Resultat eines langwierigen Werdens,
eben »der Geschichte«. Umso notwendiger ist es, dieses Werden methodisch aufzuklären, um auf diese Weise die sonst a tergo wirkenden Mächte
der Vergangenheit auf Begriffe zu bringen, will sagen: in den Griff zu bekommen. Der Historiker von Profession bewegt sich demnach wie der Laie
innerhalb des historischen Werdens. Er kann es, so lautet sein hermeneutischer Grundsatz, nicht von außerhalb beobachten, sondern nur von innen
her reflektierend zu verstehen suchen. Wollte man diesen Sachverhalt in
textualistischer Manier beschreiben, so müsste man sich einen Archivar
vorstellen, der sein Weltbild mithilfe der Bibliothek formt, in die er sein
Leben lang eingeschlossen bleibt. Wie in diesem litteralen Gefängnis ein
Buch zur Erklärung des andern genutzt wird, so verfährt auch der Histo-
riker (so auch der Philologe), indem er mit fragloser Selbstverständlichkeit
die textuell überlieferten kulturellen Ressourcen einsetzt, um die Tradition
reflektierend zu historisieren, um mit ihr bestenfalls - wie Droysen sich
ausdrückte - »frei schalten zu können«.
Die Ressource Rhetorik hat in diesem zugleich >freien< und wissenschaftlichen Umgang nichts von ihrem Nutzen eingebüßt. Barthold Georg
Niebuhr, der im Ruf steht, die strenge historische Methode erfunden zu
haben, hat die praktische Seite seiner Wissenschaft auf rhetorischen Grund
gebaut. Denn es war sein Ziel, »die Verhältnisse der alten Welt zu gegenwärtiger Anschauung zu erheben, daß die Verschiedenheit welche die
Zeit hervorgebracht hat [... ] verschwinde«.32 Diese Überbrückung der
historischen Zeit und Aufhebung der Erfahrungsfremdheit schriftlich ins
Werk zu setzen, griff er auf Veranschaulichungstechniken zurück, die in
der Schulrhetorik unter den Stichworten »Evidenz« (sub oculos subiectio)
und »Augenzeuge« verhandelt werden. »Evidentia in narratione«, schreibt
Quintilian im vierten Buch (IV.2, 64) der Institutio oratoria, »est qui-
dem magna virtus, cum quid veri non dicendum, sed quodammodo etiam ostendendum est, sed subici perspicuitati potest.« (Evidenz fim Sinne
der bildhaften, ausmalenden Vergegenwärtigung] ist in der Erzählung eine
große Tugend, da [mit ihrer Hilfe] etwas Wahres nicht nur gesagt, sondern
sozusagen vorgezeigt wird, sie kann aber der >Klarheit und Deutlichkeit
zugerechnet werden.)
Es ist naheliegend, in diesem Zusammenhang die vielzitierten Worte
Rankes aus der Vorrede zu seinem Erstlingswerk Geschichten der romani-
schen und germanischen Völker von 1824 ins Gedächtnis zu rufen: »Man hat
der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Amter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen [später von Ranke
durch zeigen ersetzt], wie es eigentlich gewesen.«33 Das ist ein Programm
259
und zugleich eine kühne Wendung gegen die pragmatisch-konventionelle,
richtend und belehrend verfahrende Historiographie, die aufs engste mit
der rhetorischen Maxime »bene dicere bene vivere est« verbunden war.
Doch widerspricht im zitierten Passus die Rhetorik selbst ihrer Verabschiedung. Denn »zeigen« (ostendere), das Ranke wie Quintilian dem »sagen«
(dicere) vorzieht, läßt sich am ehesten mit den Mitteln der wiederhervorbringenden Evidenz. Diese Art des anschaulichen Realismus, die im Leser
die Illusion wecken soll, als Augenzeuge am erzählten Ereignis teilzunehmen, schließt den uneigentlichen Sprachgebrauch notwendigerweise ein.
Zeigen, wie es eigentlich gewesen das heißt: realistische Situationen erzählen
und ist auf eine Technik (evidentid) angewiesen, die - selbst wenn sie sich
sklavisch an die in den Urkunden enthaltenen Details hält - um das Als Ob
arrangierter Szenen nicht herumkommt. Eine solche Kunstübung dient
aber nicht der Wahrheit ex datis, sondern jener Wahrscheinlichkeit, die
der Erzähler erzeugen muß, will er die Leser- von der Plausibilität seiner
Sinnzuschreibungen überzeugen.
Ranke nannte das »Kunst« und erkannte darin ein besonderes Merk-
mal seiner wissenschaftlichen Disziplin: »Die Historie unterscheidet sich
dadurch von anderen Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, findet, durchdringt; Kunst, indem sie
das Gefundene, Erkannte wiedergestaltet, darstellt. Andere Wissenschaften
begnügen sich, das Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen: bei
der Historie gehört das Vermögen der Wiederhervorbringung [evidentia]
dazu.«34 Diese Unterscheidung zwischen »Wissenschaft« und »Kunst« in
der Historie liest sich wie ein Echo der rhetorischen Systematik: >Sammeln<
und >Finden< ist Sache der Inventio, das >Durchdringen< ist der Ordnungswut der Dispositio zumindest nicht fremd, während >Wiedergestalten< bzw.
>Darstellen< mit den Aufgaben der Elocutio zusammenfällt.
Immerhin, auch die von Droysen systematisch zusammengetragenen
Baumaterialien für die von ihm geplante Architektur des geschichtswissenschaftlichen Lehrgebäudes stammen zu einem guten Teil aus dem Fundus
der ars rhetorica. Da folgt zum Beispiel der methodologische Grundriß
der Historik mit seinen Gliederungspunkten 1. Heuristik - 2. Kritik - 3.
Interpretation - 4. Darstellung jenem bekannten rhetorischen Muster: In-
ventio - Dispositio — Elocutio, dem sowohl die klassischen Redelehren als
auch die Regelpoetiken seit dem Humanismus verpflichtet blieben.35 Was
dort Dispositio hieß, das teilt Droysens Historik zwar unter »Kritik« und
»Interpretation« auf, aber der Sache nach geht es in beiden Disziplinen um
die Beweismittel und deren Applikation, d. h. um die Gesichtspunkte der
Analysis, die in der rhetorischen Dispositio freilich unter rein taktischen
Aspekten betrachtet worden sind.
260
Signifikanter noch für die Gegenwärtigkeit des Alten im Neuen ist die
Übereinstimmung der von Droysen geforderten Darstellungsarten mit den
genera dicendi der Rhetorik. Eine Übereinstimmung der oberflächlichen,
aber bemerkenswerten Art, ablesbar an den folgenden Gleichungen (an
erster Stelle nenne ich jeweils die rhetorische, an zweiter die historiographische Gattung):
1. genus iudiciale - Droysens »untersuchende Darstellung«, nachahmend
die Genese der Forschung;36
2. genus delibemtivum — Droysens »erörternde Darstellung«, bezogen auf
die Geltung historischen Wissens für politische EntScheidungsprozesse;
3. genus docile — Droysens »didaktische Darstellung«, bezogen auf die Geltung historischen Wissens für Bildungsprozesse;
4. genus demonstrativum - Droysens »erzählende Darstellung«, nachahmend die Genese des Gegenstandes.
Der letzte Fall offenbart eine Reihe von Inkongruenzen, und deshalb erscheint es mir sinnvoller, die »erzählende Darstellung« überhaupt mit dem
gleichzusetzen, was die klassische Rhetorik unter dem Namen »historia«
quasi als fünfte Gattung in den Formenkanon der genera orationis aufgenommen hat.
Wenn ich diese doch weitgehenden formalen Übereinstimmungen
oberflächlich nenne, so möchte ich damit auf einige wesentliche Differenzen wenigstens hinweisen und setze zur Erläuterung nur zwei kurze Notizen hierher. Zum einen verweigerte Droysen, wie mir scheint, seiner Rhetorik der Geschichtsschreibung die persuasive Macht über den Leser. Denn
für ihn stand fest, daß sich die Evidenz des Geschichts-Bildes erst in der
Phantasie der Lesenden vollendet.37 Das unterscheidet seine Darstellungs-
theorie auch von der poetischen Lösung des Gervinus, die ja die Einheit
des Kunstwerks zur Vollendung der Geschichte benötigte. Zum andern
betrachtete er die Gattungsgrenzen nicht als starre Einrichtungen. Denn
die historische Methode, als deren Funktion sie gelten, schloß die Wechselbeziehung zwischen deduktiven und induktiven Verfahren ausdrücklich
ein.38 Das hat für die Darstellung Konsequenzen, die es ihr u.a. verbieten,
einfach auf Kosten des Argumentierens draufloszuerzählen.39
Es mag überraschen, daß hier eine Diskussion gefuhrt wird, die zwar
den Traditionalismus, nicht aber die hermeneutischen Grundlagen der Hi-
storik berührt. Wo diese Berührungen zu suchen und wie sie beschaffen
sind, das wäre Gegenstand einer anderen Untersuchung. Hier nur soviel:
Droysen hat in der Druckfassung seiner Vorlesungen den darstellungstheoretischen Teil »Topik« überschrieben. Ein Indiz, denn die alle Detailfragen
einschließende Hauptfrage der klassischen Topik lautet: »Wer (Subjekt)
261
spricht wann (Zeit) und wo (Ort) worüber (Thema), mit welchen Absichten (Intention) und mit welchen Mitteln (Medium) zu wem (Adressat)?«
Eine Frage, die gleichermaßen für das Abfassen wie für die Analyse einer
Rede zuständig ist.
Die Beispiele aus der Tradition haben gezeigt: Es gab und gibt ein en-
ges und wohl auch sinnvolles Verhältnis zwischen Historik und Rhetorik,
an das zu erinnern nie schaden kann. Denn es ist unwahrscheinlich, daß
sich der historiographische Text dem Redeanlaß soweit verweigert, daß am
Ende ein logisch völlig durchkonstruierter Diskurs da steht. Die Rhetorik verankert als kommunikationspragmatische Disziplin den Diskurs in
der diffusen Welt wechselnder Anlässe und Interessen und ist insofern ein
getreues Pendant der aus der Intuition geborenen »historischen Frage«. Insofern garantiert die unvollständige Objektivität dem historischen Diskurs
eine Konstruktion solcher »analytischer Synthesen« (Kant), die auch die
aufgeschriebenen Geschichten als unvollständige zur Erscheinung bringen
können. Die Rede von »der« Geschichte bezeichnet unter dieser Voraussetzung nichts anderes als die nie einzuholende Differenz zwischen dem
Ideal vollständiger Durch- und Übersicht und den geschichtlichen Beschränkungen der historischen Erkenntnis.
Was die wissenschaftliche Logik mit strenger Selbstkritik als Beschränkung deutet, das ist vor dem Forum der öffentlichkeitswirksamen Beredsamkeit als eine Tugend zu betrachten. Droysen hat das, so scheint mir,
zumindest geahnt, als er seine Darstellungstheorie »Topik« nannte. Denn
die antiken Redelehrer verstanden unter an topica eine die Rhetorik flankierende Disziplin, mit deren Hilfe der Redner seine Argumente aufsuchen und formulieren konnte. Steht Droysens »Heuristik« für die inventio
der »historischen Tatsachen«, so liefert seine »Topik« das Ergänzungsstück:
die Grundlagen der argumentierenden Rede. Legt man diesem Verhältnis
versuchsweise den sprachpragmatischen Maßstab von Ciceros Topica zu-
grunde, so wird verständlich, in welchem Sinn die Darstellungsformen als
Funktionen des Forschungsprozesses zu gelten haben. Denn die rhetorische Logik der Topica (§8) bezieht sich auf den prekären Zusammenhang
von Behauptungssätzen und Fakten (res), und es ist ihr Ziel, dem Redner
solche Überzeugungsargumente an die Hand zu geben, die es ihm erlauben, eine zweifelhafte Sache glaubwürdig zu machen.40
Werden die »Überbleibsel« vergangenen Lebens - mit Droysen zu reden - erst durch die historische Frage zu »Fakten« bzw. »Dokumenten«,
dann darf auch der Historiker nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, daß die im Niederschreiben der Historie vollzogene Verknüpfung der
Sachverhalte für den zweifelnden Leser glaubwürdig zu machen ist. Um
dies zu erreichen, wird der Autor nicht nur erzählen, sondern das Erzähl262
te auch kommentieren, also zu Argumenten greifen. Solche Argumente
garantieren nicht nur die Plausibilität des Erzählten, ihr kommunikativer
Gestus heischt vielmehr auch die Zustimmung der Leser zu den interpretativen Behauptungen des Autors. Zwar gilt der Historiker als Statthalter
der begriffenen Geschichte. Aber die Gleichung von Begriff und Geschichte geht niemals ganz auf. Würde sie aufgehen, so nur um den Preis einer
Reduktion des Unbegreiflichen am vergangenen Leben auf das kleinliche
Maß wissenschaftlicher Abstraktionen.
Und just in dieser engen Verbindung des historiographischen Erzählens
mit den Techniken der rhetorischen, d. h. Glaubwürdigkeit und Zustimmung verstärkenden Argumentation, zeigt sich nun auch der große Abstand zur imaginativen Literatur. Deren symbolische Formen geben keine
Antworten auf den Typus der historischen Frage, der aus Überbleibseln
Dokumente zu machen versteht. Es ist Dichteramt, »das Unsagbare zu
41
sagen.«^
Übermaltes Bild:
Lord Chandos'Abschied von Historie und Rhetorik
Im Oktober 1902 veröffentlichte die Berliner Zeitung Der Tag einen Text
Hugo von Hofmannsthals mit dem schlichten Titel »Ein Brief«. Längst
gilt dieser »Brief« in der Literaturgeschichtsschreibung als ein Gründungsdokument jener literarischen Moderne, die — vom Sprachzweifel angekränkelt - nach Möglichkeiten sucht, den heimlichen Erstarrungstendenzen der Formgebung, Schriftlichkeit und Werkästhetik durch Stärkung offener, prozessualer, fragmentarischer Gestaltungsweisen die Stirn zu bieten.42
Der fiktive Verfasser der Hofmannsthalschen Flaschenpost ist ein Lord
Chandos, der Adressat Francis Bacon, einst Lordkanzler der Königin Elisabeth I. von England, Autor einer Historie Heinrichs VII. und jener Neuen
Wissenschaft, die der modernen empirischen Forschung, Geschichtswissenschaften eingeschlossen, eine außerordentlich erfolgreiche Bahn gebro-
chen hat. Der Chandos-Brief enthält die Darstellung einer pathologisch
anmutenden Sprachkrise, die, dem linguistischen Krankheitsbild zum
Trotz, mit großer stilistischer Souveränität daherkommt: ein Paradox.
Zugleich ist der Brief ein vieldeutiges Abschiedsschreiben, einer symbolischen Trotzhandlung vergleichbar, die dem Alten abwinkt, ohne schon
den Ausweg aus dem Gefängnis der Denk- und Sprachgewohnheiten zu
wissen. Hofmannsthals englischer Aristokrat verabschiedet sich nicht nur
von früheren, liebgewonnenen polyhistorischen Plänen, er verabschiedet
263
sich auch vom höfischen Leben und sogar von dem, was bis dahin seinen
Status und sein Ansehen in der englischen Adelsgesellschaft des 16./17.
Jahrhunderts befestigt hatte: von der Schriftkultur insgesamt. Der Grund
für diese Spielart einer, wie es scheint, tragisch-heroischen Selbstverleugnung liegt nach Chandos' Bekenntnis im Zerfall seines auf metaphysischer
Gewißheit — auf dem »Plan einer göttlichen Vorsehung« — ruhenden Weltbildes und der ins Bodenlose sinkenden einstigen Verläßlichkeit des sprachlichen Ausdrucks. Die Folgen sind, so läßt sich das Ergebnis der Selbstanalyse zusammenfassen, der Zweifel am Wert einer kosmologisch begründeten Weltbildkonstruktion und ineins damit die Abkehr vom Vertrauen in
jene Begriffe, die dem gelehrten Lord bis dahin als Schlüssel zum Verständnis dieses Weltbildes zustatten kamen.
Krise und Verlust schärfen erst so recht die Aufmerksamkeit fiiir das,
was vorher war, was nun als Vergangenes historisch, d. i. erzählend und
räsonierend erinnert wird. Insofern gestaltet der fiktive Brief eine Verlaufsform zeitlicher Erfahrungen, die den Anspruch auf Konvention und
Gewohnheit erheben kann, während der Gehalt sich exakt gegen diese
Form sträubt. Chandos erinnert sich, wie gesagt, literarischer Vorhaben,
die nun durchzuführen ihm der soeben besprochene Zustand der Begriffsund Sprachentfremdung verleidet, ja verbietet. In diesen Erinnerungen hat
ein ehemaliges historiographisches Projekt besonderes Gewicht. »Aus dem
Sallust«, so heißt es dazu im Rückblick, »floß in jenen glücklichen, belebten
Tagen wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis der Form in mich
herüber, jener tiefen, wahren, inneren Form, die jenseits des Geheges der
rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man
nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein
Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra.«43
Mag sein, daß Hofmannsthal in der Maske des Chandos mehr als eine
Ahnung von dem hatte, was der Adressat des »Briefes«, Bacon, in seinem
wissenschaftlichen Hauptwerk an naturphilosophischen Gedanken unter
dem Begriff der »Forma vera« zusammenzufassen suchte.44 Immerhin unterscheidet die Aussage des »Briefes« an dieser Stelle einen emphatischen
Formbegriff von dem rhetorisch-technischen, der zur Kunst äußerlicher
Gestaltung (ergon) gehört: »Innere Form«, das ist die zwar nicht weiter
begründete, aber in Analogie zur natürlichen Zeugungspotenz anzunehmende endogene Kraft {energeia} der lebendigen, der schöpferischen Gestaltung.
Nun hat eine Geschichtsschreibung, die in schöpferischer Manier eine
Welt aus Dichtung und Wahrheit zusammenleimen möchte, andere Ziele
als ein akademisches Forschungselaborat. Ihr Zweck ist es, mehr als ei264
ne bloß faktengetreue Rekonstruktion vergangener Daten und Ereignisse
zustandezubringen. Denn der Vergleich mit Algebra und Musik scheint
auf eine Doppelcodierung - incl. Kalkül, Ornament, Kombinatorik und
Modulation - des historiographischen Textes hinweisen zu wollen, die der
gewöhnlichen Erwartung zuwiderläuft; Algebra und Musik gelten als besonders >reine< Spielarten geistiger Arbeit. Stoffliche bzw. materielle Bedingungen sind für diese >Künste< keine Fesseln. Ihre Freiheit endet nicht an
den Grenzen der Materialien, an Ziffern, Worten, Leim, Farbe, Stein usw.
Deutet dieses Vorhaben nicht bereits ein antihistoristisches Ideal an:
eine Geschichte schreiben zu wollen, die sich sowohl vom stofflich Gegebenen als auch vom Ordnung stiftenden Erzählen löst? Sprechen die subjektiven Erfahrungen, die der Lord gegen die relative Objektivität der Geschichte aufbietet, nicht von der Auflösung einer Wahrnehmungsform, die
sich die Welt wie einen zusammenhängenden, gut lesbaren Text vorstellt?
Die Antworten liegen in den Fragen, und der »Brief« läßt sich, nimmt man
diese ernst, tatsächlich als ein antihistoristisches, der Kontinuitätsidee widersprechendes Manifest lesen. Darüber später mehr.
Bleiben wir zunächst noch bei dem, was man den Rhetorismus des
Chandos-Briefes nennen könnte. Der Lord will die Rhetorik des Schreibens aufgeben, um in begrifflich unverstellter Unmittelbarkeit die Welt mit
ihren Zufällen wahrnehmen zu können - eine paradoxe, etwas mystisch
klingende Umschreibung für eine visuelle Sensibilität, die im Einzelding
ein Bild(symbol), nicht aber ein Textelement wahrnimmt. Form und Sprache des »Briefes« erscheinen indes wie die soufflierte Rede des andern, des
mit dem Unwahren assoziierten Idioms, der literarisierten Formensprache
der klassischen Rhetorik. 5 Sogar das »Bild«, das, wie Chandos schreibt,
»zuweilen nachts in meinem Hirn [ist] wie ein Splitter, um den herum
alles schwärt, pulst und kocht«, ist das eines antiken Redners (Crassus).
Und selbst wenn Chandos nicht nur den Sprachwitz, sondern vor allem
die seltsame Tierliebe dieses Römers bewundert, so geht es in diesem vom
Briefschreiber ganz besonders hervorgehobenen Fall nicht um ein unmittelbar wahrgenommenes Bild. Ihn erregt vielmehr der »Splitter« früherer Lektüren, mithin ein Stück Treibgut aus dem Ozean des literarischen
Gedächtnisses. Selbst die Absage an Geschichte, ist - wie es scheint - dazu
verdammt, Geschichte zu zitieren.
Hofmannsthals Chandos sucht ein Jenseits der rhetorischen Kunstgriffe und macht zugleich Gebrauch von ihnen. Er sucht ihre Überwindung
dort, wo sie wie selbstverständlich von Ciceros bis Voltaires Zeiten beheimatet waren: in der Historiographie. Natürlich ist der englische Lord auch
das Sprachrohr seines Erfinders, und auch das ist noch gute alte rhetorische
Tradition. Ja selbst Chandos' sonderbarer Wunsch, die Sprache der höfi265
sehen Redseligkeit mit der Sprache der stummen Dinge zu vertauschen,
findet Rückhalt in dem Oxymoron »Rhetorik des Schweigens«.
Kurz, der Fall Chandos ist vielsagend. Großzügig ausgelegt, bezeichnet
er die Schwelle zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen Imagination
und Faktizität, über die auch derjenige Historiker nicht leichtfüßig hinwegspringen kann, der die Existenz von Daten als Garantie für den Tatsachencharakter vergangener Ereignisse betrachtet. Chandos ist die Symbolfigur für das seit Nietzsches Kulturkritik angekränkelte Rede- und Geschichtsvertrauen. Er verabschiedet sich von den großen Erzählungen und
zugleich von der großen Gesellschaft, macht sich auf die Suche nach einer
»inneren Form«, die der Sprach- und Geschichtsskeptiker von der rhetorischen, zur äußerlichen Formkunst degradierten Beredsamkeit abtrennt und
im weiteren Verlauf seines Bekenntnisbriefes endlich ganz fallen läßt. Dieser Abschied fuhrt ihn mit einem pathologisch anmutenden Sprung von
den kosmologischen Vorzügen der Schriftkultur weg zu einer Ästhetik der
unzusammenhängend erscheinenden unscheinbaren und stummen Dinge.
Die Sehnsucht des literarisch Gebildeten nach Versenkung in die zufällige Welt der materiellen Zeichen, nach der Sprache der stummen Dinge,
läßt sich als Symbolik des Wunsches verstehen, die rhetorisch erzeugte Evi-
denz mit der vermeintlich authentischeren, unmittelbareren Evidenz der
Dinge selbst zu vertauschen. Das erfordert auch eine Entscheidung für
die Erfahrung des Augenblicks und gegen die scheinbar alles Daseiende
genetisch herleitende und erklärende Historie. Der Briefschreiber erfährt
aber diese Sehnsucht nach einer anderen, von Rhetorik und Historie freien
>Sprache< selber wie eine krankhafte Bedrängnis, die sich als Versagen seiner
früheren literarischen und gesellschaftlichen Fähigkeiten äußert.
Als ein Gleichnis für die Krise der Darstellung um 1900 gelesen, deutet der Chandos-Brief bereits auf langfristig sich vollziehende Veränderun-
gen in der Konstellation zwischen Poetik, Rhetorik und Historik voraus.
Diese Veränderungen zeigen sich in der Abkehr vom gemeinsamen Überlieferungshorizont der Antike und in jener vom Spezialistentum beförderten Unterbrechung der kommunikativen Kreuz- und Querverbindungen
zwischen den Rede- und schriftbezogenen Disziplinen, die man heute auf
disziplinübergreifender Metaebene mühsam wiederaufzuheben sucht.
266
Anmerkungen
1 Gesammelte Schriften, Bd. V/1, hg. v. R Tiedemann, Frankfurt/M. 1982,
S.595.
2 Vgl. H. White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973. G. Spiegel: History, Historicism, and the Social
Logic of the Text in the Middle Ages, in: Speculum 65 (1990), S. 59-86. J.
Rüsen: Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke, in:
H. Eggert, U. Profidich, K. R. Scherpe (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen
und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 1—11. P.
Carrard: Poetics of the New History. French Historical Discourse from Braudel to
Chartier, Baltimore/London 1992. Jacques Ranciere: Die Namen der Geschichte.
Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt/M. 1994.
3 Erinnert sei an den durchaus nützlichen Vorschlag von W. Labov u. J. Waletzky:
Erzählanalyse: mündliche Versionen persönlicher Erfahrung, in: J. Ihwe (Hg.):
Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 2, Frankfurt/M. 1973, S. 78-126.
4 Zur Bedeutung der Ästhetik für die Ausbildung eines modernen historiographischen Paradigmas vgl. meine Studie »Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens Alexander und Rankes Wallenstein«, in: DVjs 54 (1980), S. 58-104, und D. Fulda:
Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin/New York 1996.
5 L. v. Ranke: Geschichte Wallensteins; zit. nach dem von H. Diwald hg. Neudruck, Düsseldorf 1967, S. 35.
6 A. Döblin: Wallenstein, Ölten 1977, S. 9.
7 Vgl. dazu Roland Barthes: L'ancienne rhetorique. Aide-memoire, in: Communications 16 (1970), S. 172-223.
8 Die Autoren, die Hofmannsthals Chandos in seinem Brief mit positiven Urteilen versieht, sind zugleich Monumente der forensischen wie literarischen Rhetorik: Sallust und Livius, Cicero und Seneca.
9 Vgl. dazu H. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der
Rhetorik, in: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1986, S. 104—
136.
10 J. Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer HistorikI: Die Grundlagen
der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 20.
11 Er bezog diese Formulierung auf Dantes Divina Commedia; vgl.: G. Droysen:
Historik, ed. P. Leyh, Stuttgart-Bad Canstatt 1977, S. 77.
12 Vgl. auch P. Ricceur: Geschichte und Wahrheit, übers, v. R. Leick, München
1974, S. 44.
13 Droysen: Historik, S. 67 ff. et pass. — M. Bloch: Apologie pour l'histoire ou
metier d'historien, Paris 1949.
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14 Aristoteles: Poetik (Kap. 9), übers, v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 29 f.
15 Die entscheidende Passage aus der Poetik in Manfred Fuhrmanns Übersetzung
(s. Anm. 16): »Außerdem darf die Zusammensetzung [der Handlungen im Epos]
nicht der von Geschichtswerken gleichen; denn dort wird notwendigerweise nicht
eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d. h.
alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit [... ] zugetragen haben und die in einem
rein zufälligen Verhältnis stehen [...], ohne daß sich ein einheitliches Ziel daraus
ergäbe«.
16 Cicero: De oratore 11.15, S. 62 ff.
17 Bei Friedrich Schlegel lautete der Satz: »Freilich wird alles, was man von der
Kunst erfahren hat, erst durch Philosophie zum Wissen.« (Literary Notebooks,
Nr. 193) zit. nach Szondi [Anm. 18], S. 124.
18 P. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II: Von der normativen zur spe-
kulativen Gattungspoetik. Schellings Gattungspoetik, Frankfurt/M. 1974,
S.250.
19 F. W. J. Schelling: Philosophie der Kunst, Darmstadt 1974, S.281.
20 Philosophie der Kunst, S, 290; über die »partielle Mythologie« des Romans
vgl. ebd. S. 320.
21 Historik, S. 418. Jörn Rüsen [Anm. 10: S. 58] nimmt diese Formulierung
zustimmend auf.
22 R Koselleck: >Neuzeit<. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in:
Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M.
1979, S. 300 ff.
23 Vgl. dazu D. Harth: Rankes ästhetischer Sinn, in: Literaturmagazin 6: Die
Literatur und die Wissenschaften, hrsg. v. N. Born/H. Schlaffer, Reinbek b. Hamburg 1976, S. 58-69.
24 Die vollkommenen Geschichtswerke, von denen Gervinus träumt, »lehren
weniger das Erzählte benutzen als den Erzählern [!] nachstreben, die mit reiner
männlicher Gesinnung die Welt beurteilen und mit gesundem Blicke überschauen.« G. G. Gervinus: Schriften zur Literatur, hrsg. v. G. Erler, Berlin 1962, S. 91.
25 Schriften, S. 99.
26 Schriften, S. 152 f.
27 Auch Gervinus berief sich auf Humboldt, übernahm aber nur dessen historische Ideenlehre, während Droysen sich an der Methodik der sprachhistorischen
Versuche desselben Autors orientierte.
28 Hier folge ich einem Gedanken Reiner Wehls, den dieser in einem ganz anderen Kontext entwickelt hat, der aber vorzüglich geeignet ist, die inneren Voraussetzungen von Droysens Gedanken zu erläutern; vgl. R. Wiehl: Form, in: Handbuch
philosophischer Grundbegriffe, hrsg. v. H. Krings et al., Bd. 2, München 1973,
S.452.
268
29 Historik, S. 106 u.l07f.: »Die historische Frage ist ein Ergebnis des ganzen
geistigen Inhalts, den wir unbewußt in uns gesammelt und zu einer geistigen
Welt subjektiv geformt haben. Sie ist eine Intuition, die sich uns nicht durch
Grübeln und Nachdenken ergibt, sondern aus der Totalität unseres Ich hervor-
springt, scheinbar unvermittelt, plötzlich, wie von selbst, in der Tat aber aus der
ganzen auf diesen Punkt hin gereiften Fülle unseres geistigen Daseins [...]. Es ist
eben nichts anderes, als was dem Künstler, dem Dichter, dem Denker eben auch
so geschieht...«
30 Historik, S. 8; 107.
31 R. Koselleck: Vergangene Zukunft [Anm. 22], passim.
32 B. G. Niebuhr: Vorträge über Römische Alterthümer, hg. v. M. Isler, Bd. F/,
Berlin 1858, S. 25. Vgl. auch meine Rezension zu G. Walther: Niebuhrs Forschung (Frankfurter Hist. Abhandlungen 35), Stuttgart 1993, in: International
Journal of the Classical Tradition (Winter 1995), S. 130-135.
33 Zur Bedeutung dieses Versuchs und zum Wechsel von »sagen« zu »zeigen«
vgl. E. Schulin: Rankes Erstlingswerk oder Der Beginn der kritischen Geschichts-
schreibung über die Neuzeit, in: Ders.: Traditionskritik und Rekonstruktions-
versuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem
Denken, Göttingen 1979, S. 44-64.
34 L. v. Ranke: Idee der Universalgeschichte, in: Vorlesungseinleitungen, hg. v.
V. Dotterweich u. P. Fuchs: Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4, München 1975, S. 72.
35 Vgl. z. B. das 3. Buch von Quintilians Institutio oratoria.
36 Droysen selbst verglich sie mit der Gerichtsrede: Historik, S. 446.
37 Siehe die Stelle, an der Droysen die »Phantasie des Lesenden« als den Ort
beschreibt, an dem sich die atmosphärischen Qualitäten der Erzählung »ergänzen
und plastisch ausbilden.« Historik, S. 240.
38 Vgl. Historik, S. 423.
39 In neueren Theorien wird oft zwischen Analyse und Erzählung unterschieden,
während doch beides in der »analytischen Synthese« der Historie vereint ist. Vgl.
z. B. J. Kocka: Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation,
in: Geschichte und Gesellschaft, 10. Jg., 1984, H. 3, S. 395-408.
40 Vgl. zum Hintergrund J. Lohmann: Vom ursprünglichen Sinn der aristotelischen Syllogistik, in: Lexis II/2 (1951), S. 395-408.
41 Droysen: Historik, S. 322: »wenn der Künstlet zum Material seiner Mimesis
die Sprache selbst nimmt, so braucht er Wort und Gedanke als Mittel, an ihnen die Empfindung, die ihn innerlich bewegte, auszudrücken, das Unsagbare zu
sagen.«
42 S. Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung
der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart
1992, S. 145 ff.; hier auch kurze Charakteristik der einschlägigen Forschung.
269
43 H. v. Hofmannsthal: Sämtliche Werke XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe, hg. v. E. Ritter, Frankfurt/M. 1991, S. 45-55.
44 The Works of Francis Bacon, hg. v. J. Spedding et al., Vol. I, London 1858,
S. 230: »Etenim Forma naturae alicujus talis est ut, ea posita, natura data infallibiliter sequatur. Itaque adest perpetuo quando natura illa adest, atque eam universaliter afHrmat, atque inest omni. Eadem Forma talis est ut, ea amota, natura
data infallibiliter fugiat. Itaque abest perpetuo quando natura illa abest, eamque
perpetuo abnegat, atque inest soli. Postremo, Forma vera talis est, ut naturam
datam ex fönte aliquo essentiae deducat quae inest pluribus, et notior est naturae
(ut loquuntur) quam ipsa Forma.« (Novum Organum II.4)
45 Technisch ausgedrückt: exordium incl. captatio benevolentiae, narratio (z. T.
mit Exempel-Funktion) incl. anschließender, teils auch vorausgehender argumentatio sowie abschließende peroratio.
270
Commemoratio mortis.
Betrachtungen über Jean Paul,
Kleist und Hölderlin
Leichen.
Eine lege die Hand ans Ohr:
Wat bibberste?
Gottfried Benn
Die einfachste Formel für die schöpferische, zugleich mit dem Lebensprozeß die Zeit zeugende Kraft des Logos ist das bekannte Wort aus Mose
1.1: »Es werde... und es ward.« Die Inkarnation läßt das Wort nicht frei,
sie legt ihm zeitliche Fesseln an. Es wird endlich, teilt das Schicksal alles
Lebenden und stirbt. Dieser Tod ist indessen kein Absturz ins Nichts, sondern ein Pfad ins Archiv. Dort bewahrt es die Gemeinde der Wortgläubigen unter andern virtuellen Zeichenvorräten und pflegt sein Gedächtnis
im Kultus der Auslegung, hoffend, daß die gelehrte Beschwörung es dem
Leben zurückgebe. Ein Motiv dafür ist der Schrecken vor der Leere, der
im übrigen auch das Denken veranlaßt, die Halt bietenden Diskursgrenzen unter Berufung aufs Unendliche als deren Grund nur versuchsweise in
Begriffsspielen aufzulösen. Der Mythos, im Kult nimmt er die Gestalt der
Handlung, in der Dichtung die der Chiffre an, erzählt von der Parusie als
der Verschmelzung von Wortzeichen und schaffender Substanz, von totem
Buchstaben und lebendigem Geist. Die Poesie aber, behaupte ich mit Jean
Paul, »verklärt« wie der Jüngste Tag der Zeichenauferstehung Autor und
Leser, ohne die Welt so zu verändern, wie es die Apokalypse zusammenreimt.
Betrachtungen stellen vor die Wahl, ob Kontemplatives oder Erbauliches den Ton bestimmen soll. Die Letzten Dinge legen es nahe, beidem
gerecht zu werden. Doch betrachten läßt sich selbst dieses mit allen Sin-
nen. Bilder und plastische Szenen, kurz: Bunte Konkretionen jeder Art
müssen das trübe Nichts des Todes nicht schmälern. Daher beginne ich
mit der Bildbeschreibung von Sterbebetten und Funeralien. Wo vom Tod
die Rede ist, sind Bilder in unserer Kultur die wahren Platzhalter erinnernder Vergegenwärtigung.
271
Triptychon: Von Sterbebetten und Grablegungen
Das erste Bild zeigt das Schlafzimmer einer wohleingerichteten Bürgerstube; neben dem Bett ein Tischchen mit einer Anzahl von Repetieruhren,
einer Karaffe Wasser und Blumen. Es ist der Abend eines dunklen Novembertages im Jahr 1825. Um das Bett, in dem als bequemem Sterbelager einer, der etwa Anfang 60 ist, sehr ruhig - dem Takt der Repetieruhren zum
Trotz — ins Unbekannte hinüberschlummert, stehen als berufliche Sterberegistratur der Arzt, als innerlich Mitsterbende die Frau mit den Kindern
des Moribunden und zwei seiner Freunde. »Wir wollens gehen lassen«
waren die letzten Worte des soeben endgültig Verstummten.
Jetzt — bald nachdem der Tod den Sterbeschlummer abgeschnitten,
um genau zu sein: drei Tage später, gibt die ganze Stadt dem Leichnam
das letzte Geleit, und das große Geläut aller Glocken, vermischt mit Trauermusik, begleitet den Zug hinaus zum Friedhof an der »Straße nach der
Fantaisie«. Ein rechter Pompe funebre ists: Der vollzählige Stadtmagistrat
nebst Bürgermeister, der Königliche General-Kreiskommissär geht neben,
oder hinter, oder vor dem Regierungspräsidenten und den Repräsentanten
der sonstigen Zivil- und ersten Militärberhörden, die Geistlichen nicht zu
vergessen. Unzählige Fackeln, Laternen, Pechpfannen beleuchten ernste
Mienen und - Bücher, Bücher die von robusten Elementarschülern, zarten Gymnasiasten und Lyceisten wie die Trophäen eines siegreichen Feldherrn hinter dem Leichenwagen hergetragen werden, Bücher, deren Titel
den Namen des Toten erraten lassen: Levana oder Erziehlehre, Vorschule
der Ästhetik, Die Unsichtbare Loge. Und, siehe da, wie zur allegorischen
Krönung des toten Allegoristen und Sprachbewegers oben auf dem Sarg
befestigt und von einem Lorbeerkranz umrahmt der in rotes Corduan gebundene Manuskript-Torso der Erzählung Seiina oder über die Unsterblichkeit der Seele.
Ist den Chronisten zu trauen, so war Jean Paul Richters Grablegung
in Bayreuths Friedhof an der »Straße nach der Fantaisie« eine vollendete
Inszenierung seiner Idee der im literarischen Gedächtnis fort- und immer
fortdauernden Existenz und zugleich die pompöse Darstellung jener sozialen Reputation, die das gedruckte Wort dem mit Ehrendoktorwürden
geschmückten Erfolgreichen bei allen nicht gemeinen Ständen seiner Zeit
eingebracht hat. Zu Lebzeiten schrieb der Selige, man lebe »jetzo mehr im
Vernichten als im Erschaffen«.1 Der Glanz der Grablegung und die erhabenen Epitaphien, die hinter ihm her schallten, haben diese Beobachtung
Lügen gestraft.
Ein anderes Bild: Ein Zimmerchen, schmucklos, nur mit dem Nötigsten möbliert. Es ist eine frühsommerliche Mondnacht im Jahr 1843, ge272
gen 23 Uhr, die Fenster sind geöffnet. Im Bett ein greiser Mensch mit
schütter-wirrem Haar; eine Erkältung, so schien es am Tag, hat ihn geschwächt. Schläft er jetzt? Die wenigen Leute im Zimmerchen - eine
junge Frau, zwei junge Männer und die Mutter der vorigen - glauben, er
schlafe, während er in Wahrheit doch entschlafen ist, sanft und ohne die
Wut, die den in sich Eingesperrten zuvor im Leben manchmal überfiel.
Einige wenige Freunde und Angehörige des Toten kümmern sich anderntags um jene Formalitäten, die dem Tod ein ordendiches, das Alltagsleben kaum störendes Aussehen geben; die Lokalzeitung veröffendicht eine
kurze Notiz, in der unter anderm zu lesen ist, »nach kurzem blendenden
Aufleuchten« habe des Verstorbenen Geist »sich mit Nacht umzogen«; die
Arzte aber sind daran interessiert, die Umnachtung vernünftig erklären zu
können und halten als ein Ergebnis der alsbald angeordneten Leichenöffnung fest: »Das Gehirn war sehr vollkommen und schön gebaut, auch ganz
gesund, aber eine Höhle in demselben, der Ventriculus septi pellucidi, war
durch Wasser sehr erweitert, und die Wandungen ganz verdickt und fest
geworden... «2
Zwei Tage drauf wird der Mann, der in seinem langen am Flußufer im
Turm verbrachten Leben — wie um mit Rollenspielen die Langeweile zu
vertreiben — sich mal Rosetti, mal Killalusimeno, mal Scardanelli nannte,
zu Grabe getragen.3 Der Tote hatte zwar im lichteren Teil seiner Existenz,
und dieser lag weit weit zurück, am Ort studiert, jetzt aber läßt man die
ansonsten üblichen »Insignien einer akademischen Leiche« beiseite. Studenten, man hatte sie dazu aufgefordert, gehen hinter dem Sarg, einige
ferne Verwandte, zwei Bibliothekare, ein junger, rasch vergessener Dichter. Die Tübinger Liedertafel singt etwas Frommes, ein junger Freund des
Toten, Christoph Theodor Schwab, hält die Grabrede. »Ja, wir wollen
es uns«, so redet er tapfer die Versammelten an, »recht deutlich vor das
Gedächtnis rufen, was dieser reiche Geist einst war, dessen Hülle wir nun
versenken... «T Der Gegensatz zwischen Hülle und Geist, den der Redner
mit der glücklosen Wendung vom vergangenen geistigen Reichtum verband, hat der Erinnerung der Zeitgenossen wohl kaum ein Licht aufgesteckt. Wer von den jungen Studenten wußte schon, was dieser verrückte
Alte geschrieben hatte, den sie gern, als er noch durch die Tübinger Gassen
schlich, neckten und an dessen Grube sie sich nun drängten? Es sollen an
die hundert gewesen sein.
Ein letztes Bild: Wieder ist es ein Novembertag, aber das Jahr zählt
1811; ein großes, aufgeregtes Gerenne da draußen am Stolpschen Loch,
entsetzte Gesichter; auf der Machnowschen Heide, »in einer kleinen Grube«, liegen zwei Tote. Sie mitten ins Herz geschossen, er — wie erst die
wenig später erfolgte Obduktion zeigt - mit einer Kugel im Hirn. »In der
273
Substantia medulari«, schreibt der geschäftige Chirurgus, »ein unförmliches Stückchen Blei, 3/4 Lot an Gewicht; die Substanz des Gehirns war in
dieser Gegend zerstört«. Die Schlußfolgerung aus dem Befund und »denen eruierten Nebenumständen« lautet, »daß der Denatus [... ] die geladene Pistole im Munde angesetzt und sich selbst damit getötet«. Man beachte das sonderbare, ungewollt ironisch klingende Medizinerlatein: »der
Denatus«, umschreibend könnte man sagen: »der aus der Geburt Zurückgenommene«, oder wörtlich: »der Entborene«. Der Chirurgus begnügt
sich indessen nicht mit der Ermittlung der Todesursache, er fahndet vielmehr, indem er die Leiche geradezu ausweidet, in den Eingeweiden des
»Denatus« nach einem moralisch dingfest zu machenden Indiz, das der
Welt auf objektive, sprich: wissenschaftliche Weise erklären soll, daß dieser
unerklärliche Doppel-Freitod nur einem »exzentrischen«, einem — so heißt
es bieder im Obduktionsbericht - »kranken Gemütszustand« entspringen
konnte.5
Die zerschnittenen Leichen, auch die weibliche entgeht den obduzierenden Händen nicht, werden in eilends herbeigeschaffte Särge gelegt und
in der Nacht von Tagelöhnern unter Anwesenheit der Polizei ebendort vergraben, wo man die Toten am Nachmittag gefunden hatte. Eine septikum
minus solennis, wie sie das preußische Kirchenrecht im Falle der Selbstentleibung vorschreibt: »keine Grabrede, kein Geläute [... ] kein Denkmal«.
Diesem finsteren Treiben auf der Machnowschen Heide wohnt auch
der Kriegsrat Ernst Friedrich Peguilhen bei, der nicht nur die Bücher, die
bei den Toten gefunden wurden - einen Band Don Quijote nebst Klopstocks Oden - an die Brust drückt, sondern der auch einen Abschiedsbrief der erschossenen Frau in der Tasche hat. »Mein sehr werter Freund!«
schreibt die unterzeichnete Henriette Vogel an den Herrn Kriegsrat, »Ihrer Freundschaft die Sie für mich, bis dahin immer so treu bewiesen, ist es
vorbehalten, eine wunderbare Probe zu bestehen, denn wir beide, nämlich
der bekannte Kleist und ich befinden uns hier bei Stimmings, auf dem
Wege nach Potsdam, in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir
erschossen daliegen, und nun der Güte eines wohlwollenden Freundes entgegensehn, um unsre gebrechliche Hülle der sicheren Burg der Erde zu
übergeben.«7
Das kirchenrechtliche Verbot, ein Denkmal auf den Gräbern am »Wege nach Potsdam« zu errichten, wurde erst im Jahr 1848 von Eduard von
Bülow gebrochen, der zeitgleich mit dem Erscheinen seiner Kleist-Biographie (Berlin 1848) einen »Denkstein« aus unbehauenem Granit an eben
dem Ort setzen ließ, an dem man damals die Gräber vermutete. Dieser Ort
ist aber mit Sicherheit falsch gewählt, da die verschämt angedeuteten Grabhügelchen bald vergessen, verwildert, verwechselt, verschoben wurden und
274
überhaupt die Heide und zugleich damit die Reliquien der Verscharrten
bis zum Jahr 1848 manche Umgestaltung erleiden mußten.
Die Verschiebung oder Sperrung ist bekanntlich eine der auffälligsten
Figuren in Kleists eigensinniger Prosa. Welche Lust daher für das Herz aller Symbolisten, daß es just diese Figur ist, die zwischen der Topographie
einerseits der Texte, andererseits der Gedenklandschaft so direkt vermittelt.
Welche Genugtuung aber auch für diejenigen, die das freie Flottieren der
Zeichen als Garantie für die Unendlichkeit des Sinns ansehen. Sind doch
Selbstmörder nach altem Aberglauben dazu verdammt, ewig zwischen den
Lebenden und Toten umherzuirren. Sie waren, soziologisch gesehen, zu
Kleists Zeiten gesellschaftlich nicht angliederungsfähig. Und daß die spätere Rehabilitierung des Totengedenkens mittels Granit die Grube mit den
Gebeinen verfehlt, wirkt daher wiederum wie ein Symbolon dafür, daß sich
die schriftlichen Überbleibsel des »Denatus« Kleist bestimmter Verortung
entziehen.
Wie und unter welchen Umständen man stirbt, welchen Anteil die
Mitwelt an der Grablegung und anschließenden Trauer nimmt, und wel-
che Gedenkzeichen sie setzt: Das alles ist Stoff für die Erinnerungsarbeit.
Eine Arbeit, die gleichsam Hand anlegt, um ein Bild des oder der Verschiedenen - die Sprache ist da auf vertrackte Weise präzis - zu modellieren, das
in der sogenannten Nachwelt Bestand haben soll. Daß allein Kleists Name und nicht auch der Henriette Vogels auf dem Bülowschen Denkstein
eingemeißelt wurde, ist ein Beispiel für die Geschichts- und GedächtnisEnteignung, anders gesagt: für die Vergessensleistung, die mit solchen Ritualen einhergeht. Der Fall mag einem krass und ungerecht vorkommen,
und dennoch bleibt es eine Tatsache, daß Henriette Vogels Name ohne
den des — wie es in ihrem Abschiedsbrief ja heißt — »bekannten Kleist«
keine Spuren im kollektiven Gedächtnis der Gebildeten hinterlassen hätte.
Der Tod setzt Zäsuren in die historische Zeitleiste wie die Hinterbliebenen oder Überlebenden Denk- oder Gedenksteine in die geometrisch
durchkalkulierten Gräberreihen der Schädelstätten. Ordnung muß sein
angesichts des finalen, in den organischen Dreck fuhrenden Bruchs aller
kulturellen Vorsichtsmaßnahmen gegen die natürliche Verfallszeit. Der
Tod wird, wie das der französische Historiker des Todes - Philippe Aries
- ausdrückte, »gezähmt«.8 Das ist in allen Kulturen mit einem inszenatorischen, auch materiellen Aufwand verbunden, der Züge eines rituellen Schauspiels besitzt. Man verkleidet sich, reduziert die Körperbewegung auf gekünstelte Gesten und trägt die Maske der Trauermiene, hinter deren Starrheit sich nicht selten die Angst vor dem Lach- oder Weinkrampf verbirgt, der nicht nur den bedroht, der sich die Unordnung vorstellt, die entstünde, würde der Tote als Scheintoter plötzliche Auferste275
hung feiern; passende Drehbücher zu solchen Unfällen finden sich bei
Jean Paul. Die theatralische Zuschauerfantasie wird immer dann besonders geschäftig, wenn man sich körperlich zusammennehmen muß, und
das insbesondere dort, wo körperlicher Zerfall auf dem Programm steht.
Das triste Schauspiel mit dem Titel »Letztes Geleit« markiert ein Ende und einen Anfang: das Ende einer individuellen Lebensbahn und den
Beginn ihrer Memorialisierung. Den »rites de Separation« in der Totenhalle und an der Grube folgt am Ende der Trauerzeit die Eingliederung ins
Familienarchiv. Immer dann, wenn es sich um den Tod einer öffentlich bekannten, vielleicht sogar mit kanonischer Würde geadelte Person handelt,
sind Wiederholungen die Folge; liturgisch inszenierte Gedächtnisrituale,
die auf der breiten Skala, die von der Haarlocke bis zum Denkstein reicht,
eine relativ feste Gestalt annehmen: in Monumenten und Skulpturen, in
Museums- oder Konzertsälen, in Werkausgaben, in den künstlichen Paradiesen der multimedialen Augen- und Ohrenschmausindustrie und dergleichen mehr.
Ist der Tod die Suspension des individuellen Lebens, so ist deren Resultat die Geschichte, die sich in nomine posteritatis erzählen läßt. Auch
das gehört zum Totenkult. Die zufälligen Geburts- und Sterbedaten werden im Prozeß des Erzählens semantisch gewichtet und definiert. Was dem
Lebenden als Zufall widerfuhr, kann da durchaus nach der Regel »sicut vita, finis ita« konsequent zurechtgebogen werden. Es ist das Todesdatum,
von dem aus die Erzählinstanz alle vorausliegenden Ereignisse reorganisiert
und so mit jenem Sinn ausstattet, den die Leser manchmal mit Erklärungen verwechseln.
Wenn daher nun, in meiner zweiten Betrachtung, von Lebens- und Todesarten die Rede sein wird, so schließt das die Betrachtung der Erzählarten
ein. Vom Erzählen heißt es irgendwo (nicht so ganz glücklich), es sei ein
»Enttöten«, also ein Rückgängigmachen der Vergänglichkeit, oder das, was
man »Vergegenwärtigen« nennt; es setzt demnach den Tod, also das Ende eines Lebens voraus. Vielleicht sollte es — zumindest über fiktionale
Geschichten - nüchterner heißen: Erzählen ist hier ein Sprachakt im Tempus der Vergangenheit und im verdeckten Modus des Irrealis, der aus vorhandenen und/oder aus erfundenen Reliquien Welten baut (fact, fiction,
faction), die der zwangsläufigen Endlichkeit ein geflüstertes »Dennoch!«
entgegenhauchen.
276
Metabolismen: Von Lebens- und Sterbensarten
Jean Pauls beiläufige Bemerkung »unser Bewußtsein unserer selber ist der
Schlüssel der Welt.«9 ist fraglos auch auf die dargestellten Welten in den
Büchern der drei hier vom Ende her erinnerten Autoren anzuwenden. Nur
daß an diesem »Schlüssel« nicht bloß im Autor- sondern auch im Leser-
bewußtsein gebosselt wird, und dieses besetzt - ich spreche im Augenblick von mir als Leser - die dem Leben abgekehrte Seite. Und selbst das
möchte man so nicht einfach stehen lassen, denn es ist just diese Seite,
die — überläßt man sich wieder vertrauensvoll der prometheischen Fantasie
Jean Pauls — sich in eine dem Leben zugekehrte zurückkrümmt. Sind es
doch (ich paraphrasiere einen Brief Richters) die »seit [... ] Jahren gesam-
melten Gebeine«, die die kundige Hand des Schreibers »zu einem Knochengebäude« zusammengefügt, um dieses schließlich wie Frankensteins
Geselle mit einem »Nerven- und Adernsystem« zu überziehen.10 Der so
plastisch beschriebene Akt der poetischen >Beseelung< evoziert ein organi-
sches Werkverständnis, ohne den technischen Vollzug der Konstruktion
noch die Vorgabe gewisser Materien zu verschweigen.
Der künstliche Mensch — die Automate, der Gliedermann — war ein
Faszinosum der hier heraufbeschworenen Zeit und zugleich ein praktikables Symbol, mit dessen Hilfe sich die Rätsel künstlerischer Kreativität
zwar nicht lösen, immerhin aber wort- und bildreich kommentieren ließen. Kleists Erzählung über das Marionettentheater, die meist zu unrecht
mit einem theoretischen Erguß verwechselt wird, läßt den Tänzer über die
tote Materie der hölzernen Gliederpuppe fabulieren als war diese der einzige Sitz göttlicher Anmut. Aber wie ausführlich auch immer der Tänzer
den Konstruktionsmechanismus des Artefakts beschreibt, er kann sich im
geringsten nicht dem Geheimnis der Grazie nähern; warum? weil er den
Schlüssel im Objekt und damit an der falschen Stelle sucht. Gleichwohl
bringt gerade das Apodiktische seiner Behauptungen, das den irritierten
Ich-Erzähler aus der Rede des andern das Paradoxe deduzieren läßt, ei-
ne entscheidende Einsicht ans Licht. Nämlich die Einsicht in die Un-
verfügbarkeit der vom Autor beseelten Materie, sobald diese vom Gravitationsgesetz erlöst, also im Tanz, oder sagen wirs allgemeiner: von jener
Sprachfantasie bewegt wird, die mit den ältesten Texten wie mit fremden
Federn jongliert. Die Fingerbewegungen des Puppenspielers verhalten sich
dann - so der Text - zur Bewegung der Marionette wie die Asymptote zur
Hyperbel. Als Gleichnis für die Beziehung des Autors zu seinen Figuren,
ja zu den von ihm erzeugten Welten gelesen, heißt das: Sie kommen niemals zur Deckung, so sehr sie sich auch einander annähern wollen. Eine
treffende Formel für die Entmythologisierung der Gottesebenbildlichkeit
277
des Autors, die nebenbei auch das für die Klassik in Anspruch genommene
Ideologem einer Identität zwischen Leben und Werk ad absurdum fuhrt.
Das Eigenleben, das nach dieser These die vom literarischen Werkmeister geschaffenen Figuren und ihre Geschichten gegenüber ihrem Urheber
- diesem Ich, das nicht im vollen Wortsinn Autor seiner selbst sein kann
- behaupten, ist in Kleists Texten auf mannigfach codierte Weise vorhanden: in den träumerischen Absencen der einen sowie in den Ohnmächten
der andern, die sich — wie sie frei gestehen - selbst zu Rätseln werden; in
der plötzlichen, kaum subjektiv motivierten noch handlungslogisch vorbereiteten Impulsivität der Akteure und in der unversehens aufblitzenden
Unlesbarkeit oder Unvertrautheit scheinbar vertrauter Charaktere: »Deine
Seele«, heißt es einmal an einer der zahlreichen lebensgefährlichen Stellen in der Familie Schroffenstein, »Lag offen vor mir, wie ein schönes Buch
[...]. Es zieht des Lebens Forderung den Leser / Zuweilen ab, denn das
Gemeine will / Ein Opfer auch; doch immer kehrt er wieder / Zu dem
vertrauten Geist zurück, der in / Der Göttersprache ihm die Welt erklärt,
/ Und kein Geheimnis ihm verbirgt [...]. Nun bist Du ein verschloßner
Brief.-«11
Gefällt sich Jean Paul in der Rolle des Demiurgen, der die tote Materie
sprachlich wiederbelebt und sogar noch die Leser am Portepee einer wortgewaltigen Fantasie durch die Antiweiten des poetischen Witzes schleift,
um sie nicht selten bis zur Verzweiflung zu treiben, so wenig Vertrauen
setzt Kleist in die belebende, umso mehr aber wohl in die schreckende, selbst
tötende Kraft der Rede. Der Befehl, der Racheschwur und der Fluch —
zwischen den Worten und der Tat vergeht in Kleists Geschichten meist
nur wenig Zeit, und zahlreich sind die Bilder, die Wort und »Blitz«, Wort
und »Gift«, Wort und Waffe zusammenfuhren.12 Nicht Ruf, Trommel
oder Predigt sollen die Zeitgenossen aus ihrer »Schlafsucht« wecken, das
erreicht nur der dem »Köcher der Rede« entnommene scharfe Pfeil. Den
Bogen, der diesen beschleunigt ins Ziel lenkt, nennt Kleist »Urteil«, als
wolle er so den rhetorischen Schützen und Jäger auf das begriffliche Handwerk eines philosophischen Quidproquo einschwören.13 Das zitierte Metaphernfeld erinnert von fern noch an den mythischen Träger des Bogens,
Apollon, dessen Pfeile diesen retten und jenen verderben. Aber wahrlich
von fern nur, auch wenn der Kontrast ganz nahe liegt. Denn es ist der andere Zeitgenosse, Hölderlin, der in der Gegenwart Kleists und Jean Pauls,
die ihn aber nicht wahrnehmen können, das heraklitische Wortspiel mit
dem griechischen Ausdruck für »Bogen«, biös, auf die Leben und Tod zugleich spendende Göttergestalt des Apoll bezieht: önoma bios, ergon de
thanatos, »der Name des Bogens (biös) ist Leben (bios), sein Werk aber der
Tod.«14 Das Detail ist beredt. Denn in der symbolischen Handhabung des
278
»Bogens« bei dem einen und andern Autor schlägt die Differenz zu Buche,
die ihren Umgang mit Mythen prägt.
Wie die Rede ein Gefühl in ein Ding verwandeln, und dieses Ding,
obwohl nur als Wort anwesend, allein im Aussprechen den der Handhabung des Objekts vorbehaltenen tödlichen Zweck erfüllt, das beschreibt
der aberwitzige Todesmonolog der Penthesilea:
,
... jetzt steig' ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.
Dies Erz, dies läutr' ich in der Glut des Jammers
Hart mir zu Stahl; tränk' es mit Gift sodann,
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;
Trag' es der Hoffnung ew'gem Amboß zu,
Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch;
Und diesem Dolch jetzt reich' ich meine Brust:
So! So! So! So! Und wieder! — Nun ist's gut.
(sie fallt und stirbt) *'
Die Märchen, Mythen und archaischen Schauergeschichten, die Kleist
erzählt, belegen die Präsenz von etwas Unbegriffenem, Unerkennbarem,
Unverfiigbarem, das listige oder gewalttätige Reaktionen herausfordert, sich
aber nicht in Sinnbilanzen verrechnen und ausgleichen läßt, weil die oberste Lenkungsinstanz der Welt in der schwarzen Tinte des Zweifels sitzt.
Daher stehen Kleists Mythen und Fabeln oft wie schaurige Reste einer untergegangenen Welt quer zum Modell jener hermeneutisch gebauten Geschichten, die dem Leser die Osterfreude der Sinnfindung durch die im
Text versteckten Schlüssel erleichtern. Quer stehen sie aber auch zu dem
heroischen Versuch Hölderlins, über die Traditionsbrüche hinweg die discordante Einheit überlieferter Kosmologien in den Bildern einer ästhetisch
konstruierten Mythenschrift erinnernd aufzuheben. »Ohne eine Gottheit«,
so läßt sich hier Jean Pauls Stimme in den Dialog mit Kleist hineinziehen,
»gibts für den Menschen nur ein feindliches Chaos unter dem Kunstgarten
des Zufalls.«16
Keine einzige der in den Werken der Genannten erzählend zusammenschießenden Welten ist bruchlos gefugt, ist ausgewogen oder gar vollen-
det rund. Zeitenwende und revolutionärer Zeitsprung haben jeden nai-
ven Idealismus angekränkelt. Die narrative Genesis der von Jean Paul und
Hölderlin erzählten Geschichten folgt den Vorstellungsbildern des Bockssprungs, der »krummen Linie« und der »exzentrischen Bahn«. So liegen
denn die Werkformen beider nah beim Schleudern der Zentrifuge, und sie
bevorzugen die Übergangsphasen der Dämmerung; Phasen in denen sich
279
die anscheinend bestimmten Zeitverhältnisse vor unsern Augen gleichsam
auflösen, um andern, bisweilen melancholisch grau eingefärbten, bisweilen kosmisch aufblitzenden Zwischen- und Übergangserfahrungen Raum
zu geben. »Meinem Herzen ist wohl in dieser Dämmerung«, räsoniert
im Thalia-Fragment Hyperion, »Ist sie unser Element, diese Dämmerung?
Warum kann ich nicht ruhen darin?« - Jean Paul aber plagt kein Zweifel:
In den Dämmerungen, die er im Frühjahr 1809 den Deutschen als politisches Potenzmittel verschreibt, heißt es über die Wunschwelt des noch
nicht Entschiedenen, in den Dämmerungen regiere das Herz.17
Wie lebensgefährlich und sterbensnah die historische Lebenswelt den
Autoren war, das sprechen sie hin und wieder stark verallgemeinernd aus:
Vom »Krieg der Welt« schreibt der Jüngere, Hölderlin, von den »Schlachtfeldern des Lebens« der Altere, Jean Paul.18 Kleist aber beschreibt das
Mörderische am Leben: Kriege und Schlachtfelder, den Verrat, den gewaltsamen Untergang - Totschlag und Freitod -, aber am Rande auch die
trügerischen Taktiken möglichen Überlebens.
Einem Autor wie Jean Paul, der die versteinerten Gehäuse des Systemsdenkens jenseits der Bildlichkeit angebaut sah, wurde auch der Tod noch
zur Metapher. Die Poesie besitzt für ihn, der sich sehr früh schon dem Problem des launisch zerflatternden, irrlichternden Sprachausdrucks reflektierend näherte, die Fähigkeit - so wördich - das Tote zu »beseelen«.19 Und
Totes gehört zur ersten, zur Alltagswelt wie der Schatten zum Licht. Denn
diese Welt steht im Zeichen des Mondes, der sein Licht von der abwesenden Sonne borgt, während in der »zweiten Welt«, der Welt der poetischen Fantasie, ähnlich wie im Universum der platonischen Ideen, der
sonnenhafte Logos aufgehen kann. Was aber niemals ohne vorausgehende Verfinsterung geschieht, die der Dichter gern in den grausigen Bildern
nächdicher Halluzinationen oder Traumvisionen präsentiert: »das dumme
nächtliche Begräbnis der Selbstmörderin Natur sehen wir und wir werden
selbst mitbegraben. [... ] Wo ziehst du hin, Sonne mit deinen Erden? Auf
deinem langen Wege findest du keinen Gott und nur vielleicht auf Einer
Erde einen eingebildeten« - heißt es im Traum über des »todten Shakespear's Klage, daß kein Gott sei«.20 Eine bilderflutende Lamentatio, die sich
dem nihilistischen Gedanken stellt und ihn zugleich szenisch überbietet,
nämlich dem Gedanken, das Absolute sei nichts anderes als eine notwendige, nur dem Denken nützliche Setzung des Denkens selbst.
Was der einäugige Bewohner der ersten Welt für lebendig hält, das
ist schon im »menschlichen Naturalienkabinett« des jungen Satirikers Jean
Paul als Präparat und Beleg für Täuschungen und Selbsttäuschungen ausgestellt und bleibt auch später verfügbar: das steinerne Herz eines Königs,
der Maschinenmensch, die hölzerne Puppe als Schreibmaschine der Poe280
sie, Wachsköpfe, ausgestopfte Advokaten, immer wieder neue Sprachmaschinen und zahlreiche ähnliche Konstruktionen, nicht zu vergessen: die
menschlichen Repetieruhren, die »immer wiederholen, wie weit sie vorgerückt« sind.21 Die Brille, durch die der Satiriker auf die erste Welt blickt,
zeigt wie die seiner Kollegen aus den ältesten Tagen der Saturnalien den
mundus inversus, die Welt verkehrt. In dieser kann man in die Tiefe aufsteigen, oder in die Höhe fallen, wie es das Ende des Luftschiffers Giannozzo
in der Schlacht zwischen zwei Gewitterstürmen über den Schweizer Alpen
vorfuhrt.
Was dieser misanthropisch gestimmte Kultur- und Gesellschaftskriti-
ker von oben sieht — übrigens ist sein Gefährt, das er selber ein »zusammenspinnendes Weberschiff« nennt, die Geräteallegorie der Sprachbewegung im Text - was er von oben sieht, das ist das »Schlachtfeld des Lebens«: »Blinken der Bajonette«, »Feuerregen des Geschützes«, »Blutregen
auf der Erde«, Tote unter Sterbenden; kurz: die »vom Erdbeben eines bösen
Geistes zum Kampf-Wahnsinn untereinander geschüttelte Masse«.22 Und
drüberweg er mit seiner Montgolfiere mitten in einer Himmelsschlacht:
Kampf der Elemente im Gewittersturm. Giannozzo kommt darin um,
seine sterblichen, an die Erde stürzenden Reste sind symbolisch entstellt,
weggerissen der scheltende Mund und der Schreibarm, geschmolzen das
Posthorn, mit dem er den Jüngsten Tag simuliert hatte. Was ihn überlebt,
ist die Schrift, das »Seebuch«, das unter anderm berichtet, wie er - so heißt
es gleich anfangs anspielungsreich - »den ersten Gedanken der Auffahrt«
faßte (929). Nämlich durch ein »zufällig« aufgeschnapptes Wort, das in
ihm »eine Pandorabüchse, ein[en] Äolsschlauch von Phantasien« auftut.
Dieses zündende Wort lautet: revenant.
Giannozzo, der schreibende, tönende, die Menschenwelt von außen
oben betrachtende und geißelnde Satiriker: ein Gespenst, ein Wiedergänger, der sich mal in ein Ungeheuer, mal in einen Engel verwandeln
möchte. Ein Widergänger im Reich der literarischen Schatten: Sein Name
beschwört den italienischen des Gottes Janus (Giano) herauf, der an der
Schwelle aller Ein- und Ausgänge steht, auch und insbesondere der me-
taphorischen. Sein satirisch-polemischer Blick aus der Vogelschau auf die
lächerliche »Atonie«, auf die Schlappheit, auf die von Kleist und Hölderlin gescholtene »Schlafsucht« des Zeitalters aber erinnert an Voltaires Mi-
cromegas. Der Gedanke drängt sich geradezu auf: In der Figur stecke
das literarisch verzierte, sprachlich mumifizierte Autor-Ich, das seine Autorschaft eben dem virtuosen Spiel mit jenem Janus-Mechanismus verdanke, der die Augen für die Entgegengesetzung der äußerlichen, irdischen mit der inneren, göttlichen Welt öffne. »Nur durch Himmelskarten«,
heißt es in der Vorschule der Ästhetik, »können Erdkarten gemacht werden;
281
nur durch den Standpunkt von oben herab [... ] entsteht uns eine ganze
Himmelskugel«.23 Das »sogenannte Ideal« aber heißt »Aussöhnung beider Welten«, ein Zustand, dem nur nahekommt, wer die »Schlachtfelder
des Lebens [... ] mit dem ätherischen Sinn [... ] vermählt«. Eine her-
meneutische, gleichwohl nicht ungefährliche Aufgabe. >Ätherisch< — ein
narkotisierendes Wort - ist demnach jener Sinn, den der Interpret in einer
vom stofflichen Ballast befreiten Zone der Anschauung zu fassen bekommt.
Und das geschieht - eine typisch Jean-Paulsche Volte - ganz wörtlich, je-
doch mit tödlichem Ausgang mit dem Luftschiffer Giannozzo, der den
Ballast seiner Gondel, ein Schock Steine, als Bomben in das unter ihm liegende Schlachtfeld schmeißt, als Folge davon in die höheren Luftschichten
hinaufschießt und dort in der angedeuteten Weise vom zornigen Himmel
zerrissen wird. Eine Art Selbstzerreißung, denn der Gewittersturm in der
Höh erscheint im Bild einer vom Autor Giannozzo willkommen geheißenen Phantasmagorie.
Im Titan, als dessen »Komischer Anhang« das Journal des Luftschif-
fers die Funktion einer Variante des Hauptbuchs erfüllt, spielt der Tod
die Doppelrolle der Parze und des Bühnenmaschinisten. Der »ätherische
Sinn«, mit dem der Held des Romans in allen Phasen seiner Geschichte ganz bildlich zusammenstößt, ist nur vorgespiegelt: Produkt einer mit
Theatermaschinen und -requisiten operierenden Inszenierung auf der
Grundlage eines Regiekonzepts, das die Lebensbahn Albanos festlegen soll,
aber an dessen poetisch entworfner Naivität scheitert. Salopp gesagt: Lei-
chen und Scheintote pflastern seinen Lebensweg; und die wirklich Toten
sind für ihn nicht x-beliebige Figuren, sondern diejenigen, denen er in Liebe und Freundschaft, mit einem paradoxen Wort: in abhängiger Freiheit
innigst verbunden war. Ihr Tod aber versetzt ihn nun, am Ende des Romans, in einen montgolfierischen Enthusiasmus, der als Aufbruch in ein
neues, weitaus freieres Leben gedeutet werden kann. »Albano,« heißt es
da, »dem die Erde, mit Vergangenheit und Toten gefüllt, eine Luftkugel
geworden war, die in dem Äther ging, fühlte sich frei... «2*
Das scheint nun gar nicht so weit von jenem Enthusiasmus entfernt,
der den Titelhelden von Hölderlins Hyperion am Ende seiner Reise überfällt, nachdem er alles verloren, was er geliebt. Ich suche hier nicht den
exakten Vergleich zwischen den Texten, wie genau auch beide als Variationen eines Themas - nämlich der meditatio mortis atque immortalitatis
— aufgefaßt werden können. Ein Vermittlungsgelenk zwischen den beiden, ästhetisch ansonsten doch recht verschiedenen Welten Richters und
Hölderlins ist der pietistische Synkretismus, ein anderes das Lebens- und
Geschichts-Zeit übergreifende Gedankenspiel der Wiedergeburt, der Palingenesie. Worüber an dieser Stelle nichts mehr zu sagen ist.
282
»Aller Tod in der Natur ist Geburt [...], die Erscheinung des Todes ist
der Leiter, an welchem mein geistiges Auge zu dem neuen Leben meiner
selbst, und einer Natur für mich hinübergleitet«, so lautete das Glaubensbekenntnis der zeitgenössischen Philosophie in Fichtes Version.25 Es war
das nichts Neues, da in der Aussage ein Echo des ältesten kosmologischen
Grübelns über Leben und Tod, das mit den Namen Heraklit und Empedokles verbunden ist, mitschwingt. Bis auf die Fichte-These, versteht sich,
die Natur lebe allein um meinetwillen, eine Spiegelung des absoluten Ich.
Wie nah die Kosmologien der beiden antiken Mittelmeehrphilosophen
einander standen, deutet schon die Rede des Fremden in Piatons Sopbistes
an. Ein Dialog, den Hölderlin gut genug kannte, um die Figur des Frem-
den als Gewährsmann für das Streben Hyperions und des poetisch entworfenen Empedokles nach Alleinheit unter der Signatur des griechischen hen
kaipan zu nutzen. Mit den wenigen von mir übertragenen und ergänzten
Worten des platonischen Fremden:
Das All ist Vieles in Einem,
Vergängliches und Unvergängliches
in dauerndem Tausch und Wechsel,
angetrieben von trennenden,
von vereinigenden Kräften,
von Haß und Liebe,
unter ein einziges Gesetz
zu fassen: den Logos,
dessen Chiffre das Feuer ist.
Das scheint ein Mythos, ein Märchen; und so sieht es auch der Fremde
des philosophischen Dialogs. Aber in Wahrheit ist es kosmologische Poesie
mit einem Schuß biologischer Wahrscheinlichkeit. Denn das Universum
als Organismus zu denken, entspricht jenem Anthropomorphismus, der
zu den Gründungskapitalien der Poiesis zählt. Und biologisch korrekt ist
Heraklits Metabole allemal, da der Zerfall des Organischen nicht das absolute Ende bedeutet, sondern als ein Fortsetzungskapitel in der unendlichen
Geschichte des Stoffwechsels zu lesen ist.
In Hölderlins zeit- und kunstphilosophischer Umschrift erscheint die-
ser Metabolismus unter der Signatur des »himmlichen Feuers«.215 Denn das
Feuer bewährt sich als Sein, genauer gesagt: als Wirkliches, nämlich Wirkendes, indem es zerstört und verwandelt, ohne je selber der Festigkeit dessen sich anzuverwandeln, was es verzehrt. Es ist nicht leicht, diese Chiffre
zu durchschauen, da sie als Reflexionsfigur Entgegengesetztes vereint: die
»Auflösung«, also den Tod, aber ineins damit auch die »Herstellung« eines
freieren, vom Stofflichen, von Schuld, von Vergehen gereinigten Lebens,
283
wo auch immer dieses verortet wird, ob im theologisch buchstabierten Jenseits oder im Diesseits des ästhetischen Scheins. »Wir sterben, um zu leben«, lautet der letzte, Hyperion gewidmete Gruß Diotimas, die vom Feuer des Geliebten, also von der Hingabe an ihn verzehrt wird, »und überall
windet die Blüte des Lebens freier und freier vom gröberen Stoff sich los.«
Es ist das Pathos der Erneuerung, das aus Diotimas Testament spricht, die
Mittelmäßigkeit des Zeitalters zu überwinden. Und als die Stimme der Toten, gleichsam als tönender revenant, aus der Natur zu Hyperion spricht,
da erlebt dieser sein Pfingsten. Denn - so erinnert er sich - »Worte sprach
ich, wie mir dünkt, aber sie waren, wie des Feuers Rauschen, wenn es
auffliegt und die Asche hinter sich läßt.«27 In diesem exaltietten Zustand
entsagt er wie ein Bruder des Misanthropen Giannozzo den »Menschen-
dingen« und begeistert sich an dem antiken Lebensgesetz (Metabolismus)
vom ständigen Wechsel der Dinge im Rhythmus von Trennung, Vereinigung, Trennung usf.
Mnemotopik:
Von der Unsterblichkeit und der Sprache der Letzten Dinge
Die Lehre vom Metabolismus und das ihr angegliederte Gedankenspiel
der Palingenesie können als raffinierte Kunstgriffe gelten, mit deren Hilfe
es möglich ist, den Tod zu verstehen, ihn zu >begreifen<, und sogar, wie es
paradoxerweise bei Hölderlin heißt, zu >beleben<.28
Meine letzte Betrachtung berührt das Geheimnis dieses Paradoxons,
das Begriffe wie >Weiterleben< oder >Unsterblichkeit< nur allzu schwach be-
leuchten. Es ist nämlich das Erinnern in seinen mannigfach ritualisierten
Formen, das in allen Zeiten, in allen Kulturen dazu dient, das Zusammenleben der Toten und Lebenden zu regulieren, es also zu ordnen, um
den Erfahrungen des Bruchs und des Endes die Angst zu nehmen, sie beherrschbar zu machen. »Ein Mensch lebt, wenn sein Name genannt wird.«
lautet ein altes Sprichwort, dessen Geltung sich mühelos auf alle Namen
- die von vergangenen, untergegangenen, vergessenen Ländern, Städten,
Epochen, Büchern, Kunstwerken - ausdehnen läßt. Und diese wohl simpelste Form der Kommemorierung ist zugleich auch die mit der größten
belebenden Kraft, wenn der Name - wie es schon die antike Mnemotechnik vorschrieb — mit einem Bildzeichen verbunden wird. (Ich verrate hier
nichts, wenn ich in diesem Kontext an das Triptychon meiner ersten Betrachtung erinnere.) Unsere Friedhofskultur ist ihrerseits wieder ein Denkmal dieser Überlieferung: Säule, Statue, Tempelschrein, Porträt, Inschrift,
Name, Daten in Stein und Metall - das sind die üblichen mnemotechni284
sehen Einrichtungen dieser Stätten. Nicht selten stehen die edlen, teuren
solitären Vorbilder für den dergestalt produzierten, an diesem Ort aber
durchaus tolerierten Kitsch in den Antikesammlungen und Ruinenfeldern
der griechisch-römischen Mittelmeerkulturen.
Friedhof und Museum sind nur zwei kulturelle Varianten des Totenkults, der uns, die Lebenden, über das An- oder Eingedenken mit den euphemistisch dahingegangenem und ihren materiellen Überbleibseln verbinden soll. Die belebende, das kulturelle Gedächtnis kommender Generationen gestaltende Funktion der in diesen Einrichtungen inszenierten
Rituale wird dem klinisch ernüchterten Zeitgenossen der sog. Zweiten Moderne allerdings zunehmend fremder. Die technische Möglichkeit einer
plötzlichen Totalvernichtung der Gattung färbt nicht nur die schöne Rede
vom kommenden Gott, sondern auch die Vorstellung der metabolischen
Wiedergeburt ironisch ein. Umso stärker der Zwang, die der großen Entsorgung widersprechenden Gegenbilder der Sorge - ein Wort, das bewahrendes Handeln einschließt - in Erinnerung zu rufen. Denn Vergessen ist
die Katastrophe des Glücks, also Unglück.
So hat es Kleist erfahren und für etwas Unvermeidliches gehalten. In
einem Brief aus dem Sommer des Jahres 1801 entwirft er dafür ein merkwürdiges Gleichnis: »Wie der Felsen, dessen drohender Gipfel, wenn wir
unter seinen Füßen stehen, Erstaunen und Verwunderung in unserer Seele
erregt, nach und nach, wenn wir uns von ihm entfernen, immer kleiner
und kleiner wird, und endlich zu einem dämmernden Pünktchen schwindet, das wir mühsam suchen müssen, um es zu finden, so werden auch die
großen Momente der Vergangenheit immer kleiner und kleiner - Selbst
Gefühle an deren Ewigkeit wir nicht zweifelten, schwinden ganz aus dem
Gedächtnis.«29 Dieses ausführliche Gleichnis, das Natur und Moral per
analogiam zusammenspannt, spielt noch mit den Elementen der Mnemotechnik, mit dem stark affizierenden Bild des drohenden Felsgipfels (imago)
und seinem Gedächtnis-Ort (locus), von dem sich zu entfernen, Vergessen
bedeutet.
Die Gedächtnisorte der Zivilisationsgeschichte, auf denen Jean Paul
und Hölderlin ihre Romanhelden spazieren führen, verwüstete Friedhöfe
und Freiluft-Museen, das sind zugleich Musensitze und Bezauberungsquellen. Sie bilden den Kontrapost zu der von Kleist befürchteten Amnesie.
Der Held des Titan, Albano, besucht nachts das Forum Romanum. »Der
aufgewühlte Schutt aus dem ausgegossenen Aschenkrug der Zeit - und die
Scherben einer großen Welt...« liegen unter ihm und um ihn herum. Angesichts der Bruchstücke packt ihn die Begeisterung, und er wünscht, sein
»irdisches Blut mit dem geheiligten Boden« zu vermischen, um »aus der
Gräber-Welt« der Gegenwart in die Heroenwelt der Vergangenheit auswei285
chen zu können.30 Ebenso begeistert, pathetisch und gegenwartsverachtend äußert sich Hyperion angesichts der Trümmer der Stadt Athen, nur
daß er - anders als Albano - aus der Betrachtung des »heiligen Chaos« der
vor ihm liegenden Antike mit dem Wunschbild einer »neuen Welt«, einer
»neuen Zukunft« in die Gegenwart zurückkehrt.3
Es sind anscheinend zwei Typen der commemoratio mortis, die sich hier
dem ersten vergleichenden Blick darbieten: die rückwärtsgewandte Erinnerung der Trauer über das Unwiederbringliche und die prospektive Erinnerung, die aus dem Vergangenen, aus der ruinierten Faktur der kulturellen Überbleibsel, den Antrieb für einen neuen Aufbruch gewinnt. Beide
zitierten Romane wurden 1792 begonnen, und so bleibt dem zweiten vergleichenden Blick der Konnex mit den Ideen der Französischen Revolution
nicht verborgen. Ob Albano, ob Hyperion — in beiden Figuren sucht der
moderne Heroismus Selbstbestätigung im Bild der Antike: Hier ist es die
römische, dort die griechische. Doch genau das gibt den erzählten Helden ein melancholisches Profil. Denn auf den Friedhöfen der Geschichte
erblicken sie die Verfallfserscheinungen einstiger Größe und nehmen auf
diese "Weise den Zustand vorweg, auf den die bewunderte Revolution der
Nachbarn sich eilends zubewegt.
In zahlreichen Gedichten von Horaz bis Klopstock, von Ovid bis Keats
— unter diesen nicht wenige, die ihre bestimmten Formen der Totenklage
verdanken und als Gedächtnislandschaften entzifferbar sind — kann sich die
romantische Seele wie auf alten, verfallenen Gottesäckern zuhause fühlen.
Am Feigenbaum ist mein
Achilles mir gestorben,
Und Ajax liegt
An den Grotten der See
heißt es in Hölderlins spätem Fragment Mnemosyne, ein Gedicht, dessen
Titel - erinnern wir uns - sich auf die Mutter der Musen bezieht. Hier
mag sich die Erinnerung, die ohnehin pluralistisch ist, verdoppeln: Zum
einen vergegenwärtige sie nun den griechischen, von Hesiod erzählten My-
thos der Musengeburt, der den Zusammenhang der Künste mit der religiösen Feier, nicht zuletzt mit der Totenfeier andeutet. Zum andern beschwöre sie aber auch jene poetische Kraft der Memoria, die imstande ist,
das vom Verschwinden Bedrohte im Augenblick seines Übergangs ins Vergessen schöpferisch zu erneuern. Es mag sein, daß Hölderlins Dichtung
vor allem andern dem bewahrenden Erinnern galt. Aber Erinnern heißt
niemals Festhalten, was war, sondern Erneuern in der Bedeutung der poetischen, will sagen: der kreativen Metabole - Werden im Vergehen -, die
auf der schlichten Ebene des common sense als die Umwandlung des ma286
teriell vorfindlich Ungestalten in das gestaltete Werk aufzufassen ist. Und
auch dieses bleibt, wird es nicht völlig vergessen, dem zeitlichen Wandel
ausgesetzt: in materieller wie ideeller Bedeutung.
Mit dieser Bemerkung reflektiere ich aber nur meine eigenen Gedankenspaziergänge. Sie wollen ja nichts anderes sein als die Teil- und Bruchstücke eines kommemorierenden Todes- wie Totenzaubers, eine Erinnerung, die sich am Ende, auch wenn sie ein großes Vorbild nur parodiert, in
wenige Zeilen umbrechen läßt:
Im Turm ist das
Wort ihm gestorben
ins Loch gesunken
der andere liegt
nicht wo er soll
nur der dritte tönt
an der Spottzeile die
selbstgezimmertes Epitaph
lustig klemmt zwischen
Grab und Ma(u)l
Endliches Zeug am Anger
Gerumpel
kann Trauer sein
am Gedenkstein Deutungslos
kann Freude sein
dort wo die Schatten
an der Buchstaben
stockender Linie
im Aug des Lesers gespiegelt
Auferstehung feiern
Anmerkungen
1 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, Sämtliche Werke, hg. v. N. Miller, Abt. I,
Bd. 5 (= SW1/5), München 1963, S. 383.
2 Adolf Beck, Paul Raabe (Hg.): Hölderlin. Eine Chronik in Text und Bild
(Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Band 6/7), Frankfurt/M. 1970, S. 109 f.
3 F. Hölderlin: Die Briefe, Briefe an Hölderlin, Dokumente, ed. J. Schmidt,
Frankfurt/M. 1992, S. 717.
287
4 Beck/Raabe a. a. O., S. 333.
5 Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte, hrsg. v. H.
Sembdner, Bd. 1, Frankfurt/M. 1992, S.435 f.
6 Erika Müller-Lauter: Geschichte des Kleist-Grabes. In: Kleist-Jb. 1991, S. 232,
A. 16.
7 H. v. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. H. Sembdner, Bd. II (= SW
II), Darmstadt 1983, S. 888.
8 P. Aries: Geschichte des Todes, München 1980.
9 Jean Paul: Museum, SW U/2, S. 952.
10 Br. v. 13.6.1797 an Oertel.
11 Kleist, SWI, S.95f.
12 Kleist, SWI, S. 52; S. 55.
13 Kleist: Gebet des Zoroaster, Brandenburger Ausgabe, hg. v. R. Reuß u. P.
Staengle, Bd. II/7 (= BAII/7), Basel/Frankflirt/M. 1997, S. 325 f.
14 Vgl. Helmut Huhn: Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Hölderlins Den-
ken, Stgt./Weimar 1997, S. 228.
15 Kleist: Penthesilea, BAI/5, S.XXIVf.
16 Jean Paul: Seiina, SW 1/6, S. 1155.
17 Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. I. (= SW I), hg. v. G. Mieth,
Darmstadt 51989, S. 506. Jean Paul, SW 1/5, S. 919.
18 Hölderlin: Brief an den Bruder v. 31.12.1798, SW II, S.795. Jean Paul:
Vorschule, SW 1/5, S. 67.
19 Jean Paul: Vorschule, SW 1/5, S. 187.
20 Jean Paul: Baierische Kreuzerkomödie, SW II/2, S. 591.
21 Jean Paul: Giannozzo, SW 1/3, S. 934.
22 Giannozzo a. a. O., S. 1007.
23 SWI/5.S.66.
24 SWI/3, S.824.
25 J. G. Fichte:
S.190f.
Die Bestimmung des Menschen [1800], Stuttgart 1976,
26 Hölderlin: Das Werden im Vergehen, SW I, S. 903.
27 SW I, S. 728-734.
28 Hölderlin: Das Werden im Vergehen, SW I, S. 901.
29 Kleist: Briefan Adolfine von Werdeck, Juli 1801, SW II, S. 671 f.
30 Jean Paul: Titan, SWI/3, S. 573.
31 Hölderlin: Hyperion, SW I, S. 665 ff.
288
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289
Editorische Notiz
Kulturanalyse und aufrechter Gang erschien 1991 in italienischer
Sprache in der Zeitschrift 1RIDE (Nr. 6, S. 40 ff.) unter dem Titel »Per una critica deH'antropocentrismo« und zugleich in einer deutschen Fassung unter der
Überschrift »Der aufrechte Gang - Monument der Kultur?« in dem von Aleida
Assmann und mir herausgegebenen Aufsatzband Kultur als Lebenswelt und Monument (Frankfurt/M.: Fischer Wissenschaft 10725, S. 75 ff.).
VOM FETISCH BIS ZUM DRAMA?: ANGLIA. Zeitschrift für Englische Philologie (1996, H. 3, S. 340 ff).
Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften: Erweiterte Fassung ei-
ner Untersuchung, die im international Journal of the Classical Tradition« (Vol.
2/No. 3, 1996, S. 414 ff.) abgedruckt worden ist.
Die Geburt der Antike aus dem Geist der Moderne: International
Journal of the Classical Tradition (1994, Vol. 1/No. 1, S. 89 ff).
Der deutsche Idealismus und die Suche nach kultureller Iden-
tität: Kultur und Gedächtnis, hg. v. Jan Assmann u. Tonio Hölscher. Frank-
furt/M.: Suhrkamp 1988, S. 220 ff. Italienische Übersetzung in: rivista di estetica
(39, 3/91, anno XXXI, S. 3 ff).
REVOLUTION UND MYTHOS: Einleitender Text zu Revolution und Mythos, hg.
v. D. Harth u. J. Assmann. Frankfurt/M.: Fischer Wissenschaft 10964, 1992,
S.9ff.
Kritik der Geschichte im Namen des Lebens: Eine leicht gekürzte
Fassung erschien in der Zeitschrift »Archiv für Kulturgeschichte« 68 (1986/2),
S. 407 ff.
Kulturelle Ressourcen historiographischen Erzählens: Stark
veränderte und erweiterte Version einer unter dem Titel »Historik und Poetik.
Plädoyer für ein gespanntes Verhältnis« geschriebenen Studie, die zuerst in dem
von Hartmut Eggert et al. herausgegebenen Sammelband Geschichte als Literatur
(Stuttgart: Merzler 1990, S. 12 ff.) veröffentlicht worden ist.
Commemoratio mortis. Betrachtungen über Jean Paul, Kleist
UND HÖLDERLIN: Geht zurück auf einen auf Einladung der Hölderlin-Gesellschaft 1997 in Tübingen gehaltenen Vortrag.
291
Namenregister
Abelard
84,85
Blumenberg, H.
190,240,267
Adam 17, 188
Aischylos 169
Alberti, L. B.
92, 93,116
Albertus Magnus 84
d'Alembert 133
Alexander d. Gr. 102, 135,267
Altdorfer 100
Anselm v. Canterbury 84
Apel, K.-O. 44, 45
Apollon 233,278
Arendt, H. 177,190
Aries, P.
275
Aristoteles 79, 84-88,133, 252,256
Assmann, J.
104-110, 112-114,
115, 116, 118,121,146
Athene 21
Augustinus 84,86
Augustus 93,130, 135, 173-176
Averroes 84
Ayrer, G. H. 137
Bacon, F.
81,98,263,264
Balzac, H. de 167
Barth, K. 150, 166
Baudelaire, Ch. 56
Baumgarten, A. G.
238
Bayle, P.
138-140, 146,
84
Bodmer, J. J.
Boeckh,A.
138
61,62
Bolzoni, L. 118
Boncompagno da Signa 101
Bonnet, C. 199
Bourdieu, P. 70-73, 76
Brecht, B. 184-186, 190
Breitinger, J. J. 138
Bruni, L. 89
Büchner, G. 186,190
Bunuel, L. 84
Buffon 19, 20, 46, 199
Bulow, E. v. 274, 275
Burckhardt, J. 94
Burke, E.
Burke, K.
138
60
Caillois, R.
189, 190
Camillo, G. D. 92, 94-96,116,118
Caron.A 175,176
Carpo.M. 92-96,116
Carruthers, M. J. 91,116
Cassirer, E. 65, 118, 121, 145, 178,
179, 190,231,236, 289
133
Che Guevara
187,188,190
Conrad, J. 99
Corneille, T. 131
Cozens, A. 103
Curtius, E. R. 67
Bell, D. 49, 50, 196, 228,229
Benediktiner 86
Benjamin, W. 56, 245
Benn, G. 271
Blackmore, R 132
Bloch, M. 252
Block, A
BIund,J.
29, 46, 145, 180,
180
Cicero 84, 86, 88, 104, 253, 262,
265, 267
Coleman, J. 83-89, 91, 112,116
293
Dante
100,267
David, J.-L.
Deleuze, G.
Descartes, R.
176,177
121
133,238
Diderot, D.
132, 133, 135, 160,
Dilthey, W.
68,72
9, 50-61, 63, 65, 66,
161, 171
Dinocrates 102
Dionys v. Halikarnass 252
Döblin, A. 246, 248, 249
Douglas, M. 18, 38, 46, 78
Droysen, J. G. 233, 235, 240, 241,
250-253, 255-262,267-269
Dryden, J. 134
Duns Scotus 84
d'iLglantines, F.
175
Eisenstadt, S. N. 46,120,144
Eliade, M. 18, 31, 46
Elisabeth I. 263
Empedokles
Engels, F.
Epiktet
Euripides
283
180
206
137
Fenelon.E 131,238
Fichte, J.G. 149,256,283
Foucault, M. 16,22,31-34,46,91,
114, 115
Frank, M. 32,46, 76, 166, 190, 289
Friedell, E. 137
Füret, F. 169, 180, 181, 190
Galen 94,97, 106
Galileo Galilei 170
Geertz, C.
27, 28, 46, 50, 69, 70,
73, 77, 78, 114
Gehlen, A. 14,15,46
Gennep, A van 69
Gervinus, G. G. 225,252,253,255,
256,261, 268
Goethe, J. W. 138, 166, 173, 220,
240,243, 255
294
Gombrich, E. 66
Goodman, N. 67,68
Graebner, F. 54
Graevenitz, G. v. 176, 191
Granet, M. 31, 46
Gregor d. Gr. 84
Habermas, J.
27, 32, 35, 36, 46,
166,191
Haller, A. v. 199
Hannibal 103
Hardenberg s. Novalis
Hausens, C. R. 208
Hegel, G. W. F. 79, 82, 115, 133,
145, 149, 156, 160-166, 188,
206, 255,258
Heinrich III. 176
Heinrich VII. 263
Hephaistos 21
Herakles 172
Herder, J. G.
119, 119, 138, 142,
143, 146, 195-216, 218, 219,
224-229,230-236,243
Herodot 172, 247, 252
Hesiod 21,286
Hobbes, T. 84, 171
Hölderlin, F. 154-156, 162, 166,
271,278-286
Hofmannsthal, H. v.
270
Homer
263-265, 267,
107, 109, 132, 134, 138,
252
d'Hondt,]. 164,166
Honneth,A 33,46
Horaz 286
Humboldt, W. v. 147, 256
Husserl, E. 28, 32,46
Huxley, A. 58
lsokrates
249
Jackson, M. 9
Jahnig, D. 166
Jakobson, R.
Jauß, H. R
Jean Paul
65
74,144, 145
271, 272, 276-280, 282,
285,287,288
John of Salisbury 84,116
Johnson, M. 113,121
Jung, C. G. 83
Kamiah, W. 289
Kant, I. 30, 39, 46, 152, 158, 159,
166, 199,231, 240,254, 262
Kierkegaard, S.
90
Kipling, R. 99
Kleist, H. v.
271, 274, 275, 277281, 285, 288
Klemm, G. 54
Klopstock, F. G. 274, 286
Kohlert, M. 23, 46
Kondylis, P. 50,117,144, 235,237
Kopernikus, N. 133, 169, 170
Küchler, S. 111,116,118,121
.Leenhardt, M. 26, 46
Leibniz, G. W. 199,200,237,235,
238
Leiris, M. 47
Lenin, W. I. 184
Leonardo da Vinci 97, 118
Leoniceno, N. 94,118
Leonidas 172
Lepenies, W. 55, 74
Leroi-Gourhan, A.
45,47
Lessing, G. E.
19, 39-42, 44,
137
Longin 187
Ludwig XIV. 130,133,136
Ludwig XVI. 176
Lukian 252
Luther, M.
137,150,206,234
Majakowski, W.
191
Mann,T.
183, 184, 186,
150,165,166
Marx, K 144, 182, 184, 188, 191
Mauss, M. 37, 38,47
Mauthner, F. 49, 64, 76
Medici 135
Melion, W. 111, 116,118,121
Mickiewicz, A. 101
Mill.J. S. 51
Mnemosyne 66, 76, 80, 111, 133,
286.288
Müller, H. 149,150,165,166
Niebuhr, B. G. 259,269
Nietzsche, F. 41, 47, 56, 72, 76,
120, 195-199, 201-205, 213229,231,233-243, 266
Novalis 55, 58, 63, 74, 158, 159,
166
Ockham
84,88-90
Odysseus 185,188,246
Otto, W. F. 16, 20, 47
Ovid
286
i andora
21
Panofsky, E.
66, 174, 191
Pardo, M. 97,118,121
Paul, H. 61, 62, 75
Paulus 206
Perikles 135
Petrarca, F. 84, 89, 103
Petrus Lombardus 87
Petrus Ramus 95, 96
Piaton 18, 47, 84-86, 175, 249,
283.289
Plechanow,W.
Plessner.H.
Plinius
Plotin
Polyklet
186
27,29,31,42^4,47
103, 106
84,86
106
Poussin, N. 103
Prometheus 21
Proserpina 178
Protagoras 18, 19
Proust, M.
84
295
uintiiian
Q269
Raffael
79, 92, 249, 259, 260,
92,116
Ranke, L. v.
204, 246, 248, 249,
255,259,260,267,269
Raynal, G. T. 171
Richards, I. A. 60
Richter s.Jean Paul
Ricceur, E 87, 117,267
Ripa, C. 95
Robespierre 180, 181, 186
Robinet.J. B. R 199
Rossi, R 83,98,115,116,118
Rousseau, J.-J. 153,155,156,166,
195, 196, 205
Sallust
264,267
Salutati, C.
Sannazaro
89
103
Schama, S. 99-103,116,118, 119
Schelling, F. W. J. 156, 158, 159,
162, 166, 254-256,268
Scherer, W. 56, 60, 74
Schiller, F. 100, 142, 147, 154-158,
166
Schlegel, F.
142,147,157, 158, 160,
166,238,268
Schlözer, A. L.
236
196, 209, 230, 234,
Schopenhauer, A. 203, 215, 222,
233,241
Serlio, S. 92, 95, 96, 116,118
Settis, S. 117,145, 146
Shakespeare, W
236, 280
Sidney, P.
Sokrates
103
18,19,216,235,239
Sophokles 137
Sorel, G. 180
296
84, 211, 212, 227,
Spencer, H. 54
Spitzer, L. 69, 77
St. Benedikt 84
St. Bernhard 84
Stein, G. 84
Steiner, G. 57
ierrasson, J. 132
Thomas v. Aquin 84, 88
Thoreau, H. D. 103
Turner, V. 47, 50, 70, 71, 74, 78
Unger, R.
Usener, H.
Vergil
63-66, 75-77
60,75
103, 172, 176
Veyne, P.
114,121
Vitruv 93, 102
Vogel, H. 274, 275
Voltaire 135, 136, 146, 169, 170,
265, 281
Wagner, R.
216, 241
Wallenstein 170, 247, 248
Wälzel, O. 63, 66, 75-77
Walzer, M. 177,192
Warburg, A 65-67, 72, 76, 78, 100
Weber, M. 106,120
Williams, R. 70, 77
Winckelmann, J. J. 135-137, 139141, 144,146, 208
Wind, E. 65, 66, 76
Wittgenstein, L. 29, A7
Wölfflin, H. 65, 66
Wolff, C. 199
Yates, F. A.
jisterzienser
83,236
86