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Ideengeschichte heute
Histoire | Band 112
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D. Timothy Goering (Hg.)
Ideengeschichte heute
Traditionen und Perspektiven
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Inhalt
Einleitung
Ideen- und Geistesgeschichte in Deutschland
– eine Standortbestimmung
D. Timothy Goering | 7
Wahrheit, Überzeugung und Interpretation
Quentin Skinner | 55
Imaginary Intellectual History and “Managerialism”
in 1950s West Germany
Sean A. Forner | 69
Ideen, Handlungen und Gründe in der Ideengeschichte
D. Timothy Goering | 95
„Die Gegenwehr muss organisiert werden –
und zwar vor allem auch geistig“
Armin Mohler und Caspar von Schrenck-Notzing
als Rechtsintellektuelle in der frühen Bundesrepublik
Darius Harwardt | 119
Homo Academicus Localis
The Circulation of Ideas in an International Context
Emily J. Levine | 151
Genealogie als ideengeschichtliche Methode
und die Idee der Menschenrechte
Marcus Llanque | 171
In the Layer Cake of Time
Thoughts on a Stratigraphic Model of Intellectual History
Helge Jordheim | 195
Zum Programm einer Ideengeschichte des Digitalzeitalters
Peter Hoeres | 215
Autorinnen und Autoren | 235
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Einleitung
Ideen- und Geistesgeschichte in Deutschland
– eine Standortbestimmung
D. T IMOTHY G OERING
E INLEITUNG
Ideengeschichte ist tot, lang lebe die Ideengeschichte! So scheint seit geraumer
Zeit in Deutschland das unausgesprochene Votum über eine geschichtswissenschaftliche Disziplin zu sein, die jahrzehntelang von der Sozial-, Kultur- und
Alltagsgeschichte teils stiefmütterlich behandelt, teils zur Methodenprofilierung
gerne als Prügelknabe herangezogen wurde. Die Polemik gegen die Ideen- und
Geistesgeschichte galt lange Zeit als ein Nachweis methodischer Fortschrittlichkeit unter Historikern. Man denunzierte sie des Öfteren als abstrakt, idealistisch
und durch ihren hermeneutischen Zugriff auch bisweilen als konformistisch.
Doch diese Zeiten der Kritik scheinen Vergangenheit zu sein. Seit vielen Jahren
ist die nivellierende Grundsatzkritik gegen die Ideengeschichte merklich abgeklungen. Der heilige Ernst der Kritiker wirkt aus der zeitlichen Distanz unnötig
und sogar befremdlich.
Wie kam es zu dieser Wiederkehr des tot geglaubten Faches? Es könnte paradoxerweise daran liegen, dass sich die Kritik nicht etwa durch die Jahrzehnte
abgenutzt, sondern sich tatsächlich durchgesetzt hat. Denn heute bekennt sich
wohl kaum jemand zu der ideen- oder geistesgeschichtlichen Praxis von Friedrich Meinecke oder Arthur Lovejoy, die sich in den verschlungenen Gedankenlabyrinthen privilegierter Autoren verlor und dabei gleichzeitig allgemeinhistorischen, repräsentativen Anspruch erhob. Die Kritik gegen diese ältere Ideengeschichte scheint also vollends den Sieg davon getragen zu haben. Sie hat aber
zugleich einen konstruktiven Weg geebnet für eine neue Ideengeschichte nach
der Ideengeschichte. Die Ideengeschichtskritik hat die Disziplin nicht zerfasern
lassen, sondern zur stillen Reformation angeregt. Und so erlebt die Ideenge-
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schichte innerhalb der Geschichtswissenschaft seit einigen Jahren einen Aufschwung als eine Art „Ideengeschichte 2.0“. Anzeichen dieses Aufschwungs
mehren sich in Deutschland nun seit mindestens einem Jahrzehnt. Mit der Kollektivmühe diverser Akteure ist die Ideen- und Geistesgeschichte wiederbelebt
worden und genießt heute ein so hohes Ansehen wie schon seit Langem nicht
mehr.
Mit der steigenden Popularität wird allerdings eine klärende Bestandsaufnahme
des eigenen Methodenhaushaltes ebenso wie eine Standortbestimmung innerhalb
der Geschichtswissenschaft immer dringender.1 Denn trotz ihrer neu gewonnenen
Anerkennung innerhalb der Geschichtswissenschaft bleibt weitestgehend ungeklärt, welche ideengeschichtlichen Methoden und Theorieansätze inzwischen veraltet und welche revisionsbedürftig geworden sind. Gibt es ältere Ansätze, die
durch eine Kurskorrektur erneut richtungsgebend wirken können? Auf welche
Traditionen innerhalb der deutschen Ideengeschichte kann zurückgegriffen werden? Und welche neuen Forschungsfelder sollten erschlossen werden?
Diese und weitere Fragen wurden im Laufe der letzten Jahre aufgeworfen
und bedürfen der Klärung. Der vorliegende Sammelband will einen Schritt in
diese Richtung tun. Selbstverständlich kann ein einziger Band nicht alle Fragen
dieses Themas umfassen. Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es daher
nicht, alle oben erwähnten Fragen zu beantworten oder eine einzige Methode
oder Theorie vorzutragen. Vielmehr versteht sich der Band als pointierte Diskussionsanregung, der unterschiedliche Impulse geben soll und über Ansätze
(hauptsächlich aus dem anglo-amerikanischen Raum) informieren soll, die heute
diskutiert werden und die für das Fach der Ideen- und Geistesgeschichte in
Deutschland eine hohe Relevanz besitzen können und sollen. Der Band fragt erstens danach, an welche Traditionen die heutige ideengeschichtliche Forschung
anknüpfen kann und zweitens, welche bisher unerforschten Perspektiven sich ihr
heute eröffnen können. Die Beiträge, die in diesen Band versammelt sind, werfen Licht auf einige Aspekte dieser beiden Fragen.
1
Einige Standortbestimmungen wurden schon vorgelegt. Siehe vor allem: Lutz Raphael
und Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte (= Ordnungssysteme,
Bd. 20), München 2006; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Ideengeschichte (= Basistexte Geschichte, Bd. 6), Stuttgart 2010; Martin Mulsow und Andreas Mahler (Hg.),
Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Frankfurt a.M. 2010; Martin
Mulsow und Andreas Mahler (Hg.), Texte zur Theorie der Ideengeschichte, Ditzingen
2014. Für die Vereinigten Staaten siehe: Darrin M. McMahon und Samuel Moyn
(Hg.), Rethinking Modern European Intellectual History, Oxford 2014.
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E INLEITUNG
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Die vorliegende Einleitung führt in die Gesamtthematik ein, indem sie (1) die
Geschichte der Ideen- und Geistesgeschichte in Deutschland in groben Linien
bis heute nachzeichnet, um dann (2) den gegenwärtigen Stand und Horizonte der
heutigen Ideen- und Geistesgeschichte in Deutschland zu beleuchten und die
einzelnen Beiträge des Sammelbandes einzuordnen.
1. T RADITIONEN DER I DEEN - UND G EISTESGESCHICHTE
IN D EUTSCHLAND IM 20. J AHRHUNDERT
Wer über Traditionen eines Faches spricht, spricht über seine Vergangenheit,
über seine historische Entwicklung. Die Wurzeln der Ideen- und Geistesgeschichte reichen tief in das 19. Jahrhundert zurück.2 Ansätze einer ideen- und
geistesgeschichtlichen Forschung finden sich beispielsweise schon in den Schriften von Johann Jakob Brucker3 (1696-1770), Heinrich Ritter4 (1791-1861), Rudolf Haym5 (1821-1901) oder Kuno Fischer6 (1824-1907). Aber in voller Blüte
stand diese Fachrichtung, zumindest in der universitären Forschungslandschaft,
erst in der Zeit zwischen 1900 bis 1945. In dieser Phase entwickelte sich ein erkennbares Profil und methodisches Programm der ideen- und geistesgeschichtlichen Forschung im Wissenschaftsfeld. Neben der Geschichtswissenschaft und
Philosophie trat vor allem die Literaturwissenschaft und Germanistik selbstbewusst als Vertreter dieser Disziplin hervor.
Im Zuge des Aufschwungs der Ideen- und Geistesgeschichte gab es unter
Historikern, Literaturwissenschaftlern und Philosophen diverse und miteinander
konkurrierende Auffassungen darüber, wie die ideen- und geistesgeschichtliche
Methode und Praxis auszusehen habe. Ungefähr seit der Jahrhundertwende des
2
Siehe: Lutz Geldsetzer, Geistesgeschichte, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, S. 207–210.
3
Siehe vor allem: Johann Jakob Brucker, Historia critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta. Bände I-IV.2, Leipzig 1742-1744.
4
Siehe vor allem: Heinrich Ritter, Geschichte der Philosophie (12 Bde.), Hamburg
5
Siehe vor allem: Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung
1829-1853.
und Entwicklung, Wesen und Werth der Hegel'schen Philosophie, Berlin 1857; Rudolf Haym, Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870.
6
Siehe vor allem: Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie (1-6 Bde.),
Mannheim, Stuttgart, Heidelberg 1852-1877.
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19. zum 20. Jahrhunderts lassen sich in idealtypischer Überspitzung zwei Typen
dieser Forschungsrichtung ausmachen: Der erste Typus verfolgte Entwicklungsstadien klar umrissener, gesonderter Ideen. Er ging methodologisch davon aus,
dass sich Ideen – in der Regel philosophische oder politische Ideen – von den
geschichtlichen Kontexten und den historischen Persönlichkeiten absondern und
in ihrer Genese verfolgen ließen. Das Eigenleben wichtiger Ideen bildete das erkenntnisleitende Interesse dieses ideengeschichtlichen Forschungstypus‘. Der
andere Typus hingegen versuchte den Geist oder Kontext von größeren Ideenzusammenhängen vergangener Epochen zu ergründen. Dieser Typus ging methodologisch vom Gegenteil des ersten aus, nämlich davon, dass Ideen immer mit
der Zeit verwoben seien und dass alle Ideen immer Entäußerungen eines herrschenden Zeitgeistes seien. Stand in dem ersten Typus das Eigenleben von Ideen
im Vordergrund, so ging der zweite Typus von der wesentlichen Koexistenz von
Ideen und historischen Kontexten aus. Der Klarheit halber kann man den ersten
Typus dieser Forschungsrichtung „Ideengeschichte“ nennen und ihn vom zweiten, der „Geistesgeschichte“, unterscheiden.7
Die Ideengeschichte war im Vergleich zur Geistesgeschichte methodologisch
viel unbestimmter und offener. Von einer Schule, Disziplin oder einheitlichen
Methode lässt sich nicht sprechen. Vertreter der ideengeschichtlichen Forschungsrichtung waren in ihrer philosophischen Disposition häufig neukantianisch geprägt und gingen in der Regel von der Prämisse aus, dass (politische und
philosophische) Ideen den Motor der Geschichte bildeten.
In der Philosophie entwickelte sich kurz nach der Jahrhundertwende eine eigene Färbung eines ideengeschichtlichen Ansatzes, der als „Problemgeschichte“
bekannt wurde.8 Für die Neukantianer Nicolai Hartmann und Wilhelm Windelband ging die Philosophiegeschichte nicht in eine Fakten- oder Personengeschichte auf, sondern sollte stattdessen als die „Geschichte der Probleme und der
7
Diese begriffliche und konzeptionelle Unterscheidung spiegelt vage die Quellenbe-
8
Vgl. Lutz Geldsetzer u.a., Problemgeschichte, in: Historisches Wörterbuch der Philo-
griffe wider, setzte sich allerdings als Standard nicht durch.
sophie, Bd. 7, Basel 1989, S. 1410–1417; Otto Gerhard Oexle und Michael Hänel
(Hg.), Das Problem der Problemgeschichte, 1880-1932 (= Göttinger Gespräche zur
Geschichtswissenschaft, Bd. 12), Göttingen 2001; Matthias Kemper, Der Problembegriff der Philosophiegeschichtsschreibung. Zum problemgeschichtlichen Geschichtsverständnis Wilhelm Windelbands, in: Ricardo Pozzo und Marco Sgarbi (Hg.), Eine
Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, Hamburg 2010, S. 15–42.
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E INLEITUNG
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zu ihrer Lösung erzeugten Begriffe“9 verstanden werden. Diese Probleme, die
frühere Philosophen zu lösen trachteten, seien „etwas in sich Einfaches, auf sich
selbst Beruhendes, in nichts anderem als in der Vernunft Gegründetes.“10 Der
Ausgangspunkt für die Problemgeschichte war deshalb, dass die durch rationale
Probleme provozierte Vernunft Ideengeschichte möglich mache. Immanuel Kant
war hier der Leitstern, der in der Kritik der reinen Vernunft schrieb, dass „die
menschliche Vernunft […] durch Fragen belästigt wird, die sie nicht sie abweisen kann.“11 Philosophen waren so gesehen Problemlöser abstrakter Rätsel und
die Geschichte der Philosophie wurde von immer wieder neu entworfenen Lösungsansätzen angetrieben. An dem problemorientierten Denken und Schreiben
der Philosophen zeige sich schließlich die zeitliche Selbstentfaltung der menschlichen Vernunft als das Movens, das der Philosophie ihre geschichtliche Dimension gebe. Mit diesem problemgeschichtlichen Ansatz, der von anderen weitergeführt wurde und eine eigene Karriere im 20. Jahrhundert feierte12, war es methodisch legitim, einzelne Ideen isoliert als Probleme oder als (Teil-)Lösungsansätze aufzufassen, die jenseits des historischen Kontextes wie fixe „Sterne am
Himmel“13 angesiedelt waren. Mit dem problemgeschichtlichen Ansatz konnte
man damit der Gefahr entkommen, „über das Historische das Philosophische zu
9
Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1908, S.
III. Vgl. auch: Wilhelm Windelband, Geschichte der Philosophie, in: ders. (Hg.), Die
Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer,
Heidelberg 1905, S. 175–199.
10 Nicolai Hartmann, Zur Methode der Philosophiegeschichte [1909], in: ders. (Hg.),
Vom Neukantismus zur Ontologie (= Kleinere Schriften, Bd. 3), Berlin 1958, S. 1–22,
hier S. 7. Vgl. auch: Nicolai Hartmann, Der philosophische Gedanke und seine Geschichte [1936], in: ders. (Hg.), Abhandlungen zur Philosophie-Geschichte (= Kleinere Schriften, Bd. 2), Berlin 1957, S. 1–48.
11 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (= Philosophische Bibliothek, Bd. 505),
Hamburg 1998, S. 5.
12 Siehe z.B. das Pläyoder von Marco Sgarbi, Umriss der Theorie der Problemgeschichte, in: Ricardo Pozzo und Marco Sgarbi (Hg.), Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, Hamburg 2010, S. 185–199.
13 „Die Problemgeschichte des Neukantianismus ist ein Bastard des Historismus. Die
Kritik am Problembegriff, die mit den Mitteln einer Logik der Frage und Antwort geführt wird, muß die Illusion zerstören, als gäbe es die Probleme wie die Sterne am
Himmel.“ Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (= Gesammelte Werke, Bd. 1), Tübingen 19865, S. 382.
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vergessen.“14 Philosophische Ideen ließen sich aus der übrigen Geschichte herausschälen wie Kerne aus einer Frucht.
Auch in der Soziologie wurden um die Jahrhundertwende tragende Fundamente einer Methode zur Erforschung von einzelnen, handlungsleitenden Ideen errichtet. Hier ragt besonders Max Webers Werk heraus. Mit seiner Studie über die protestantische Ethik wollte er schließlich demonstrieren, wie „‚Ideen‘ in der Geschichte wirksam werden.“15 Seine verstehende Soziologie war durchzogen von
dem Bemühen, handlungsleitenden Ideen im historischen Vollzug verstehend auf
die Schliche zu kommen. Das Besondere von historisch wirksamen Ideen und ihren ungeahnten Nebenfolgen für bestimmte Kulturerscheinungen standen im Mittelpunkt seiner Untersuchungen, während der allgemeine Geist oder die Kultur einer Zeit bei Weber eine weniger distinguierte Rolle spielte. Er wehrte sich sogar
explizit dagegen, von „Kultur in einem diffusen und unbestimmten Sinne zu reden“ und sprach lieber „von bestimmten Ideen“16. Es sei schließlich, so schrieb er
in dem bekannten Aufsatz über die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, „eine der wesentlichen Aufgaben einer jeden Wissenschaft vom menschlichen
Kulturleben, ‚Ideen‘ […] dem geistigen Verständnis zu erschließen.“17 Für Weber
beherrschen zwar „Interessen, nicht Ideen unmittelbar das Handeln der Menschen.
Aber: die 'Weltbilder', welche durch 'Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als
Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das
Handeln fortbewegte.“18 Die kulturelle Wirksamkeit von individuellen Ideen spielte daher in Webers Soziologie eine herausragende Rolle. Mit seiner Kultursoziologie legte er wichtige, theoretisch-methodologische Grundsteine für eine ideengeschichtliche Forschung, auch wenn er nicht immer als ein Ahnherr der Ideengeschichte wahrgenommen wurde.
Verglichen mit der Philosophiegeschichte und Soziologie entstanden die bedeutendsten ideengeschichtlichen Arbeiten allerdings in der Geschichtswissen-
14 Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. III.
15 Max Weber und Dirk Kaesler, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München 20062, S. 105.
16 M. Rainer Lepsius, Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber, in: ders. (Hg.), Interessen, Ideen und Institutionen, Wiesbaden 1990, S. 31–43,
hier S. 32.
17 Max Weber, Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber und Johannes Winckelmann (Hg.), Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre, Tübingen 19887, S. 146–214, hier S. 150.
18 Max Weber u.a. (Hg.), Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Schriften 1915-1920
(= Max-Weber-Gesamtausgabe, I.19), Tübingen 1989, S. 11.
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E INLEITUNG
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schaft. Die politische Ideengeschichte wurde zu einem dominanten Zweig der
historischen Zunft. So finden sich beispielsweise im Feld der politischen Ideengeschichte mehrere Werke, die sich mit politischen Bewegungen und Ideologien
auseinandersetzten, wie eine Arbeit zum Unitarismus und Föderalismus im
Deutschen Reiche (1907) von Heinrich Triepel19, die zweibändige Geschichte
der sozialistischen Ideen (1909) von Friedrich Muckle20, eine Entwicklungsgeschichte des Sozialismus (1909) von Otto Warschauer21, eine zweibändige Geschichte des deutschen Liberalismus (1911-12) von Oskar Klein-Hattingen22, eine Untersuchung zu den Anfängen der materialistischen Geschichtsauffassung
(1911) von Walter Sulzbach23 und viele mehr.24
Friedrich Meinecke spielte unter den Historikern die wohl bedeutendste Rolle für die Etablierung der Ideengeschichte in den Geisteswissenschaften. Er be-
19 Heinrich Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 1907.
20 Friedrich Muckle, Der rationale Sozialismus (= Die Geschichte der sozialistischen
Ideen im 19. Jahrhundert, Bd. 1), Leipzig 1909; Friedrich Muckle, Proudhon. Der
entwicklungsgeschichtliche Sozialismus (= Die Geschichte der sozialistischen Ideen
im 19. Jahrhundert, Bd. 2), Leipzig 1909.
21 Otto Warschauer, Zur Entwicklungsgeschichte des Sozialismus, Berlin 1909.
22 Oskar Klein-Hattingen, Die Geschichte des deutschen Liberalismus. 2 Bde. 1911-1912.
23 Walter Sulzbach, Die Anfänge der materialistischen Geschichtsauffassung, Karlsruhe
1911.
24 Siehe z.B. Max H. Meyer, Die Weltanschauung des Zentrums in ihren Grundlinien,
München 1919; P. R. Rohden, Die weltanschaulichen Grundlagen politischen Theorien, in: Deutscher Staat und deutsche Parteien. Festschrift zum 60. Geburtstag
von Friedrich Meinecke, München 1922, S. 1–35; Karl Vorländer, Geschichte der sozialistischen Ideen, Breslau 1924; Kurt Riezler, Idee und Interesse in der politischen
Geschichte, in: Die Dioskuren 3. 1924, S. 1–13; Heinrich von Srbik, Metternich, der
Staatsmann und der Mensch. 2 Bde, München 1925; P. R. Rohden, Die Hauptprobleme des politischen Denkens von der Renaissance bis zur Romantik, Berlin 1925; Karl
Vorländer, Von Machiavelli bis Lenin. Neuzeitliche Staats- und Gesellschaftstheorien,
Leipzig 1926; Siegfried Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat: ein Beitrag
zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München 1927; Waldemar Gurian, Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789-1914,
Mönchengladbach 1929; Hans Rothfels, Ideengeschichte und Parteigeschichte, in:
Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8. 1930, S. 753–
786; Karl Spreng, Studien zur Entstehung sozialpolitischer Ideen in Deutschland aufgrund der Schriften Franz von Baaders und F. J. von Buß, Gießen 1932.
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handelte schon in seiner zweibändigen Biographie über den Generalfeldmarschall Hermann von Boyen25 (1896/1899) und dann besonders in Weltbürgertum
und Nationalstaat (1908) Ideen der „großen Persönlichkeiten, der schöpferischen
Denker“26. Nur in den „hochgelegenen Quellen“, schrieb er, und nicht in der
„sogenannten öffentlichen Meinung“ oder der „kleinen politischen Tagesliteratur“27 könne man geschichtsantreibende Ideen finden. Das erkenntnisleitende Interesse von Meineckes Werk sah von der besonderen zeitgeschichtlichen Situation und der „geistesgeschichtlichen Herkunft“28 ab und zielte stattdessen auf die
„Geschichte bestimmter Ideen durch die […] Behandlung einzelner Denker“29.
Im Gegensatz zu Weber und Windelband entwickelte Meinecke allerdings keine
geschichtsphilosophische Theorie, welche die historische Untersuchung einzelner Ideen theoretisch-methodologisch begründete. Es war für ihn schlicht ein
Faktum der historischen Wirklichkeit, dass nicht ein Zeitgeist oder materielle Interessen, sondern „Persönlichkeiten und Ideen“ die „wertvollsten Träger des geschichtlichen Lebens“30 darstellten. Er rief deshalb dazu auf, mit den „großen
Mächten des Staats- und Kulturlebens zu freier Regung und Fühlung sich zu erheben“ und in „Philosophie und Politik mutiger zu baden“31.
Ernst Schulin hat einst zurecht hervorgehoben, dass Meinecke mit Weltbürgertum und Nationalstaat zum entscheidenden „Begründer der politischen Ide-
25 Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen.
1771-1814 (= Bd. 1), Stuttgart 1896; Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. 1814-1848 (= Bd. 2), Stuttgart 1899.
26 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1908, S. 18. Über
das Innovative von Meineckes ideengeschichtlichen Ansatz für die Geschichtswissenschaft siehe: Franz Schnabel, Friedrich Meinecke 13.10.1862-06.02.1954, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften. 1954, S. 174–200; Gerhard Albert Ritter, Einleitung. Friedrich Meinecke und seine emigrierten Schüler, in: Friedrich Meinecke und
Gerhard Albert Ritter (Hg.), Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte
Schüler: Briefe und Aufzeichnungen, 1910-1977 (= Biographische Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 23), München 2006, S. 13–112.
27 Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 18.
28 Ebd, S. 60.
29 Ebd, S. 50.
30 Friedrich Meinecke, Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften,
in: Friedrich Meinecke und Eberhard Kessel (Hg.), Zur Geschichte der Geschichtsschreibung (= Friedrich Meinecke. Werke, Bd. 7), München 1968, S. 1–4, hier S. 2.
31 Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 1f.
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E INLEITUNG
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engeschichte“32 wurde. Es gelang ihm als Professor und als Herausgeber der Historischen Zeitschrift, Schüler zu gewinnen, welche die ideengeschichtlichen
Schwerpunkte seiner Herangehensweise weitergegeben haben. Trotz seiner großen Wirksamkeit haben die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts seinen
Einfluss auf die historische Forschung in Deutschland und Europa stark gehemmt. Vor allem Historiker wie Hajo Holborn (1902–1969), Dietrich Gerhard
(1896–1985), Hans Rosenberg (1904–1988), Hans Baron (1900-1988) und Felix
Gilbert (1905-1991) mussten aus diversen Gründen, die mit dem Aufkommen
des Nationalsozialismus‘ in Deutschland zu tun hatten, fliehen und haben damit
einen Großteil von Meineckes Erbe ins Ausland exportiert.33
Die akademische Beschäftigung mit der Geschichte von politischen und philosophischen Ideen – ob als Problemgeschichte, verstehende Soziologie oder politische Ideengeschichte – war ein gängiger wissenschaftlicher Ansatz am Anfang
des 20. Jahrhunderts, sie war jedoch keineswegs unumstritten. Die stärkste Kritik
gegen die Ideengeschichte kam nicht von außen, sondern gleichsam aus den eigenen Reihen: nämlich von der Geistesgeschichte. In der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts lässt sich ein „Siegeszug“34 der Geistesgeschichte in den Geisteswissenschaften verzeichnen, die sich zu keinem geringen Anteil durch ihre Kritik gegen die Ideengeschichte erklären lässt. Die Geistesgeschichte führte am
Anfang des 20. Jahrhunderts einen offenen Krieg gegen jegliche Art des Positivismus‘ und boykottierte den Wissenschaftsimport von den naturwissenschaftlichen Methoden in die Geisteswissenschaften.35 Vertreter der Geistesgeschichte
witterten in den methodischen Voraussetzungen der Ideengeschichte verdeckte
Residuen positivistischer Prämissen. Die Logik der Naturwissenschaften, die alles in Einzelteile zersetze, sah man auch in der Ideengeschichte am Werk. Geistesgeschichte, so verkündete es Rudolf Unger, sollte die „positivistische Verken-
32 Ernst Schulin, Friedrich Meineckes Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft:
Vortrag im Rahmen eines Kolloquiums zum Gedenken an Meineckes 25. Todestag,
in: Historische Zeitschrift 230. 1980, S. 3–29, hier S. 5f.
33 Vgl. Ritter (Hg.), Friedrich Meinecke.
34 Marcel Janssens, Die Dämmerungsjahre der geistesgeschichtlichen Methode. 1925 bis
1935, in: Leuvense Bijdragen 52. 1963, S. 113–155, hier S: 116.
35 Siehe vor allem: Rudolf Unger, Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft, München 1908. (später: Rudolf Unger, Philosophische Probleme in der
neueren Literaturwissenschaft [1908], in: ders. (Hg.), Aufsätze zur Prinzipienlehre der
Literaturgeschichte, Berlin 1929d, S. 1–32.).
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16 | D. T IMOTHY G OERING
nung der Bedeutung organischer Zusammenhänge“36 vermeiden. Genau diese
„organischen Zusammenhänge“ gelte es, in der Geistesgeschichte zu Tage zu
fördern. Mit dieser Abgrenzung von der Ideengeschichte erschuf sich die Geistesgeschichte ein eigenes Profil. Erich Seeberg schrieb im Jahr 1925:
„Während die Ideengeschichte das Werden einzelner Idee verfolgt, so stellt die Geistesgeschichte die einzelnen Ideen nicht nur für sich, sondern im Zusammenhang mit dem gesamten Geistesleben, als Faktoren neben andern und in Wechselwirkung mit anderen dar.
Die geistesgeschichtliche Betrachtungsweise […] führt also die Ideen aus der provinziellen oder fachmäßigen Isolierung heraus und sucht ihre Geschichte aus dem universalen
Geistesleben heraus zu begreifen.“37
Einige Jahre später schrieb auch Hanns Wilhelm Eppelsheimer programmatisch:
„Geistesgeschichte ist nicht Ideengeschichte.“38 Im Gegensatz zur Ideengeschichte, so führte er weiter aus, suche nämlich die Geistesgeschichte die „hinter
den Kulturobjektivationen liegende Totalität“39 und nicht nur einzelne Ideen.40
Es ging folglich in der Geistesgeschichte weder um eine Abwendung von
Ideen hin zu machtpolitischen Interessen oder gesellschaftlichen Strukturen,
noch ging es um eine Absage an die Beschäftigung mit der Höhenkammliteratur.
Ideen standen auch in der Geistesgeschichte weiterhin im Vordergrund, sie
mussten aber einen weltanschaulichen Bezug zum allgemeinen Zeitgeist aufweisen. Das Konkrete musste sich im Gemeinsamen, im Lebenszusammenhang des
gesamten Zeitgeistes bewähren. Das gedanklich Einzelne konnte nur als Pars
36 Ebd, hier S. 7.
37 Erich Seeberg, Theologische Literatur zur neueren Geistesgeschichte, in: Deutsche
Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3. 1925, S. 463–
484, hier S. 464 (meine Hervorhebung).
38 Hanns Wilhelm Eppelsheimer, Das Renaissance-Problem, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 11. 1933, S. 477–500, hier S.
490.
39 Ebd, hier S. 496.
40 So auch später Ernst Schulin: „Die ‘Ideengeschichte’ geht es meistens um klar umrissene Ideen und ihre Entwicklung, die eher immanent, nur sekundär abhängig von anderen geschichtlichen Entwicklungen verfolgt werden. Bei Geistesgeschichte geht es
eher um Bewußtseins- oder Mentalitätsentwicklung, stärker im Interdependenzverhältnis zu gesellschaftlichen Verhältnissen oder politischen Veränderungen. Sie steht
der Kulturgeschichte näher.“ Schulin, Friedrich Meineckes Stellung in der deutschen
Geschichtswissenschaft, hier S. 10.
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pro Toto des gesamten Zeitgeistes verlebendigt werden: So lautete das Credo der
Geistesgeschichte. „Nicht um die Masse der Einzelheiten ist es ihr zu tun,“
schrieb Virgil Redlich zum Auftakt der Zeitschrift für deutsche Geistesgeschichte im Jahr 1935, „sondern um den Geist des Ganzen. Einzelheiten sind nur wichtig, wenn sie zur Sinndeutung des Ganzen führen.“41
Dies war eine implizite Kritik an den neukantianischen Tendenzen der Ideengeschichte. Die Geistesgeschichte ging von der Prämisse aus, dass Ideen nicht
über die Welt schwebten wie das Sollen über das Sein, sondern sie bildeten
gleichursprünglich mit dem Handeln und Leben das Gewebe der Geschichte. Die
„Geschichte des Geistes“ sei immer eine lebendige „Kräftegeschichte“42, wie es
Friedrich Gundolf formulierte. „Leben“ wurde das Zauberwort der geistesgeschichtlichen Forschung. So wies zum Beispiel Rothacker darauf hin, dass Dilthey zu Recht auf das „Erstgeburtsrecht des Lebens vor der Wissenschaft“43 hingewiesen hatte. Das „innere Leben in der Totalität“44, das „lebendige Leben“45,
das „individuelle Leben“46 einer Zeit sollte Gegenstand der Geistesgeschichte
werden – nicht nur die abstrakten Privatgedanken einiger exzeptioneller Autoren. „Es ist die Aufgabe der historischen Analysis, in den konkreten Zwecken,
Werken, Denkarten die Übereinstimmung in einem Gemeinsamen aufzufinden,
das die Epoche regiert“47. Dieses Wort Wilhelm Diltheys wurde zur Losung der
41 Virgil Redlich, Sinn und Aufgabe deutscher Geistesgeschichte, in: Zeitschrift für
deutsche Geistesgeschichte 1. 1935, S. 1–4, hier S. 1.
42 Friedrich Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911, S. 285.
43 Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920, S. 209.
44 Rudolf Unger, Literaturgeschichte und Geistesgeschichte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4. 1926c, hier S. 182 (Rudolf
Unger, Literaturgeschichte und Geistesgeschichte. Ein Vortrag [1926], in: ders. (Hg.),
Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin 1929d, S. 212–225, hier
S. 217).
45 Erich Rothacker, Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 18. 1940, S. 1–25, hier S.
13.
46 Herbert Cysarz, Der Lebensbegriff der deutschen Geisteswissenschaft, in: Österreichische Rundschau 19. 1923, S. 1085–1106, hier S. 1090.
47 Wilhelm Dilthey und Bernhard Groethuysen (Hg.), Der Aufbau der geschichtlichen
Welt in den Geisteswissenschaften (= Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften, Bd.
7), Göttingen 19928, S. 155.
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Geistesgeschichte, so wie Dilthey insgesamt zur Galionsfigur der Geistesgeschichte wurde.48
Der programmatische Aufsatz „Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte“ (1940) von Erich Rothacker fasste im Nachhinein die methodische und geschichtsphilosophische Zielsetzung der Geistesgeschichte präzise zusammen.
Besonders die Philosophiegeschichte und Problemgeschichte von Nicolai Hartmann geriet ins Sperrfeuer seiner Kritik. Hartmanns „Philosophiegeschichte […]
und die Geistesgeschichte haben überhaupt nichts miteinander zu tun“49, schrieb
Rothacker einleitend. Denn die Geistesgeschichte erachte im Gegensatz zur Philosophie- und Ideengeschichte die historischen Kontexte des Denkers nicht als
„äußerliche Bedingung“50 oder als „wesenszufälliger Umstand“51, die in der historischen Untersuchung abgestreift werden könnten. Der Geisteshistoriker interpretiere diese Kontexte vielmehr so, „daß er ihr einen positiven, inneren, wesentlichen Einfluß auf den Gehalt der Erkenntnis selbst zuzuschreiben neigt.“52 Denn
dass das Denken immer unentwirrbar mit dem Leben verflochten sei, sei die unumstößliche Prämisse der Geistesgeschichte:
„Das Denken bleibt an den Horizont der vom Leben aus am Wirklichen aufgeschlossenen
Bedeutsamkeiten gebunden. Es vermag diese zwar zu distanzieren und zu versachlichen,
aber nicht restlos aufzulösen und vor allem nicht zu ersetzen.“53
Insgesamt sei es deshalb die Aufgabe der Geistesgeschichte, das
„wechselseitige Wirken und Empfangen zwischen Gedanke und Leben, Theorie und Praxis, Ethik und Ethos, Lehre und Gesinnung, Dogmatik und Frömmigkeit, Kunsttheorie
48 Über die besondere Rolle Diltheys für die Geistesgeschichte siehe z.B.: Gerhard Masur, Wilhelm Dilthey und die europäische Geistesgeschichte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 12. 1934, S. 479–503;
Rudolf Unger, Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Bd. 1), Berlin 1924b.
49 Rothacker, Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte, hier S. 2.
50 Ebd, hier S. 7.
51 Ebd, hier S. 7.
52 Ebd, hier S. 7.
53 Ebd, hier S. 13.
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und Kunstübung, Staatsphilosophie und Staatsleben, Rechtstheorie und Rechtspraxis,
Fortschritt und Fortschrittsstimmung54“ zu erforschen.
Im Gegensatz zur Ideengeschichte, die methodisch zerstreuter war, gelang es
vielen Vertretern der Geistesgeschichte spätestens in den 1920er Jahren, sich unter einem einheitlichen Banner zu versammeln und als Fachrichtung innerhalb
der Geisteswissenschaft wahrgenommen zu werden.55 Die Geistesgeschichte, so
konstatierte Herbert Cysarz im Jahr 1926, „ist kein Postulat, vielmehr eine Tatsache […]. Ein Wissenschaftszustand also, kein Wissenschaftsideal.“56 Federführend waren die geistesgeschichtlichen Schriften von Germanisten, Literatur-
54 Ebd, hier S. 9.
55 Auch wenn es nicht die eine Geistesgeschichte gab, sondern eine Vielzahl an Methoden, die teils miteinander konkurrierten, ist es trotzdem bedeutend, dass die Geistesgeschichte von ihren Zeitgenossen häufig als eine einheitliche Forschungsrichtung innerhalb der Geisteswissenschaften wahrgenommen wurde. Vgl. Rainer Rosenberg,
Methodenpluralismus unter der Dominanz der Geistesgeschichte, in: ders. (Hg.), Zehn
Kapitel zur Geschichte der Germanistik: Literaturgeschichtsschreibung, Berlin 1981,
S. 226–253; Holger Dainat, Deutsche Literaturwissenschaft zwischen den Weltkriegen, in: Zeitschrift für Germanistik 1. 1991, S. 600–608; Christoph König und Eberhard Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925,
Frankfurt a.M. 1993.
Zur methodologischen Grundbestimmung dieser Zeit siehe z.B.: Emil Ermatinger, Die
deutsche Literaturwissenschaft in der geistigen Bewegung der Gegenwart, in: Zeitschrift für Deutschkunde 39. 1925, S. 241–261; Fritz Strich, Wesen und Aufgabe der
heutigen Geistesgeschichte, in: Frankfurter Zeitung, 29.11.1923; Oskar Benda, Der
gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Eine erste Einführung in ihre
Problemlage, Wien 1928; Franz Schultz, Das Schicksal der deutschen Literaturgeschichte. Ein Gespräch, Frankfurt a.M. 1929; Rudolf Unger (Hg.), Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin 1929d; Redlich; Willy Hellpach, Geistesgeschichte oder Völkerpsychologie?, in: Die Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift für
Universalgeschichte. 1940, S. 249–270; Rothacker, Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte.
56 Herbert Cysarz, Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft. Kritik und System, Halle
1926, S. 1. Ähnlich auch Eduard Spranger, Was heißt Geistesgeschichte?, in: Die Erziehung. Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben 12. 1937, der allerdings schon befürchtete, „daß der Höhepunkt der
Bewegung schon wieder vorüber ist, ja daß heutzutage die Geistesgeschichte in
Deutschland sogar bekämpft wird“ (ebd, hier S. 300).
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wissenschaftlern und einigen Philosophen wie beispielsweise Paul Kluckhohn57,
Rudolf Unger58, Hermann August Korff59, Friedrich Gundolf60, Herbert Cysarz61,
Julius Petersen62, Ernst Cassirer63 und Erich Rothacker64, die sich erfolgreich an
der Universität etablierten und den Ton der geistesgeschichtlichen Arbeit und Methoden angaben.65 Die großen kulturgeschichtlichen Epochen wie die Aufklärung,
57 Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und
in der deutschen Romantik, Halle 1922.
58 Unger, Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft; Rudolf Unger,
Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im
18. Jahrhundert, Jena 1911; Rudolf Unger, Literaturgeschichte als Problemgeschichte.
Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Willhelm Dilthey, in: ders. (Hg.), Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin
1929, S. 137–170.
59 Hermann August Korff, Sturm und Drang (= Geist der Goethezeit, Bd. 1), Leipzig 1923;
Hermann August Korff, Weltanschauung (= Geist der Goethezeit, Bd. 2), Leipzig 1927;
Hermann August Korff, Klassik (= Geist der Goethezeit, Bd. 3), Leipzig 1930; Hermann
August Korff, Frühromantik (= Geist der Goethezeit, Bd. 4), Leipzig 1940; Hermann
August Korff, Hochromantik (= Geist der Goethezeit, Bd. 5), Leipzig 1953.
60 Gundolf; Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin 1916; Friedrich Gundolf, George, Berlin
1920.
61 Cysarz, Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft.
62 Julius Peterson, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in
die moderne Literaturwissenschaft, Leipzig 1926; Julius Petersen, Die Wissenschaft
von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft, Berlin 1939.
63 Vor allem: Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916; Ernst Cassirer, Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist,
Berlin 1921.
64 Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920; Rothacker,
Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte.
65 Siehe: R. Kolk, Literarische Gruppenbildung: Am Beispiel des George-Kreises 1890–
1945, Tübingen 1998, S. 317f. Auch in der Kunst- und Rechtsgeschichte spielte die
Geistesgeschichte eine zunehmend größere Rolle in den 1920er Jahren. Siehe z.B.:
Max Dvořák, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Studien zur abendländischen
Kunstentwicklung, München 1924; Georg Dehio, Geschichte der deutschen Kunst. 4
Bde, Berlin 1919-1925; Hans Fehr, Mehr Geistesgeschichte in der Rechtsgeschichte,
in: Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 5. 1927, S. 1–8;
Otto Stolz, Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol im Lichte der Urkunden. 2
Bde, Berlin 1927-1928.
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der Sturm und Drang oder die Romantik standen stets im Zentrum ihrer Forschung.
Zentrales Publikationsorgan der Geistesgeschichte wurde die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, die 1923 von Paul
Kluckhohn und Erich Rothacker gegründet und herausgegeben wurde.66
Die methodische Zielsetzung der Geistesgeschichte und ihre polemische Abgrenzung von der Ideengeschichte wurden in Schriften vieler Autoren der späten
Weimarer Republik häufig von politischen Untertönen begleitet. Geisteswissenschaftliche Begriffe führten in der Forschung meist ein öffentliches Doppelleben, da sie sowohl wissenschaftliche Methode als auch politischen Eifer zum
Ausdruck bringen konnten. Im „großen Unternehmen des Geistes“67 (Simmel)
dieser Zeit war die Distanz zwischen philosophisch orientierter Theoriebildung
und politischer Ideologie gering und konnte bisweilen durch einen unmerklichen
gedanklichen Katzensprung überwunden werden. Der Geisteshistoriker konnte
zum heimlichen Anwalt des vom Intellektualismus, Liberalismus und Positivismus gefährdeten deutschen Geistes werden. Die Geistesgeschichte wurde zum
Beispiel von Rudolf Unger als die „früheste Leistung des deutschen Genius“68
gefeiert, die er vom rein empirisch orientierten „westlichen Positivismus“69 abgrenzte. „Geisteswissenschaften helfen mit alledem einen Daseinskampf ihres
ganzen Zeitalters austragen“, schrieb Herbert Cysarz, „die Schlacht des gesunden, gefügten Kulturhaushalts gegen jederlei Fellachisierung“70. Neben der wis-
66 Zur Gründung und Bedeutung der Zeitschrift für die Geistesgeschichte siehe: Ralph
Stöwer, Erich Rothacker: sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen, Göttingen 2011, S. 81ff; Holger Dainat und Rainer Kolk, Das Forum der Geistesgeschichte.
Die 'Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte'
(1923-1944), in: Robert Harsch-Niemeyer (Hg.), Beiträge zur Methodengeschichte
der neueren Philologien. Zum 125 jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages,
Tübingen 1995, S. 111–134; Holger Dainat, "wir müssen ja trotzdem weiterarbeiten".
Die "Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte"
vor und nach 1945, in: Wilfried Barner und Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel.
Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945 (= Kultur & Medien), Frankfurt a.M. 1996, S. 76–100.
67 Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Logos 2. 1911/1912, S.
1–25, hier S. 25.
68 Unger, Literaturgeschichte als Problemgeschichte, S. 138.
69 Ebd.
70 Herbert Cysarz, Zur Gegenwartslage der deutschen Geisteswissenschaften, in: Historische Zeitschrift 162. 1940, S. 457–478, hier S. 462. Siehe auch: Cysarz, Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft. Kritik und System, Halle 1926. Zu Cysarz siehe: Pe-
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senschaftsinternen Bedeutung konnte der Begriff des „deutschen Geistes“, der
dem abstrakt-intellektualistischen Ideen- und Philosophiebegriff entgegengesetzt
wurde, eine politisch-weltanschauliche Funktion gewinnen.71
Es ist daher nicht ganz überraschend, dass die Geistesgeschichte im Gegensatz zur Ideengeschichte ein Fixstern der Geisteswissenschaft auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme blieb. Einige Geisteswissenschaftler standen dem Nationalsozialismus näher als andere, aber insgesamt gab es für die
Geistesgeschichte im Dritten Reich keine grundsätzlichen „Anpassungsschwierigkeiten“72. Die Kritik der Geistesgeschichte gegen die angeblich positivistische, abstrakte, lebensfremde Ideengeschichte stieß schließlich auf Resonanz. In
seinen Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1937) schrieb Alfred Baeumler
beispielsweise, die „deutsche Geistesgeschichte kann nicht von einem die Tatsachen bloß registrierenden Verstande geschrieben werden. Nur wer selber mit
seiner ganzen Existenz in ihr steht, vermag etwas über sie auszusagen.“73 Die
wahre deutsche Geistesgeschichte könne also nur jemand schreiben, der die richtige Haltung zum deutschen Volk habe. „Zu den wichtigsten kulturphilosophischen Erkenntnissen unserer Zeit gehört die Einsicht in die untrennbare innere
Einheit alle Äußerungen des schöpferischen Volksgeistes auf allen Lebensgebieten, in Schrifttum, bildender Kunst und Musik, in Weltanschauung und Gesellschaft“, schrieb Julius Wiegand in seiner Deutschen Geistesgeschichte (1932).
„Keiner von diesen Bezirken des ‚objektiven Geistes‘“, fuhr er fort, „vermag für
sich allein eine Vorstellung von Wesen und Werdegang unserer Kultur zu ver-
ter Becher, Herbert Cysarz (1896-1985), Germanist. Seine Prager Universitätsjahre,
in: Monika Glettler und Alena Míšková (Hg.), Prager Professoren 1938-1948. Zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen zur Kultur und Gesellschaft im
östlichen Europa, Bd. 17), Essen 2001, S. 277–297.
71 Siehe: Hinrich Seeba, Zum Geist- und Struktur-Begriff der Literaturwissenschaft der
zwanziger Jahre. Ein Beitrag zur Dilthey-Rezeption, in: Christoph König und Eberhard Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925,
Frankfurt a.M. 1993, S. 240–254.
72 Holger Dainat, Anpassungsprobleme einer nationalen Wissenschaft. Die Neuere deutsche Literaturwissenschaft in der NS-Zeit, in: Petra Boden und Holger Dainat (Hg.),
Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert (= Literaturforschung), Göttingen 1997, S. 103–126.
Zur Philosophiegeschichte in Deutschland siehe: Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 2002 (für
die Zeit ab 1933 siehe S. 593ff).
73 Alfred Baeumler, Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937, S. 333.
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mitteln.“74 Gerhard Fricke ermahnte alle Germanisten, von „der Buch- und Kathederwissenschaft zu einer volksverbundenen und volksdienenden Lebenswissenschaft“75 vorzustoßen. In einer Rezension eines französischen Werkes, das
eine Ideengeschichte des Nationalsozialismus darlegte, beklagte Gerhard Lehmann die „historische Methode“ des ideengeschichtlichen Ansatzes, da sie eine
„sehr geschickte Abstraktion, eine Überblendung, zugleich Abblendung“ sei.
„Denn ohne Rücksicht auf die politischen und kulturellen Wechselwirkungen, in
denen jedes Volk steht, wird die deutsche Geschichte sozusagen umweltlos, monadologisch verstanden.“76 Die Zeitschrift Volk im Werden, die 1944 in die Zeitschrift für Geistes- und Glaubensgeschichte umbenannt wurde, wurde 1933 von
Ernst Krieck herausgegeben und war ein wichtiges Organ der Geistesgeschichte.
Ein fünfbändiges Gemeinschaftswerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung wurde unter dem Zeichen der Geistesgeschichte geschrieben.77 Die geistesgeschichtliche Forschung erlitt also in den 1930er Jahren im Gegensatz zur Ideengeschichte keinen bedeutenden Einbruch.78
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Zeit von 1900 bis 1945 die
Geistesgeschichte vor allem innerhalb der Germanistik und Philosophie zu ei-
74 Julius Wiegand, Deutsche Geistesgeschichte, Frankfurt a.M. 1932, S. III.
75 Gerhard Fricke, Über die Aufgabe und die Aufgaben der Deutschwissenschaft, in:
Zeitschrift für deutsche Bildung 9. 1933, S. 494–501, hier S. 496.
76 Lehmann, Gerhard: „Eine Ideengeschichte des Nationalsozialismus?“, in: Nationalsozialistische Monatshefte 114 (1939), S. 808-816, hier S. 809.
77 Vgl. Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg.
Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945) (= Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Bd. 1), Dresden 1998.
78 Nolte hat jüngst die „die Bedeutung des politischen Bruches von 1933 für das Verschwinden einer deutschen Ideengeschichte“ hervorgehoben. Paul Nolte, Sozialgeschichte und Ideengeschichte. Plädoyer für eine deutsche "Intellectual History", in:
ders. (Hg.), Transatlantische Ambivalenzen. Studien zur Sozial- und Ideengeschichte
des 18. bis 20. Jahrhunderts, Berlin 2014, S. 391–414, hier S. 399f. Vgl auch: JanPieter Barbian, Literaturpolitik im "Dritten Reich". Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, Frankfurt a.M. 1993; Holger Dainat, Germanistische Literaturwissenschaft, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im
Dritten Reich, 1933-1945 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 53),
München 2002, S. 63–86; Holger Dainat und Lutz Danneberg (Hg.), Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 99), Tübingen 2003; Gerhard Kaiser, Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2008.
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nem der bedeutendsten geisteswissenschaftlichen Forschungsbereiche aufstieg,
der der Ideen-, Philosophie- und Problemgeschichte sukzessive das Wasser abgrub. Erst Mitte der 1940er Jahre geriet das geistesgeschichtliche Paradigma ins
Wanken.79
Ein kurzer internationaler Vergleich relativiert allerdings die Höhe des Aufstiegs dieser Disziplinen. Denn mit viel größerem Erfolg als in Deutschland
konnte sich nämlich in den USA die „history of ideas“ durchsetzen.80 An der
Johns Hopkins University entstand nach dem Ersten Weltkrieg um Arthur Lovejoy eine lose organisierte Forschergruppe – der sogenannten „History of Ideas
Club“ –, die sich ab 1923 an der Johns Hopkins University kontinuierlich traf.81
Obwohl Lovejoy schon während des Ersten Weltkrieges seine Methodologie festigte82, legte er erst 1936 mit seinem Werk The Great Chain of Being den Grundstein für die Disziplin der „history of ideas“.83 Mit der Zeitschrift Journal of the
79 Vor allem in der Germanistik. Siehe: Wilfried Barner und Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945 (= Kultur &
Medien), Frankfurt a.M. 1996.
80 Die Geschichte der „history of ideas“ ist im Vergleich zur Geschichte der deutschen
Ideen- und Geistesgeschichte seit Langem von der amerikanischen Geschichtsforschung thematisiert worden. Siehe z.B. John Higham, The Rise of American Intellectual History, in: American Historical Review 56. 1951, S. 453–471; Daniel J. Wilson,
Arthur O. Lovejoy and the Quest for Intelligibility, Chapel Hill 1980; Donald R. Kelley, What is Happening to the History of Ideas?, in: Journal of the History of Ideas 51.
1990, S. 3–25; Donald R. Kelley, The Descent of Ideas. The History of Intellectual
History, Aldershot, Hants, England, Burlington, VT 2002; Anthony Grafton, The History of Ideas: Precept and Practice, 1950-2000 and Beyond, in: Journal of the History
of Ideas 67. 2006, S. 1–32; Leo Cantana, Lovejoy's Readings of Bruno: Or How Nineteenth-Century History of Philosophy was 'Transformed' Into the History of Ideas, in:
Journal of the History of Ideas 71. 2009, S. 91–112.
81 Zur History of Ideas Club siehe: Wilson, S. 187-189; Dorothy Stimson, The History
of Ideas Club, in: George Boas (Hg.), Studies in Intellectual History, Baltimore 1953,
S. 174–196.
82 Siehe: Arthur O. Lovejoy, On Some Conditions of Progress in Philosophical Inquiry,
in: Philosophical Review 26. 1917, S. 123–163; Arthur O. Lovejoy, The Revolt
against Dualism. An Inquiry Concerning the Existence of Ideas, Chicago 1930.
83 Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea,
Cambridge 1936. Das Buch wurde erst ein halbes Jahrhundert später auf Deutsch
übersetzt: Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a.M. 1985.
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History of Ideas, die bis heute erscheint, schuf der „History of Ideas Club“ um
Lovejoy ein öffentlich wirksames Publikationsorgan. Der erste Aufsatz der Zeitschrift von Arthur Lovejoy war eine programmatische Standortbestimmung,
welche die „history of ideas“ als eine Philosophiegeschichte von „unit-ideas“
vorstellte, die zur geheimen Königsdisziplin der Universität avancieren sollte.84
Im Vergleich zu den deutschsprachigen Ländern, in denen Geistesgeschichte
am stärksten von Germanisten und Literaturwissenschaftlern vertreten wurde,
blieb die amerikanische „history of ideas“ viel stärker an die Philosophie und
Geschichtswissenschaft gebunden und war bemüht, in Anlehnung an naturwissenschaftliche Methoden eine kühle, analytisch-wissenschaftliche Distanz zum
Untersuchungsgenstand zu wahren. „Its initial procedure“, schrieb Lovejoy über
das methodische Vorgehen der history of ideas, „may be said […] to be somewhat analogous to that of analytic chemistry.“85
Aber noch wesentlich erfolgreicher als in den USA konnte sich die Ideengeschichte als Disziplin auf europäischem Boden etablieren: nämlich in Schweden.86 An der Universität Uppsala wurde 1932 die Emilia und Gustaf Carlberg
84 Arthur O. Lovejoy, Reflections on the History of Ideas, in: Journal of the History of
Ideas 1. 1940, S. 3–23. Vgl. auch: Lovejoy, The Great Chain of Being, S. 3-24; Arthur
O. Lovejoy, The Historiography of Ideas, in: Proceedings of the American Philosophical Society LXXVIII. 1938, S. 529–543. Vor allem George Boas hat Lovejoys Projekt mitgestaltet und über den Zweiten Weltkrieg hinaus weitergetragen. Siehe vor allem: George Boas, Some problems of intellectual history, in: ders. (Hg.), Studies in
Intellectual History, Baltimore 1953, S. 3–21.
85 Lovejoy, The Great Chain of Being, S. 3.
Zu den Unterschieden zwischen der Geistesgeschichte und „history of ideas“ siehe vor
allem: Leo Spitzer, Geistesgeschichte vs. History of Ideas as Applied to Hitlerism, in:
Journal of the History of Ideas 5. 1944, S. 191–203. „In opposition to such a history of
ideas,“ schrieb Spitzer, „with its bias for naturalistic and atomistic methods applied to
the history of the human mind, I propose a Geistesgeschichte, in which Geist represents nothing ominously mystical or mythological, but simply the totality of the features of a given period or movement which the historian tries to see as a unity“ (hier
S. 202). Siehe auch die Antwort Lovejoys auf Spitzers Aufsatz: Arthur O. Lovejoy,
Reply to Professor Spitzer, in: Journal of the History of Ideas 5. 1944, S. 204–219.
86 Zur Entwicklung der schwedischen „idé- och lärdomshistoria“ siehe: Tore Frängsmyr
(Hg.), History of Science in Sweden. The Growth of a Discipline, 1932-1982 (= Uppsala studies in history of science, Bd. 2), Stockholm 1984; Nils Andersson und Henrik
Björck (Hg.), Idéhistoria i tiden. Perspektiv på ämnets identitet under sjuttiofem år,
Stockholm 2008.
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Professur für „idé- och lärdomshistoria“ (Ideen- und Gelehrtengeschichte) eingerichtet. Erster Inhaber war Johan Nordström, der 1924 als Schüler von dem Literaturhistoriker Henrik Schück in seiner Promotionsarbeit die philosophischen
Fragmente des schwedischen Universalgelehrten Georg Stiernhielm (1598-1672)
herausgab, kommentierte und in einer ausführlichen Einleitung in den geistesgeschichtlichen Kontext einband.87 Daraufhin wurde er fünf Jahre später besonders
durch seine veröffentlichten Vorlesungen Medeltid och renässans („Mittelalter
und Renaissance“) in Schweden bekannt, in denen er gegen Jacob Burckhardt
die These vortrug, dass die intellektuellen Wurzeln der Renaissance schon im 12.
Jahrhundert in Frankreich lägen.88 Nordstöm wurde als Professor in Uppsala zur
Vaterfigur der schwedischen „idé- och lärdomshistoria“. In seiner Forschung
wandte er sich zunächst der Gotik zu89, danach investierte er seine gesamte Arbeitskraft in die Gesellschaft Lärdomshistoriska samfundet (Gesellschaft für Gelehrtengeschichte), die 1934 gegründet und zum Knotenpunkt der schwedischen
Ideengeschichte wurde. Zudem wurde die Zeitschrift Lychnos 1936 unter seinen
Auspizien gegründet, die bis heute die bedeutendste ideengeschichtliche Zeitschrift Schwedens ist.
Das methodische Programm, das Nordström und seine Schüler vertraten, besaß eine andere Stoßrichtung als die deutsche und amerikanische ideen- und
geistesgeschichtliche Forschung. Die beiden großen Quellen, aus denen Nordström seine Methode speiste, kamen aus der Wissenschafts- und Geistesgeschichte.90 In seiner Antrittsvorlesung, die er März 1933 hielt, verwies er explizit
auf naturwissenschaftsgeschichtliche Arbeiten von George Sarton (1884-1956)
und Paul Tannery (1843-1904), betonte aber, dass diese „lärdomshistoria“ immer
durch „idéhistoria“ ergänzt und korrigiert werden müsse. Alle Wissensbestände
innerhalb der akademischen Wissenschaft gehörten schließlich zur „intellektuel-
87 Zu Nordström siehe: Sten Lindroth, Johan Nordström 1891-1967, in: Lychnos.
1967/68, S. 3–20.
88 Johan Nordström, Medeltid och renässans. En utvecklingshistorisk överblick, in: Sven
Thunberg und Samuel Ebbe Bring (Hg.), Nordstedts världshistoria (= Nationalstaterna
och renässansen 1300-1500, Bd. 6), Stockholm 1929, S. 341–530, später auch: Johan
Nordström, Medeltid och renässans. En utvecklingshistorisk överblick, Stockholm
1929. Bislang nur auf Französisch übersetzt: Johan Nordström, Moyen âge et renaissance: Essai historique, Paris 1933.
89 Johan Nordström, De yverbornes ö, Stockholm 1934.
90 Siehe: Tore Frängsmyr, Johan Nordström och lärdomshistoriens etablering i Sverige,
in: Lychnos. 1983, S. 131–149; Tore Frängsmyr, Sarton and Nordström, in: Isis 75.
1984, S. 49–55.
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la och moraliska atmosfär“91 („intellektuellen und moralischen Atmosphäre“) der
Zeit. Nordström griff daher auch explizit auf Dilthey zurück und lenkte die positivistischen Tendenzen der Wissenschaftsgeschichte in geistesgeschichtliche
Bahnen. Heraus kam eine eigene hausgemachte Mischung aus geistesgeschichtlicher Wissenschaftsgeschichte, die für die frühe schwedische „idé- och lärdomshistoria“ charakteristisch wurde.
Wie im Falle der Geistesgeschichte in Deutschland so erfüllte auch die
schwedische „idé- och lärdomshistoria“ in den 1930er Jahren eine kulturell-politische Funktion und konnte unter den begünstigenden Bedingungen über den
akademischen Diskurs hinaus sinnstiftende Wirksamkeit entfalten. Die Professur
für „idé- och lärdomshistoria“ in Uppsala wurde schließlich vom Geschäftsmann
Gustaf Carlberg zum 300. Todestag des schwedischen Nationalhelden, Gustav
II. Adolf (1594-1632), gestiftet für den „svenska andliga framåtskridandet och
vår svenska kulturs upprätthållande“92 („schwedischen geistigen Fortschritt und
für die Aufrechterhaltung der schwedischen Kultur“). Es ist kein Zufall, dass die
Großmachtzeit Schwedens (1611–1719) anfänglich wie ein Leuchtturm im Zentrum der „idé- och lärdomshistoria“ stand. Eine Demonstration der historischen
Stärke Schwedens wurde gerne und willig erbracht. Trotz dieser begünstigenden
politischen Bedingungen, muss auch betont werden, dass sich die Forschung
Nordströms und seiner Schule von der politisch-ideologischen Interessenlage
nicht bis ins Letzte hat bestimmen lassen und auch jenseits des politischen Klimas Forschung betrieben werden konnte. Nordström gelang es, mit seinen Schülern, der Zeitschrift Lynchos und der Lärdomshistoriska samfundet ein Fach an
schwedischen Universitäten zu institutionalisieren, das Professuren, Forschergruppen und eigene Forschungsschwerpunkte besitzt und sich bis heute an den
schwedischen Universitäten hält.93
91 Die „Installationsföreläsning“ wurde erst 1967 abgedruckt. Johan Nordström, Om Idéoch Lärdomshistoria. Installationsföreläsning den 4 Mars 1933, in: Lychnos. 1967/68,
S. 21–29, hier S. 28.
92 So hieß es in dem „donationsbrevet“. Siehe: Av herr Lundh, om höjning av den nu utgående lönefyllnaden till professorn Johan Nordström, in: Bihang till Riksdagens protokoll vid lagtima Riksdagan i Stockholm. Fjärde Samlingen. Motioner i Andra kammaren nr. 1-224, Stockholm 1942, Nr. 169, hier S. 1.
93 Über die Entwicklung der „idé- och lärdomshistoria“ nach Nordström siehe: Gunnar
Erikson, After 1932: The Nordström Tradition, in: Tore Frängsmyr (Hg.), History of
Science in Sweden. The Growth of a Discipline, 1932-1982 (= Uppsala studies in history of science, Bd. 2), Stockholm 1984, S. 48–60; Gunnar Broberg, Sjuttonhundratalets vetenskap. Vad hände och vad händer?, in: Lychnos. 2007, S. 251–272.
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Vor dem Hintergrund der amerikanischen und schwedischen Entwicklungen
wird deutlich, dass die Ideen- und Geistesgeschichte international zwar schwach
vernetzt war, aber in den jeweiligen nationalen Rahmen im 20. Jahrhundert einen
Höhepunkt erlebte. Die deutsche Ideen- und Geistesgeschichte konnte wie die
amerikanische „history of ideas“ erfolgreich in der geisteswissenschaftlichen Forschung standhalten. Zeitschriften wie die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Lychnos und Journal of the History of
Ideas spielten eine wichtige Rolle für die Etablierung und Stabilisierung der Ideenund Geistesgeschichte als Fach. Und Gründungsväter wurden erkoren: Mit Dilthey
und Meinecke besaß die deutsche Ideen- und Geistesgeschichte wichtige Pioniere,
die ähnlich wie Nordström und Lovejoy, ideen- und geistesgeschichtliche Methoden entwickelten und Forschungsschwerpunkte setzten. Im internationalen Vergleich werden allerdings auch die unterschiedlichen disziplinären Anbindungen
deutlich. Während die „idé och lärdomshistoria“ sich stärker auf die Naturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte konzentrierte, baute die „history of ideas“ zum
Großteil auf der Philosophiegeschichte auf, während die Ideen- und Geistesgeschichte sich stärker der Germanistik und Literaturgeschichte zuwandte. Im Vergleich zur schwedischen „idé och lärdomshistoria“ wurde die Ideen- und Geistesgeschichte in Deutschland aber nicht als unabhängiges Universitätsfach mit eigenen Lehrstühlen etabliert. Nur in Schweden konnte sie als akademische Disziplin
fest und dauerhaft an den Universitäten etabliert werden. Die Entwicklung der
deutschen Ideen- und Geistesgeschichte als akademische Fachrichtung verlief in
den 1930er Jahren nach einem ähnlichen, wenn auch nicht so erfolgreichen Muster
wie die Etablierung der „history of ideas“ und „idé och lärdomshistoria“.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert verlaufen allerdings diese internationalen Parallelen im Sande. Die Jahre nach 1945 bedeuteten weder für die „history
of ideas“ noch für die „idé och lärdomshistoria“ eine entscheidende Zäsur. Für
die Ideen- und Geistesgeschichte dagegen bildeten das Ende des Dritten Reiches
und der Beginn der Nachkriegszeit eine markante Umbruchsphase. Sie geriet
nämlich in eine Art zermürbende Doppelkritik. Der Typus der Ideengeschichte
befand sich schon seit den 1930ern unter Beschuss, da sie als abstrakt, idealistisch und positivistisch kritisiert worden war. Zur Zeit des Nationalsozialismus‘
wurde die Ideengeschichte vernachlässigt und dadurch langsam erstickt. Auf der
anderen Seite stand aus der Warte der Nachkriegszeit die häufig völkisch beflügelte Geistesgeschichte dem ideologischen Pathos des Nationalsozialismus verdächtig nahe. Nicht wenige bekannte Exponenten der Geistesgeschichte – wie
Erich Rothacker oder Herbert Cysarz – waren Mitglieder der NSDAP gewesen
und hatten die Geistesgeschichte zielbewusst politisch-ideologisch gefärbt. Die
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Ideengeschichte war also in den 1930ern sukzessive verdrängt worden und die
Geistesgeschichte litt im bildungspolitischen Klima der Nachkriegszeit unter
kräftigem Legitimierungsschwund.
Wie deutlich dieser Schwund der Geistesgeschichte gespürt wurde, zeigt sich
nicht zuletzt in den Interventionen derjenigen, die sich als Geisteshistoriker gegen eine Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Geistesgeschichte zu Wort
meldeten. „There have been, God knows, many Fabrikate of more or less recent
German make,“ schrieb der österreichisch-jüdische Emigrant Leo Spitzer an der
Columbia University, „in which the pursuit of the integration of features of detail
into one whole has served as an excuse for confusion and muddled thinking […].
But such writings should not be allowed to discredit the legitimate endeavors of
a Burckhardt, a Dilthey, a Simmel, a Max Weber, a Tröltsch.“94 Der an der Harvard University lehrende deutsche Germanist Karl Viëtor beschrieb kurz nach
dem Zweiten Weltkrieg in seinem Aufsatz „Deutsche Literaturgeschichte als
Geistesgeschichte“ (1945) den „krisenhaften Zustand“95 der Geistesgeschichte.
„Der politische Terror hat die Zersetzung der philosophischen Position beschleunigt“, schrieb er, „und zudem eine tiefgehende Korruption der intellektuellen Redlichkeit hervorgerufen.“96 Die akademische Forschung schien einer neuen Zeit entgegenzublicken, die sich von alten Annahmen befreit habe, schrieb er
weiter. „Die Epoche der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise und ihrer Methoden ist offenbar abgeschlossen.“97
In dieser Zeit fehlte es nicht an polemischen Grundsatzkritiken gegen die
Geistesgeschichte. Schon 1933 hielt Eckart Kehr, ein Schüler von Hans Rothfels
und Friedrich Meinecke, einen Vortrag in Chicago, der sowohl die Ideen- als
auch Geistesgeschichte aufs Schärfste attackierte. Kehrs Aufsatz wurde erst später in der Nachkriegszeit bekannt, nachdem Hans-Ulrich Wehler ihn zusammen
mit anderen Aufsätzen posthum neu herausgab und als maßgebende Kritik in die
geschichtswissenschaftlichen Debatten der 1960er Jahre lancierte.98 Für Kehr
94
Spitzer, Geistesgeschichte vs. History of Ideas as Applied to Hitlerism, S. 203. Dieser Aufsatz war eine kritische Reaktion auf einen Aufsatz von Arthur Lovejoy.
Siehe: Arthur O. Lovejoy, The Meaning of Romanticism for the Historian of Ideas,
in: Journal of the History of Ideas 2. 1941, S. 257–278.
95
Karl Viëtor, Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, in: Publications of
Modern Language Association 60. 1945, S. 899–916, hier S. 912.
96
Ebd, hier S. 914.
97
Ebd, hier S. 914.
98
Eckart Kehr, Neuere deutsche Geschichtsschreibung (1933), in: Eckart Kehr u.a.
(Hg.), Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preussisch-deutschen
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war die Ideengeschichte eine „auf Deutschland beschränkte Spezialität“99, die
außerhalb Deutschlands keine Rolle spiele. Meinecke sei außerhalb von
Deutschland nicht bekannt, fuhr er fort, weil er nur in Deutschland „mit seiner
Ideengeschichtsschreibung im richtigen Augenblick einem geistig ratlosen Bürgertum einen Ausweg zeigte“100, die aber außerhalb Deutschlands auf taube Ohren stieße. Der Ideenhistoriker an sich sei grundsätzlich „politisch konservativ,
auch in dem Fall, dass er Republikaner und Demokrat ist“101, fuhr Kehr weiter
fort.
„Er besitzt absolut kein Interesse an den Arbeitern oder Angestellten. Ihre Angelegenheiten gehören dem Tageskampf an und reichen nicht in jene lichten Höhen, in denen der
Ideenhistoriker träumt. Er zeigt aber viel Interesse für Konservative wie Friedrich Wilhelm IV. und Julius Stahl, besonders wenn sie ein kompliziertes Geistesleben besitzen.“102
Auch hier zeigt sich, wie stark der politische Rahmen der Nachkriegszeit die
Methoden und Praxis der Ideen- und Geistesgeschichte untergrub. Dreißig Jahre
später, in den 1960er Jahren der Bundesrepublik, hielt die Rezessionsphase noch
weiter an.
Als Wehler 1965 die Aufsätze Kehrs herausgab, fügte er in einer Einleitung
seine eigene Polemik gegen die Ideengeschichte hinzu. Im „Luftschloss der Ideengeschichte“, schrieb er, habe sich die „ganz unhistorische erkenntnistheoretische Illusion“103 der einfühlenden Hermeneutik eingenistet. Diese sei aber für die
Geschichtswissenschaft eine mangelhafte und kümmerliche historische Methode,
denn mit der Hermeneutik der Ideengeschichte könne man höchstens zur nachvollziehenden Übereinstimmung mit Denkern früherer Zeiten gelangen. Die Ide-
Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (= Ullstein-Buch, Bd. 3269), Frankfurt
19762, S. 254–267. Vgl. ähnliche Kritiken von: Imanuel Geiss, Kritischer Rückblick
auf Friedrich Meinecke, in: ders. (Hg.), Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1972, S. 89–107; Shulamit Volkov, Cultural Elitism
and Democracy: Notes on Friedrich Meinecke's Political Thought, in: Jahrbuch des
Instituts für Deutsche Geschichte Tel Aviv 5. 1976, S. 383–418.
99
Kehr, Neuere deutsche Geschichtsschreibung, S. 261.
100 Ebd.
101 Ebd.
102 Ebd, S. 262.
103 Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: Eckart Kehr u.a. (Hg.), Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20.
Jahrhundert (= Ullstein-Buch, Bd. 3269), Frankfurt 19762, S. 1–30, hier S. 24.
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engeschichte sei daher in ihrer Bemühung dieses empathischen Hineindenkens
nichts anderes als die „Kapitulation vor dem gesellschaftlichen Status quo“104.
Ideengeschichte sei, so könnte man diesen Gedanken in seiner vollen politischen
Botschaft fortziehen, eine Art intellektuelle Gleichschaltung mit der Vergangenheit. Sie ließe zumindest keine kritische Distanz zu, sondern versuche im Gegenteil, diese immer hermeneutisch zu überbrücken. Wehler betrachtete Kehr daher
als positives Vorbild und vergessenen Propheten, denn dieser „war bereit, aus
dem Zusammenbruch die Konsequenzen zu ziehen. Das führte ihn zur Sozialgeschichte.“105
Angesichts dieses Legitimationsdefizits sowohl der Ideen- als auch der Geistesgeschichte in der Nachkriegszeit sammelten sich einige Gegenkräfte, die versuchten, die Ideen- und Geistesgeschichte zu rehabilitieren. Autoren wie Kurt
Schilling106, Werner Hofmann107, Lothar Gall108, Ernst Nolte109 und einige andere110 veröffentlichten in den ersten zwei Dekaden der Nachkriegszeit ideengeschichtliche Werke und erhofften sich eine Weiterführung der ideengeschichtlichen Forschung trotz der wachsenden Popularität der Sozialgeschichte. Auch
Erich Rothacker, einer der Hauptgestalten der Geistesgeschichte aus den 1920er
und 1930er Jahren, blieb weiter aktiv. Er gründete 1955 das Archiv für Begriffsgeschichte, das alte Vorhaben und Forschungsinteressen aus den 1920er Jahren
wieder aufgriff. Zusammen mit Hans-Georg Gadamer gründete er ein Jahr später
die „Senatskommission für Begriffsgeschichte“ der Deutschen Forschungsge-
104 Ebd, S. 25.
105 Ebd, S. 25.
106 Kurt Schilling, Geschichte der sozialen Ideen. Individuum, Gemeinschaft, Gesellschaft, Stuttgart 1957.
107 Werner Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegungen, Berlin 1962.
108 Lothar Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963.
109 Siehe z.B. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action française – Italienischer Faschismus – Nationalsozialismus, München 1963.
110 Siehe auch: Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im
Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens (5
Bde.), Gütersloh 1949-1954; Walter Ehrlich, Geistesgeschichte, Tübingen 1952;
Friedrich Heer, Europäische Geistesgeschichte, Stuttgart 1953; Klaus Dockhorn,
Deutscher Geist und angelsächsische Geistesgeschichte. Ein Versuch der Deutung
ihres Verhältnisses, Göttingen 1954; Walter Theimer, Geschichte der politischen
Ideen, München 1955.
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meinschaft.111 Die Tagungen und Veranstaltungen dieser Senatskommission –
die Jacob Taubes spöttisch „Gadamer Festspiele“112 nannte – wurden schließlich
ab 1963 von der Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“ überboten, die sich
als jüngere Sezessionsgruppe von der älteren Generation abkoppelte.
Schriften, die eine „Sozialgeschichte der Ideen“ verfolgten, verstanden sich
als Vermittlungsarbeit zwischen der Sozial- und Geistesgeschichte. Thomas
Nipperdey versuchte stets in seinen Schriften, „das, was einmal Ideen- und Kulturgeschichte hieß, in sozialgeschichtliche Analysen einzubeziehen.“113 Eine
„Sozialgeschichte der Ideen“114 könne beide Disziplinen fruchtbar verbinden.
„Strukturen und Ideen gehören zusammen“115, schrieb er. Unter der Flagge der
„Sozialgeschichte der Ideen“ segelten einige Historiker, die Vermittlungsarbeit
leisten wollten und dabei Strukturen und Ideen zusammendenken wollte.116
Neben diesen Gruppen war der wichtigste Akteur und Advokat der Geistesgeschichte in der Nachkriegszeit unzweifelhaft der deutsch-jüdische Religionsund Geisteshistoriker Hans-Joachim Schoeps (1909-1980), der heute in Vergessenheit geraten ist. Mit viel Kraftaufwand verfolgte Schoeps das Ziel, die Geistesgeschichte von der Ideengeschichte abzugrenzen und als selbstständige historische Disziplin institutionell an deutschen Universitäten zu etablieren. Seine
programmatische Schrift Was ist und was will die Geistesgeschichte? Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung (1959) sollte die Grundlage für dieses
Vorhaben schaffen und setzte bildungspolitische wie auch fachlich-methodologische Grundimpulse. „Mit dieser Schrift“, konstatierte Schoeps im Vorwort,
„wird der Öffentlichkeit das Programm einer neuen Disziplin vorgelegt.“117 Er
111 Siehe: Margarita Kranz, Begriffsgeschichte institutionell. Die Senatskommission für
Begriffsgeschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1956-1966). Darstellung und Dokumente, in: Archiv für Begriffsgeschichte 53. 2011, S. 153–226.
112 Jacob Taubes an Hans Blumenberg, 16.03.1965, in: Hans Blumenberg u.a. (Hg.),
Briefwechsel 1961-1981, Berlin 2013, S. 42.
113 Thomas Nipperdey, „Vorwort“, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 18), Göttingen 1976, S. 9.
114 Ibid.
115 Ibid.
116 Siehe z.B. den Sammelband: Klaus Vondung (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen (= Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd.
1420), Göttingen 1976.
117 Hans-Joachim Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte? Über Theorie
und Praxis der Zeitgeistforschung, Berlin 1959, S. 5.
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grenzte die Geistesgeschichte explizit von der „Ideengeschichte im Sinne Friedrich Meineckes und seiner Schule“118 ab, da diese keinen „Anspruch auf ein eigenes, gegenständlich abgrenzbares Gebiet erheben kann.“119 Ganz anders sei die
Geistesgeschichte, so Schoeps, denn ihr Thema sei schlicht: „der Zeitgeist und
seine Wandlungen.“120 Es ging, wie schon in der Geistesgeschichte der 1920er
Jahre, nicht primär um Ereignisse oder um abstrakte Ideen, sondern um die Sonderheit bestimmter Epochen. Kurz: Die historische Untersuchung des Zeitgeistes
war für Schoeps das Alleinstellungsmerkmal der Geistesgeschichte im Wissenschaftsbetrieb. Und dieses Forschungsfeld sei die Legitimation, um eine eigene
Disziplin an den deutschen Universitäten zu gründen.
Dieses Programm knüpfte schon an frühere Vorhaben der Geistesgeschichte
an, grenzte sich allerdings an einem Punkt von der früheren Methode ab. Für die
Erkenntnisinteressen der Zeitgeistforschung sei es wichtig, so Schoeps, dass der
„Geist einer Zeit aus den Selbstzeugnissen“121 erhoben wurde. Damit waren aber
nicht die Selbstzeugnisse der Philosophen und Denker einer Zeit gemeint. Die
Zeitgeistforschung sollte sich nämlich „nicht zu sehr an die großen Männer halten, die mit ihrem Kopf durch die Dunst-und Wolkendecke ihres Zeitalters hindurchstießen.“122 Das „Lebensgefühl der kleinen Leute“123 sollte als Orientierungskriterium der Quellenauswahl genügen. Nicht nur philosophische Meisterwerke, nicht nur abstrakte Abhandlungen, sondern „Predigten und Traktate“,
„Enzyklopädien und Lexika“, „Tagebücher und Briefe“ und „Tageszeitungen,
Zeitschriften, und Witzblätter“ sollten im Fokus dieser neuen Disziplin liegen.124
In gewisser Weise forderte Schoeps eine ähnliche institutionelle Entwicklung
der Geistesgeschichte, wie er sie in Schweden gesehen hatte. Schoeps hatte als
Jude im Dezember 1938 nach Schweden fliehen müssen, wo er siebeneinhalb
Jahre in Stockholm und Uppsala verbrachte. Dort sah er die erfolgreiche institutionelle Entwicklung der „idé- och lärdomshistoria“. In den ersten Jahrzehnten
der Nachkriegszeit verfolgte Schoeps mit ungeheurer, produktiver Kraft das Ziel,
eine ähnliche Entwicklung in Deutschland zu fördern. Als Professor des Lehrstuhls für Religions- und Geistesgeschichte der Universität Erlangen gründete er
zusammen mit Ernst Benz die Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte,
118 Ebd, S. 11.
119 Ebd.
120 Ebd.
121 Ebd, S. 59.
122 Ebd.
123 Ebd.
124 Ebd, S. 60ff.
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die seit 1948 bis heute erscheint.125 Zehn Jahre später gründete er die „Gesellschaft für Geistesgeschichte“. Die neue Gesellschaft, so hieß es im Memorandum, richtete sich an die „Kultusministerien aller Länder der deutschen Bundesrepublik mit der Bitte, die Erteilung geistesgeschichtlicher Lehraufträge und die
Errichtung solcher Lehrstühle in wohlwollende Erwägung zu ziehen.“126 Auch
die 16-bändigen Gesammelten Schriften von Schoeps, die zwischen 1990 und
2005 herausgegeben wurden, dokumentieren seine beachtliche Produktivität auf
dem Gebiet der Religions- und Geistesgeschichte.127
Dass Schoeps‘ zahlreiche Werke und hochschulpolitische Mission dennoch
keine nachhaltige Wirkung in Deutschland entfalten konnten, hängt wohl zum
Teil mit seiner Biographie und dem eigentümlichen Ruf zusammen, der ihm lebenslänglich vorauseilte. Als Jude hatte er vor seiner Emigration aus Deutschland im April 1933 die Organisation Der deutsche Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden gegründet, der im Nationalsozialismus eine positive politische Kraft
zu erkennen geglaubt hatte. In der Zeitschrift der Organisation, Der Vortrupp.
Blätter einer Gefolgschaft deutscher Juden128, hatte Schoeps ab 1933 Flugschriften, Broschüren und Aufsätze in der Hoffnung herausgegeben, die Zugehörigkeit
der patriotischen Juden zum Deutschtum herauszustellen.129 Sogar noch im Oktober des Jahres 1933 schrieb Schoeps: „Der Nationalsozialismus rettet Deutschland vor dem Untergang; Deutschland erlebt heute seine völkische Erneuerung.“130 Als tragische Illusion eines 24-Jährigen ließ sich diese Episode nicht
125 Zur Zeitschrift siehe: Gideon Botsch, Hans-Joachim Schoeps, Ernst Benz und die
Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, in: Gideon Botsch u.a. (Hg.), Wider
den Zeitgeist. Studien zum Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps (19091980) (= Haskala, Bd. 39), Hildesheim 2009, S. 273–312.
126 Abgedruckt in: Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte?, S. 97.
127 Siehe auch: Schoeps, Hans-Joachim, in: Sand – Stri (= Lexikon deutsch-jüdischer
Autoren, Bd. 19), München 2011, S. 104–131.
128 Alle Hefte von Der Vortrupp sind online verfügbar unter: https://archive.org/details/
vortruppfrankfur00unse_0 (02.02.2017)
129 Zum „Vortrupp“ siehe: Carl Rheins, Deutscher Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden 1933-1935, in: Yearbook of the Leo-Baeck-Institute 26. 1981, S. 207-229; FrankLothar Kroll, Geschichtswissenschaft in politischer Absicht. Hans-Joachim Schoeps
und Preußen, 2010 Berlin, S. 27f; John Dippel, Die große Illusion. Warum deutsche
Juden ihre Heimat nicht verlassen wollten, Weinheim, Berlin 1997, S. 102ff.
130 Hans-Joachim Schoeps, Der Jude im neuen Deutschland, in: Der Deutsche Vortrupp.
Blätter einer Gefolgschaft deutscher Juden 1. 1933, S. 3; später auch: Hans-Joachim
Schoeps (Hg.), "Bereit für Deutschland!" Der Patriotismus deutscher Juden und der
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interpretieren: Noch 1970 ließ Schoeps seine Aufrufe der 1930er Jahre unverändert im Wiederabdruck veröffentlichen. Im Vorwort schrieb er dazu, dass er
„1970 noch dasselbe denke wie 1930, dass es füglich bei mir keine Entwicklung
gegeben“ habe.131
Darüber hinaus war Schoeps als ausgesprochener „Preußenfreund“132 bekannt. 1951 hielt er eine Festrede zum 250. Jahrestag der ersten preußischen Königskrönung – vier Jahre nachdem der Staat Preußen offiziell aufgelöst worden
war – mit dem Titel „Die Ehre Preußens“, in der er emphatisch den „echten
preußischen Ethos“133 als Wegweiser für die Bundesrepublik pries. Zu seiner öffentlichen Wahrnehmung zählte schließlich auch, dass er offen als Bisexueller
lebte.134 Kurz: Als preußischer Erzkonservativer und bisexuell lebender Jude mit
nationalsozialistischem Hintergrund wirkte Schoeps‘ Leben und Werk wie ein
Anachronismus in der Bundesrepublik. Die Universitätsprofessoren dieser Zeit
wurden zumindest aus ihm nicht recht klug. Sein Ruf als „ungewöhnlicher Farbfleck auf der grauen Palette deutscher Universitäten“135 eilte ihm stets voraus. Zu
welchem Grad sein Ruf für die schwache Rezeption seiner Zeitgeistforschung
den Ausschlag gab, lässt sich sicherlich nicht messen. Fest steht aber, dass die
von ihm begonnene Tradition zeitgeisteswissenschaftlichen Arbeitens mit seinem Tode im Jahr 1980 jäh abklang und nur von wenigen Schülern und der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte weitergeführt wird.
In den 1970er Jahren schien ein allgemeiner Niedergang der Ideen- und
Geistesgeschichte sowohl in der Germanistik als auch in der Geschichtswissenschaft endgültig besiegelt. So sahen es zumindest die Zeitgenossen. 1971 resümierte Theodor Schieder: „Die Bevorzugung der Geistesgeschichte in der Geschichtswissenschaft und im öffentlichen Bewußtsein ist einer oft sehr unüberlegten Verketzerung gewichen.“136 Als 1972 eine Sammlung von Hans Rosen-
Nationalsozialismus. Frühe Schriften 1930 bis 1939. Eine historische Dokumentation, Berlin 1970, S. 106.
131 Schoeps (Hg.), „Bereit für Deutschland!“, S. 9.
132 Christian Graf von Krockow, Der Geist von Potsdam. Zu Preußen gehörte auch die
Toleranz, in: Zeit, 16.1.1981.
133 Hans-Joachim Schoeps, Die Ehre Preußens, Stuttgart 1951, S. 7.
134 Siehe Marita Keilson-Lauritz, „Der selbstmörderische Mut des Professors Schoeps“.
Hans-Joachim Schoeps und die Homosexualität, in: ders. (Hg.), Kentaurenliebe. Seitenwege der Männerliebe im 20. Jahrhunderts, Hamburg 2013, S. 116–133.
135 Gestorben: Hans-Joachim Schoeps, in: Der Spiegel 33. 1980, S. 176.
136 Theodor Schieder, Politische Ideengeschichte, in: Historische Zeitschrift 212. 1971,
S. 615–622, hier S. 616.
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bergs Aufsätzen veröffentlicht wurde, verfasste er ein Vorwort, in dem er über
seinen Werdegang und den Wandel seiner eigenen Forschung reflektierte, die für
den Umgang mit der Ideengeschichte im 20. Jahrhundert äußerst sinnfällig ist.
Als junger Meinecke-Schüler in den 1920er Jahren sei er von geistesgeschichtlichen Problemen gefesselt worden, schrieb er, weil sie sein Bedürfnis nach Weltanschauung gestillt hätten.137 Doch dann sei er der Ideen- und Geistesgeschichte
etappenweise entwachsen. „Denn ich war an dem Typus individualisierendelitärer ideengeschichtlicher Analyse irre geworden, die seit Wilhelm Diltheys
Tagen Meinecke so meisterhaft und verführerisch weiterverfolgt hatte.“138 Der
„Höhenluft-Stimulans“139 verlor dann schließlich seinen Zauber. Rosenberg bemühte sich deshalb darum, an die Stelle der „,aristokratischen‘ Betrachtungsweise des Kulturlebens“ eine „demokratische“ zu setzen.140
Diese politische Kritik an der Ideengeschichte, die von der „aristokratischen“
Betrachtungsweise zu einer „demokratischen“ übergehen wollte, wurde zu einer
Leitkritik dieser Zeit. Sie wurde vor allem, wie bereits erwähnt, von Hans-Ulrich
Wehler geübt. 1975 schrieb er, dass der Grund für die Beliebtheit der Ideengeschichte in der Weimarer Republik darin gelegen habe, dass sie lediglich eine
„Entlastungsfunktion“ übernommen hatte.
„Sie gestattete die Gipfelwanderung – ein auch von Meinecke gern gebrauchtes Bild – in
den geistigen Höhenlagen über dem Tal, in dem die ignorierten Interessen des Alltagslebens zusammenprallten. Ihre Ausdrucksform wurde vornehmlich die Biographie. Zu ihr
nahm sie Zuflucht, anstatt sich nach dem ersten verlorenen Krieg der Untersuchung der
Institutionen und Kollektivphänomene zu widmen.“141
Auch hier stand die Wendung von der Ideen- und Geistesgeschichte zur Sozialund Wirtschaftsgeschichte unter dem Zeichen der Ideologiekritik und westlichen
137 Hans Rosenberg, Vorwort, in: ders. (Hg.), Politische Denkströmungen im deutschen
Vormärz (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 3), Göttingen 1972,
S. 7–17, S. 10.
138 Ebd.
139 Ebd.
140 Ebd.
141 Hans-Ulrich Wehler, Probleme der modernen deutschen Sozialgeschichte (1975), in:
Hans Ulrich Wehler (Hg.), Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft, Göttingen 1980, S. 126–135, hier S. 131.
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Demokratisierung. Die Sozialgeschichte sollte sich – im Anschluss an Theodor
Mommsen – der „Pflicht politischer Pädagogik“142 nicht entziehen.
Auch in der DDR schien die Ideengeschichte durch eine marxistisch dominierte Geschichtsbetrachtung verdrängt worden zu sein. Es fehlen bislang Untersuchungen, die den Wandel und die Entwicklung der Geistes- und Ideengeschichte in der DDR untersuchen, dennoch ist (zunächst rein a priori) anzunehmen, dass die gesellschaftstheoretischen und philosophischen Grundannahmen
eines streng orthodoxen Marxismus‘ die Grundlagen der Geistes- und Ideengeschichte untergraben haben. Gemäß der Prämisse des Basis-Überbau-Modells
sind ideelle und geistige Produkte des menschlichen Bewusstseins lediglich eine
„Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse […] ohne daß sie den Handelnden
zum Bewußtsein kommt“143. Denker seien schließlich, so György Lukács, „letzten Endes doch von den ökonomischen Verhältnissen und von den auf diesem
Boden entstehenden Klassenkämpfen bestimmt.“144 Inwiefern marxistische Theorien für einen Schwund der Ideen- und Geistesgeschichte sorgten, ist nicht geklärt. Feststeht allerdings, dass es auch in der DDR zu einem Schwund an ideengeschichtlichen Schriften kam.
Spätestens Ende der 1970er Jahre gab es einen fest etablierten Diskurs, der
besagte, die Ideen- und Geistesgeschichte bilde in Deutschland keinen Schwerpunkt in der geisteswissenschaftlichen Forschung mehr. So resümierte zumindest
Ernst Schulin in einem beachtlichen Aufsatz „Geistesgeschichte, Intellectual
History und Histoire des Mentalités seit der Jahrhundertwende“145 (1979), nach-
142 Ebd., hier S. 135. Auch in: Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus,
Köln 1972, S. 24. Dieses Zitat stammt aus einem Brief, den Mommsen an Heinrich
von Sybel vom 7. Mai 1895. Abgedruckt in: Lothar Wickert, Theodor Mommsen,
Bd. IV, Frankfurt a.M. 1980, S. 239f.
143 So Friedrich Engels in einem Brief an Conrad Schmidt. Siehe: Friedrich Engels,
Briefe. Januar 1888-Dezember 1890 (= Marx-Engels-Werke, Bd. 37), Berlin 1967,
S. 491.
144 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Irrationalismus und Imperialismus.
Band 2, Darmstadt 19743. Auch Hans-Ulrich Wehler hat darauf hingewiesen, dass
die theoretischen Grundannahmen der Sozialgeschichte der Ideengeschichte überlegen seien, weil die Ideengeschichte „das Abhängigkeitsverhältnis von sozialökonomischem Substrat und der Wirksamkeit von Überzeugungen“ übersehe. (Wehler,
Probleme der modernen deutschen Sozialgeschichte, S. 134).
145 Ernst Schulin, Geistesgeschichte, Intellectual History und Histoire des Mentalités
seit der Jahrhundertwende, in: ders. (Hg.), Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch, Göttingen 1979, S. 144–162.
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dem er die deutsche Situation mit der in den USA und Frankreich verglichen hatte. Und Schulin hatte Recht: Während Ideen- und Geistesgeschichte in Deutschland scheinbar auf dem Nadir standen, erlebte vor allem die „history of ideas“
und „intellectual history“ in den USA und England einen Aufschwung. Mit der
sogenannten Cambridge School, vor allem verbunden mit den Namen Quentin
Skinner und John Pocock, kam frischer Wind in die anglo-amerikanischen Debatten. Eine kontextorientierte Methode löste eine ältere von Lovejoy inspirierte
Herangehensweise allmählich ab. In den 1980ern erlebte die Disziplin zwar auch
in den USA und England eine vermeintliche Krise, doch sie währte nicht lange.
Nur zwei Jahre nachdem Robert Darnton geschrieben hatte, „a malaise is spreading among intellectual historians in the United States“146, gaben Dominick LaCapra und Steven L. Kaplan den einflussreichen Sammelband Modern European
Intellectual History147 (1982) heraus, in dem Autoren wie Martin Jay, Hayden
White, Roger Chartier, Dominick LaCapra und Hans Kellner für eine Neuorientierung und Neubewertung des Faches plädierten.
In Deutschland finden sich zu dieser Zeit in der Geschichtswissenschaft vergleichsweise sehr wenige produktive Anstöße, die sich explizit mit der Ideenoder Geistesgeschichte identifizierten. Lediglich unter dem recht vagen Banner
der „Mentalitätsgeschichte“ gab es Versuche, geistesgeschichtliche Projekte zu
verfolgen.148 Seit den 1970ern bis zu den 1990ern erklang dennoch kontinuierlich ein Schwanengesang über das Fehlen der Geistes- und Ideengeschichte in
Deutschland. „Ideengeschichte in Deutschland gibt es nicht mehr“, erklärte Paul
Nolte rückblickend Mitte der 1990er Jahre. Man könne seit den späten 1970ern,
fuhr er fort,
146 Robert Darnton, Intellectual and Cultural History, in: Michael Kammen (Hg.), The
Past Before Us: Contemporary Historical Writing in the United States, Ithaca 1980,
S. 327–328, hier S. 327.
147 Dominick LaCapra und Steven L. Kaplan (Hg.), Modern European Intellectual History. Reappraisals and New Perspectives, Ithaca 1982.
148 Diese wurden aber fast immer in Abgrenzung zur Ideengeschichte unternommen.
Siehe z.B.: Ernst Hinrichs: Zum Stand der historischen Mentalitätsforschung in
Deutschland, in: Ethnologia Europea 11 (1980), S. 226-233; Rolf Reichardt: Für eine Konzeptualisierung der Mentalitätshistorie, in: Ethnologia Europea 11 (1980), S.
234-241; Volker Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 241. 1985, S. 555–598; Peter Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse.
Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der dritten Ebene, in: Alf Lüdtke (Hg.),
Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen,
Frankfurt/M./New York 1989, S. 85-136.
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„jedenfalls nicht einen einzigen [Beitrag] eines deutschen Historikers finden, der sich ausdrücklich und länger als in ein paar flüchtigen Sätzen mit Traditionen und heutigen Chancen einer Ideengeschichte in Deutschland beschäftigte oder der auch nur versuchte, den
Diskussionsstand in anderen Ländern vorzustellen und hierzulande nutzbar zu machen.“149
Und doch wäre es falsch zu meinen, nach den 1970ern hätte es nicht dennoch einen ideengeschichtlichen Subtext in der akademischen Forschung gegeben.150
Richtet man den Blick nämlich einmal von der Geschichtswissenschaft ab, so
lässt sich beobachten, wie sich in anderen Fachbereichen unbeirrt eine Variation
der Ideen- und Geistesgeschichte kontinuierlich fortsetzte. So zum Beispiel in
der Philosophie: Philosophen wie Karlfried Gründer151, Wilhelm Schmidt-Biggemann152, Dieter Henrich153, Hermann Lübbe154 oder Herbert Schnädelbach mit
seinem bekannten Werk Philosophie in Deutschland. 1831-1933155 haben ohne
großen Theoriekrieg oder polemischen Methodenkonservatismus eindrucksvolle
ideen- und geistesgeschichtliche Werke weiter vorgelegt. An der Philosophi-
149 Der Aufsatz wurde zum ersten Mal veröffentlicht als: Nolte, Sozialgeschichte und
Ideengeschichte. Plädoyer für eine deutsche „Intellectual History“, hier S. 391f.
150 So auch Nolte, Sozialgeschichte und Ideengeschichte. Plädoyer für eine deutsche
„Intellectual History“, vor allem S. 400ff.
151 Siehe vor allem: Karlfried Gründer, Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von
Wartenburg: Aspekte und neue Quellen, Göttingen 1970; Karlfried Gründer, Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte, Göttingen
1982; Karlfried Gründer und Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Spinoza in der
Frühzeit seiner religiösen Wirkung (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd.
12), Heidelberg 1984.
152 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach
ihrer Modellgeschichte (= Symposion, philosophische Schriftenreihe, Bd. 49), München 1975; Wilhelm Schmidt-Biggemann, Baruch de Spinoza: 1677-1977. Werk
und Wirkung, Wolfenbüttel 1977; Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Theodizee
und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung (= Suhrkamp
Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 722), Frankfurt a.M. 1988.
153 Siehe vor allem: Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt a.M. 1971; Dieter
Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a.M. 1967; Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie
(1789-1795), Stuttgart 1991.
154 Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel 1963.
155 Heute mittlerweile in der 6. Auflage: Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland. 1831-1933, Frankfurt a.M. 19996.
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schen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde 1965 das
Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte156 gegründet, das insgesamt 22
Bände in einer eigenen Buchreihe mit dem Titel „Die Geistesgeschichte und ihre
Methoden, Quellen und Forschungen“ von 1977 bis 2001 veröffentlichte.157
Auch Theologen schrieben in dieser Zeit Theologie- und Kirchengeschichte,
die klare Parallelen zur Ideen- und Geistesgeschichte der Zwischenkriegszeit
aufwiesen. Wolfhart Pannenberg verfasste seine Problemgeschichte der neueren
evangelischen Theologie in Deutschland158 und andere Theologen wie Heinz
Zahrnt159, Bernd Moeller160 oder Martin Greschat161 haben mit ihren Werken ein
Publikum – auch jenseits des akademischen Elfenbeinturms – erreicht.
Auch die Soziologie und Politikwissenschaft hat auf eigene Weise die Ideengeschichte in ihren eigenen Methodenhaushalt einverleibt. Niklas Luhmann verfolgte zum Beispiel in seinen vielen wissenssoziologischen Studien zur Gesellschaftsstruktur und Semantik162 eine „Ideengeschichte in soziologischer Perspek-
156 Vorgänger dieses Instituts war das 1948 gegründete Centro Italiano di Studi Umanistici e Filosofici (von Ernesto Grassi geleitet). Daraufhin erhielt das Centro immer wieder
neue Namen. 1975 wurde das Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte in das
Institut für Geistesgeschichte des Humanismus umbenannt und 1985 wiederum umbenannt in das Institut für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance. Heute
heißt das Institut seit 1995 Seminar für Geistesgeschichte und Philosophie.
157 Stephan Otto, der von 1973 bis 1997 Leiter des Instituts war, plädierte explizit dafür,
Geistesgeschichte nicht den Germanisten oder Historikern zu überlassen, sondern sie
in eine „philosophische Disziplin“ zu verwandeln. Siehe: Stephan Otto, Vorwort, in:
ders. (Hg.), Materialien zur Theorie der Geistesgeschichte (= Münchner Universitätsschriften: Institut für Geistesgeschichte des Humanismus, Bd. 2), München 1979,
S. 7–12.
158 Wolfhart Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in
Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997.
159 Siehe vor allem: Heinz Zahrnt, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie
im 20. Jahrhundert, München 19783.
160 Siehe vor allem: Bernd Moeller, Geschichte des Christentums in Grundzügen
[1965], Göttingen 201110; Bernd Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation,
Göttingen 1977.
161 Martin Greschat, Der deutsche Protestantismus im Revolutionsjahr 1918-19, Witten
1974; Martin Greschat, Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum
vor der Moderne, Stuttgart 1980.
162 Dazu zählen: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur
Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (= Gesellschaftsstruktur und Seman-
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tive“163. Im Vordergrund seiner Studien standen vorrangig die „Veränderungen
in der Ideen- und Begriffswelt, die den Übergang zur modernen Gesellschaft begleiten und signalisieren.“164 Dieser Übergang von der stratifikatorisch strukturierten hin zur funktional differenzierten Gesellschaft ging mit einer semantischen Reorganisation und einer gesamtgesellschaftlichen Ideenrevolution einher,
die, so argumentierte er, interessante Untersuchungsfelder für die Ideengeschichte darstellten. Die zentrale Aufgabe seiner Ideengeschichte aus soziologischer
Perspektive bestand darin, den Nexus zwischen der semantischen Destruktion
und der begrifflichen Bewahrung in Zeiten des ideengeschichtlichen Umbruchs
zu untersuchen. Damit war die Tür geöffnet, durch die die Ideengeschichte und
die Soziologie Hand in Hand treten konnten.
Auch in der Politikwissenschaft setzte sich die Ideengeschichte als Teilbereich der Politischen Theorie – noch viel stärker als in der Soziologie – durch
und bleibt bis heute als „Politische Ideengeschichte“ institutionalisierter Bestandteil der Politikwissenschaft. Vor allem in der „Freiburger Schule“, mit Arnold Bergstraesser165, Dieter Oberndörfer166 oder Hans Maier167, spielte die poli-
tik, Bd. 1), Frankfurt a.M. 1980; Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (= Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2), Frankfurt a.M. 1981; Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (= Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3), Frankfurt a.M. 1989; Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (= Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4), Frankfurt a.M. 1995.
163 Niklas Luhmann, Ideengeschichte in soziologischer Perspektive, in: Joachim Matthes (Hg.), Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen 1980 (= Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages, Bd. 20), Frankfurt a.M. 1981, S. 49–61, später abgedruckt in: Niklas Luhmann,
Ideengeschichte in soziologischer Perspektive, in: ders. (Hg.), Ideenrevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Herausgegeben von André Kieserling, Frankfurt a.M.
2008, S. 234–252.
164 Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der
modernen Gesellschaft (= Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2), S. 7.
165 Siehe: Arnold Bergstraesser, Politik in Wissenschaft und Bildung. Schriften und Reden, Freiburg 1961; Arnold Bergstraesser, Weltpolitik als Wissenschaft. Geschichtliches Bewusstsein und politische Entscheidung (= Ordo Politicus, Bd. 1), Köln, Opladen 1965.
166 Siehe z.B.: Dieter Oberndörfer (Hg.), Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in
die Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg 1962.
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tische Ideengeschichte eine wichtige Funktion für die Legitimierung des Standortes innerhalb der Politikwissenschaft. Aber auch jenseits der Freiburger Schule
demonstrieren Dolf Sternbergers Drei Wurzeln der Politik168, Karl Dietrich Brachers Zeit der Ideologien169 und die vielen „Klassiker“-Sammlungen170 dieser
Zeit die Präsenz einer Ideengeschichte in der Politikwissenschaft.
Gerade in Anbetracht dieser Entwicklungen ist es daher richtig zu betonen,
dass die Ideen- und Geistesgeschichte in der Geschichtswissenschaft an Boden
verloren hat. Ideengeschichtliches Gedankengut fand sich in der Geschichtswissenschaft vergleichsweise fast als Schmuggelware in einigen Werken. Thomas
Nipperdey ist ein gutes Beispiel. Anfang der 1950er Jahre wurde er mit einer
(bisher unveröffentlichten) Arbeit über Positivität und Christentum in Hegels
Jugendschriften promoviert und seine darauffolgenden Werke wiesen ideengeschichtliche Schwerpunkte auf. Seine kleineren Bücher Religion im Umbruch171
und Wie das Bürgertum die Moderne fand172 oder die Aufsätze über Reformation, Revolution, Utopie173 hatten offensichtliche ideengeschichtliche Prägungen.
Er versuche stets in seinen Schriften, so schrieb er Mitte der 1970er Jahre, eine
„Verbindung von Sozialgeschichte mit der Geschichte des Denkens, der Theo-
167 Siehe vor allem: Hans Maier, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte
der christlichen Demokratie 1789-1850, Freiburg 1959; Hans Maier, Kritik der politischen Theologie, Einsiedeln 1970.
168 Dolf Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, 2 Bde. (= Gesammelte Schriften, 2.1
und 2.2), Frankfurt a.M. 1978.
169 Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im
20. Jh, Stuttgart 1982.
170 Siehe z.B.: Gerhard Möbus (Hg.), Die politischen Theorie von ihren Anfängen bis
Machiavelli (= Politische Theorien, Bd. 1), Köln 1958; Gerhard Möbus (Hg.), Die
politischen Theorien im Zeitalter der absoluten Monarchie bis zur Französischen
Revolution (= Politische Theorien, Bd. 2), Köln 1961; Arnold Bergstraesser und
Dieter Oberndörfer (Hg.), Klassiker der Staatsphilosophie. Ausgewählte Texte,
Stuttgart 1962; Hans Maier u.a. (Hg.), Klassiker des politischen Denkens. 2 Bde,
München 1968. Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 298f.
171 Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988.
172 Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988.
173 Thomas Nipperdey (Hg.), Reformation, Revolution, Utopie. Studien zum 16. Jahrhundert (= Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1408), Göttingen 1975.
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rien, der Theologien, der Weltauslegung, meinetwegen: mit der Geistesgeschichte“174 herzustellen.
Vor allem in den Schriften Reinhart Kosellecks und in der von ihm inspirierten Begriffsgeschichte wurden immer wieder Parallelen zur früheren Ideen- und
Geistesgeschichte und zur sogenannten Cambridge School wahrgenommen.175
Begriffsgeschichte wurde – und wird auch heute – als das „ideengeschichtliche
alter ego der Sozialgeschichte“176 wahrgenommen. Und das, obwohl es Koselleck immer vorzog, sich über mögliche Gemeinsamkeiten und Parallelen zur
Ideengeschichte oder „intellectual history“ auszuschweigen. Wenn er sich zum
Methodenstandort der Begriffsgeschichte äußerte, dann grenzte er sich „ganz
spezifisch gegen eine abstrakte Ideengeschichte“177 ab und betonte hingegen,
dass die Begriffsgeschichte eine „Hilfe der Sozialwissenschaften“178 sei.179
174 Thomas Nipperdey, Vorwort, in: ders. (Hg.), Reformation, Revolution, Utopie, S. 7–
8, hier S. 7.
Auch in anderen Schriften hat er ideengeschichtliche Aspekte berücksichtigt. Siehe
vor allem: Thomas Nipperdey, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.), Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur
neueren Geschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18), Göttingen 1976, S. 33–58.
175 Vor allem: Kari Palonen, Rhetorical and Temporal Perspectives on Conceptual
Change. Theses on Quentin Skinner and Reinhart Koselleck, in: Finnish Yearbook
of Political Thought 3. 1999, S. 41–59; Kari Palonen, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004.
176 Nolte, Sozialgeschichte und Ideengeschichte. Plädoyer für eine deutsche "Intellectual History", hier S. 400.
177 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1981, Berlin 1983, S. 7–46, hier S. 45.
178 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (= Bd.
1), Stuttgart 1974, S. XIII–XXVII, hier S. XXIV.
179 Siehe: Jan-Werner Müller, On Conceptual History, in: Darrin M. McMahon und
Samuel Moyn (Hg.), Rethinking Modern European Intellectual History, Oxford
2014, S. 74–93; Hans Erich Bödeker, Reflexionen über Begriffsgeschichte als Methode, in: ders. (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte
(= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 14), Göttingen 2002, S.
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Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Ideen- und Geistesgeschichte in der Bundesrepublik ab den 1970er Jahren vor allem in der Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft die zweite Geige in der Forschung spielte.
Besonders in den Schriften von Koselleck oder Nipperdey (Ähnliches ließe sich
auch sagen über das Werk von Hans Blumenberg oder Hans Robert Jauß) wird
ersichtlich, dass ideengeschichtliche Schwerpunkte zwar vorhanden waren, aber
meist in den Hintergrund gerückt wurden oder nur dann betont wurden, wenn sie
eine Korrekturleistung zur Sozialgeschichte beitragen konnten. Ideengeschichtliche Zugänge fanden dafür aber in anderen Fachbereichen Eingang wie in der
Wissenssoziologie oder Politikwissenschaft. Die Ideen- und Geistesgeschichte,
so muss man schlussfolgern, wechselte im wissenschaftlichen Gemengelage der
1970er und 1980er Jahre mehrmals ihren Standort, musste ihn aber nie ganz
räumen. Von einem Untergang kann keine Rede sein.
Eine Wende vollzog sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre – unerwartet und
dauerhaft. Am symbolträchtigsten für den Aufschwung ist wohl das Schwerpunktprogramm „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit –
Ansätze zu einer neuen ‚Geistesgeschichte‘“, das von 1997 bis 2003 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Die „zentrale Absicht“, so lautet
es in der Projektbeschreibung, „ist eine Erneuerung der tradierten Ideen- und Geistesgeschichte in Deutschland anzustoßen und damit den Anschluss an Vorbilder in
den internationalen Geschichts- und Kulturwissenschaften zu finden.“180 HeinzElmar Tenorth war Sprecher des Programms, der zusammen mit vielen anderen
Antragstellern – wie Lutz Raphael, Anselm Doering-Manteuffel, Gangolf Hübinger, Friedrich Wilhelm Graf, Ute Frevert, Michael Stolleis, oder Wolfgang Hardtwig – diverse ideengeschichtliche Projekte betreute und verfolgte.
Anzeichen einer „Erneuerung der überkommenen Ideen- und Geistesgeschichte“181 mehrten sich seit den späten 1990er Jahren exponentiell. Zur glei-
73–122; Ernst Müller und Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik: Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 278ff.
180 Deutsche Forschungsgemeinschaft, SPP 1024: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit, unter: http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/5467666.
181 So im Ausschreibungstext des Schwerpunktprogramms, das abgedruckt wurde als:
Ausschreibungstext des Schwerpunktprogramms: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit-Ansätze zu einer neuen 'Geistesgeschichte', in:
Lutz Raphael und Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte (=
Ordnungssysteme, Bd. 20), München 2006, S. 525–534, hier S. 525.
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chen Zeit, als das Schwerpunktprogramm von der DFG bewilligt wurde, wurden
in einer Festschrift für Kurt Kluxen Neue Wege der Ideengeschichte (1996) aufgesucht.182 Zwei Jahre später wurde die Buchreihe „Ordnungssysteme – Studien
zur Ideengeschichte der Neuzeit“ von Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael, Dietrich Beyrau (bis 2011) und Jörg Baberowski (seit 2011) herausgegeben,
in der bis heute ideengeschichtliche Studien veröffentlicht werden. Wiederum
zwei Jahre später leistete Paul Noltes Die Ordnung der deutschen Gesellschaft
einen wichtigen Beitrag zu einer „neuen Ideengeschichte“183. Das von Nolte gebrauchte Schlagwort der „Neuen Ideengeschichte“ wurde bald zum Faktor und
Indikator der ideengeschichtlichen Erneuerungsbewegung. Ein Jahr nach Noltes
Werk erschien nämlich eine Sonderausgabe in der Zeitschrift Geschichte und
Gesellschaft mit der Überschrift „Neue Ideengeschichte“, mit Beiträgen von
Lutz Raphael, Moritz Föllmer, Ingrid Gilcher-Holtey, Christoph Marx und HansDieter Metzger.
Kurze Zeit später wurden viele weitere ideengeschichtliche Werke veröffentlicht. Die Stimmen der Befürworter wurden mit der Zeit immer lauter. Ganz unterschiedliche Autoren wie Martin Mulsow184, Ulrich Raulff185, Jens Hacke186,
Friedrich Kießling187, Friedrich Wilhelm Graf188, Gangolf Hübinger189, Ingrid
182 Frank-Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996.
183 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 21.
184 Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in
Deutschland 1680-1720, Hamburg 2002; Martin Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2007; Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012.
185 Ulrich Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert. Marc Bloch, Frankfurt a.M. 1995;
Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009.
186 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der
Bundesrepublik, Göttingen 2006; Jens Hacke (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980, Göttingen 2008; Jens Hacke, Die
Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009.
187 Friedrich Kießling, Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945-1972, Paderborn 2012.
188 Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium
der klassischen Moderne (= Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 66), München
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Gilcher-Holtey190, Luise Schorn-Schütte191, Barbara Stollberg-Rilinger192, Andreas Dorschel193, Peter Hoeres194 oder Ulrich Sieg195 haben ideengeschichtliche
Werke eigener Prägung vorgelegt. 2007 wurde die Zeitschrift für Ideengeschichte gegründet, die vierteljährlich erscheint und prominent von den Forschungsbib-
2009; Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2010;
Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und
Weber (= Troeltsch-Studien, Bd. 3), Berlin 2014.
189 Gangolf Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister. Der EugenDiederichs-Verlag. Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996; Gangolf
Hübinger, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006; Gangolf Hübinger, Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max
Weber bis Ralf Dahrendorf, Göttingen 2016.
190 Ingrid Gilcher-Holtey, Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie, Berlin 1986; Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006; Ingrid
Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen,
Weilerswist 2007; Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), Eingreifende Denkerinnen. Weibliche Intellektuelle im 20. und 21. Jahrhundert, Tübingen 2015.
191 Luise Schorn-Schütte (Hg.), Intellektuelle in der Frühen Neuzeit (= Wissenskultur
und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 38), Berlin 2010; Luise Schorn-Schütte, Gottes
Wort und Menschenherrschaft. Politisch-theologische Sprachen im Europa der frühen Neuzeit, München 2015.
192 Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Ideengeschichte (= Basistexte Geschichte, Bd. 6),
Stuttgart 2010. Siehe auch: Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats (= Historische Forschungen, Bd. 30),
Berlin 1986; Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? – Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches (= Historische Forschungen, Bd. 64), Berlin 1999; Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider.
Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008.
193 Andreas Dorschel, Ideengeschichte, Göttingen 2010.
194 Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im
Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004.
195 Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001; Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus,
München 2007; Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen
Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013.
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liotheken und Archiven in Marbach, Weimar und Wolfenbüttel sowie dem Wissenschaftskolleg zu Berlin gemeinsam getragen wird. Die Ideen- und Geistesgeschichte saß in Deutschland – institutionell, finanziell, methodologisch und forschungsaktiv – noch nie so fest im Sattel wie gegenwärtig.
Auch wenn sich die Ideen- und Geistesgeschichte durch ein pluralistisches
Set an methodischen Zugängen auszeichnet, hat sich besonders ein Schlüsselbegriff in den Debatten um Methode und Praxis der Ideengeschichte durchsetzen
können: der Begriff „Ordnung“. Überall in der „Neuen Ideengeschichte“ taucht
dieser Schlüsselbegriff auf, ob in der Buch-Reihe „Ordnungssysteme“; Paul
Noltes Die Ordnung der deutschen Gesellschaft; Lutz Raphaels Buch über Recht
und Ordnung196 und seine diversen Aufsätze197 oder Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffels Ordnung durch Terror198. Komposita wie „Ord-
196 Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert,
Frankfurt a.M. 2000.
197 Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft.
Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte
und Gesellschaft 27. 2001, S. 5–40; Lutz Raphael, Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit (=
Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 56), München 2003, S. 327-246; Lutz Raphael,
,Ordnung‘ zwischen Geist und Rasse: Kulturwissenschaftliche Ordnungssemantik im
Nationalsozialismus, in: Hartmut Lehmann u.a. (Hg.), Leitbegriffe – Deutungsmuster –
Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil (= Veröffentlichungen
des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 211), Göttingen 2004, S. 115–137; Lutz
Raphael, Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Christof Dipper u.a.
(Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a.M. 2008,
S. 73–92; Lutz Raphael, Ordnungsmuster und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 9–20; Lutz Raphael,
Zwischen Sozialaufklärung und radikalem Ordnungsdenken. Die Verwissenschaftlichung des Sozialen im Europa der ideologischen Extreme, in: Gangolf Hübinger (Hg.),
Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (18901970) (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 87), München 2014, S.
29–50.
198 Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn 2006.
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nungsmuster“, „Ordnungsentwürfe“ oder „Ordnungssysteme“ findet man häufig
in den Schriften der „Neuen Ideengeschichte“. Ähnlich wie der Begriff des
„Geistes“ oder des „Lebens“ bietet der Begriff der Ordnung einen Untersuchungsgegenstand und eine methodische Grundlage zugleich. Denn mit dem
Ordnungsbegriff stehen nicht die großen Gedanken der großen Männer im Vordergrund, sondern vielmehr das Konstruktionswirken von Ideen sowie ihre „gesellschaftliche Gestaltungskraft“199. Damit wird die Kritik gegen das „HöhenluftStimulans“200 aufgenommen und konstruktiv abgearbeitet. Die neuere Ideengeschichte in Deutschland knüpft daher weder an Meinecke noch an Schoeps an.
Heutige ideengeschichtliche Forschung findet ihre Legitimation in der Erforschung der „wirklichkeitskonstituierenden Kraft von Ideen“201. Es geht stets darum, gedankliche Ordnungen und Denksysteme zu rekonstruieren.202 Mit dieser
methodologischen Zielsetzung hat die Ideengeschichte in Deutschland wieder
Fuß fassen können.
Trotz der neu gewonnenen Akzeptanz der Ideengeschichte fehlt dennoch im Allgemeinen das Bewusstsein einer eigenen Fachtradition, deren Wurzeln in
Deutschland doch eigentlich – im Gegensatz zu Schweden, USA oder England –
bis in das frühe 20. Jahrhundert reichen. So wie die anglo-amerikanische „history of ideas“ (oder „intellectual history“) und die schwedische „idé- och lärdomshistoria“ so hat auch die deutsche Ideen- und Geistesgeschichte ihre eigene Prägung und institutionelle Entwicklung. Doch verglichen mit Schweden oder USA,
besitzt die deutsche Ideen- und Geistesgeschichte ein sehr ausgeprägtes Kurzzeitgedächtnis, das selten weiter zurückreicht als in die 1970er Jahre. Personen
wie Hans-Joachim Schoeps, Erich Rothacker, Paul Kluckhohn, Herbert Cysarz
199 So der Titel des DFG Schwerpunktprogramms.
200 Rosenberg, Vorwort, in: ders. (Hg.), Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, S. 10.
201 Lutz Raphael, Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit:
Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogramms, in: Lutz Raphael und
Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa
der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte (= Ordnungssysteme, Bd.
20), München 2006, S. 11–27, hier S. 26.
202 Auch wenn diese Methode der Ideengeschichte bislang noch nicht theoretisch präzise dargelegt wurde, arbeitet sie wohl mit zentralen Begriffen und Anleihen aus dem
Werk Zygmunt Baumans. Siehe vor allem: Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005; Zygmunt Bauman, Dialektik
der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 20123.
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oder Rudolf Unger sind aus diversen Gründen heute vergessene Figuren der
deutschen Ideen- und Geistesgeschichte. Als Gründerväter werden sie sicherlich
nicht wahrgenommen. Eine längst überfällige Neubewertung von Meineckes
ideengeschichtlichem Werk steht noch aus und blockiert eine produktive Auseinandersetzung mit seinen Schriften. Auch besteht noch Unklarheit darüber, ob
die Ideen- und Geistesgeschichte auch diejenigen Autoren und Methoden einverleiben soll, die sich früher – wie zum Beispiel Reinhart Koselleck – eigentlich
explizit gegen die Ideengeschichte abgegrenzt haben.
2. H EUTIGE P ERSPEKTIVEN DER I DEEN UND G EISTESGESCHICHTE
Nach diesem kursorischen Überblick der historischen Entwicklung der Ideenund Geistesgeschichte in Deutschland kommen wir zu der Frage nach den heutigen Perspektiven und Chancen der Ideen- und Geistesgeschichte, auf die die
Beiträge eingehen. Welche Fragen drängen sich heute auf? Was machen Historiker/innen, wenn sie heute Ideengeschichte schreiben? Welche methodischen
oder konzeptionellen Rahmen bieten sich ihr heute an?
Es wurde in diesem kurzen historischen Überblick ersichtlich, dass es Traditionen innerhalb der ideengeschichtlichen Forschung gibt, an die man heute problemlos wieder anschließen kann und die heute noch aktuell sind. Am auffälligsten ist mit Sicherheit die Abgrenzung zum Idealismus, aus der viele Traditionen
vor allem innerhalb der Geistesgeschichte methodisch Profit geschlagen haben
und die einen roten Faden der Geschichte der Ideen- und Geistesgeschichte des
20. Jahrhunderts bildet. Mit der Abgrenzung gegen den Idealismus meine ich die
Abgrenzung von der Leitvorstellung, dass sich die ideelle Sphäre von der physisch-materiellen Sphäre scharf trennen ließe und dass es so etwas wie individuelle Ideen oder „unit-ideas“ gäbe ohne Bezug zu den materiellen Interessen der
entsprechenden Zeit. Diese Abgrenzung ist nicht erst eine Entdeckung der Sozialgeschichte. In Deutschland spielte der Anti-Idealismus schon in den 1920ern
eine erhebliche Rolle, als durch den Siegeszug der Geistesgeschichte die Kritik
laut wurde, man könne die Entwicklung einzelner Ideen nicht ohne Bezug zum
Geist einer Zeit verfolgen. Seit den 1920ern wurden unterschiedliche Konzepte
entwickelt, die eine anti-idealistische Forderung enthalten: „Geist“, „Kontext“,
„Ordnung“. All diese Begrifflichkeiten zielen auf eine holistische Verbundenheit
synchroner Ideen, die eng mit der historischen Zeit verflochten sind. Ältere Ansätze von Meinecke, Hartmann oder auch Lovejoy, die individuelle Ideen in den
Mittelpunkt ideengeschichtlicher Untersuchungen rückten, wurden bisher noch
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nicht neu wiederbelebt und bilden heute – zumindest in Deutschland – keine
Tradition ideengeschichtlicher Forschung mehr. Von den beiden idealtypisch
zugespitzten Richtungen der Ideen- und Geistesgeschichte, die am Anfang des
20. Jahrhunderts das Spektrum der Disziplin ausmachten, hat zumindest bislang
nur eine überlebt. Der Anti-Idealismus bildet also einen traditionellen Konsens
heutiger Ideengeschichte.
Aber nicht alle anti-idealistischen Ansätze haben überlebt. Heute spricht zum
Beispiel keiner mehr von einer Zeitgeistforschung Schoeps‘ oder von der Geistesgeschichte Rothackers. Die wohl überlebensfähigste und stärkste dieser Traditionen bildet heute die sogenannte „Cambridge School“, die durch Schriften
hauptsächlich von Quentin Skinner und John Pocock seit den 1970er Jahren eine
genaue Kontextualisierung von Ideen und Äußerungen einfordert. Heute sind die
Ansätze der Cambridge School eine „ideengeschichtliche Orthodoxie“203 geworden. Skinner legt in seinem Beitrag dieses Sammelbandes wichtige Aspekte dieser Tradition genau dar. Er fordert, nicht lediglich Überzeugungen früherer Akteure zu rekonstruieren, sondern ihre Äußerungen vielmehr als Handlungen aufzufassen, die kontextspezifische Intentionen verfolgten. Eine solche Forderung
wirft unterschiedliche Fragen auf und Skinner konzentriert sich in seinem Aufsatz vor allem auf die Spannung zwischen Wahrheit, Rationalität und Relativismus. Er plädiert dafür, sich nicht mit der Wahrheit oder Falschheit von Überzeugungen zu beschäftigen, wenn frühere Denksysteme untersucht werden. Ob eine
Überzeugung wahr war, führe selten zu Erkenntnisgewinn. Zielführender und
methodisch legitimier sei die Frage, ob eine frühere Überzeugung rational war,
da Rationalitätsbedingungen nicht zeitlos, sondern gesellschaftlich und historisch kontextualisiert seien. Das Plädoyer gegen einen ideengeschichtlichen
Idealismus treibt hier implizit die Forderung an, man müsse universelle Wahrheitssätze von der kontextorientierten Rationalität trennen, ohne sich in relativistische Widersprüche zu verstricken. Damit verbunden ist auch die Forderung,
Ideen stets in ihrem holistisch-synchronen Bezug zu betrachten.
Sean Forner verfolgt einen ähnlichen anti-idealistischen Ansatz, geht aber
andere Wege, die mit der gesellschaftlichen Materialität zu tun haben und die er
als post-idealistische Methode vorstellt. Er erläutert das weniger bekannte Konzept des 'sozialen Imaginären', das vom Philosophen Cornelius Castoriadis ins
Spiel gebracht wurde, seither aber auch prominent von Charles Taylor oder Pierre Rosanvallon aufgegriffen wurde. Mit dem Konzept des sozialen Imaginären
203 Martin Mulsow und Andreas Mahler, Einleitung, in: Martin Mulsow und Andreas
Mahler (Hg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Frankfurt
a.M. 2010, S. 7–20, hier S. 8.
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schlägt Forner einen Ansatz vor, der davon ausgeht, dass symbolische Repräsentationen und soziale Ordnungen mit und durch soziale Praktiken entstehen. Das
soziale Imaginäre stabilisiert und legitimiert gesellschaftliche Ordnungen, kann
sie aber auch in Frage stellen. Eine scharfe Trennung zwischen einer abstrakten
Ideenwelt und der konkreten Praxis wird in diesem Ansatz daher bewusst verwischt. Wie ein solcher Ansatz in die ideengeschichtliche Praxis umgesetzt werden kann, demonstriert Forner exemplarisch anhand der Nachkriegsdebatten
über Managerherrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.
Auch in meinem Beitrag geht es um das Verhältnis zwischen Ideen und Praxis, allerdings konzentriert sich mein Beitrag ausschließlich auf Handlungen und
die handlungssteuernde Kraft von Ideen. In diesem Beitrag wird ein ideengeschichtlicher Ansatz vorgestellt, der Handlungsgründe von intentional handelnden Akteure in den Mittelpunkt ideengeschichtlicher Untersuchung rückt. Der
heute dominierende Konstruktivismus der ideengeschichtlichen Forschung ist
legitim und grundlegend für die Ideengeschichte, muss aber methodisch erweitert werden, um die handlungssteuernde und praxisleitende Kapazität von Ideen
für Akteure in Betracht ziehen zu können. Ich greife daher auf aktuelle Debatten
innerhalb der Praktischen Philosophie zurück und plädiere dafür, Handlungsgründe als analytisches Werkzeug in dem Methodenapparat der Ideengeschichte
zu integrieren.
Eine weitere Forschungsrichtung innerhalb der Ideengeschichte fordert,
Ideen grundsätzlich nicht von ihren Produzenten zu trennen. Dieser Tradition
folgen Ansätze, die sich auf Intellektuelle als Ideenproduzenten konzentrieren
und ihre sozialen Vernetzungsstrategien und ihr Engagement in der Gesellschaft
untersuchen. Hinter diesem Ansatz steht die These, dass Ideen immer von bestimmten Menschen unter bestimmten Bedingungen produziert und im Rahmen
bestimmter Intentionen propagiert werden. Ideen ohne Menschen gibt es nicht.
In diesem Sammelband geht Darius Harwardt in seinem Beitrag auf die Intellektuellengeschichte ein und konzentriert sich insbesondere auf zwei Rechtsintellektuelle der Bonner Republik. Er plädiert dafür, die Rolle des Intellektuellen in
der Ideengeschichte ernst zu nehmen und sie stärker in die ideengeschichtliche
Forschung einzubinden. Hierbei könne der Intellektuelle über sein Streben nach
Öffentlichkeit als analytisches Bindeglied zwischen ideengeschichtlichen Traditionen und gesellschaftlichen Diskursen fungieren.
Das Themenfeld der Verkörperung und Materialität von Ideen berührt auch
ein Themenfeld, das von Riccardo Bavaj in seinem Beitrag vorgestellt wird: das
Verhältnis zwischen Raum und Ideen. Bavaj fragt danach, auf welche Weise
Ideen bestimmte Denksysteme verräumlichen und „mental maps“ konstruieren.
Wie und unter welchen Bedingungen können Ideen Räume als epistemologi-
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sches Gefüge herstellen? Die Schriften von Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal werden als Fallbeispiele analysiert, um das Potential der Verräumlichung von
solchen Ideen wie „der Westen“ und „westliche Zivilisation“ zu rekonstruieren.
In seinem Beitrag plädiert Bavaj dafür, die Räumlichkeit von Ideen und Topographien von Wissenstransfers stärker in das Zentrum ideengeschichtlicher Forschung zu rücken.
Eng mit diesem Thema verbunden ist auch die aktuelle Debatte um globale
Ideengeschichte – eine Ideengeschichte also, die sich in ihrer Forschung nicht
von nationalen Grenzen oder von sprachlichen Barrieren einengen lässt. Globale
und transnationale Ansätze haben längst Einzug in die geschichtswissenschaftliche Praxis erhalten, doch wie diese in der Ideengeschichte umgesetzt werden
können, steht noch zur Diskussion. Emily Levine schlägt in ihrem Beitrag einen
wissenssoziologischen Ansatz vor, der Institutionen (vor allem Universitäten) in
den Mittelpunkt der Untersuchung rückt, da hier transnationale Ideen lokal vermittelt werden.
Genealogien von Ideen zu rekonstruieren, kann sicherlich zu einer der wichtigsten „Traditionen“ innerhalb der Ideengeschichte gezählt werden. Nicht zuletzt haben sowohl Michel Foucault als auch Quentin Skinner die genealogische
Forschung innerhalb der Ideengeschichte favorisiert. Marcus Llanque geht in
seinem Beitrag auf die Genealogie als ideengeschichtlichen Ansatz ein und bespricht den Mehrwert und die Gefahren dieser Herangehensweise. Als Fallbeispiel wählt er die Genealogie der Menschenrechte. Wer eine genealogische Geschichte der Menschenrechte schreibt, so argumentiert er, kann immer nur eine
Geschichte der Interpretationshistorie schreiben. Die Genealogie widerstrebt
nämlich dem Versuch der interpretatorischen Festlegung einer Idee auf einen teleologischen Verlauf ihrer Geschichte und versucht stattdessen, das Variable und
die Wandelbarkeit ihrer Interpretationen hervorzuheben. Die besondere Leistung
einer genealogischen Methode für die Ideengeschichte bestehe darin, nicht den
Ausgangspunkt einer Idee, sondern die Vielfalt ihrer Ursprünge offen zu legen.
Helge Jordheim widmet sich in seinem Beitrag dem Thema der Dauer von
Ideen für die Ideengeschichte. Unterschiedliche Traditionen innerhalb der Ideengeschichte sind bisher von verschiedenen zeitlichen Konzeptionen von Ideen
ausgegangen. Während einige Ideenhistoriker (wie Lovejoy) von der zeitlichen
Konstanz von Ideen über längere Epochen hinweg ausgingen, wurde diese Konzeption später von Skinner und Foucault problematisiert. Sie betonten hingegen
die Unmittelbarkeit von Ideen in historischen Momenten. Wie lange besteht eigentlich eine Idee? Wann zerfällt sie? Wie die aktuelle Ideengeschichte mit dem
Konzept der „deep history“ umzugehen hat, wird zum Schluss besprochen. Jordheim demonstriert, dass die Konzeptionen der zeitlichen Dauer von Ideen von
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fundamentaler Bedeutung für ideengeschichtliche Zugriffe sind und zu selten
explizit thematisiert werden.
In dem Beitrag von Peter Hoeres wird schließlich ein hochaktuelles Thema
diskutiert: Digital Humanities. Es geht dabei sowohl um die Werkzeuge und das
Potential der Digital Humanities für die heutige ideengeschichtliche Praxis als
auch um eine Ideengeschichte des Digitalzeitalters selbst. Es ist anzunehmen,
dass heute fast alle Historiker die Google-Books Suchmaschine kennen und auch
für ihre Forschung nutzen. Doch methodische Debatten über ihre Möglichkeiten
und Grenzen für die Ideengeschichte finden selten statt. Vor welchen neuen
Aufgaben stellen die Digital Humanities die Ideengeschichte? Dass man mit dem
Aufkommen der Digital Humanities die Hermeneutik zu Grabe tragen könne,
verneint Hoeres. Digitale Werkzeuge können und sollen im Dienste der Ideengeschichte arbeiten, aber Prozesse des Lesens, Schreibens und Verstehens kann die
ideengeschichtliche Praxis nicht entbehren. Wie das Verhältnis zwischen Digital
Humanities und Ideengeschichte auszusehen hat und ob dieses Verhältnis ein
genuin neues Verhältnis ist, wird unter anderem auch dadurch ausgelotet, dass
die Ideen des Digitalzeitalters wie Transparenz, Schwarmintelligenz, Open Access und Big Data kritisch diskutiert werden.
Selbstverständlich gibt es viele weitere Traditionen und Perspektiven heutiger
Ideengeschichte, die in diesem Sammelband nicht diskutiert werden. Die hier
versammelten Beiträge stellen nur einen kleinen Ausschnitt einer großen Debatte
dar. Ziel des Sammelbandes ist es, nicht alle, sondern einige wichtige Standpunkte und weiterführende Perspektiven zu beleuchten, die für die ideengeschichtliche Forschung heute von besonderer Relevanz sind. Vor allem geht es
darum, diskussionsanregend zu wirken. Wenn Ideengeschichte weiterhin als historische Disziplin aktiv bleiben möchte, bedarf es der ständigen methodologischen Klärung und innovativen Weiterführung.
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