Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                

Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956

2017, Mitteleuropazentrum an der Andrassy Universität Budapest (Hg.): Jahrbuch für Mitteleuropäische Studien 2015/2016

Ibolya Murber: Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956. In: Mitteleuropazentrum an der Andrassy Universität Budapest (Hg.): Jahrbuch für Mitteleuropäische Studien 2015/2016. Wien, 2017, 19-43. In Folge des Ungarnaufstands 1956 verließen ca. 200 tausend Ungarn ihre Heimat, 180 tausend Menschen davon in Richtung Österreich. In dieser Studie werden der Fragen über die Grenz-Durchlässigkeit, die statistischen Gegebenheiten der in Österreich Asyl ersuchenden Ungarn, die österreichische Aufnahmebereitschaft und Solidarität, die Transit- und Integrationsland Österreich, die Finanzierung der Flüchtlingskrise sowie die Auswirkungen auf die österreichische Identität erleuchten.

Jahrbuch für Mitteleuropäische Studien 2015/2016 Herausgegeben vom Mitteleuropazentrum an der Andrássy Universität Budapest Mit Unterstützung von: Bibliograische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrubar. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikroilm oder ein anderes Verfahren) ohne schritliche Genehmigung des Verlages oder der Autoren/Autorinnen reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © 2017 by new academic press, Wien www.newacademicpress.at ISBN 978-3-7003-2054-8 Umschlaggestaltung, Satz: Zsuzsa Urbán Redaktion: Richard Lein Coverbild: Anbringung des Kossuth-Wappens auf einem Panzer vor dem Festetics Palota (heute Sitz der Andrássy Universität) in Budapest, 25. Oktober 1956. Copyright: Fővárosi Szabó Ervin Könyvtár Budapest Gyűjtemény Inhaltsverzeichnis 1956 und die Folgen Edda Engelke: Die Aufnahme von Kindern und jugendlichen Flüchtlingen in Österreich im Rahmen der Flüchtlingswelle aus Ungarn 1956/57 .................... 9 Ibolya Murber: Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 ................................19 Gusztáv D. Kecskés: Eine Geschichte, die die Welt betrift. Die Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge des Jahres 1956 ........................................................45 Andreas Schmidt-Schweizer: „Bevorzugte Behandlung“. Aufnahme und Integration der Ungarnflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland (Herbst 1956 bis Frühjahr 1957) ............................................................................. 57 Georg Kastner: Die Ungarnflüchtlinge und die UNO ........................................... 75 Helmut Wohnout: Die Haltung der österreichischen Bundesregierung zu den Ereignissen in Ungarn im Herbst 1956 ........................................................ 97 Arnold Suppan: Tito und die Ungarische Revolution 1956................................107 Karlo Ruzicic-Kessler: Die Kommunistische Partei Italiens und das Jahr 1956 ..............................................................................................................121 Csaba Szabó: Der Ungarnaufstand 1956 und die ungarischen Kirchen ..........137 Thomas Reichl: „Panzerlärm an Österreichs Grenze“. Der Einsatz des Bundesheers zur Grenzsicherung ...........................................................................147 Matthias Marschik: Die ‚undankbare‘ Aranycsapat: Die Rezeption ungarischer Fußballer in Wien nach dem Volksaufstand von 1956 .....................173 Beiträge aus der Forschung Johannes Mindler-Steiner: Tschinggis Khan im europäischen Blickfeld. Eine Annäherung. .................................................................................... 203 Richard Lein: Anmerkungen zum Lusitania-Zwischenfall 1915...........................223 Martina Medolago: Spanischer Bürgerkrieg, französische Literatur und Jenő Lányis (mittel)europäische Gedanken aus einem unveröfentlichten Manuskript .................................................................................245 Maximilian Brunner: Armin Dadieu. Versuch der Biographie eines Nationalsozialisten .......................................................................................... 257 Robert Fiziker: „Brüderlich, regelmäßig, operativ“. Die Beziehungen zwischen den ungarischen Kommunisten und der KPÖ nach 1945 ..................355 Gábor Szilágyi: Viel erwartet, einiges erreicht. Die SPÖ als Objekt der MSZMP-Außenpolitik .........................................................................................379 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ....................................................... 401 1956 und die Folgen Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 Ibolya Murber In diesem Vortrag stelle ich zwei Blickwinkel auf die Migrationsgeschichte der Ungarnlüchtlinge des Jahres 1956 dar. Einerseits konzentriere ich mich auf verschiedene Aspekte der Situation der Ungarnlüchtlinge, auf ihre sozialstatistische Zusammensetzung, Flucht, Ankunt, Weiterwanderung sowie ihre Integration in Österreich. Außerdem behandle ich die Folgen der „Ungarnkrise“ 1956, sowohl des Aufstandes als auch der Fluchtbewegung nach Österreich. Aufgrund des Aufstandes und dessen Niederwerfung im Spätherbst 1956 verließen ca. 200.000 Personen Ungarn, annähernd zwei Prozent der ungarischen Gesamtbevölkerung. Die erste und größte Fluchtbewegung ereignete sich zwischen November 1956 und Jänner 1957 in Richtung Österreich und betraf ungefähr 180.000 Personen, was ca. drei Prozent von dessen damaliger Bevölkerung ausmachte. Eine kleinere Fluchtroute ging über Jugoslawien und ermöglichte ca. 20.000 Ungarn das Verlassen ihrer Heimat. Für die Auswanderung mussten drei Faktoren gleichzeitig zusammentrefen: Die Durchlässigkeit der Grenzen, die Motivation zur Auswanderung sowie die Aufnahmebereitschat der Ziel- oder Transitländer. 1. Durchlässigkeit der Grenze Die Durchlässigkeit der Staatsgrenzen Ungarns entlang des Eisernen Vorhanges war wohl in der spannungsgeladenen Zeit des Kalten Krieges in den 1950er Jahren keine Selbstverständlichkeit. Nach Stalins Tod 1953 deuteten die außenpolitischen Intentionen Moskaus auf internationale Entspannung hin. Der neue, 1953 verkündete sowjetische Kurs der „aktiven Außenpolitik“ schenkte unter anderem den neutralen Staaten Europas mehr Aufmerksamkeit. Für Budapest eröfnete es einen bis dahin unbekannten, freieren, aber weiterhin direkten und sehr bewusst von Moskau gesteuerten außenpolitischen Handlungsspielraum: Es führte für Ungarn zu einer Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu Österreich, aber auch zu Jugoslawien. Die neue ungarische Außenpolitik gegenüber den österreichischen Nachbarn sollte jedoch nach wie vor den sowjetischen Interessen folgen. Nach der Vorstellung Moskaus sollte die ungarische Annäherung unter anderem den neuen neutralen Status von Österreich pro- 20 Ibolya Murber östlich statt prowestlich beeinlussen. Bei der Gestaltung des österreichischen Neutralitätsmodells erhote sich Moskau zumindest anfangs durch die ungarischen Beziehungen ein innisches statt eines Schweizer Modells. Der poststalinistische Paradigmenwechsel ermöglichte die Annäherung Ungarns an Österreich und Jugoslawien 1954–1956. Den sowjetischen Erwartungen entsprechend, sandte die erste Imre Nagy-Regierung (1953–1955) diplomatische Signale zur Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen nach Wien. Die bejahende Antwort des Ballhausplatzes und die vorhandene Bereitschat Wiens und Budapests ermöglichten tatsächlich eine langsame Annäherung und Normalisierung der österreichisch-ungarischen Beziehungen binnen eineinhalb bis zwei Jahren. Neben der Eröfnung gegenseitiger diplomatischer Vertretungen und den Verhandlungen über Handelsbeziehungen verringerten sich deutlich die Grenzzwischenfälle an der österreichisch-ungarischen Grenze, am Eisernen Vorhang. Die „Besatzungszeit“ ging mit dem Staatsvertrag und Neutralitätsgesetz Österreichs 1955 zu Ende. Als Folge verfügte Ungarn von nun an über eine 354 Kilometer lange Grenze zu einem souveränen, neutralen, demokratischen und prowestlich orientierten Staat. Das äußerte sich bereits ab dem Frühjahr 1955 darin, dass die Grenzverletzungen von ungarischer Seite zunahmen.1 Die politisch-diplomatische Entspannung der letzten Jahre war auch für die Grenzbevölkerung im Frühjahr 1956 greibar geworden. Im Frühjahr 1956 begann der Entscheidung der kommunistischen Partei entsprechend der Abbau der veralteten technischen Grenzsperren (Minengürtel und Stacheldraht) an der westlichen und südlichen Grenze Ungarns. Es ging jedoch nicht etwa um geplante ofene Grenzen, sondern um die notwendige Modernisierung des Grenzschutzes, wofür es jedoch an Zeit bis zum Aufstand mangelte. Nach Stalins Tod und zwischen 1953 und 1955 unter der ersten Ministerpräsidentschat Imre Nagys begann eine allmähliche Abschwächung des harten stalinistischen Kurses, was jedoch auch mit einer Fragmentierung des kommunistischen Machtzentrums einherging und letztlich im Aufstand und der großen Auswanderung im Spätherbst 1956 endete. Die Durchlässigkeit des „Eisernen Vorhanges“ an der Westgrenze Ungarns war eine ungarische innenpolitische Angelegenheit und widerspiegelte die jeweilige Beschafenheit des kommunistischen Machtzentrums. Die österreichische Grenze galt für Ungarn von jeher als „Tor zum Westen“, als Imagination des Aubruchs in ein besseres Leben. Diese Anziehungskrat gewann auch noch dadurch an Attraktivität, dass diese westliche Staatsgrenze Ungarns de facto ab dem Beginn des Kalten Krieges, de jure erst ab 1955 die einzige Grenze zu einem kapitalistisch-demokratischen Staat darstellte. Die allmähliche Schwächung der ungarischen kommunistischen Partei nach dem Tod Stalins verursachte an der Westgrenze Ungarns eine allmähliche Durchlässigkeit sowie im Spätherbst 1956 sogar eine Art ofene „grüne Grenze“. Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 21 2. Wer waren die Ungarn, die in Österreich eintrafen? Die zweite Voraussetzung der großen ungarischen Auswanderung im Spätherbst 1956 war der Wille zum Gehen. Freilich kann man diese Ungarnlüchtlinge nicht als eine homogene Gruppe betrachten. Wie Oskar Helmer, der österreichische Innenminister, Ende Jänner 1957 in Genf auf der UNO-Sitzung formulierte – 180.000 Menschen bedeuten ebenso viele einzelne Schicksale.2 Diese auswanderungswilligen Menschen kamen aus den unterschiedlichsten Regionen und Gesellschatsschichten Ungarns. Sie teilten zwar das Flüchtlingsschicksal für kürzere oder längere Zeit in den Flüchtlingslagern Österreichs und Jugoslawiens, bevor sie sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuten und in ihrer neugewählten Heimat ein individuelles Leben einrichteten. Die eigene radikale Migrationsentscheidung traf jeder Auswanderungswillige jedoch einzeln und die Gründe waren recht unterschiedlich. Zu den drei Hauptmotiven zählten politische, wirtschatliche und private Überlegungen.3 Zu den wichtigsten politischen Motiven gehörte die Flucht vor der Unterdrückung durch die der kommunistische Diktatur oder vor Repressalien wegen Teilnahme an den bewafneten Kämpfen. Das durch die Sendungen von Radio Free Europe vermittelte Bild des „freien Westens“ wirkte gleichfalls anziehend. Zu den wirtschatlichen Fluchtmotiven gehörte auf der einen Seite die sehr niedrige Lebensqualität in Ungarn, auf der anderen Seite waren es die Verlockungen des ersehnten „goldenen Westens“. Frigyes Puja, ungarischer Gesandter in Wien, schrieb darüber Folgendes: „Der größte Teil der Flüchtlinge ist gekommen, weil man hörte, dass im Westen jede Arbeit gut bezahlt wird, in einem Jahr könnten sie sich ein Auto oder ein Motorrad kaufen.“4 Ab 26. Oktober 1956 erhielt jeder Ungar, der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 entsprechend, politisches Asyl in Österreich. Mitte der 1950er Jahre setzte auch die als illegal bezeichnete Einwanderung aus dem kommunistischen Jugoslawien nach Österreich ein. Diesen Einwanderern wurde jedoch das politische Asyl nicht automatisch gewährt, die österreichischen Behörden betrachteten sie nämlich als Wirtschatslüchtlinge. Die Illegalität schwang im öfentlichen und politischen Diskurs bei den aus Jugoslawien gelüchteten Personen immer mit. Bei den Ungarn nahm man dagegen 1956/1957 fast ausschließlich die politisch motivierten Fluchtgründe wahr und blendete die wohl vorhandene wirtschatliche Motivation aus. Am häuigsten bestanden für die Auswanderung jedoch persönliche Motive: Bekannte oder Verwandte im Westen konnten bei einem Neustart Hilfe leisten. Bisweilen kam das Verlassen des Heimatlandes der Flucht aus einer schlechten Ehe gleich. Das Mobilitätsverhalten der späteren Ungarnlüchtlinge unterschied sich vor 1956 nicht von jenem der Gesamtbevölkerung. Nicht die „Wandervögel“ verließen 1956 in erster Linie Ungarn. Ein ehemaliger Flüchtling formuliert es fol- 22 Ibolya Murber gendermaßen: „An das Verlassen der Heimat kann man sich nicht gewöhnen.“5 Es waren „Durchschnittsungarn“, die aus unterschiedlichsten Gründen die fast gefahrlose Passierbarkeit der Staatsgrenzen nach dem Ausbruch des Aufstandes für die Auswanderung nutzten. Die meisten Ungarn wanderten aus Budapest und den westlichen Komitaten aus. Auf je 100 Einwohner von Budapest entielen 4,17 Flüchtlinge. Fast gleich hoch war die Proportion in Sopron an der österreichischen Grenze.6 Die Mehrheit der Auswanderer lebte in Städten, die ländliche Bevölkerung war außer bei jenen aus den westlichsten Komitaten unterrepräsentiert. Diese ausgeprägte Teilnahme der urbanen Bevölkerung hing vor allem damit zusammen, dass die Mehrheit der Auswanderer in der städtischen Industrie beschätigt war. Die Geschlechter weisen unterschiedliches Migrationsverhalten auf: Im Allgemeinen beteiligen sich mehr Männer als Frauen an Auswanderung und Migration. Auch 1956/1957 verließen fast doppelt so viele Männer als Frauen Ungarn. Die Männer-Frauen-Proportion war jedoch regional unterschiedlich. Die meisten Frauen samt Familie lüchteten aus der Hauptstadt und aus städtischen Industriezentren.7 Was den Familienstand angeht, kann man feststellen, dass der Anteil der ledigen Flüchtlinge am höchsten war, er überschritt 50 %; die zweitgrößte Gruppe machten die verheirateten mit über 30 % aus. Ein Füntel der verheirateten Frauen lüchtete jedoch ohne Ehemann nach Österreich. Dieses Phänomen weist wieder darauf hin, dass jede Migrationsentscheidung schwierig, kompliziert und sehr persönlich war, sowie die Auswanderung für manche auch einer „Lösung“ für familiär-persönliche Schwierigkeiten gleichkam.8 Bei den ausgewanderten Ungarn handelte es sich zu einem hohen Anteil um junge Erwachsene und Jugendliche unter 25 Jahre. Die breiteste Altersgruppe, fast 30 %, bildeten die 20 bis 24-Jährigen. Zehn Prozent der vor dem wehrplichtigen Alter stehenden 19 und 20 Jahre alten Männer verließen Ungarn.9 Es war gerade jene Generation, die im kommunistischen System aufgewachsen war und eine starke ideologische Erziehung erhalten hatte. Wie beim Aufstand in Ungarn war auch bei der Auswanderung diese sehr junge Gruppe am aktivsten beteiligt. Die Mehrheit der ausgewanderten Ungarn bildeten Arbeiter und Intellektuelle. Erstmals in der ungarischen Migrationsgeschichte verließ nicht die Agrarbevölkerung das Land, wie es bei der Auswanderung nach Amerika im ausgehenden 19. Jahrhundert der Fall gewesen war, sondern gerade die begünstigte Klasse des Kommunismus – die Arbeiter lüchteten aus dem „gelobten Land des realen Sozialismus“. 1956 hatte die Unzufriedenheit die gesamte ungarische Gesellschat erfasst. Alle Berufsgruppen und gesellschatlichen Schichten beteiligten sich sowohl am Aufstand als auch an der Auswanderung. Manche hatten sich aktiv gegen das System aufgelehnt und am Aufstand teilgenommen, andere dagegen zeigten ihren Unmut durch passiven Wiederstand und verließen das Land. Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 23 3. Österreichische Aufnahmebereitschaft und Solidarität Die dritte Voraussetzung für die Auswanderung war, dass das Zielland Aufnahmebereitschat signalisierte. 1956 lebten in Österreich trotz Auswanderung und Einbürgerung noch ca. 127.000 „Altlüchtlinge“10 mehrheitlich in Lagern.11 Was motivierte nun Österreich, den 180.000 Neuankömmlingen Asyl zu gewähren?12 Es ging einmal darum, nach 1945 eine neue kollektive österreichische Identität zu schafen. Die neu erworbene österreichische Neutralität musste erst mit Inhalt gefüllt werden. Die völlig unerwartete „Ungarnkrise“, der Aufstand und die Auswanderung gaben unvorhersehbaren Anlass dazu. Österreich war nämlich auf Grund des Bundesverfassungsgesetzes vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität dazu verplichtet, die Unverletzlichkeit seines Staatsgebietes mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu gewährleisten und zu verteidigen.13 Justizminister Otto Tschadek beautragte auf der Ministerratssitzung vom 28. Oktober die Veröfentlichung der Vorkehrungen zum Schutz der Neutralität und stellte die berechtigte Frage: „Was geschieht aber, wenn die Eindringlinge stärker sind als unsere Truppen? Wenn die Österreicher nur drei Schüsse abgeben, so haben wir unsere Neutralität dem Sinne nach verteidigt.“14 Es war der politischen Führung Österreichs wichtig zu demonstrieren, dass nicht noch einmal, wie im „März 1938“, eine bewafnete Intervention ohne militärischen Widerstand erfolgen konnte. Freilich, wie im Jahre 1938 gegen die deutsche Wehrmacht hätten die österreichischen Streitkräte in 1956 die Rote Armee an den Grenzen auch nicht auhalten können. Auf Grund des Moskauer Memorandums von 1955 orientierte sich die österreichische Regierung an der Schweizer Neutralität und deren karitativen Verplichtungen. Dazu kam noch, dass Österreich nach 1955 zahlreiche völkerrechtliche Regelungen, unter anderem die Genfer Flüchtlingskonvention, in seine Verfassung aufgenommen hatte, die ebenfalls bestimmte Asylverplichtungen enthielt. Die neue demokratische politische Elite grenzte sich bewusst von der eigenen autoritären und nationalsozialistischen Vergangenheit ab und demonstrierte ihre antidiktatorische Einstellung. Diese kam der Logik des Kalten Krieges entsprechend einer Kommunismus-Feindlichkeit gleich. Dementsprechend waren die Ungarn besonders zu Anfang des Aufstandes als sich gegen die kommunistische Diktatur aulehnende Freiheitskämpfer betrachtet worden. Mit ihnen vermochte sich auch das österreichische Volk zu identiizieren. Dies betraf vor allem die Bewohner der östlichen Bundesländer (Teile Wiens, der Steiermark, Niederösterreichs und das ganze Burgenland), die bis 1955 unter sowjetischer Besatzung gestanden hatten. Ohne Zustimmung und Unterstützung der Bevölkerung hätte die Bundesregierung nicht so vielen Ungarn Asyl gewähren können und wollen. Die Hilfeleistungen für die Ungarnlüchtlinge ermöglichten der 24 Ibolya Murber österreichischen Bundesregierung den Aubau eines europaweiten positiven Images, welches ein neues, sympathisches Österreichbild nach außen vermittelte. Die anfangs eindeutige Hilfsbereitschat „zwang“ außerdem die Führung zur Fortsetzung ihrer Leistungen; es konnte nicht mehr „nein“ gesagt werden. Der Ministerrat rechnete Ende Oktober mit maximal 10.000 Flüchtlingen, aber nach der Niederwerfung des Aufstandes Anfang November begann erst der große Flüchtlingsstrom. Seit dem 28. Oktober 1956, als die Registrierung der Grenzübertritte an der österreich-ungarischen Grenze begann, sicherte die Bundesregierung entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 jedem Ungarn das politische Asylrecht zu. Man konnte das Asyl nun auch jenen nicht verwehren, die erst später mit dem großen Flüchtlingsstrom die Grenze überschritten. Die österreichische Bundesregierung musste sich auch außenpolitisch mit den Ereignissen in Ungarn auseinandersetzen, wie es Bundeskanzler Raab formulierte, „als österreichische Regierung können wir zu den Vorgängen nicht schweigen“.15 Österreich lag an der Grenze der bipolaren Welt. Seine Neutralität wurde sowohl von der Sowjetunion als auch von den USA als „Sonderfall“ betrachtet. Es erwies sich auch der geo- und weltpolitischen Lage wegen als notwendig, mit beiden Supermächten gute, friedliche Beziehungen zu plegen. Als Nachbarland Ungarns und neutraler Staat, dessen Bevölkerung jedoch mit voller Unterstützung und Solidarität hinter den revolutionären Ungarn stand, musste Österreich handeln und zu den Vorgängen Stellung nehmen. Am Sonntag, dem 28. Oktober, wurde eine Sonderministerratssitzung einberufen. Die Kämpfe dauerten schon fünf Tage an, die sowjetischen Panzer gingen immer noch gegen die Budapester Bevölkerung vor. Bundeskanzler Raab legte die Haltung der Regierung fest: „Wir aber müssen den Mut haben, auf unsere besondere Stellung hinzuweisen und sagen, daß wir mit den Vorgängen und der Einsetzung von Panzern nicht einverstanden sind. (…) Die Sonderaktion Österreichs stützt sich eben auf unsere Neutralität und wir treten gegen die Unmenschlichkeit in Ungarn auf.“ Aus dieser Einstellung heraus adressierte die Bundesregierung den Appell vom 28. Oktober 1956 an Moskau, um „dem Blutvergießen in Ungarn ein Ende zu setzen“.16 Der Ministerrat vertrat von Anfang an die Ansicht, dass die Sowjetunion die territoriale Integrität Österreichs nicht zu verletzen beabsichtige. Außenminister Figl erklärte an der Ministerratssitzung vom 28. Oktober: „Ich glaube, für unser Staatsgebiet besteht keine Gefahr. Aber wir müssen alles unterbinden, was der Neutralität widerspricht.“ 17 Österreich war der erste Staat, der noch vor der Niederwerfung der Revolution am 4. November solch eine Erklärung an die Sowjetunion abgegeben hatte. Mit dieser mutigen Tat trat Österreich als aktiver, selbstständiger außenpolitischer Akteur auf die Bühne der Weltpolitik. Es bewies eindeutig, dass es über Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 25 das Muster der Schweizer Neutralität hinaus (karitatives Engagement, jedoch außenpolitische Passivität) einen eigenen österreichischen Weg gab, der einen aktiven außenpolitischen Kurs verfolgte. Dieses Verhalten Österreichs deutete eindeutig darauf hin, dass die österreichische Neutralität zwar im militärischen Sinne, jedoch nicht als Gesinnungsneutralität verstanden und 1956 auch so praktiziert wurde. Am 4. November, am Tag der zweiten sowjetischen Intervention, welcher wieder auf einen Sonntag iel, trat der Ministerrat zu einer Sondersitzung unter dem Vorsitz von Außenminister Figl zusammen, um sich mit der durch die jüngste Entwicklung in Ungarn entstandenen Lage zu befassen. Der Ministerrat wollte zu den Ereignissen wieder nicht schweigen, denn die Solidarität der Bevölkerung drängte. Innenminister Helmer erklärte, „die Bevölkerung sitzt doch jetzt allgemein beim Lautsprecher und ich glaube nicht, daß die Regierung schweigen soll. Wir müssen unsere Stellung wegen des Freiheitskampfes betonen.“ Unterrichtsminister Drimmel fügte hinzu, „ … haben wir am vorigen Sonntag [am 28. Oktober] eine Sympathie für Ungarn gezeigt, so wollen wir jetzt nicht mit einer Angst kommen und sollen jetzt in der kritischen Zeit keine Wendung vollziehen. Wir müssen etwas Mut haben und je vorsichtiger wir zu sein scheinen, desto schlechter wird es von der Bevölkerung aufgenommen werden.“ Zum Ausdruck des Mitgefühls der Regierung schlug Handels- und Wiederaubauminister Bock vor, „daß man im Radio nicht lustige Musik bringt“. Dem Vorschlag entsprechend wurden die Unterhaltungsprogramme des Rundfunks ausgesetzt.18 Die Solidarität der Bevölkerung manifestierte sich auch in Taten. Am 13. November stellte Außenminister Leopold Figl in der Ministerratssitzung fest: „Heute sammeln alle, nicht nur die Bundesregierung.“19 Die Bundesregierung rief im Spätherbst 1956 die österreichische Bevölkerung zu Spendenaktionen20 auf und bedankte sich für deren großzügige Hilfeleistung. Ende 1956 sank jedoch die Hilfsbereitschat innerhalb der Bevölkerung. Als die ersten Flüchtlinge eintrafen, wurden sie als „Freiheitskämpfer“ gegen Diktatur und Kommunismus empfangen und begrüßt. Zur Emotionalisierung der Frage trugen auch die Medien stark bei. Die österreichische Bevölkerung half aus der Position des „Stärkeren“ den ausgelieferten „Helden“, und diese Hilfe wirkte identitätsstiftend und stärkte das österreichische Selbstbewusstsein. Mit der Zeit nahm man jedoch wahr, dass sich nicht alle Ungarnlüchtlinge als „Freiheitskämpfer“ beteiligt hatten, sondern dass die Mehrheit in der Hofnung auf eine bessere Zukunt ihre Heimat verlassen hatte. Damit begann die Entstehung eines negativen Gegenbildes. Viele Österreicher fürchteten den Verlust von Arbeitsplätzen durch die Neuankömmlinge. Aufgrund einiger Zwischenfälle erklärte im Jänner 1957 Innenminister Oskar Helmer, dass die Flüchtlinge nicht nur Rechte, sondern auch Plichten hätten.21 26 Ibolya Murber 4. Österreich als Transitland Die Mehrheit der Ungarn passierte die österreichisch-ungarische Grenze im Norden, in der Region des Neusiedlersees zu Fuß. Als die Grenzwache im Winter strenger geworden war, lüchteten die Menschen in der Nacht, und es betätigten sich auch zahlreiche „Fluchthelfer“, welche noch als sicher geltende Wege in die Freiheit kannten. Das Bundesheer markierte zur besseren Orientierung mit rot-weiß-roten Fahnen die Grenze. In der Grenzregion, beim Marschieren über die Felder und Sumpfgebiete des Neusiedlersees, verirrten sich die Flüchtenden ot. Sie wurden jedoch mit Hilfe des Bundesheers, der Gendarmerie, der Hilfsorganisationen und von Freiwilligen zusammengeführt und in Aufanglager gebracht. Dort erhielten sie warmes Essen und Bekleidung, falls notwendig Erste Hilfe, und man begann mit ihrer Registrierung, was einem Asylansuchen gleichkam. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 war in Österreich 1955 ratiiziert worden. Die unvorhersehbare ungarische Einwanderung 1956/57 war die erste Kratprobe für die Flüchtlingskonvention und die Institution des politischen Asyls. Alle Ungarn, die auf das österreichische Staatsgebiet gelangten, erhielten bloß aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit das politische Asylrecht. Dieses ermöglichte die freie Mobilität innerhalb des Landes, die freie Auswahl der neuen Heimat sowie die bestmögliche Integration in den heimischen Arbeitsmarkt. Ferner verhinderte es aufgrund des „non-refoulement-Prinzips“ die zwanghate Repatriierung des Flüchtlings und förderte auch den Erwerb einer neuen Staatsbürgerschat. Diese Begünstigungen für politische Flüchtlinge sicherten den rechtlichen Rahmen zur erfolgreichen Integration in den Aufnahmeländern. Zur Kontrolle der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention wurde das Hochkommissariat für Flüchtlingsangelegenheiten der UNO (UNHCR) ins Leben gerufen. Die Ungarnlüchtlinge kamen in drei voneinander deutlich unterscheidbaren Perioden nach Österreich. In der ersten Periode, während des ungarischen Aufstandes (23. Oktober bis 4. November) lohen ca. 1.000 Ungarn nach Österreich. Unter ihnen befanden sich zahlreiche kommunistische Parteifunktionäre und Staatspolizeibeamte. Auch sie erhielten das politische Asylrecht, die Mehrheit von ihnen kehrte jedoch nach der Niederschlagung des Aufstandes nach Ungarn zurück. Am 26. Oktober verkündete Innenminister Helmer, dass Österreich jedem aus Ungarn kommenden Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention das politische Asylrecht zusichere, unabhängig davon, aus welchem Grund er seine Heimat verlassen und welche politische Überzeugung er habe.22 Auf der Ministerratssitzung vom 28. Oktober erklärte Helmer, „Bei einem Zusammenbruch wird es aber nicht bei 10.000 Flüchtlingen bleiben und daher müssen wir auch den Hilfsdienst des Westens in Anspruch nehmen.“23 Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 27 Am 4. November, am Tag der sowjetischen Militärintervention, wurde neuerlich eine Sondersitzung des österreichischen Ministerrats einberufen, vor allem zur Klärung der dringendsten Frage, nämlich der Finanzierung des Flüchtlingsproblems. Dort prophezeite Figl: „Hinsichtlich der Aufnahme von Zivilpersonen muß schleunigst vorgesorgt werden, da mit einem großen Zustrom von Flüchtlingen aus Ungarn zu rechnen ist.“ Die zweite und intensivste Periode der ungarischen Auswanderung nach Österreich begann mit der Niederschlagung des Aufstandes Anfang November 1956 und dauerte bis Mitte Jänner 1957 an. In diesen zwei Monaten setzte die große ungarische Auswanderung nach Österreich ein, welche ihren Höhepunkt am 23. November mit 8.537 Asylsuchenden innerhalb von 24 Stunden erreichte. Was die Unterbringung der Flüchtlinge betraf, begannen die ersten Gespräche bereits am 4. November auf der Sondersitzung des Ministerrates. Helmer erklärte, „Flüchtlinge, die die Grenze überschreiten, müssen in Lager untergebracht werden.“ Der Bundesminister für Handel und Wiederaubau Fritz Bock berichtete: „Das Gebäude in Traiskirchen läßt sich innerhalb von 24 Stunden herrichten.“ Das größte Lager für die Ungarnlüchtlinge wurde tatsächlich im Gebäudekomplex der ehemaligen Bundeserziehungsanstalt in Traiskirchen eingerichtet. Die Instandsetzung brauchte jedoch mehr als 24 Stunden, denn es mangelte sowohl an Sanitäranlagen als auch an Einrichtungsgegenständen. Unterrichtsminister Drimmel bat den Ministerrat, Schulen „schon wegen der Seuchen, die eventuell eingeschleppt werden können“, nicht als Flüchtlingsunterkünte in Anspruch zu nehmen. Nach der Ministerratssitzung vom 27. November war seine Bitte jedoch nicht mehr zu erfüllen und in größeren Gebäuden, auch in Schulen, wurden nun Ungarn untergebracht. Der Ministerrat vom 13. November befasste sich wieder mit der stetig zunehmenden Zahl der Flüchtlinge. Innenminister Helmer referierte über den Zuwachs der Asylanten: „Ganze Ortschaten oder Teile derselben wandern aus und die Russen lassen die Leute ohne weiteres ziehen.“ Er beschrieb auch die Fluchtgründe: „Die einen liehen doch aus Furcht vor Verfolgung, die anderen aus Not und andere wieder, daß sie nunmehr Aussicht haben, aus Ungarn wegzukommen.“ Dann fasste er bündig deren Folge zusammen: „Wir können jetzt von einem direkten Notstand sprechen.“ Die bisherigen Vorbereitungen für Unterkünte reichten jedoch nicht aus. Innenminister Helmer schilderte in dieser Ministerratssitzung eine später auch nicht selten vorkommende Szene: „Gestern wurden Flüchtlinge in einem unter Dampf gehaltenen Zug untergebracht, da wir keine Quartiere mehr hatten.“ Er setzte seine Schilderung fort: „Wir müssen uns direkt wundern, daß bis jetzt kein einziger Infektionsfall vorgekommen ist. … Wir können die Leute doch nicht in die kalten Räume schicken und müssen daher für neue Unterkünte sorgen. Die Leute schlafen auf Stroh; was ist, wenn durch eine weggeworfene Zigarette Feuer entsteht? Das könnte uns im Ausland beträchtliches Ansehen kosten.“ Verteidigungsminister Graf fügte hinzu: „Ich warne aber 28 Ibolya Murber davor, daß wir, ich will nicht grausam sein, die Wohnungen zu wohnlich einrichten, denn sonst kriegen wir die Leute und besonders ‚manche‘ nicht mehr weg.“ 24 Als die Aufanglager in Burgenland überfüllt waren, wurden die Ungarn nach minimaler Registrierung mit der Bahn aufgrund eines Aufnahmeschlüssels in die westlichen Bundesländer transportiert. Zur Milderung der Flüchtlingsbelastung im östlichen Teil Österreichs legte das Innenministerium anhand der Einwohnerzahl der einzelnen Bundesländer einen Flüchtlingsaufnahmeschlüssel fest. Dieser wies Mitte November 1956 folgende Proportionen auf: Kärnten 1.500, Oberösterreich 8.500, Niederösterreich 1.100, die Steiermark 2.600, Tirol 2.200 und Vorarlberg 1.000 Flüchtlinge.25 Diese Quoten stiegen entsprechend mit der Zunahme der Ungarnlüchtlinge weiter an. Den Wegtransport der Flüchtlinge in den Westen Österreichs forcierte der Ministerrat auch aus politischen Gründen. „Flüchtlinge haben, wie es sich zeigte, in Eisenstadt Verwandte und es hat schon eine Art ‚Irredenta‘ ergeben. Es ist daher eine rasche Wegbringung dieser Leute unbedingt notwendig, sonst werden wir durch die Ungarnhilfe dauernd belastet.“26 Auf eine andere Gefahr wies Helmer auf der Ministerratssitzung vom 15. Jänner 1957 hin: „Ich muss auf die Flüchtlingsfrage aufmerksam machen. Das wird in nächster Zeit auch ein politisches Problem sein.“ Welcher Art dies war, sagte er nicht.27 Nach Möglichkeit bemühte man sich, die „Altlüchtlinge“ von vor 1956 und „Neulüchtlinge“ voneinander getrennt unterzubringen. Es gab in einigen Bundesländern, wie Vorarlberg, Steiermark und Kärnten nicht genügend Lager mit großer Aufnahmekapazität, deswegen wurden die Ungarnlüchtlinge auch in touristischen Einrichtungen und Hotels untergebracht. Die Grundlage bot dazu die „Gasthofaktion“. Der Ausschuss zur Koordinierung der privaten Hilfsorganisationen fasste am 15. November den Beschluss über die „Übernahme der Flüchtlinge durch die Privatorganisationen. Dieser ermöglichte die Unterbringung der Ungarn in Heimen und Gasthäusern. Den privaten Organisationen, Personen und den Gasthäusern wurde je nach Vereinbarung ein Betrag von 20 bis 30 Schilling pro Person und Tag refundiert. Für ihre Ausgaben mussten vorerst die privaten Betreuer aukommen. Die Rechnungen für die Ausgaben gelangten ins Innenministerium und nach ihrer Überprüfung wurden die Unkosten durch die Regierung rückerstattet. Neben voller Verplegung erhielt jeder Flüchtling zusätzlich zu seiner Unterbringung dem Winter entsprechende Bekleidung und 30 Schilling pro Monat Taschengeld. Mit der Wiedereinrichtung des „Eisernen Vorhanges“ von ungarischer Seite ab Mitte Jänner 1957 begann die dritte Periode der ungarischen Auswanderung. Der Ministerrat ermächtigte am 14. Jänner Innenminister Helmer zur Sperre der ungarisch-österreichischen Grenze. Bis Ende Mai 1957 kamen aber immer noch 4.457 Ungarnlüchtlinge nach Österreich. Die Bundesregierung verkündete des Öteren zur Beruhigung der eigenen Bevölkerung, Österreich sei nicht in der Lage, mehr als 30.000 Ungarnlüchtlinge in Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 29 die eigene Volkswirtschat zu integrieren.28 Deswegen bemühte man sich um den Weitertransport von 150.000 Ungarnlüchtlingen in andere Aufnahmeländer, da ihre Versorgung den Staatshaushalt sehr belastete. Die Zahl der sich in Österreich auhaltenden Ungarn erreichte zwischen Dezember 1956 und Januar 1957 ihren Höhepunkt. Innenminister Helmer erklärte, „wir müssen alles tun, daß die Flüchtlinge so rasch als möglich außer Land gebracht werden“. Er betonte, dass aus „Sicherheitsgründen“ vor allem die junge Leute weggebracht werden müssten.29 Die erste große Auswanderungswelle war bis Januar 1957 beendet: 70 % der Flüchtlinge hatten Österreich wieder verlassen, hernach ging der Abtransport jedoch zurück. Der markante Rückgang stand mit den inanziellen Schwierigkeiten der ICEM (Intergovermental Commitee for European Migration)30 bzw. mit den bereits ausgeschöpten Aufnahmequoten in Drittländern im Zusammenhang. Österreich bat in dieser Zwangssituation wiederum um internationale Hilfe. Nach einem Bericht Helmers beschloss der Ministerrat am 15. Jänner 1957 „alle Maßnahmen zur Mobilisierung ausländischer inanzieller Mittel mit Rücksicht auf die politische Gefahr, die durch den längeren Aufenthalt einer so großen Zahl von ungarischen Flüchtlinge in Österreich sich ergibt, zu fördern“.31 Auf der Konferenz des Exekutivkomitees der UNO, die Ende Jänner 1957 in Genf stattfand, wurde Österreich von Innenminister Helmer und Staatssekretär Grubhofer vertreten. Helmer sprach zwar den Aufnahmeländern seinen Dank aus, weil sie bislang mehr als 100.000 ungarische Flüchtlinge aufgenommen hätten, bat sie aber gleichzeitig um weitere Hilfe. Eines seiner Argumente war, dass immer noch zahlreiche ungarische Flüchtlinge ankämen, Österreich könne nur wegen seiner geograischen Lage nicht allein Träger der Gesamtlasten sein.32 Helmers Rede erreichte ihr Ziel: Im Februar und März 1957 nahm der Weitertransport von Flüchtlingen aus Österreich deutlich zu, dank der Spenden an das ICEM und an die österreichische Regierung und auch wegen der von einzelnen Ländern erweiterten Aufnahmequoten. Das Transitland Österreich erfüllte „seine Plichten“. Die Bundesregierung konnte in eizienter Zusammenarbeit mit den in- und ausländischen Hilfsorganisationen sowie Aufnahmeländern die Weiterwanderung der Ungarn ziemlich rasch und reibungslos bewerkstelligen. Der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechend stand dem Flüchtling die Entscheidung ofen, in welchem Land er sich niederlassen wollte. Nicht mehr als zehn Prozent der Ungarnlüchtlinge beabsichtigten, in Österreich zu bleiben. Es soll jedoch betont werden, dass die wirtschatliche Konjunktur in der Mitte der 1950er Jahre in Österreich erst einsetzte und der Lebensstandard noch nicht deutlich höher als jener in Ungarn war. Somit erschien damals Österreich als Integrationsland in den Augen der Ungarn weniger anziehend. Für sie galten die Vereinigten Staaten als Sehnsuchtsheimat, als „gelobtes Land“. Aufgrund der Statistik von 1959 ließen sich mehr als die Hälte der Ungarn 30 Ibolya Murber in Überseeländern nieder, vor allem in den USA und in Kanada. Die westeuropäischen Staaten zeigten ebenfalls hohe Aufnahmebereitschat.33 UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld bezeichnete es als erfreulich, dass so viele Staaten die Ungarnlüchtlinge ohne überlüssige Bürokratie und „Papierkrieg“ aufnahmen.34 5. Finanzierung des Flüchtlingswesens Die Unkosten für die Aufnahme, Unterkunt und Betreuung musste vorerst die österreichische Bundesregierung decken. Die Frage war, woher dafür das Geld genommen werden sollte. Die wichtigsten Entscheidungen ielen dazu bereits auf der Sitzung vom 4. November. Es wurden die in Frage kommenden Möglichkeiten, wie Auslandshilfe, Spenden der Bevölkerung und ein eigener Bundesbudgetposten aufgelistet und einzeln besprochen. Unterrichtminister Heinrich Drimmel schlug vor, die Flüchtlingsbetreuung aus Spenden zu inanzieren. Dazu eröfnete die Regierung ein Sonderkonto unter der Nummer 6.400 mit der Bezeichnung „Hilfsaktion der Österreichischen Bundesregierung für die ungarischen Flüchtlinge“. Tatsächlich wurden die Regierungsausgaben für die Flüchtlinge aus diesem Konto gedeckt. Die zuständigen Ministerien bekamen aus dem Konto bereits nach dem 4. November einen Sonderkredit zur Verfügung gestellt. Die Spesen der verschiedenen Behörden auf Bundes- und Landesebene für die Flüchtlingsbetreuung wurden ebenfalls aus diesem Guthaben bezahlt. Die Bundesregierung verplichtete sich in der Ministerratssitzung vom 4. November, für die notwendigen Kredite einen Beitrag von 20 Millionen Schilling zur Verfügung zu stellen und auf das Konto 6.400 zu überweisen.35 Die erste Anzahlung von 10 Millionen Schilling war durch das Bundesbudget gedeckt. Um die weiteren 10 Millionen Schilling wurde Ende November 1956 bei der US-Regierung angesucht, um sie aus der letzten Tranche der Marshallplanhilfe (ERP) zu decken. Verkehrsminister Waldbrunner erklärte auf der Ministerratssitzung vom 13. November, dass diese großzügige und rasche Spende der Bundesregierung keinen schlechten Eindruck sowohl im In- als auch im Ausland mache.36 Dieser Feststellung stimmte auch Verteidigungsminister Graf auf der Ministerratssitzung vom 5. März 1957 zu: „Allerdings haben wir aus optischen Gründen diese 20 Millionen an die Spitze der Spendenliste gestellt.“37 Was die spontane Hilfe des Auslandes betraf, liefen bereits Anfang November umfangreiche Sachspenden in Österreich ein. Verschiedene internationale und heimische Hilfsorganisationen leisteten beim Empfang der Flüchtlinge im Grenzgebiet große Hilfe. Der Ministerrat beautragte die Liga der Internationalen Rotkreuzgesellschaften mit der Überführung und der Koordinierung der ausländischen Hilfsaktionen. Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 31 Die Regierung erhote sich auch Geldspenden des „Westens“. In der Ministerratssitzung vom 4. November berichtete Außenminister Figl darüber, dass die USA bereits 20 Millionen Dollar zur Unterstützung der Flüchtlinge zur Verfügung gestellt hätten. Er erklärte jedoch, „wir können nur internationale Wege gehen, in der Richtung, daß das Rote Kreuz dotiert werden soll“. Die Regierung legte Wert darauf, dass die Gelder aus dem Ausland durch internationale Hilfsorganisationen nach Österreich lossen, um keine Angrifsläche für Anschuldigungen zu geben.38 Dieses Bestreben war mit dem vor kurzem erlangten neutralen Status Österreichs und mit der geopolitischen Situation an der Grenze der bipolaren Welt zu erklären. Dem Beschlussprotokoll derselben Sitzung entsprechend schickte Helmer an das UNHCR und an das ICEM ein Telegramm und bat diese darum, ihre Mitgliedstaaten mittels Geldspenden und Aufnahmebereitschat zur Linderung des Flüchtlingsproblems in Österreich aufzurufen.39 In den kommenden Tagen suchte die Führung des ICEM das Bundesministerium für Inneres mit einem Aktionsplan zur Auswanderung der Ungarn auf. Letztendlich wurden die Auswanderungskosten aus Österreich zu 90 % aller Ungarnlüchtlinge vom ICEM getragen. Die Durchschnittskosten eines Flüchtlings machten 2.285 Schilling aus.40 Als Folge eines Beschlusses des Ministerrates vom 13. November richtete das BKA AA eine Note (Aide Memoire) für Geld- und Sachspenden zur Linderung des Flüchtlingsproblems an die bei der österreichischen Bundesregierung akkreditierten Botschater und Gesandten. Mit der Zuspitzung der ungarischen Einwanderung Ende November 1956 stiegen auch die Ausgaben und damit auch das Verlangen der Regierung nach ausländischer Hilfe. „Den Ausländern muß man auf jeden Fall kategorisch vorhalten, was wir getan haben und was sie bis jetzt getan haben, dafür aber großsprecherische Worte hatten.“41 Innenminister Helmer schrieb Ende November an den Stellvertretenden UN-Flüchtlingskommissär V. A. M. Beermann: „Unser Land hat das Menschenmögliche getan. Es liegt jetzt an den westlichen Ländern und Hilfsorganisationen, rasch und entsprechend einzugreifen, da sonst unser eigenes Volk durch die weitgehende Gewährung des Asylrechtes an den bedauernswerten ungarischen Flüchtlingen schwersten wirtschatlichen und gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt ist.“42 Anfangs, im November, boten elf Staaten die Gewährung von Asyl für die in Österreich beindlichen Ungarn an, bis Ende Dezember waren es schon 25 Länder.43 Wegen der hohen Ausgaben der Regierung Mitte November für die Flüchtlinge musste eine neue Spendenquelle angesprochen werden, nämlich die österreichische Bevölkerung. Bereits auf der ersten Sondersitzung des Ministerrates vom 28. Oktober wurde der Beschluss gefasst, dass sich die Bundesregierung in einem Kommuniqué für die Hilfsbereitschat der Bevölkerung bedanken müsse; diese erwies sich im Spätherbst 1956 noch sehr vonnöten. Raab fügte auf der 32 Ibolya Murber Ministerratssitzung vom 13. November 1956 hinzu, dass es nötig sei, zuerst die österreichische Bevölkerung zu Geldspenden aufzurufen, „erst dann können wir uns als Bundesregierung an das Ausland wenden“.44 Die politische Führung Österreichs war überrascht über die Solidarität und Hilfsbereitschat der Bevölkerung. Dafür gab es mehrere Gründe: Als Folge der Propaganda im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg saß die antikommunistische Haltung der österreichischen Bevölkerung tief: Diese speiste sich bereits aus der Ablehnung des „Austromarxismus“ der konservativen bürgerlichen Rechten in der Zwischenkriegszeit. Nach dem „Anschluss“ an NS-Deutschland im Jahre 1938 lebte diese Einstellung in Form des nationalsozialistischen Antikommunismus weiter. Tausende „Österreicher“ hatten in den NS-Armeen gegen die UdSSR gekämpt, waren dort verstorben oder gar jahrelang in sowjetische Gefangenschat verbracht. Und schließlich, nach dem Zweiten Weltkrieg während der zehnjährigen „Besatzungszeit“, hatten besonders die in der Sowjetzone lebenden Österreicher hautnahe Erfahrung mit der sowjetischen Besatzung und ihrem Kommunismus gemacht. Das Mitgefühl mit der Lage der Ungarn war daher verständlich und groß. Auf den Ministerratssitzungen vom 13. November und 18. Dezember 1956 wurde beschlossen, am 14. und 18. November und vor Weihnachten Spendenaufrufe an die Bevölkerung zu richten. Die Österreicher konnten ihre Geldspenden auf das Postscheckkonto Nummer 6.400 einbezahlen. Empfangsscheine waren in allen Postämtern und in allen Traiken erhältlich. Bundeskanzler Raab äußerte seinen Wunsch, Eingänge über 10.000 Schilling mittels eines persönlichen Dankschreibens zu quittieren.45 Es waren auch eigens Briefmarken mit der Aufschrit „Notopfer für Ungarn“ herausgegeben worden, deren Verkaufserlös auf dasselbe Konto ging.46 Die Bundesregierung bemühte sich um Transparenz der Flüchtlingsinanzierung. Auf der Ministerratssitzung vom 13. November brachte Innenminister Helmer seine Befürchtungen zum Ausdruck: „Die Spenden gingen zuerst nach Budapest. (…) Mit dem 3. November 1956 hat sich alles geändert. Die große Spendenwelle hat dem ungarischen Freiheitskampf gegolten.“ Die Bevölkerung könne meinen, „das ganze Geld und Spenden kommen ja eh vom Ausland“. Verteidigungsminister Graf beantragte daher, die Öfentlichkeit über die Auslandshilfe zu informieren, sonst glaube man, Österreich schwimme im Geld. Der Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, Bruno Kreisky, fügte noch hinzu, „die Flüchtlinge sagen nämlich, dass die Amerikaner ‚eh alles zahlen‘. Daher hat Österreich kein Verdienst.“ Die Öfentlichkeit wurde von nun an regelmäßig über die materiellen Leistungen der österreichischen Behörden unterrichtet.47 Zur Förderung der Spendenfreudigkeit der Bevölkerung beschloss der Ministerrat am 20. November, allen Bundesministern und Staatssekretären zu empfehlen, auf das Konto 6.400 einen persönlichen Beitrag von je 1.500 bzw. 1.000 Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 33 Schilling zu überweisen. Gleichzeitig wurden Sammlungen in den Ämtern und Dienststellen initiiert. Bundespräsident heodor Körner spendete auf das Konto 6.400 einen Betrag von 10.000 Schilling. Diese Spendenaktionen wurden wiederum in der Presse veröfentlicht.48 Kontostand Nr. 6.400 am 18.12.1956 Österreichische Bundesregierung 10.000.000; 20% Ausländische Spenden; 25.001.958; 51% Spende der Österreichischen Nationalbank; 500.000; 1% Spenden der österreichischen Bevölkerung; 14.120.511; 28% Quelle: ÖStA AdR BKA Präs. Ungarnflüchtlinge 1956 1. 10676 PrM/56 Die Summen sind in Schilling angegeben. Die Angaben beinhalten nicht die Spenden des UNHCR und des ICEM. Die UNO stellte bis 13. November49 zuerst 300.000 Schilling und dann 650.000 Schilling bis 10. Dezember50 für die Flüchtlingsbetreuung zur Verfügung. Für die bauliche Adaptierung und Einrichtung der Lager zur Unterbringung der Flüchtlinge überwies der UNHCR bis 20. November51 2.080.00.- Schilling an die österreichische Regierung. Die ICEM spendete bis 18. Dezember 560.000 Schilling auf das Regierungskonto 6.400.52 Kontostand Nr. 6.400 am 31.03.1957 UNHCR; 91.390.000; 63% Private Spenden vom In- und Ausland; 20.077.823; 14% Österreichische Bundesregierung 10.000.000; 7% Spenden ausländischer Regierungen; 3.356.151; 2% Sonstige ausländische Spenden; 7.898.511; 5% USA durch die UN; 12.960.000; 9% Quelle: ÖStA AdR BKA Präs. Ungarnflüchtlinge 1957 2. 3009/Pr 1a/57 Die Summen sind in Schilling angegeben. 34 Ibolya Murber Vom Regierungskonto 6.400 wurden die Ausgaben der Bundesregierung bezahlt. Bis 15. Juni 1957 betrug der Stand des Regierungskontos (6.400) 170.506.136.- Millionen Schilling, das machte damals ca. 7 Millionen USD aus.53 Die Hauptlast der Finanzierung der Flüchtlinge trug das UNHCR. Die im Flüchtlingswesen in Österreich tätigen Hilfsorganisationen, besonders die internationalen, deckten ihre Ausgaben aus eigenem Budget, somit scheinen sie auf dem Konto der Bundesregierung nicht auf.54 Die Liga der Rotkreuzgesellschaten übernahm ab Mitte November die Kosten für die Unterbringung und Betreuung der neu angekommenen Ungarn. Ab 1. März 1957 inanzierte die Liga die Instandhaltung aller Flüchtlingslager, die mehr als 500 Insassen aufwiesen. Mit 1. Oktober 1957 betreute wieder das Bundesministerium für Inneres diese Lager. Insgesamt wurden 75 % aller Ungarnlüchtlinge während ihres Aufenthalts in Österreich in den von der Liga betreuten Lagern untergebracht. Die Finanzierung dieser Aktion erfolgte aus eigenem Budget und aus den direkten Spenden des UNHCR. Die in Österreich verwendeten Sachspenden der Liga betrugen 2 Millionen USD, die Geldspenden erreichten eine Höhe von 2.650.000 USD.55 Der Hauptteil der Regierungsausgaben für die Ungarnlüchtlinge wurde zur Deckung der Errichtung und Wiederherstellung von Aufanglagern und für weitere Bauspesen verwendet. Bis 15. Jänner 1957 kostete die Adaptierung der Unterkünte 52 Millionen Schilling. Hohe Unkosten verursachte auch die Verplegung. Der UNHCR rechnete provisorisch Ende November 1956 mit Verplegungskosten pro Flüchtling von 15 Schilling am Tag.56 Die österreichische Bundesregierung nahm dagegen fast eine doppelt so hohe Summe von 25 bis 30 Schilling pro Person an. Diese Kosten übernahm allmählich die Liga der Rotkreuzgesellschaten aus eigenem Budget. Die Transportkosten für die Ungarnlüchtlinge innerhalb Österreichs wurden ebenfalls aus dem Regierungskonto gedeckt. Anfang November 1956 durten die Flüchtlinge kostenlos alle Postserviceleistungen, wie z. B. Paketsendungen und Telegramme, in Anspruch nehmen. Im Inland mussten sie für Bahn und Postbusse ebenfalls nichts bezahlen. Mit dem Zuwachs der Flüchtlingszahlen wurden die daraus resultierenden Kosten für die Regierung immer größer. Manche Flüchtlinge missbrauchten auch diese Sonderrechte. Sie schickten zum Beispiel per Post sogar Lagereinrichtungsgegenstände nach Ungarn. Schließlich blieb ihnen nur noch die einmalige Telegrammsendung kostenlos. Transportkosten wurden weiterhin aus dem Konto 6.400 gedeckt, wenn es sich um Fahrtspesen zwischen dem Wohnort und den Auswanderungszentren handelte. Die Hilfesendungen der österreichischen Bevölkerung an die Sammelstellen wurden ebenfalls gebührenfrei befördert und ausgefolgt. Die Pakete mussten lediglich auf der Anschrit die Zusatzbezeichnung „Ungarnlüchtlinge“ tragen. Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 35 Diese Unkosten des Bundesministeriums für Verkehr und Elektrizitätswirtschat wurden zum Teil vom Regierungskonto 6.400 gedeckt.57 Der hohen Kosten wegen erklärte Verkehrsminister Waldbrunner jedoch auf der Ministerratssitzung vom 5. März 1957, dass mit der gebührenfreien Beförderung aller Güter Schluss sei. „Das gleiche ist in der Schweiz und in Deutschland in Durchführung. Wenn RotKreuz-Gesellschaten ihre Güter aufgeben, so müssen sie halt bezahlen.“ Nach der Sitzung wurde die Gebührenplicht für Hilfsgütertransporte eingeführt.58 6. Österreich als Integrationsland Eine Integration geht nie reibungslos vor sich, wie das ein ehemaliger Flüchtling formulierte: „Als wir herkamen, war alles anders, die Menschen, ihre Gebräuche und ihre Sehnsüchte.“59 Die Mehrheit der Ungarn wurde in Flüchtlingslagern mit großer Aufnahmekapazität untergebracht. Der längere Aufenthalt im Lager unter unbekannten Menschen führte des Öteren zur sog. Lagerpsychose. Bis zur gewünschten Auswanderung vergingen nämlich ot mehrere Monate. Das lange Warten verursachte innere und äußere Spannungen. Sowohl die Bundesregierung als auch die Hilfsorganisationen bemühten sich um deren Vorbeugung. Zur sinnvollen Freizeitbeschätigung organisierte man unterschiedliche sportliche und kulturelle Veranstaltungen. Es gab Rundfunkgeräte und kleine Bibliotheken in den Lagern. Die Hilfsorganisationen auf konfessioneller Grundlage sicherten den Flüchtlingen die Ausübung des religiösen Lebens nach Möglichkeit auf Ungarisch. Am leichtesten organisierte man die katholische Seelsorge, da nach 1945 viele katholische Geistliche mit ungarischer Muttersprache in Österreich lebten. Die protestantische Seelsorge verrichteten mehrheitlich nicht in Österreich lebende, jedoch Ungarisch sprechende Priester.60 Bereits seit dem Herbst 1956 bot man Um- und Weiterbildungsmöglichkeiten für die Flüchtlinge an. Der Bedarf an Sprachkursen und Wörterbüchern war groß. Die meistgewählte Sprache war Englisch, da die Mehrheit nach Amerika auswandern wollte. Die Bundesregierung rief im Jänner 1957 das „Forum Kultur-Hilfe“ ins Leben, mit dem Ziel, den gelüchteten Künstlern Beschätigungs- und Zukuntsperspektiven anzubieten. Mit Hilfe dieser Organisation wurden in Baden bei Wien das bis zu 2001 existierende symphonische Orchester „Philharmonia Hungarica“61 und ein Schauspiel- und Ballettverein gegründet. Die österreichische Führung bemühte sich, auch den ungarischen Sportlern entsprechende Trainingsmöglichkeiten anzubieten.62 Die Regierung in Wien legte großen Wert auf den Unterricht der schulplichtigen Flüchtlingskinder. Vorerst erhielten sie Unterricht innerhalb des Lagers. Nach der großen Weiterwanderungswelle wurden eigene ungarischsprachige 36 Ibolya Murber Klassen und vorübergehend sogar eigene ungarische Schulen errichtet. Ungarisch sprechende Lehrer, meist selbst Flüchtlinge, unterrichteten die Kinder in vier ungarisch sprachigen Gymnasien, Mitte 1957 besuchten diese 746 Schüler.63 In Hir tenberg in der Steiermark eröfnete man eine Berufsschule für 14 bis 18-jährige Flüchtlinge.64 Für ungarische Studenten standen die österreichischen Universitäten ofen und sie erhielten auch vielseitige inanzielle Unterstützungen, Stipendien von in- und ausländischen Fonds. Das politische Asylrecht sicherte den Flüchtlingen dieselben Arbeitsbedingungen wie den Einheimischen zu. Diese Regelung erleichterte die Eingliederung in den heimischen Arbeitsmarkt. Bei der Arbeitssuche waren – dies ergibt sich aus den Oral-History-Interviews mit ehemaligen Flüchtlingen – neben Deutschkenntnissen auch das „Glück“ und die Hilfsbereitschat sowie Gutmütigkeit der Arbeitgeber von Bedeutung. Ot wird in den Interviews die positive Rolle der Dolmetscher erwähnt. Sie halfen nicht nur, sprachliche Schwierigkeiten zu überwinden, sondern sie erteilten für die Flüchtlinge ot Ratschläge und gaben hilfreiche Informationen. Die Flucht aus Ungarn trennte ot Familien, des Öteren blieben Ehefrauen samt Kindern zu Hause. Der Flüchtling konnte die „Familienzusammenführung“ bei den österreichischen Behörden beantragen. Die in Ungarn verbliebenen Familienmitglieder konnten um eine Ausreise- und Einreiseerlaubnis ansuchen. Im Allgemeinen lebten die Familien bereits ab 1958 in Österreich zusammen. Es kam freilich öters vor, dass die oizielle Familienzusammenführung, aus welchem Grund auch immer, scheiterte, dann entschieden sich die Ehepartner meist für die Scheidung.65 Die Wohnungsnot der Flüchtlinge musste ebenfalls gelöst werden. Nach der Übergangslösung des Flüchtlingslagers brauchte die Integration neue private Unterkünte. Ende der 1950er Jahre lebten in 36 vom Innenministerium geführten Lagern noch fast 8.000 Ungarnlüchtlinge; 1960 lebten immer noch ca. 6.500 Ungarn in Lagern.66 Die UNO organisierte zwischen Juni 1959 und Juni 1960 das „Weltlüchtlingsjahr“, mit dem Ziel die Lebenssituation der Flüchtlinge zu verbessern und die ot restriktive Flüchtlingspolitik von potenziellen Aufnahmeländern zu entschärfen. Durch den dafür geschafenen UNO-Fonds wurden Wohnungsbau, Berufs- und Weiterausbildung sowie Kosten sozialer Integration inanziert. 59 Länder schlossen sich diesem Programm an. In Österreich wurden im Zusammenhang mit dem „Weltlüchtlingsjahr“ die Flüchtlingslager aufgelöst und ihren Bewohnern eigens für sie gebaute „Siedlungshäuser“ in Städten mit Arbeitsmöglichkeiten angeboten. Im Rahmen des Wohnbau-Programms der UNO wurden für die Flüchtlinge in Österreich zwischen 1955 und 1960 insgesamt 3.853 neue Wohnungen errichtet, die auch den Ungarnlüchtlingen zugutekamen. Die UNO bezahlte die reinen Baukosten, für die darüber hinaus autretenden zusätzlichen Kosten wie Baugrundstücke, Steuern und sonstige Gebühren musste der österreichische Staat Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 37 aukommen. Den Bauplänen entsprechend kostete der Bau einer Wohnung 77.000 Schilling. Die Bewohner bezahlten den Kaufpreis nach Einzahlung eines einmaligen Grundbetrages von ca. 30.000 Schilling in monatlichen Raten ab.67 Für die vollständige Integration war die österreichische Staatsbürgerschat notwendig. Aufgrund des Artikels 34, Abschnitt IV der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, war der Erwerb der Staatsbürgerschat zu fördern. Die Interviews und die Rückerinnerungen zeigen ein difuses Bild, was die „Kosten“ der Staatsbürgerschat angeht. Einige erinnerten sich daran, dass sie dafür „viel bezahlen“ mussten, andere dagegen berichteten über „ein minimales Entgelt“. Die Erinnerungen stimmen nicht einmal hinsichtlich der Wartezeit überein, es gab unterschiedliche Zeitangaben.68 Familienmitglieder bekamen gemeinsam mit Ehemann bzw. Eltern die Staatsbürgerschat. Im Allgemeinen erhielten die Ungarnlüchtlinge ab 1963 die österreichische Staatsbürgerschat, zwischen 1957 und 1971 waren es 6.816 Personen.69 Die meisten Ungarnlüchtlinge ließen sich in Wien und in den Landeshauptstädten nieder. Neben dieser neuen Gruppe österreichischer Ungarn lebte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges eine weitere autochthone ungarische Minderheitengruppe in Burgenland. 1992, aufgrund des Volksgruppengesetzes 1976, wurden die „Wiener Ungarn“, also die Mehrheit ehemaliger Ungarnlüchtlinge, als autochthone Minderheit anerkannt. Zu dieser bekannten sich im Jahre 2011 mehr als 10.000 Personen.70 7. Abschließende Gedanken Die Auswanderung und die Integration der Ungarnlüchtlinge war die gelungenste, erfolgreichste und konliktloseste Fluchtbewegung in der zweiten Hälte des 20. Jahrhunderts. In der ganzen Welt, aber auch in Österreich ging die Integration der Ungarn mehrheitlich konliktfrei vor sich. Für die österreichische Integration waren die antikommunistische Einstellung und die daraus resultierende Sympathie der österreichischen Regierung sowie der Bevölkerung ausschlaggebend. Die Ungarn kamen in einer Zeit wirtschatlichen Aufschwungs. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 garantierte die formal-juridische Rahmenbedingung der Aufnahme und Integration. Das politische Asyl hatte die freie Wahl der neuen Heimat, die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und den Erwerb der Staatsbürgerschat vorgesehen und vorangetrieben. Die meisten Flüchtlinge waren arbeitswillige Alleinstehende oder junge Familien unter 40 Jahren, die in der Hofnung auf ein besseres Lebens ihre Heimat verließen. Die pragmatische Einstellung, wie die schnelle Aneignung der deutschen Sprache und der „österreichischen Kultur“ sowie die selbstauferlegte Distanzierung von aktiver politischer Tätigkeit, ferner das ot vorhandene soziale Kapital (Verwandte, Bekannte im Ausland) erleichterten ihre reibungslose Ibolya Murber 38 Eingliederung und damit auch ihre Assimilation. Ihr Integrationswille unterstützte auch die Tatsache, dass sie sich kulturell-religiös nicht von der Aufnahmegesellschat unterschieden, beide Länder hatten noch vor 50 Jahren die gemeinsame Habsburgermonarchie gebildet. Für die heranwachende zweite Generation der Ungarnlüchtlinge war die „hybride Identität ihrer Eltern nur Ballast, zu der sie tunlichst auf Distanz gingen“.71 Und wie es ot bei assimilierten Minderheiten vorkam, nahm das Interesse an Kultur und Sprache der Großeltern erst in der dritten Generation um die Jahrtausendwende fallweise wieder zu. *** So sehr auch der Ausbruch des ungarischen Aufstandes die Welt überraschte, so wenig hat man weder in den ersten Aufnahmeländern – Österreich und Jugoslawien – noch im Westen mit solch einer massiven Fluchtbewegung gerechnet. Deswegen gab es im internationalen Kontext nur Ad-hoc-Antworten auf die unerwarteten Herausforderungen betrefend den Aufstand sowie der Auswanderung. Es mangelte an Erfahrung und Praxis. Das Jahr 1956 war die erste Feuerprobe für eine große Migration im neuartigen internationalen Kontext des Kalten Krieges. Diese Ost-West-Migration war die erste, an der ein so hoher Bevölkerungsanteil eines kommunistischen Landes innerhalb von einigen Monaten in den „Westen“ abwanderte. Für die junge österreichische Neutralität war die ungarische Auswanderung des Jahres 1956 auch eine erste Kratprobe. Österreich lag an der Grenze der bipolaren Welt. Seine Neutralität wurde sowohl von der Sowjetunion als auch von den USA als „Sonderfall“ betrachtet. Es erwies sich auch der geo- und weltpolitischen Lage wegen als notwendig, mit beiden Supermächten gute, friedliche Beziehungen zu plegen. Als Nachbarland Ungarns und neutraler Staat, dessen Bevölkerung jedoch mit voller Unterstützung und Solidarität hinter den revolutionären Ungarn stand, musste Österreich handeln und zu den Vorgängen Stellung nehmen. Nach dem 4. November erschienen in der österreichischen Presse zahlreiche Artikel im Zusammenhang mit der Neutralität und territorialen Integrität. Sie hatten das Ziel, die Bevölkerung zu beruhigen, entsprachen jedoch der Realität. Sowohl die Sowjetunion als auch die USA respektierten und akzeptierten die Neutralität Österreichs und damit auch den entstandenen Status quo des Kalten Krieges. Am 6. November erklärte das Außenamt der USA, die Verletzung der österreichischen territorialen Integrität sei als schwerste Bedrohung des Friedens zu betrachten.72 Die sowjetische Führung erließ Anfang November strenge Regelungen zur Wahrung der territorialen Souveränität Österreichs. Abgesehen von einigen lokalen Konlikten, als ungarisches und/oder sowjeti- Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 39 sches Militär Flüchtlingen auf österreichisches Staatsgebiet folgten, verletzte die Sowjetunion das österreichische Hoheitsgebiet nicht. Außenminister Figl erklärte auf der Ministerratssitzung vom 27. November 1956, dass er in New York bei der UN-Generalversammlung gewesen sei und die Gelegenheit gehabt habe, mit dem sowjetischen Botschater Dimitrij T. Šepilov zu sprechen. Dieser habe ihm erklärt, Österreich habe während der ungarischen Vorfälle seine Neutralität absolut gewahrt und das könne er bestätigen. Von Seiten der Sow jetführung kam es kaum zu einem oiziellen Vorwurf gegen Österreich und auch zu keinerlei Sanktionen.73 Während der Ungarnkrise wies Österreich ein eindeutig prowestliches Verhalten auf. Sowohl die Werte der westlichen Demokratie als auch das Interesse für den „Westen“ wurden klar vertreten. Dieses Verhalten belohnte der „Westen“ mit großzügigen Hilfeleistungen und rascher, fast unbürokratischer Flüchtlingsaufnahme. Die österreichische Regierung musste jedoch bei dem Transport der Spenden und Abtransport der Flüchtlinge auf die Vorschriten der Neutralität achten. Bereits auf der Ministerratssitzung vom 4. November erklärte Verteidigungsminister Graf: „Wir müssen aber unterbinden, daß beispielsweise der dänische Hilfszug mit Militärpersonen besetzt kommt.“74 Die Anerkennung des „Westens“ gegenüber Österreich wurde öter auf internationalen Foren zum Ausdruck gebracht. Außenminister Figl berichtete auf der Ministerratssitzung vom 27. November über die UN-Generalversammlung in New York. „Ich habe dort zweimal gesprochen und bat um dringende Hilfe für die ungarischen Flüchtlinge. Man hatte dort vollkommenes Verständnis.“75 Vor Weihnachten 1956 berichtete er über die Außenministerkonferenz des Europarates, die in Straßburg stattfand: „Es wurde Österreich und seiner Bevölkerung Dank und Anerkennung für ihre Hilfeleistung zugeteilt.“ Die Anerkennung der Vereinigten Staaten demonstrierte der Besuch des USVizepräsidenten Richard Nixon zwischen dem 19. und 21. Dezember Wien. Nixon versprach die Aufnahmequote für Ungarnlüchtlinge zu erweitern und übergab einen Scheck über 450.000.-USD. Was jedoch für die Regierung maßgebender war, er würdigte ihre Verdienste. Mit dieser Geste drückte der Vizepräsident den Beistand der USA für die neue souveräne außenpolitische Rolle Österreichs aus. Sie vertrat einerseits „westliche“ Interessen, beruhte aber gleichzeitig auf den geopolitischen Gegebenheiten einer Realpolitik. Diese Faktoren bildeten für lange Zeit die Hauptrichtung der österreichischen Außenpolitik. *** Welche Folgen des ungarischen Aufstandes und der Auswanderung lassen sich für die Entwicklung der österreichischen Nationalidentität thematisieren? 40 Ibolya Murber 1. Mit Einvernehmen der Großen Koalition hielt Österreich zwar strikt an seiner militärischen Neutralität fest, lehnte jedoch eine Gesinnungsneutralität ab. Es entschied sich ferner für Demokratie und westlichen Parlamentarismus. Dadurch festigte sich das Bild eines demokratischen Österreichs. 2. Das sowjetfreundliche Verhalten der KPÖ während der Ungarnkrise führte zum völligen Bedeutungsverlust dieser Partei, die in die totale Isolation geriet. Österreich ist nun endgültig antikommunistisch. 3. Das junge, aber doch selbstbewusste Bundesheer und dessen Einsatz bei der Sicherung der Staatsgrenzen und bei den humanitären Hilfeleistungen vermittelten ein souveränes Österreichbild. 4. Die Aufnahme aller Ungarnlüchtlinge schuf die bis heute existierende Asylland-Aufassung von Österreich. 5. Die großen Hilfsaktionen der österreichischen Regierung, der internationalen Hilfsorganisationen, ferner die Solidarität und Spendenfreudigkeit der Bevölkerung trugen zum Bild des „gütigen“ und hilfsbereiten Österreich bei. 6. Das von der Regierung geforderte Verlangen nach Selbstkontrolle und Objektivität der Medien bewirkte das Bild eines verantwortungsvollen Österreich. 7. Mit der mutigen Regierungsresolution vom 28. Oktober 1956 begann eine aktiv-selbstständige Außenpolitik Österreichs. 8. Die Akzeptanz der österreichischen Neutralität durch die Sowjetunion und USA bedeutete gleichzeitig die Aufrechterhaltung des Status quo und bestätigte die Existenz des neutralen Österreichs. 9. Durch sein ofensichtlich prowestliches Verhalten erlangte Österreich die Anerkennung des „Westens“ und wurde trotz Neutralität als dessen Bestandteil betrachtet. 10. Mitten im Kalten Krieg erhielt Österreich internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dies bewies der Besuch des US-Vizepräsidenten Nixon im Dezember 1956. 11. Auf Grund der Neutralität und geopolitischer Gegebenheiten wurden die Fundamente für eine kluge Realpolitik gelegt, für Österreichs Vermittlerrolle zwischen Ost und West, die ihren Höhepunkt mit der Außenpolitik des Kanzlers Bruno Kreisky erreichte. Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 41 1 Lajos Gecsényi, Gegeneinander oder nebeneinander? Ungarisch-österreichische Beziehungen 1945–1965. In: Ibolya Murber / Gerhard Wanner (Hg.), Europäische Aspekte zur ungarischen Revolution 1956, Feldkirch 2006, 34. 2 Innenminister Oskar Helmer, UN-Sitzung, Genf, 29. Jänner 1957. Vorarlberger Landesarchiv [VLA], Vorarlberger Landesregierung [VLR] Abt. I.a. Sch 106. Zl. 562–12. 3 Mehr darüber in: Ibolya Murber, Ungarnflüchtlinge in Österreich 1956. In: Ibolya Murber / Zoltán Fónagy (Hg.), Die Ungarische Revolution und Österreich 1956, Wien 2006, 335–385. 4 Magyar Nemzeti Levéltár – Országos Levéltár [MNL OL], XIX-J-1-j-Ausztria-20/f-0069/2/1957. 5 Oral History-Interview von Ibolya Murber, Feldkirch, am 13. und 28. Oktober 2000. 6 Ibolya Murber, Flucht in den Westen 1956. Ungarnflüchtlinge in Österreich (Vorarlberg) und Liechtenstein. Magyar menekültek Ausztriában (Vorarlberg) és Liechtensteinben 1956 (= Schriftenreihe der RheticusGesellschaft 41), Feldkirch 2002, 27. 7 Ebd. 116. 8 Ebd. 117–118. 9 Ebd. 126–127. 10 Zeitgenössischer Wortgebrauch für die am Kriegsende nach Österreich geflüchteten Personen, die keine österreichische Staatsbürgerschaft besaßen. Sie nannte man als Heimatlose oder DPs (Displaced Person, die Mehrheit waren die sog. Volksdeutschen aus Ostmittel- und Südosteuropa. Diese erhielten kein politisches Asyl aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. 11 Franz Grubhofer, Der Beitrag Österreichs und des Auslandes für die Ungarnhilfe. In: Integration, Bulletin International 5 (1957) H. 2, 83. 12 Dazu mehr: Ibolya Murber, Die österreichische Bundesregierung: Maßnahmen zur ungarischen Revolution und Flüchtlingsfrage 1956. In: Ibolya Murber / Gerhard Wanner (Hg.), Europäische Aspekte zur ungarischen Revolution 1956, 51–79. 13 BGB 4. 11.1955. 211. Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs. 14 Österreichisches Staatsarchiv [ÖStA], Archiv der Republik [AdR], Bundeskanzleramt [BKA] MRP Raab II. 28. Oktober 1956. 15 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 28. Oktober 1956. 16 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 28. Oktober 1956. 17 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 28. Oktober 1956. 18 VLA, Landessender Vorarlberg. Sch. 22, Nr. 74. 19 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 13. November 1956. 20 Mehr über die sog. „Ungarn-Hilfe“ in Peter Eppel, Wo viele helfen, ist viel geholfen. Ungarn-Hilfe 1956/57 in Österreich. In: Murber / Fónagy, Die ungarische Revolution und Österreich 1956, 431–462. 21 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 15. Jänner 1957. 22 Eduard Stanek, Verfolgt – Verjagt – Vertrieben, Wien 1985, 64. 23 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 28. Oktober 1956. 24 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 13. November 1956 25 VLA, VLR Prs. 265/1957. Ungarische Flüchtlinge 26 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II 20.11.1956. 27 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 15. Jänner 1957. 28 VLA, VLR Abt. Ia. Sch. 106. Zl. 5/2–12. 29 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 20.11.1956. 30 ICEM teilte der Bundesregierung mit, dass sie verschuldet sei, weil die Mitgliedsstaaten ihren Beitrag nicht abgeliefert hätten. ÖStA AdR MRP Raab II. 15.01.1956. 31 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 20.11.1956. 32 VLA, VLR Abt. Ia. Sch. 106. Zl. 5/2–12. Ibolya Murber 42 33 Mehr über die Weiterwanderung der Ungarnflüchtlinge aus Österreich in: Ibolya Murber, Ungarnflüchtlinge in Österreich 1956. In: Murber / Fónagy, Die ungarische Revolution und Österreich 1956, 355–367. 34 VLA, VLR Abt. I. a. Sch. 106. Zl. 5/2–12. 35 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 04. 11. 1956. 36 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 13. 11. 1956. 37 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 05.03.1957. 38 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 04.11.1956. 39 Der ganze Aufruf in: Friedrich Kern, Österreich. Ofene Grenze der Menschlichkeit, Wien 1959, 83. 40 Anton Bayer, Die ungarischen Flüchtlingslager in Österreich. In: Integration, Bulletin International 5 (1957) H. 2, 108. 41 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 27.11.1956 42 Wiener Zeitung, 27.11.1956 zit. n. Manfried Rauchensteiner, Spätherbst 1956. Die Neutralität auf dem Prüfstand. Wien 1986, 87. 43 Katalin Soós, 1956 und Ausztria, Szeged 1999, 94–95. 44 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 13.11.1956 45 ÖStA, AdR, BKA MRP Präs. Ungarnflüchtlinge 1. 99606/56. 46 Friedrich, Kern, Österreich. Ofene Grenze der Menschlichkeit, Wien 1959, 61. 47 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 13.11.1956. 48 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 20.11.1956. 49 ÖStA, AdR, BKA MRP 13.11.1956 50 ÖStA, AdR, BKA MRP Präs. Ungarnflüchtlinge 1. 10.370-Pr. 1a/56. 51 ÖStA, AdR, BKA MRP Präs Ungarnflüchtlinge 9531/1956. 52 In dieser Summe sind freilich die übernommenen Transportkosten der Auswanderung der Ungarnflüchtlinge nicht inbegrifen. 53 Franz Grubhofer, Der Beitrag Österreichs und des Auslandes für die Ungarnhilfe. In: Integration, Bulletin International 5 (1957) H. 2, 85. 54 Mehr über die Tätigkeit der Hilfsorganisationen: Peter Eppel, Wo viele helfen, ist viel geholfen. Ungarn-Hilfe 1956/57 in Österreich. In: Murber / Fónagy, Die ungarische Revolution und Österreich 1956, 431–462. 55 Ungarische Flüchtlingshilfe. Liga der Rotkreuzgesellschaften, o. O. 1957, 35. 56 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 27.11.1956. 57 ÖStA, AdR, BKA MRP Präs Ungarnflüchtlinge 1956 1 M. Zl. 58596-5/1956. 58 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 05.03.1957. 59 Oral History Interview von Ibolya Murber, Hohenems, am 1. März 2001. 60 Ungarische Flüchtlingshilfe (Hg.), Liga der Rotkreuzgesellschaften. 1957, 48–51. 61 Über die symphonische Orchester „Philharmonia Hungarica“ mehr in: Kornél Zipernovszky, Das Flüchtlingsorchester. Politische Selbstbestimmung und Überleben in den ersten Jahren der Philharmonia Hungarica. In: Ibolya Murber / Zoltán Fónagy, Die ungarische Revolution und Österreich 1956, 497–529. 62 MNL OL XIX-J-1-j-Ausztria-20/f-003496/1957. 41. doboz. 63 Mehr darüber in: Ernő Deák, Ungarische Mittelschulen in Österreich nach 1956, Wien 1997; László M. Alföldi, Ungarische Flüchtlingsschulen in Österreich 1945–1963. Books on Demand, USA 2014. 64 Hans Inama-Sternegg, Die ungarischen Mittelschulen in Österreich. In: Integration, Bulletin International 5 (1957) H. 3, 170-173. 65 Murber, Flucht in den Westen, 108. 66 MNL OL XIX-J-1-j-Ausztria-20/f-005013/1960 41. doboz. 67 VLA, VLR Abt. Ia. Sch. 132. 1–6/1964. Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956 43 68 Murber, Flucht in den Westen, 111–112. 69 Ernő Deák, Die Überwindung der Grenzsituation. Auf der Flucht zur Integration. In: Ernő Deák/Zoltán Fónagy (Hg.): Revolution – Flucht – Integration. Ungarn-Österreich 1956. Ausstellungskatalog, Wien 2006, 47. 70 Peter Eppel / Béla Rásky / Werner Michael Schwarz (Hg.), Menekülés Bécsbe. Flucht nach Wien. Ungarn 1956. Magyarország 1956. Katalog Wien Museum, Wien 2016, 72. 71 Ebd., 72. 72 Die Presse, 6.11.1956. 73 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 27.11.1956. 74 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 04.11.1956. 75 ÖStA, AdR, BKA MRP Raab II. 27.11.1956. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Maximilian Brunner, B.A. M.A., ist Student der Geschichtswissenschaten im Doktoratsstudium an der Karl-Franzens-Universität Graz. Edda Engelke, Mag. et. Dr. phil., ist freiberuliche Zeithistorikerin in Graz. Robert Fiziker, PhD., ist Historiker und Oberarchivar im Ungarischen Staatsarchiv, Budapest. Georg Kastner, Mag. et. Dr. phil. Dr. phil habil., ist Dekan der Fakultät für Mitteleuropäische Studien und Leiter des Lehrstuhl für Mitteleuropäische Geschichte an der Andrássy Universität Budapest. Gusztáv Kecskés, Mag. et. Dr. phil., ist Senior Research Fellow am Institut für Geschichte des Forschungszentrums für Humanwissenschaten an der Ungarischen Akademie der Wissenschaten, Budapest. Richard Lein, Mag. et. Dr. phil., ist Assistent am Institut für Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie Oberassistent am Lehrstuhl für Mitteleuropäische Geschichte an der Andrássy Universität Budapest. Matthias Marschik, Dr. phil. habil., ist Lehrbeautragter der Universitäten Wien, Salzburg und Klagenfurt. Derzeit wiss. Mitarbeiter des Zentrums für Sportwissenschat und Universitätssport der Universität Wien. Martina Medolago, M.A., ist Kunsthistorikerin und Stipendiatin im Doktoratskolleg für Mitteleuropäische Geschichte an der Andrássy Universität Budapest. Johannes Mindler-Steiner, Mag. phil., ist Leiter des Afro-Asiatischen Instituts, Graz. Ibolya Murber, M.A. PhD. habil., ist Dozentin am Historischen Institut der Eötvös-Lóránt-Universität Budapest. homas Reichl, Dr. phil., ist Leiter der Abteilung Marketing und Öfentlichkeitsarbeit im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien. Karlo Ruzicic-Kessler, Dr. phil., ist wissenschatlicher Mitarbeiter am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaten, Wien Andreas Schmidt-Schweizer, M.A. Dr. phil., ist wissenschatlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaten des Zentrums für Humanwissenschaten der Ungarischen Akademie der Wissenschaten, Budapest. Arnold Suppan, Dr. phil., ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaten, Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaten. Csaba Szabó, Dr. phil., ist Generaldirektor des Ungarischen Nationalarchivs, Budapest. Gábor Szilágyi, PhD., ist wissenschatlicher Mitarbeiter des Amtes des Nationalen Gedächtnis-Komitees, Budapest. Helmut Wohnout, Dr. phil., ist Privatdozent für Österreichische Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz, Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt/Bundespressedienst und Geschätsführer des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, Wien.