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Hannes Obermair Obermair 11 Obermair: Macht, Herrschaft, Kultur Macht, Herrschaft, Kultur im Tiroler Alpenraum des 12. und 13. Jahrhunderts 12 Die etwas wolkige Themenstellung meines Referats will lediglich eine knappe und durchaus unsystematische Zusammenfassung von Forschungsergebnissen und Einschtzungen bieten. 1 Ich mchte einige Grundkategorien historischer Erklrung andiskutieren, die uns dabei helfen knnen, den hoch- und sptmittelalterlichen Zeitabschnitt in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive ins Auge zu fassen. Da die Tagung kunsthistorisch konzipiert ist, kann mein Beitrag nur Stichworte bieten bzw. mit Anmerkungen operieren. Ich will daher eher assoziativ vorgehen, um auf einer mittleren Abstraktionsebene und in aggregierter Form einige Entwicklungslinien auf den Punkt zu bringen, die das historisch-politische Umfeld des 12. und 13. Jahrhunderts in unserem Raum, aber auch darber hinaus, bestimmt haben. Erwarten Sie sich also nicht einen umfassenden Interpretationsansatz zur hochund sptmittelalterlichen Geschichte Tirols. Dafr sind – dies muss deutlich gesagt werden – auch die historiografischen Grundlagen nicht oder nur in unzureichender Weise vorhanden. Wir verfgen trotz reichhaltiger landesgeschichtlicher Literatur und von gut erforschten Einzelaspekten abgesehen noch ber kein konsistentes Erklrungsmodell fr die soziale Plastik des Tiroler Mittelalters. Ich mchte deshalb auch nicht weithin bekannte Tatsachen etwa zur Territorienbildung des 12. und 13. Jahrhunderts oder zu den antagonistischen Herrschaftsformen und -komplexen von kirchlicher Hoheit und weltlicher Landesbildung referieren, die sich mit den Stichworten Hochstift Brixen, Trient, Chur und Grafschaft Tirol verbinden lassen. 2 Eher soll es das Anliegen dieser Ausfhrungen sein, auf fehlende Dimensionen der Tiroler Medivistik hinzuweisen: Das sind aus meiner Perspektive insbesondere Fragen nach Macht und Herrschaft, nach den Zusammenhngen von Lebenspraxis, von »Lebenschancen« (im Sinne von Ralf Dahrendorfs Konzept) und politisch-konomischer Sphre. Dieser Ansatz ist nicht zeitgeistig-modernistisch gemeint, sondern will als Anstoß verstanden sein, um grundstzlich hinauszugelangen ber den Forschungsstand etwa eines Otto Stolz, Hermann Wopfner, Hans von Voltelini oder Franz Huter, also einer Historikergeneration, deren Erkenntnisse nach wie vor Grundlagenstatus beanspruchen drfen, deren Frageweisen und Erkenntnisinteressen aber einem berholten Wissenschaftsverstndnis angehren. Die große Leistung dieser »Generation X« war es – und ich lasse jetzt einmal die besonderen politischen Entstehungsbedingungen dieser Schule beiseite –, das historistische Paradigma auf beinahe alle Gebiete der Verfassungs- und Institutionengeschichte bertragen zu haben. Sie hat Werke mit Grundlagenstatus verfasst, auf deren Boden wir noch heute unsere Interpretationsversuche beginnen lassen mssen und knnen. Die Historikerkohorte der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts hat ein facettenreiches Regionalbild entworfen (denken wir nur an die monumentale »Politisch-historische Landesbeschreibung« von Otto Stolz) und ist in vielen Punkten durchaus anschlussfhig (Stichwort Territorienbildung), jedoch auch wieder berfordert bei Betrachtung von Unschrfefaktoren, von bikulturellen Phnomenen, von genetischen Prozessen. 3 Wir bentigen daher auch eine neue Metaphorik fr die Kunst sozialer Beschreibung vergangener Gesellschaftsformen im Tiroler Raum. Manche scheinbar eindeutigen Begriffe haben dabei ihre Definition verloren, denken wir an Adel, Lehenswesen, Kunst, Geld, Bauern, Burg, allesamt klassische Begriffe scheinbarer Eindeutig- keit. Vielleicht weil auch unsere heutige soziale Maschine einen globalen Kreislauf durchluft oder vielmehr eine »Mbiusschleife« ( Jean Baudrillard) und auch unsere historische Forschung davon nicht unberhrt bleiben kann. Dies hat gerade die durchaus eindrucksvolle Meinhard-Ausstellung von 1995 deutlich gemacht, die diesem Zeitabschnitt gewidmet war und trotz berzeugender Inszenierung unbersehbar aufgezeigt hat: 4 1. den uneinheitlichen Stand der Forschung; 2. Defizite im interpretatorischen Ansatz, der vielfach ber eine histoire ØvØnementielle, eine reine Ereignisgeschichte nicht hinauskommt; 3. und daher also kaum erkennbare qualitative Fortschritte gegenber der historiografischen »Grnderzeit« gebracht hat. Dies soll nun nicht auf ein Verdikt gegenber derzeitiger historischer Forschung im Tiroler Raum hinauslaufen, sondern will als Anregung verstanden sein, eine neue kulturelle Semantik anzudenken, wenn wir regionale Vergangenheit historisch interpretieren. Dabei meine ich freilich nicht einen souvernen Interpretationsakt, der uns allen suspekt geworden ist im Lichte der linguistischen Wende innerhalb der Sozial- und Humanwissenschaften. Ich denke vielmehr an eine Hinwendung auf die vormoderne Epoche des Mittelalters im Zeichen der historischen Kulturwissenschaft, die die aufgespaltenen Wissensfelder zusammendenkt, historisches, sozialgeschichtliches, kulturanthropologisches und kunstwissenschaftliches Material zusammenfhrt und gegen den Strich liest. Auch ich habe also – dies drfte bereits deutlich geworden sein – mehr Fragen als Ergebnisse, eigentlich fast nur Fragen und fast berhaupt keine Ergebnisse zu bieten, wobei auch die empirische Fundierung sicherlich zu wnschen brig lsst. Dennoch mchte ich im Folgenden in einer Art Dreischritt versuchen, Zugang zu finden zu diesen Basisdimensionen historischer Erklrung. Dabei sollen drei Themenbereiche angesprochen werden: 1. Macht und Herrschaft; 2. Kultur als Memoria/Gedchtnis sowie Erinnerungsfunktionen von Kultur; 3. die sozialen Rume, in denen Macht und Herrschaft realisiert werden, nherhin der kommunale Bereich. Fr die heutige Medivistik ist es kennzeichnend, dass man sich zwar weiterhin mit Adel, Knigtum, Territorialstaat bzw. kirchlicher Herrschaft befasst, dabei aber strker auf die Herrschaftspraxis, also die Verfassungswirklichkeit achtet und die Verfassung nicht an der Norm, sondern an den »Gewohnheiten« misst. 5 Damit richtet sich die Betrachtung nicht nur auf das Miteinander, sondern auch auf die Wirkung von Herrschaft auf die Beherrschten. So hat etwa der bekannte Rechtshistoriker Gerhard Dilcher – nach anglo-amerikanischem Vorbild – fr ein komplettes Umschreiben der Rechtsgeschichte im sozialgeschichtlichen Sinn pldiert. 6 Die westeuropische Forschung hat sich dementsprechend seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr so sehr der »Herrschaft«, als vielmehr der »Macht« als entscheidendem Faktor 13 Obermair: Macht, Herrschaft, Kultur 1. Herrschaft oder Macht? 14 zugewendet. Dies wird auch in den Titeln deutlich: Es hufen sich Publikationen mit power, pouvoir oder potere am Cover. Damit verbindet sich die Sichtweise, die Verfassung weniger institutionell, als in ihren komplexen, alle Ebenen erfassenden Beziehungsgeflechten zu betrachten und nach dem konkreten Funktionieren von Recht zu fragen. Der Begriff des Konflikts rckt dabei in den Mittelpunkt, weil er nicht mehr einem royalistischen, »staats»-bezogenem Gesichtspunkt folgt, sondern Politik eher in funktionalen, sozialhistorischen, ja systemtheoretischen Kategorien betrachtet. Wenn wir etwa versuchen, die im Tiroler Alpenraum des Hochmittelalters allgegenwrtigen Kmpfe um Vogteirechte konflikttheoretisch zu untersuchen, so erschließen sich uns neue Betrachtungsfelder. Gerade das Beispiel des Klosters Marienberg und der Vgte von Matsch ist hier sehr aussagekrftig: Die Hrte der matschischen Vogteiherrschaft, fr die die Ermordung des Abtes Hermann durch Vogt Ulrich II. im Jahre 1304 bezeichnend ist, wie auch die Beteiligung der Matscher an mehreren gegen die tirolische Oberhoheit gerichteten Adelsaufstnden sowie das stndig sprbare Streben der Familie nach Reichsunmittelbarkeit machen immer wieder die latenten Konfliktthemen sichtbar. 7 Die Praxis mittelalterlicher Konfliktfhrung ist sehr aufschlussreich fr die Wirklichkeit von Macht und Herrschaft: Typisch fr den Streitverlauf ist besonders die eigenartige Mischung von Kampf und Verhandlung. Sie verrt das stndige Bemhen der Kontrahenten, einen Status quo ante wiederherzustellen, ohne das Gesicht zu verlieren. Dies ist eine brauchbare Lesart fr die geradezu endemischen Auseinandersetzungen hochadeliger Familien, wenn wir etwa an den in der ersten Hlfte des 13. Jahrhunderts eskalierenden Konflikt der Grafen von Eppan und der Tiroler Albertiner denken. Ebenso luft die sog. Starkenberger Fehde des 15. Jahrhunderts in diesen kommunikativen Bahnen ab. 8 Es gab kontrollierte Schritte der Eskalation, die vom sogenannten »Unmut« unmittelbar in die Fehde fhrten und vielfach auch in echte kriegerische Auseinandersetzungen mndeten, wie etwa den eppanisch-tirolischen Kampf von 1235, der das definitive Ende der eppanischen Territorialpolitik und zugleich den Rckzug der Memoria nach Marienberg bedeutete. 9 Das Machtmodell ist wohl am besten beim englischen Sozialhistoriker Michael Mann beschrieben, der Max Weber produktiv wieder aufgegriffen und fortgeschrieben hat. Er hat dabei aus Webers Idealtypen sozusagen Realtypen gemacht und Macht vor allem als Zunahme der Infrastruktur, als Verdichtung von Logistik gedeutet. Diese Zunahme speist sich aus vielen Machtquellen hauptschlich ideologischkultureller, technischer, konomischer und militrischer Natur. 10 Sie realisiert sich idealtypisch in der europischen Fortschritts-Dynamik des 12. bis 15. Jahrhunderts, wobei Mann die Herausbildung des koordinierenden Staates, also des zentralisierten Territorialstaates als bedeutsamste Reglementierungsleistung des europischen Mittelalters bezeichnet. Herrschaftsbildungen beginnen nun organische Form anzunehmen, die das ltere vielfltige und vielfach fhrerlose Verbundsystem des Frhmittelalters nachhaltig, also dauerhaft mit gegenwartsbezogenen Folgen, berwindet. Der Raum Tirol bietet sich hier als Paradebeispiel fr eine spte, aber besonders intensive Herrschaftsbildung an. Ich mchte hier aber weniger die Ereignisse referieren: Fr Ereignisse lassen sich przise Zeitpunkte angeben, sie sind datierbar, man kann aber noch nicht die Struk- 15 Obermair: Macht, Herrschaft, Kultur turvernderungen bemerken, die sich hinter ihnen verbergen. 11 Ist unser Bemhen jedoch auf die Rekonstruktion des sozialen Wandels gerichtet, so wirft das die Frage nach Vorstellungen und Bildern auf, die sich vergangene Gesellschaften von sich selber machten. Wir bewegen uns damit auch – und hier befinden wir uns auf dem Schauplatz derzeitiger Theoriediskussion innerhalb der Geschichtswissenschaften – von der Frage, wie es gewesen ist, hin zur Frage, wie Geschichte gelesen wurde und wird. Dieses Revirement lsst sich auch beschreiben als Doppelbewegung von Konstruktion zu Dekonstruktion, von Historismus zu struktureller Betrachtungsweise. Damit wird die Frage zentral, wie Menschen Ordnungen, Strukturen und Vernderungen wahrgenommen haben, die ihre politisch-soziale Lebenswelt bestimmten. 12 Folgt man der These von Emile Durkheim, wonach »soziale Wirklichkeit« gleichbedeutend sei mit »moralischer Wirklichkeit«, ist sozialer Wandel im Kern Wandel der mentalen Wirklichkeit. 13 D. h. die Pole System und Umwelt bzw. Prozess und Struktur sind unmittelbar aufeinander bezogen. Nach einem geflgelten Wort von Max Weber: Die Weltbilder bestimmen als »Weichensteller die Bahnen (…), in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegen«. 14 Normensysteme, die das Verhalten von Menschen bestimmten, mssen daher als ein zentraler Bestandteil der Gesellschaft gelten. Im Sinne meines patchwork-artigen Argumentationsversuchs mchte ich einen direkten Sprung zum Tagungsthema, den romanischen Wandmalereien, wagen – und zwar unter den Schlagworten Macht und Herrschaft in Bezug auf »Kirche« als Sozialsystem, nicht als Architektur, und unter dem weiteren Schlagwort einer Vergangenheit, die nicht wiederkehren will. Romanische Wandmalereien gehren ja weniger einer Vergangenheit an, die nicht vergehen will, als vielmehr einer Epoche, die nicht wiederkehren kann. Eine Vergangenheit also, die in ihrer ganzen semantischen Fremdheit gedacht werden muss, sich aber in ihrer Andersartigkeit der Perspektivitt und Bedingtheit unserer historischen Betrachtung auch immer wieder erfolgreich entzieht. Wer genauer in Erfahrung bringen will, was denn Menschen dieser lang vergangenen Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts getan, gedacht und gefhlt haben, wird sich schwer tun, dies auch nur annhernd zu begreifen. Uns helfen weder Urkunden noch Archologie entscheidend weiter, wenn unser Interesse auf Mentalitten gerichtet ist. Natrlich: Quellen beantworten nur das, wonach sie befragt werden, dies ist eine banale Selbstverstndlichkeit historischen (und kunsthistorischen) Arbeitens. Daher stellt sich uns die Frage: Wie knnen wir Brcken schlagen zwischen kunsthistorischer und geschichtswissenschaftlicher Forschung und Argumentation? Vielleicht kann die »Kunst»- bzw. sthetik-Produktion eines Raumes, die in ihrer hochmittelalterlichen – oder kunstgeschichtlich gesprochen: romanischen – Konzentration selten so dicht wie im Vinschgau ist, als eine vergangene lebensprgende Formation aufgefasst werden, die in Spiegelungen, in symbolischen Formen, also als kulturelle Reprsentation einiges davon enthlt, was diese Lebenswelten geformt hat. In der Vorbereitung ist mir das Diktum von Karl Marx in den Sinn gekommen, der eine antike Paradoxie konstatierte: Wie konnte die »griechische Sklavenhaltergesellschaft« Formen von Kunst und epischer Dichtung hervorbringen, die »uns noch Kunstgenuss gewhren und in gewisser Bezeihung als Norm und unerreichbare Muster gelten»? 15 Hier liegt zwar bei Marx ein vormodernes Verstndnis von Kunst vor, dennoch ist die Fragestellung fruchtbar. Das Paradoxon findet seine Analogie in Kloster Marienberg. Wenn wir uns das faszinierende Engelsmotiv aus der Marienberger Krypta vor Augen halten, wer wollte dabei nicht an Walter Benjamins Angelus novus denken? In dieser sthetischen Erfahrung ist der himmlische Thronstaat, das himmlische Jerusalem/civitas dei-Motiv ganz augenscheinlich gegenwrtig. 16 Man schlgt natrlich das Buch des Geschehenen auf eine besonders problematische Weise auf, wenn man nur einen einzelnen Ausschnitt betrachtet. So unvermittelt prsentiert, wird daran auch das Maß an semantischer Verweigerung sichtbar, das auch in der erklrenden bersetzung in unser heutiges Weltbild nicht abhanden kommen will. Dennoch, wir haben gegen diese Bilder unser von Quellen und Kategorien erflltes Wissen um eine Feudalgesellschaft mit gewaltfrmigen Beziehungen zu setzen, die gerade im 12./13. Jahrhundert ihre zentrale Formationsperiode durchluft, in der der Territorialherr, ob nun die »Landesbischfe« von Brixen, Trient oder Chur oder der Tiroler Landesfrst bzw. sonstiger Hochadel, große Teile des Sozialprodukts der Region besitzen. Die beiden Pole symbolische Reprsentation versus real existierender Feudalismus mssen daher zusammengebracht und zusammengedacht werden, um ein angemessenes Verstndnis mittelalterlicher Kunst-/sthetikproduktion zu ermglichen. Nun ist das kunstwissenschaftliche Instrumentarium ein Kind des 19. Jahrhunderts. Ars im 12. und 13. Jahrhundert meint in der aristotelisch-scholastischen Tradition die Nachahmung von Natur im Sinne von Thomas von Aquins imitatio naturae, ist also keine ausdifferenzierte Sphre, sondern hat mit Kunstfertigkeit zu tun. »Kunst« mssen wir als Begriff unter Anfhrungszeichen setzen. 17 Mittelalterliches sthetikverstndnis – hier der Schnittpunkt zu unserer Betrachtung – kann aber als wichtige Dimension verstanden werden, um uns einem mit Leben gefllten Gesellschaftsverstndnis anzunhern. Daher noch einmal zur Marienberger Krypta: Wer je davor gestanden hat, wird die Aura dieses Ortes und dieser Darstellung gesprt haben. Aura ist jenes Fluidum, das im Prozess der Moderne und der Modernitt verloren gegangen zu sein scheint. Marienberg ist geradezu der Typus des mittelalterlich-vormodernen Kairos, des rechten Augenblicks, so wie ihn etwa Sigmund Freud in seiner berhmten Interpretation von Michelangelos Moses-Statue hermeneutisch umrissen hat. Ulrich Raulff hat diese Phnomene im Rahmen von Zeitkonzepten gedeutet, die so verschieden von unserer heutigen Zeitwahrnehmung sind und in ihrer langen Dauer – im Sinne von Fernand Braudel – von uns Zeitgenossen kaum angemessen zu begreifen sind. 18 Aber natrlich historisch rekonstruiert werden knnen. 2. Kultur als Memoria 16 Ich habe die Marienberger Fresken nicht nur deshalb erwhnt, weil sie den Tagungsanlass gut reflektieren. Sie gewhren uns auch einen guten Blick auf einen wenngleich stilisierten und idealisierten Alltag monastischen, aber auch adeligen Seins 17 Obermair: Macht, Herrschaft, Kultur im 12. und 13. Jahrhundert und fhren damit unmittelbar hinein in die Gedchtnisund Erinnerungsfunktionen von bildlicher Kunst. In der kirchlichen »Kunst« – sie ist omniprsent in vormoderner Zeit, was auch Ausdruck der berragenden kulturellen Definitionsmacht von »Kirche« als Institution ist – begegnet auf deutliche Weise das theologisch-kirchliche Bildmotiv- und Darstellungsmonopol. Damit ist die ideologisch-systemkonforme Funktion von mittelalterlicher Kunst angerissen, wobei hier mehrere Motive gebndelt sind. Greifen wir den untrennbar verknpften konomisch-sozialen Aspekt heraus, so sticht ein durchgehendes Muster des »Schenkens«, der Gtervergabe an die heiligen Orte der Kirchen ins Auge, tausendfach verewigt in den schriftlichen berbleibseln der mittelalterlichen Klosterarchive: Adelige, die in den Konventen massiv prsent sind, stiften ihren Profanbesitz an den Heiligen dieser Kirchen und suchen auf diese Weise die Nhe des Heiligen, die neighborhood of the saints. 19 Marienberg als Gedchtnisstiftung der Tarasper ist ein Ort von Memoria, des kultischen Gedenkens und der im liturgischen Gebet erreichten Gemeinschaft von Lebenden und Toten. In dieser »Hauskloster»-Funktion manifestiert sich der Wunsch nach berzeitlichkeit des Adels. Es geht hier ganz zentral um den Zusammenhang von Heiligenverehrung und Politik, um die politischen Dimensionen von Religiositt, die man unter semiotischen, ritualistischen, aber auch konomischen Gesichtspunkten betrachten kann. Schenken, d. h. bertragen von Besitz, ist zentral auch ein Akt der Selbstheiligung. Es ist daher ein sinnvolles »Parken« von Adelsbesitz. Der Vorgang kann anthropologisch als Gabentauschsystem beschrieben werden: Werden Grundbesitz und Heilsmittel getauscht, so wird der Besitz dem freien Flottieren entzogen und geschlossenen Kreislufen eingeschrieben. Dies ist unmittelbar sichtbar in den Traditionsbchern und Urbaren, den reichhaltigen Klosterarchiven, die ja nicht nur Rechtsbastionen, sondern auch Dokumente kulturellen und sozialen Handelns auf einem spezifischen Hintergrund sind. Urkunden sind die Fetische dieser adelig-monastischen Mentalitt und Lebenswelt und von uns – jenseits philologisch-editorischer Aspekte – auch wie archologische Artefakte zu betrachten, wenn wir den ihnen eingeschriebenen Sinn verstehen wollen. 20 Es lohnt sich, die manifesten und die latenten Funktionen dieses kulturellen bzw. kultischen Handelns zu beachten. Der zeremonielle Rahmen bietet einen wichtigen Erklrungszusammenhang, wie Robert K. Merton in einer bereits klassischen Studie am Beispiel der Hopi-Indianer gezeigt hat. 21 Auch deren Regentnze, die in der rational-manifesten Absicht der Herbeifhrung von Regenfllen veranstaltet wurden, fhrten nicht immer, meistens sogar nicht zum Erfolg, doch ihre – ungeplant-latente – Folge war die gesteigerte Gruppensolidaritt. 22 Auch in den mittelalterlichen Konventen konnte die Nhe zu Heilsmitteln und Sakramenten wohl kaum grundlegend die Lebensqualitt steigern, weder fr die Konventsmitglieder noch fr den Adel, aber es ergaben sich dennoch wichtige funktionale Effekte, die in Memorialleistungen, der Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten, den liturgischen und sozialen Gedchtnisfunktionen, begrndet lagen. Zur Legitimationsgrundlage des Ortes Kloster wurde so der »Ressourcentausch« zwischen dem Konvent und den lndlichen Eliten, d. h. das Kloster vergab mter gegen Loyalitten und umgekehrt. Auf diese Weise konstituierte sich ein wichtiger sozialer Raum, zu dessen Reprsentationsformen bzw. zu dessen Selbstreflexion und Selbstbewusstsein auch die Fresken mit ihren vielfltigen theokratischen Bezgen gehren. Ein Raum, der der allenthalben sprbaren Tendenz zur »Spiritualisierung« des sozialen und wirtschaftlichen Handelns einen wichtigen Rahmen bot. 3. Soziale Räume 18 Ein weiteres Großthema, das zum Zusammenhang von Macht und Herrschaft gehrt, sind die mittelalterlichen Stdte und Gemeinden. Ich mchte es in die Frage kleiden: Wie organisieren sich die sozialen Rume, in denen Macht- und Herrschaftsstrukturen vielfltig verlaufen? Kommunalisierung ist ein europisches Forschungsthema von großer Faszinationskraft und Aktualitt. Kommunale Strukturen mit ihrem verbandshnlichen Charakter wirken als soziale Container, in denen soziale Dichte und Nhe eine erste ffentliche Dimension besitzen, also nicht nur in quantifizierbarer Form vorhanden sind und produziert werden. Dies hat gerade Rainer Loose 1976 sehr eindrucksvoll am Beispiel des Oberen Vinschgaus genetisch zu erklren versucht. Loose hat die soziale und wirtschaftliche Dynamik dieser Siedlungen, die ja das eigentlich Neuartige, den originellen Beitrag des Frh- und Hochmittelalters zur europischen Kulturentwicklung darstellen, konzeptionell auf berzeugende Weise neu zu fassen versucht: 23 – Gesellschaften vom Face-to-face-Typ formieren sich in den verdichteten curtesSiedlungen vom sptkarolingischen Villikationstyp. – Wichtigste Determinanten sind die von Grundherren definierten und mitgestalteten berregionalen Wirtschaftsbeziehungen, etwa der Export von Schafwolle und Lodentuch in die hochentwickelten lombardischen Wollindustriezentren, der etwa ber die Mrkte Glurns und Mals fhrt und einen wichtigen kausal-funktionalen Zusammenhang darstellt. – Die zentralpine Lage des Gebiets im Schnittpunkt bedeutender Alpenwege von Nord nach Sd und von West nach Ost ist das Grundmuster einer geopolitischen Situation von besonderer Dynamik: Die Lage an den alpenquerenden Korridoren von Brenner und Reschen bedeutet die Teilhabe an den zentralen transkontinentalen Waren- und Geldstrmen. – Darauf aufbauend erfolgt die Verdichtung der zunchst kleinrumigen Siedlungen zu geschlossenen Ortschaften. Der Vorgang wchst exponentiell seit dem 14. Jahrhundert. – Entscheidend ist auch die von Loose vollzogene Loslsung von lteren ethnosoziologischen Grundannahmen wie der Gleichsetzung dichter Verbauung mit romanischer Haufensiedlung und der Einzelhofsiedlung mit germanisch bestimmter Kulturleistung. Hier handelt es sich um Ideologeme, die im Hobsbawmschen Sinne als re-invention unter den Bedingungen national ausdifferenzierter Wissenschaftstraditionen des 19. (und auch 20.) Jahrhunderts entwickelt wurden. 24 19 Obermair: Macht, Herrschaft, Kultur In solchen Gemeinwesen vollzog sich auch ein fundamentaler Prozess, der am Beginn des abendlndisch-neuzeitlichen Sonderwegs steht: Die Ausformung von Herrschaftsrumen zu Rechtsrumen geschah in Formen ffentlicher Kommunikation, die weit ber die »reprsentative ffentlichkeit« hinausreichen, die Jrgen Habermas der historisch-konomischen Formation des Feudalismus zugewiesen hat. 25 Zu Beginn der 1980er Jahre hat Roger Sablonier am Beispiel der Nordostschweiz weitergehende wirtschafts- und sozialgeschichtliche Beschreibungsfiguren entwickelt, die noch heute Programm sind. In Hinblick auf die Gemeindebildungsprozesse konstatierte er folgende Vorgnge: – zunehmende konomisierung des Siedlungsverbandes im hochmittelalterlichen Prozess – die frhe Urbanisierung stellt die Rahmenbedingungen fr die ursprngliche Akkumulation bereit; – herrschaftsfunktionale Aufwertung als Steuergemeinden; – soziale Differenzierung; – Aufwertung der Kirche als Symbol- und Kultort; – Aufwertung des Gemeindebewusstseins bei Grenzstreitigkeiten usf. Dieser Prozess der Kommunalisierung wird im mediterranen und norditalienischen Raum vorgeprgt und erfasst schließlich ganz Europa, das atlantische Europa, dessen Schwerkraft seit dem 14. und 15. Jahrhundert die Weltentwicklung bestimmt. Hier werden die Grundlagen fr jenes wirtschaftliche System geschaffen, das von Werner Sombart mit dem Begriff »Frhkapitalismus« belegt wurde. Die vielgliedrige Matrix dieser Gemeindebildungsprozesse mit je unterschiedlichen Eigenformen hat Chris Wickham am Beispiel von Lucca im berregionalen Vergleich herausgestellt. 26 Dort besteht natrlich eine außerordentlich abundante berlieferung, aber auch fr den Raum Bozen-Trient haben wir bereits im 13. Jahrhundert ein ebensolches »berlieferungsglck«, wenn wir den Ausdruck von Arnold Esch gebrauchen wollen. Die Regionalforschung ist hier durchaus anschlussfhig, wenn wir an die intensive Statutendiskussion des Trentino denken. 27 Hier werden auch die Rechtsgrundlagen fr die Kommunalbildung sichtbar, wobei jede Kommune einen anderen Weg in die Gemeinde reprsentiert, jedoch vom gleichen Vorgang der Kohrenzgewinnung bestimmt ist. Fr eine speziellere Periodisierung knnte man mit Immanuel Wallersteins Vorstellung vom wirtschaftlichen Zusammenschluss des Nord-Ost-See-Raumes mit dem Mittelmeerraum zur »European World Economy« argumentieren. 28 In diesem globalen Sonderweg stellen die inneralpinen Rume und Kommunalverhltnisse nun keinen eigentlichen nochmals untergeordneten Sonderweg dar. Immerhin rezipieren sie jedoch im 12. und 13. Jahrhundert, also in einer frhen Phase, sdalpin-italienische Kultur- und Sozialformen, die neben die nordalpinen sddeutschen Grundherrschaften treten und gerade in der meinhardinischen Phase (aber auch schon bei den tirolischen Albertinern) zu exorbitanten Anpassungsleistungen fhren. Dies wird besonders deutlich am Beispiel der zunehmenden Schriftlichkeit und des Notariats als dem maßgeblichen »Textverarbeitungsprogramm« des 12. Jahrhunderts, das ber die Bischofskirchen von Trient und Chur in den stlichen Zentralalpenraum vermittelt wird. Nun wirken Rechtsformen und Kulturtechniken des Sdens auch als Transmissionsriemen fr die gesellschaftliche Modernisierung des die beiden Kultur- und Wirtschaftsrume Deutschland und Italien verbindenden Tiroler Alpenraums. 29 Die stdtische Entwicklung in diesem Raum speist sich aus zwei Quellen, aus der Nhe zu oberitalienischen Kommunalisierungsformen und aus den wirtschaftlichen Praktiken des transkontinentalen Handels (Hndlervereinigungen in Flussnhe, Personenverbandsstrukturen genossenschaftlichen Charakters). Es ist wichtig, diese »intelligenten Nacherfindungen«, die wir etwa in Bozen beobachten knnen, 30 nicht als isolierbares, z. B. rein rechtlich definiertes Phnomen zu deuten, wie dies der vorwiegende Interpretationsstrang der landesgeschichtlichen Literatur war. Als noch zu leistende Aufgabe der Kommunalisierungs- und Urbanisierungsforschung ist auch deren theoretische Fundierung einzuholen, die sich etwa mit den von der soziologischen Forschung bereitgestellten Idealtypen messen muss. Auch darf dabei nicht der administrativen Einheit eines Territoriums, der Grafschaft Tirol im Mittelalter, die zentrale Rolle zufallen. Im Mittelpunkt unserer Betrachtungen sollte vielmehr jener besondere »Aggregatzustand« im Sinne von Jrgen Reulecke stehen, wie sich ein Lebensraum konstituiert und konkreten Menschen gegenber darstellt. 31 4. Schluss 20 Macht und Herrschaft haben mit Recht zu tun und zwar mit »Recht« als Kommunikationsmedium. Die neuere Anthropologie hat gezeigt, dass Recht als Normgebung und -setzung nicht so sehr ein System von Strafen zur Konfliktregelung ist, sondern vielmehr ein auf Interaktion beruhendes Kommunikationssystem, in dem Werte getauscht werden, die akzeptable Beziehungen zwischen Mitgliedern eines Verbandes ermglichen. 32 Wenn wir der vorherigen Bewegung von Herrschaft zu Macht, von der aus den Rechtsquellen abgeleiteten Theorie hin zur effektiven Rechtspraxis, folgen wollen, dann sind wir zum Nachdenken ber manche eingefahrene Forschungsposition gezwungen. Dass ein Denken in rein rechtlichen Kategorien nicht mehr befriedigen kann, demonstriert eindrucksvoll die angelschsische Forschung. So bezweifelt etwa Susan Reynolds die fr die deutsche Medivistik geradezu »heilige« Bedeutung des Lehnswesens. 33 »The Making of Europe« von Robert Bartlett trgt in der deutschen bersetzung den bezeichnenden Untertitel »aus dem Geist der Gewalt« als bewusste Gegenperspektive zum frheren Aspekt der staatlichen/territorialen Ordnung – auch hier vor dem Hintergrund der konflikttheoretischen Perspektive auf Geschichte. 34 Es wre beraus spannend, diese Anstze auf die Konflikt- und Landfriedensregelungen im Tiroler Raum anzuwenden, wo wir die altbekannten Quellen nun nicht mehr als »Zeugnisse fr das Geschehen«, sondern als Instrumente der Machtkontrolle betrachten sollten, die von ihrem Funktionswert her auszuwerten sind. Das bedeutet ein Sich-Abwenden von den Handlungen und ein Sich-Zuwenden zu deren Formen, Strukturen und Mechanismen. Auch die gegenwrtige Forschung im Tiroler Raum ist von einer tief eingewurzelten Abneigung gegen strukturgeschichtliches Denken geprgt: So haben wir eine Mnzgeschichte ohne jegliche Geldgeschichte, 21 Obermair: Macht, Herrschaft, Kultur also ohne Frage nach den Funktionen von Geldwirtschaft, eine Adelsforschung ohne Gesellschaftsgeschichte, also ohne Ansatzpunkte, die etwa die hoch- und sptmittelalterliche Gentrification des regionalen Adels zu beschreiben sei. 35 Ich mchte meine Argumentation thesenartig zusammenfassen und damit zugleich ein Pldoyer fr eine erneuerte Grundlagenforschung mit erneuerten Frageinteressen verbinden: 1. Tirol als große Metaerzhlung wurde in der regionalen Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts immer schon vorausgesetzt und zugleich als großes Epos stndig neu entworfen. Als statische Grße und gleichsam außerhistorisches Gebilde wurde dabei das irgendwann so Gewordene immer schon vorausgesetzt. Diese implizite und nicht hinterfragte Teleologie und Gerichtetheit des historischen Denkens hat eine Erzhlstruktur von Geschichte erzeugt, die nicht mehr danach gefragt hat, weshalb unter den verschiedenen Mglichkeiten gesellschaftlicher Evolution eine bestimmte realisiert wurde und eine andere nicht. 2. Dieser berraus wirksame regionale Historismus definiert die Ordnungsgrße »Region« in aller Regel territorial. Dagegen mchte ich eine Sichtweise verteidigen, die Regionen als Konstrukte auf der Basis bestimmter Themen betrachtet. Die moderne Regionsdebatte hat gezeigt, dass territoriale Definitionen durch themenbezogene zu ersetzen bzw. ergnzen sind. Regionen sind Grenzlandschaften, haben keine scharfen Grenzen, ihre Grenzen sind fließend zu denken. Neben den politischen sind auch konomische, soziale und kulturelle Grenzen und Unterschiede zu beachten, jedoch stets mit dem Mut zur Unschrfe, gewissermaßen im Geist einer fuzzy logic des historischen Denkens. Innerhalb der Region »Alttirol« hat es beispielsweise kirchlich hauptschlich drei Dizesen gegeben. Sie hatten unterschiedliche religions- und allgemeinpolitische Ziele. Wenn wir die inneralpine Region strker strukturell definieren, im Sinne von Ulrich Pfister unter dem Gesichtspunkt von strukturell hnlichen Produktionsfaktoren und Austauschbeziehungen, rcken die Waren- und Geldstrme in den Vordergrund. 36 Das ffnet den Blick fr spezielle Abhngigkeitsverhltnisse und Interdependenzen, die einem Territorium innere Kohsion verleihen, die grßer ist als die einzelnen Variablen, die Differenzen aufweisen – wir sollten daher, etwas plakativ gesprochen, den »Oberen« und den »Unteren Weg« neu betrachten. 3. Im Sinne des Tagungsthemas ist fr den Tiroler Raum ein neues Verstndnis von Adel als bestimmender sozialer Formation des Mittelalters gefordert. Dessen Sozialbeziehungen kristallisieren sich ganz wesentlich um Kirche als: – Reprsentationsbau; – geistliche Herberge fr Lebende und Tote; – Rechtsbezirk/Distrikt mit Schriftlichkeit als zukunftsorientierter Kulturtechnik. Hier zu integrieren ist Gadi Algazis These von der sozialen Produktion von Gewalt. 37 Sie zielt auf die Dekonstruktion und Umwertung des Otto Brunnerschen Modells eines auf gegenseitigen Verpflichtungen beruhenden, im wesentlichen harmonischen, vom Begriffspaar »Schutz und Schirm« bestimmten Verhltnisses von Bauern und Herren/Adel. Algazis produktiv zu nutzende Thesen sind: – Es besteht ein unorganisiertes Monopol des Herrenstandes auf die Hauptmittel von Gewalt und Herrschaft; – Um ihre Ansprche durchzusetzen, fhren die Herren gegeneinander Fehden, in denen vor allem Bauern getroffen werden; – Die Fehden der Herren produzieren bzw. reproduzieren ein Schutzbedrfnis der Bauern; – Unter der Bedingung des Herrschafts- bzw. Gewaltmonopols der Herren fhrt das Schutzbedrfnis zur (erneuten) Unterwerfung der Bauern unter die Herren. Dieser Kreislauf von Macht, Herrschaft und struktureller Gewalt ist als Grundbedingung des Sozialen im Tiroler Mittelalter erst noch aufzuspren. 4. Mittelalterliche »Kunst«-Zeugnisse sind vor einem kulturwissenschaftlichem Hintergrund als kulturelle Codes und symbolische Ausdrucksformen zu betrachten und als Systeme von Bildlichkeit und von Schriftlichkeit aufzufassen. 38 Sie bilden die Asymmetrien der mittelalterlichen Gesellschaft mit ab. Die herrschende Sozialordnung ist bildlichen Darstellungen (aber ebenso auch den Urkunden) geradezu eingeschrieben. Es ist kein Zufall, dass im 12. und 13. Jahrhundert sowohl Darstellungs- wie Schriftmonopol bei der Kirche und sukzessive dem Adel liegen. Erst spter treten die neuen urbanen Systeme hinzu. Ausgehend von dieser breit belegten Praxis mssen wir uns die Frage erneut stellen, welche gesellschaftlichen Stabilisierungserfordernisse, welche kulturellen Differenzen mit symbolischen Formen verbunden sind, wie sie in den romanischen Wandmalereien zum Ausdruck kommen. Zur Kenntnis von lngst vergangenen, von »verlorenen« Lebenswelten bieten sich die Fresken vom Typ Marienberg als Schnittstelle von historischer, kulturwissenschaftlicher und kunsthistorischer Betrachtung und Forschung geradezu an. 22 900 Jahre Benediktinerabtei Marienberg 1096–1996. Festschrift zur 900-Jahr-Feier des Klosters St. Maria (Schuls-Marienberg), hg. vom Sdtiroler Kulturinstitut, Lana 1996. Albertoni, Giuseppe: Le terre del vescovo. Potere e societ nel Tirolo medievale (secoli IX–XI) (Gli Alambicchi 12), Torino 1996. Algazi, Gadi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im spten Mittelalter (Historische Studien 17), Frankfurt/New York 1996. Bartlett, Robert: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. 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Miethke/Schreiner, Innenansichten. Durkheim, Elementare Formen, 566. Vgl. auch Oexle, Statik. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 291; Ders., Wirtschaftsethik, 101 (fr den Hinweis danke ich Michael Matthiesen, MPI Gttingen, sehr herzlich). Marx, Grundrisse, 31. Vgl. Madersbacher, Marienberger Kryptafresken. Vgl. auch den atmosphrisch dichten Band Wege zur Romanik sowie Stampfer/Walder, Romanische Wandmalerei. Vgl. Reichenberger, Was wissen wir, 49–79. Raulff, Augenblick, bes. 50 ff. u. 72 ff. 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 Rosenwein, Neighbor. Vgl. die aussagestarke Fallstudie von Hildbrand, Herrschaft, Schrift und Gedchtnis. Merton, Manifest and Latent Functions, 19–84. Vgl. die konzise Zusammenfassung bei Esser, Soziologie, 370 ff. Loose, Siedlungsgenese, 227–234. Dazu Hobsbawm, Invention. Habermas, Strukturwandel, 14 ff. (vormoderne »ffentlichkeit« als »Statusmerkmal« in Anlehnung an die Kategorienbildung Carl Schmitts); dazu Krber, ffentlichkeiten. Vgl. Wickham, Community. Einen guten berblick bietet Bellabarba, Statuti. Wallerstein, Modern World-System. Vgl. Clavadetscher, Notariatsurkunde. Obermair, Chiesa, 155 ff. Vgl. das engagierte Pldoyer bei Reulecke, Stadtgeschichte, 13–23. Vgl. Rouland, Confins. Zum Interaktionscharakter der sptmittelalterlichen Rechtspraxis s. Algazi, Herrengewalt, 168 ff. Reynolds, Fiefs and vasalls. Bartlett, Geburt Europas. Vgl. etwa das technisch exzellente Handbuch von Rizzolli, Mnzgeschichte, und den materialreichen Beitrag von Pfeifer, Nobis servire tenebitur, im Lichte von Kaufhold, Numismatik, und Sablonier, Adel im Wandel. Pfister, Subregioni, 219–221 (Konzept der path-dependance). Algazi, Herrengewalt. Zum Forschungsstand vgl. das Resmee von Lindner, Cultural Studies.