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Rezension Sundhausssen Geschichte Jugoslawiens 1943-2011

Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Wien [u.a.]: Böhlau 2012, 567 S., EUR 59,00 [ISBN 978-3-205-78831-7] Aleksandar Jakir Online erschienen: 23.10.2015 | DOI: https://doi.org/10.1515/mgzs-2015-0020 Erschienen im Druck: 01.10.2015 Quellenangabe: Militaergeschichtliche Zeitschrift, Band 74, Heft 1-2, Seiten 235–238, ISSN (Online) 2196-6850, ISSN (Print) 2193-2336, DOI: https://doi.org/10.1515/mgzs-2015-0020.

Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen Böhlau Verlag, Köln 2012. ISBN 9783205788317 Gebunden, 567 Seiten, 59,00 EUR 40 s/w-Abbildungen, 11 Tabellen, 1 Karte. Der unlängst verstorbene Südosteuropahistoriker Holm Sundhaussen prägte mit seinen Werken die deutschsprachige Südosteuropaforschung und die Interpretation der Geschichte Südosteuropas im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten maßgeblich, worauf zurecht in den ihm gewidmeten Nachrufen hingewiesen wurde, ebenso wie auf seinen der Aufklärung verpflichteten, aber von Zweifeln geprägten Humanismus. Sundhaussens Geschichte Jugoslawiens, die er als „ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen“ interpretiert, hat das zweite, sozialistische Jugoslawien zum Gegenstand, es beginnt mit seiner Gründung noch während des Zweiten Weltkriegs, und es endet mit der Schilderung des „postjugoslawischen Raums“ zwanzig Jahre nach dem Zerfall des jugoslawischen Staates. Die Darstellung der Entstehung und des Endes des sozialistischen Jugoslawien bilden das Zentrum des vorliegenden Buches (37-306). Der zweite Teil, der „Ex-Jugoslawien“ überschrieben ist (309-514), ist den „postjugoslawischen Kriege“ und den „Reaktionen des Auslands“ gewidmet. „Neuanfänge und Krisen“ in den Staaten, die auf dem Gebiet des im Krieg zerfallenden Jugoslawien entstanden, werden ebenso geschildert wie Aspekte der Geschichte der sieben Nachfolgestaaten. Aber auch hier geht es in erster Linie um die Auseinandersetzung mit der Frage „Was war Jugoslawien?“ und warum gibt es dieses Land, dessen große kulturelle und ethnische Vielfalt auf kleinem Raum, wie der Verf. gleich zu Beginn betont, sein „Hauptmerkmal“ (14) gewesen war, heute nicht mehr? Untersucht werden in diesem Werk, das als Versuch gelesen werden kann eine historische Bilanz der Geschichte des zweiten Jugoslawien zu ziehen, Ereignisse, Akteure und Strukturen, die völkerrechtlichen Aspekte des Zerfalls dieses Staates, die Rolle des Auslands, die Gewalt in den 1990er Jahren sowie die Transformationsprozesse in den Nachfolgestaaten. Der zweite Teil des Buches, der „Ex-Jugoslawien 1991-2011“ überschrieben ist, enthät zudem zwei „Exkurse“: „Über die Vollstrecker der Massengewalt“ und „Über die mentale Seite der Kriege: „Orientalismus“, „Balkanismus“ und „Okzidentalismus“. Ein Anhang bestehend aus Tabellen (521-534), mit Daten zu Wirtschaft und Gesellschaft, und einem detailliert gegliederten Quellen- und Literaturverzeichnis (535-558), das Monographien und Sammelbände verzeichnet, sowie ein Abbildungsverzeichnis und ein Personenregister runden dieses gewichtige Werk ab. Holm Sundhaussen hat mit dieser Monographie noch eines seiner „großen“ Monographien vorgelegt zu einem Raum, mit dem er sich ein Forscherleben lang beschäftigt und auseinandergesetzt hat. Festzustellen ist aber, dass die Passagen des Buches, in denen es um die jüngsten Entwicklungen in den „postjugoslawischen Staaten“ geht, zurückbleiben hinter dem ersten Teil. Die Schilderungen der aktuellen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Zustände der Staaten, die an die Stelle des untergegangenen sozialistischen Jugoslawiens getreten sind, können den Eindruck nicht zerstreuen, dass es sich bei der am Schluss geäußerten Meinung des Verf., dass keiner dieser Staaten – auf sich gestellt – die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wird bewältigen können und „jemals die Bedeutung erlangen (wird), die Jugoslawien einst hatte“ (517) vielleicht doch eher um einen „jugonostaligischen“ Reflex als um ein nüchternes historisches Urteil handelt. Luwig Steindorff hat in seiner Rezension auf deutliche Lücken in der Darstellung hingewiesen, insbesondere was die von Belgrad aus geförderte nationale Mobilisierung der Serben in Kroatien aus anbelangt, und auf das Fehlen der Erwähnung von Ereignissen, die deutlich machen, dass es die serbische Politik war, die nicht nur in Intention und Ausmaß der Gewalt am weitesten gegangen ist, sondern auch immer wieder die Eskalation vorangetrieben hat. Tatsächlich wirkt es befremdlich, wenn die serbische Offensive und die damit seinerseits einhergehenden ethnischen Säuberungen beispielsweise in Nord- und Ostbosnien im Frühjahr 1992 als „Vorwärtspanik“ (330) bezeichnet werden. Ebenso ruft die Hauptthese des Verf., dass in einem bestimmten historischen Moment die politischen und gesellschaftlichen „Eliten“ kein Interesse mehr an der Existenz Jugoslawien hatten, sicher nicht nur Zustimmung hervor. In seinem Schlusswort (515-517) weist der Verf. auf die "komplizierteren Begründungen“ für die Existenz des jugoslawischen Staates hin. Seiner Meinung nach beruhte der Vielvölkerstaat Jugoslawien auf vier Annahmen: „1. dass eine Aufteilung Jugoslawiens nur mit Gewalt zu realisieren ist, 2. dass die jugoslawischen Völker eng miteinander verwandt sind und neben manchen Unterschieden auch viele Gemeinsamkeiten besitzen, 3. dass sie gemeinsame Interessen haben und sich gegen eine Bedrohung von außen gemeinsam besser wehren können als jede Nation einzeln und 4. dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Jugoslawiens zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in einer Sackgasse gelandet war und dass es einer großen gemeinsamen Anstrengung bedurfte, um einen Ausweg zu finden.“ Am Ende der 1980er Jahre habe von den vier Annahmen „nur noch eine – die erste – Bestand“ gehabt. Hier kann nicht auf die problematischen Implikationen insbesondere der „Annahmen“ Nr. 2 und Nr. 3 eingegangen werden, aber ein Gedankenexperiment, zu welchen Ergebnissen solche Annahmen wohl in anderen Gebieten Europas führen würden oder geführt haben, erscheint hilfreich. Andererseits ist Sundhaussen sicher Recht zu geben, wenn er darauf hinweist, dass ein stabiles rechtsstaatliches Institutionengefüge in Jugoslawien gefehlt habe, ebenso wie eine Zivilgesellschaft, was Politikern wie Eliten Spielraum verschafft habe die bisherige „Staats- und Gesellschaftordnung in sich zusammenstürzen“ zu lassen (516). Diese Entwicklung sei in „Intellektuellendiskursen seit Jahren“ vorbereitet worden. Gemeinsame Anstrengungen „gewendete(r) Politiker, Intellektuelle(r), Geistliche(r) und Journalisten“ hätten „namhafte Teile der Bevölkerung“ verstanden „zu mobilisieren und ihnen einzureden, dass die Interessen der Eliten auch ihre Interessen seien.“ Zustimmend zitiert Sundhaussen das Verdikt des polnischen Publizisten Adam Michnik: „Schlimmer als die Kommunistenn sind nur noch die Antikommunisten“. Dies, so Sundhaussen, habe „den Kern der Sache“ getroffen. Es habe sich daraufhin ein epistemologischer Zusammenbruch ereignet (erinnert wird an „Deutschland im Zeitalter der Weltkriege: ein ähnlich dumpfer Nationalismus und Hurra-Patriotismus, eine ähnliche Ignoranz, ähnliche Opferfantasien, eine ähnliche Bereitschaft zur Gewaltanwendung, eine ähnliche Unfähigkeit der Erlebnisgeneration, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzten, usw. Alles wie gehabt. Es wäre ungewöhnlich gewesen, hätte sich die Bevölkerung in Jugoslawien anders verhalten, als sie es tat. Überall auf der Welt lassen sich Menschen für Krieg oder Frieden, Diktatur oder Demokratie, Gott oder Teufel begeistern, sobald es gelingt, einen entsprechenden „Mainstream“ zu generieren“ (516). In verschiedenen Besprechungen des Buches, die insbesondere die multiperspektivische Sicht des Verf. hervorheben, wurde bemerkt, dass Sundhausssen die Kriege der 1990er Jahre als ethnische Kriege einschätzt. Die von allen Konfliktparteien vorgenommenen ethnischen Säuberungen, so Sundhaussen, waren nicht Begleiterscheinung, sondern Ziel der Kriege und standen in der Tradition einer jahrzehntelang von der internationalen Gemeinschaft akzeptierten Strategie zur »Lösung« zwischenstaatlicher Konflikte. Eine Schlüsselrolle kam den paramilitärischen Banden zu, die im Auftrag oder mit Duldung der jeweiligen Führungen agierten. Den Hass  als singuläre Erklärung lässt Sundhaussen nicht gelten. Hinzu gekommen seien Überlebensstrategien, das Ausleben von Gewaltfantasien, Bereicherung/Plünderung. Viele Gedankenanstöße und ein immense Vielfalt und Zahl von ausgewerteten Quellen und Literatur, mit denen sich der Verf. auseinandersetzt (und die er in 1075 Fußnoten anführt) finden sich in dieser lesenswerten „ungewöhnlichen Geschichte des Gewöhnlichen“ zur Geschichte eines Staates, der im 20. Jahrhundert existierte und unterging. Für jeden, der an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung insbesondere der Geschichte des sozialistischen Jugoslawiens und seines Endes interessiert ist, stellt dieses Buch eine Pflichtlektüre dar. Aleksandar Jakir (Split)