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Aus: Simon Bieling Konsum zeigen Die neue Öffentlichkeit von Konsumprodukten auf Flickr, Instagram und Tumblr Juni 2018, 296 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-4202-5 Unternehmen und Werbeagenturen bestimmen seit gut zehn Jahren nicht mehr allein, wie Konsumprodukte öffentlich in Bildern dargestellt werden. Wozu man sie verwenden und was man sich von ihnen erwarten kann, darüber tauschen sich Konsumentinnen und Konsumenten heute auch eigenständig auf Bildplattformen wie Instagram, Tumblr und Flickr miteinander aus. Mithilfe einer eigens entwickelten Methode zeigt Simon Bieling erstmals umfassend, wie sich unser Verhältnis zu Marken und Produkten der Konsumwelt verändert hat – und wie die Bilderwelten der Social Media uns differenzierte Einsichten in die Alltagskultur der Gegenwart verschaffen können. Simon Bieling, geb. 1979, lebt in Karlsruhe und publiziert regelmäßig über Konsumund Alltagsphänomene der Gegenwart. Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4202-5 © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Inhalt Kollektivitäten im Zwiestreit: Verheißungen, Ambivalenzen, Fallstricke Thomas Telios/Mareike Kajewski | 7 TEIL A: Neue kollektive Formationen The Passage from Hierarchy to Horizontality: The Self-managed Factory of Vio.Me, Greece Haris Malamidis | 23 Das entfremdete Selbst und die Hoffnung auf kollektive Subjektivierung. Zur immanenten Kritik der Occupy-Bewegung Alexander Lingk | 53 Kollektivität, Handlungsfähigkeit und Affekte. Über die Frage nach transformativem Potenzial von Praktiken in- und außerhalb queerer Räume in Berlin Esther Mader | 75 Kollektive ohne Masse: Das Verhältnis von User*innen-Datenbanken und Individuum Jan Beuerbach | 101 Wie handeln Kollektive? Eine praxeologische Annäherung an performative Erzählungen von Künstler_innengruppen Alice Neusiedler | 129 TEIL B: Das Kollektive neu denken Collectivities and Anxieties. Some Critical Psychoanalytical Reflections Markus Brunner | 163 Assemblage or Totality? The Paradoxes of Political Organization in Hegel and Deleuze/Guattari Gorge Hristov | 185 Collectivity as Critical Model: Pace Adorno? Thomas Telios | 209 Queerfeministische Solidarität zwischen Kollektivität und Identität Franziska Haug | 235 TEIL C: Die politischen (Ab-)Gründe von Kollektivitäten Revolution und Kollektivität: Zur Form revolutionären Handelns Mareike Kajewski | 265 Kollektive Vernunft als Basis der Demokratie? Über Bedingungen gelungener Selbstregierung im Anschluss an Franz L. Neumann Tobias Schottdorf | 283 Kollektives Handeln als Basis der Staatsbürgerschaft Anastasiya Kasko | 315 Gemeinschaft oder Solidarität. Zur Ambivalenz von Kollektivität als politischer Strategie Tom David Uhlig | 341 Kollektivitäten im Zwiestreit: Verheißungen, Ambivalenzen, Fallstricke Thomas Telios*/Mareike Kajewski** Das vorliegende Heft beschäftigt sich aus interdisziplinärer Perspektive mit den Konstitutionsbedingungen und der politischen Wirkmächtigkeit von Kollektivitäten. Einen zentralen Aspekt stellt die grundlegende Ambivalenz * Thomas Telios (Dr. phil.) studierte Rechtswissenschaften, Klavier und Politische Theorie in Athen, Düsseldorf und Frankfurt/M. Promotion am Institut für Philosophie der Universität Frankfurt/M. und am Centre for Research in Modern European Philosophy, Kingston University London. Seit 2016 Wissenschaftlicher Assistent für Philosophie am Lehrstuhl für Philosophie der Universität St. Gallen. Schwerpunkte: Sozial- und politische Philosophie des 19./20. Jahrhunderts (Kritische Theorie, westlicher Marxismus, postmoderner Feminismus, französische Nachkriegsphilosophie), Theorien individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit, Theorien der Subjektwerdung, Theorien der Gemeinschaft. Im Erscheinen ist seine Monographie Das Subjekt als Gemeinwesen. Zur sozialontologischen Konstitution kollektiver Handlungsfähigkeit, Baden-Baden 2018. ** Mareike Kajewski studierte Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaft in Köln, Amsterdam und Frankfurt/M. Sie promovierte am Institut für Philosophie der Universität Frankfurt/M. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und politische Philosophie, Ästhetik, Ethik und Feministische Theorie. 8 | Thomas Telios/Mareike Kajewski von Kollektivierungsprozessen dar, zwischen emanzipatorischen Verheißungen und totalisierendem bzw. Differenzen nivellierendem Potential zu oszillieren. Neuere und neuste soziale und politische Bewegungen vom arabischen Frühling bis Pegida, die Debatte um die digitale Revolution, die damit einhergehenden Vernetzungsformen, die erneut Aufwind erfahrende Beschäftigung mit Konzepten der Lebensformen, die Bedeutung eines kollektiven Unbewussten für gegenwartsbezogene Analysen, nicht zuletzt globale Phänomene wie Finanzkrise, zunehmende und häufig erzwungene Migration, Vermassung und Populismus, drängen auf eine an die Wurzel greifende Auseinandersetzung damit, was wir unter kollektiven Formationen und kollektiver Handlungsfähigkeit verstehen. Gegenstand der Debatte sind die analytischen und theoretischen Werkzeuge, mithilfe derer Kollektivitäten einerseits auf den Begriff gebracht, erfasst und adäquat beschrieben, andererseits ihr Zustandekommen und ihre Wirkung erklärt werden können – nicht zuletzt damit Kollektivitäten ins Auge gefasst, in Gang gesetzt, und kritisch reflektiert werden können. Von Kollektivitäten wird im Folgenden im Plural die Rede sein, denn – so eine der Hauptthesen des Heftes – es gibt sie nur im Plural, und jeder grammatikalische Singular oder jedwede Verwandlung diverser Kollektivitäten in eine einheitliche impliziert, behauptet und/oder schafft eine Totalität, die die Vielfalt annulliert. Das Heft ist in drei Abschnitte unterteilt. Zunächst werden – hauptsächlich aus soziologischen Perspektiven – einige zeitgenössische kollektive Formationen vorgestellt und analysiert (Teil A). Anschließend erörtern unterschiedliche Ansätze wie der Begriff des Kollektiven theoretisch neu gedacht werden könnte, damit er von Fallstricken entbunden wird, die ihn seit jeher heimgesucht haben (Teil B). Teil C geht Gefahren und Potentialen nach, die diesen Neuauslegungen konstitutiv innewohnen und inmitten kollektivistischer Euphorie immer beachtet werden müssen (Teil C). Mit dieser Ausgabe der ZKKW beabsichtigen wir, neue Einblicke in die sich stets wandelnde und ausdifferenzierende Welt kollektiver Formationen zur Verfügung zu stellen. Nicht nur verändern sich klassische kollektive Formationen wie Partei, Gewerkschaft, Verband, Verein oder der Staat so stark, dass es bisweilen vergeblich scheint, Parallelitäten und/oder Kontinuitäten zwischen ihren älteren und aktuelleren Erscheinungsformen aufzeigen zu wollen. Es tauchen auch neue Kollektivitäten auf. Teils sind sie an den klassischen Formationen orientiert und versuchen, deren Unzulänglichkeiten gezielt zu überwinden. Teils betreten sie komplett neues unkartogra- Kollektivitäten im Zwiestreit: Verheißungen, Ambivalenzen, Fallstricke | 9 phiertes Terrain und locken mit dem Versprechen eines neuen Paradigmas – hoffnungsvoll, zukunftsfähig. So betrachtet, beanspruchen nicht mehr nur die klassischen, zivilgesellschaftlichen oder öffentlich-rechtlichen, korporativen Formationen Paradigmatizität. Im Gegenteil wirken sie in Anbetracht der neueren, spontaneren, lokaleren, dynamischeren, performativeren, radikaleren und lebensförmlicheren Kollektivitäten bisweilen überholt, womöglich gar ihrer Legitimität beraubt. Interessenkämpfe scheinen ontologischen Axiomen und Identitätspolitiken Platz zu machen, und vorauszusetzende Normativität scheint sich gegenüber sich ad hoc ereignenden, agonaleren und deliberativeren Praktiken kaum noch behaupten zu können. Das Heft widmet sich diesen jüngeren Ansätzen, etwa der ausdifferenzierten Auseinandersetzung mit Diskriminierungsachsen oder den Produktionsweisen subjektivierender Autorität und Konformität. Doch soll das nicht als Plädoyer missverstanden werden, die älteren kollektiven Handlungsformen für geschichtlich obsolet zu erklären. Schon K. Marx mahnte, die Erzieher_innen müssten erzogen werden, und J. Rancière kritisierte die unwissenden Lehrmeister_innen. In diesem Sinne dient der hier unternommene Versuch folgendem Ziel: selbst die Kollektivitäten zu kollektivieren. Was das meint, sollen drei – normativ formulierte – Beispiele aus der Praxis illustrieren. (1) Nicht gegen oder anstatt, sondern mit Gewerkschaften, deren Rolle und Funktion in den Klein- oder Großbetrieben neu bedacht werden müsste, haben neue, vielfältige Kollektive und kollektive Formationen zu streiten, damit sie jeweils und gemeinsam der neo-liberalen Individualisierung, Technologisierung, Immaterialisierung und Digitalisierung des Finanz-, Turbo-, oder Apps-Kapitalismus Einhalt gebieten. (2) Nicht gegen oder anstatt, sondern mit den Arbeiterinnen- oder Frauenräten sollten die neuen LGBTTTQQIAA+-Kollektive agieren, um jeweils und gemeinsam die Intersektionalität und die Verquickungen zwischen Arbeitsregimen und dem Politischen sichtbar machen. (3) Nicht gegen oder anstatt, sondern mit globalen, solidarischen, interventionistischen und sich gegen die Nationalstaaten richtenden suprastaatlichen Bewegungen haben lokale wirtschaftliche, politische, soziale, ökologische lokale Bewegungen zu kooperieren und Aktionsformen zu entwickeln, die nicht danach trachten sollen, Grenzen wieder zu errichten, sondern jeweils und gemeinsam gegen Rassismen, Antisemitismus, moralischen Exklusionismus, Exotismus und verantwortungslose Abhängigkeitsvergessenheit zu kämpfen. 10 | Thomas Telios/Mareike Kajewski Diese Beispiele mögen wie eine einseitige Parteinahme zugunsten von Kollektivitäten anmuten. Das vorliegende Heft stellt jedoch auch eine kritische Auseinandersetzung mit Begriff und Erscheinungsformen von Kollektivitäten dar, die darauf abzielt, einen lebendigen Diskussionsraum für neue Ansätze zu schaffen, wie kollektive Formationen und Aktionsformen zu untersuchen seien. Denn auf der einen Seite lassen sich neuartige Phänomene kollektiver Widerstandsformen beobachten, und es entstehen parallel dazu innovative theoretische Entwürfe. Auf der anderen Seite finden ebenso Gegenbewegungen und rückwärtsgewandte Entwicklungen statt, die das, was die einen erstritten haben, wieder in Frage stellen. Es wäre wenig erfolgversprechend, diese Diskussionen von einer einzigen disziplinären Warte aus führen zu wollen. Kollektivitäten stellen komplexe und multidimensionale Gebilde dar. Sie bündeln eine Vielzahl ganz unterschiedlicher sozialer Beziehungen (ökonomische, politische u.a.) und sind in vielfältiger Weise untereinander vernetzt – ob durch Kooperation oder Konflikt. Es bedarf entsprechend vieler Perspektiven (und auch Disziplinen), um sie analysieren, erklären und kritisieren zu können. Anderenfalls geraten unvermeidbar Zusammenhänge aus dem Blick. Dieser Problemlage begegnen wir in diesem Heft durch neue kollektivitätstheoretische Ansätze, insbesondere dadurch, dass die vorliegenden Beiträge allesamt interdisziplinäres Wissen nutzen und hervorbringen. O FFENE F RAGEN UND AUFGABENFELDER Die Beiträge berühren in der einen oder anderen Weise eine oder mehrere der folgenden Fragestellungen: Welche Entwicklungen und Ansätze sind aktuell in der Kollektivitätsforschung festzustellen, die die Komplexität und Dynamiken von Kollektivitäten beschreiben, erklären und kritisch hinterfragen? Wo lassen sich Fragen ausmachen, die nur durch interdisziplinäre Herangehensweisen zu erschließen sind? Gibt es bestimmte Überschneidungen in den Disziplinen, die Tendenzen für die neueste Kollektivitätsforschung ausgeben? Kann man überhaupt von Neuerungen sprechen, oder wiederholen sich Muster? An welchen Schnittstellen wird durch innovative kollektivitätstheoretische Ansätze neues Wissen generiert, taugt es es praktisch für politische Handlungs- oder soziale Lebensformen? Es lassen sich Kollektivitäten im Zwiestreit: Verheißungen, Ambivalenzen, Fallstricke | 11 mit gewisser Vorsicht drei Stränge in der neueren Kollektivätsforschung ausmachen, die sich in den Beiträgen widerspiegeln: 1) Die Untersuchung von Affekten und ihrer Rolle in der Formation von Kollektivität spielt eine wesentliche Rolle in den derzeitigen Diskursen unterschiedlicher Disziplinen. Dabei stehen diejenigen Affekte im Vordergrund, die eine kollektive Dimension aufweisen. Affekte wie Angst, Freude, Mitgefühl, Hass, Solidarität sind „ansteckend“ und können die Entwicklung von kollektiven Formationen maßgeblich – zum Positiven wie zum Negativen – beeinflussen. Daher ist eine entscheidende Frage, welche Rolle Gefühle in kollektiven Formationsprozessen haben können – und sollten. Der Diskurs der Affekte und/oder Emotionen hat transzdizsziplinären Charakter. In der Soziologie, in der Politikwissenschaft, in der Philosophie, der Sozialpsychologie – um nur einige Disziplinen zu nennen –werden Affekte und Emotionen in den letzten Jahren massiv thematisiert. Dieser „Affective Turn“ wird in unterschiedlichen Beiträgen in diesem Band aufgegriffen. Bei allen Unterschieden im Einzelnen zeigt sich, dass die Ansätze rund um Affektivität und Emotionalität zum Instrumentarium der neuesten Kollektivitätsforschung avancieren. Sie behandeln komplexe Fragen, z.B. wie sich kollektive Affekte durch gemeinsames Handeln herausbilden, welche Schwierigkeiten in Kollektiven durch Affekte wie Angst entstehen, und ob es Emotionen und Affekte gibt, die eine besonders kritische Form kollektiver Formierung erlauben und Bindungswirkungen entfalten. 2) Eine ganze Reihe jüngerer kollektiver Praktiken lassen sich als Gegen-Praktiken (oder „Gegen-Formierungen“) verstehen, die aktiv die hegemonialen Deutungsmuster und Organisationsprinzipien des Kollektiven anfechten. Sie alle (z.B. die Occupy-Bewegung, die gemeinsame Neugestaltung von Beziehungen oder die Besetzung von Räumen mit neuen Handlungsformen) suchen Wege, durch ihre Praktiken die Bedingungen und formativen Prinzipien von Kollektivität(en) auf neue Grundlagen zu stellen. Das besondere Merkmal dieser Gegen-Formationen ist, dass ihre Ziele und ihr Wissen nicht nur bzw. nicht vorwiegend intentional entstehen. Vielmehr generieren sie Wirk- und Transformationsprinzipien, die Ziele und Wissen aus sich selbst heraus – d.h. aus der kollektiven Praxis – entwickeln. Wie das und inwiefern es gerade aufgrund der jeweils neuen Form von Kollektivität möglich ist, muss für jedes neue kollektive Formieren neu beantwortet werden – praktisch wie wissenschaftlich. Jedenfalls gilt für solche Neuentwürfe kollektiver Formationen, dass sie stets das spezifische 12 | Thomas Telios/Mareike Kajewski Moment des Kollektiven und dessen eigenwillige Dynamik zu reflektieren haben und mit ihm, nicht gegen es, agieren müssen. Das ist eine Spielart des oben angesprochenen Mottos, die Kollektivitäten zu kollektivieren. Wenn Kollektivität – so die Grundannahme dieser Ausgabe der ZKKW – ubiquitär ist, weil sie Sozialisationsprozessen entspringt, und deshalb zum Erkenntnisinstrument dieser Prozesse wird, kann man selbst ebenfalls nur kollektiv agieren. Beispiele sind neue Formen von Kollektivität unter Künstler_innen oder dieVielfalt queerer Räume. Aus den Praktiken, die unter solchen Rahmenbedingungen stattfinden, entstehen neue Selbstverständnisse und Gegenstrategien. Neue Kollektivitäten nutzen die Kollektivität, um bestehende Narrative zu verändern und durch neue und der neuen Kollektivität und ihrer Praxis entsprechende zu ersetzen. Es entstehen Gegen-Narrative und Gegen-Praktiken, die anti-hegemoniale Wirkkraft entfalten und letztlich neue Strukturen schaffen können. Eine aktualisierte Kollektivitätsforschung kann durch Analyse solcher anti-hegemonialen Praktiken dazu beitragen, nicht nur ein besseres wissenschaftliches Verständnis von Kollektivität im deskriptiven Sinne zu schaffen, sondern auch die Grundlage für eine fundiertere Kritik von Hegemonien. 3) Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist seit jeher spannungsreich. Die Ausgangslage dieser Problematik stellt sich folgendermaßen dar: Die Theorie stellt die Werkzeuge bereit, durch die empirische Phänomene untersucht und für eine gegenwartsbezogene Analyse erschlossen werden. Die Gefahr jeder Theorieanwendung auf die Praxis besteht darin, dass der Theorie wichtige Aspekte und entscheidende Dynamiken entgehen. Sie wird den Phänomenen, die sie erklären will, nicht gerecht. Die Sterilität der Theorie wird durchbrochen, wenn sie sich für die Grundlegung ihrer Kategorien an der Wirklichkeit abarbeitet, d.h. wenn sie sich der Materie aussetzt. Die neuen kollektiven Formationen bilden, und das kann die wissenschaftliche Analyse der Kollektivitäten auch zeigen, ebensolche neue Materialitäten (Akteure, Netzwerke, Beziehungsformen, Handlungsmodi). Diese entstehen an vielfältigen Orten und schaffen allmählich unhintergehbare soziale Realitäten, die positive wie negative Auswirkungen haben. Die Merkmale dieser Materialitäten lassen sich mit dem überkommenen Untersuchungswerkzeug nicht erfassen. Eine Veränderung der realen Verhältnisse muss in theoretische Ansätze übersetzt werden. Mithilfe dieser lassen sich neue Sichtweisen auf Kollektivitäten etablieren. Eine Theorie, die ihre Analysekategorien derart an der Wirklichkeit entwickelt, wird den Ent- Kollektivitäten im Zwiestreit: Verheißungen, Ambivalenzen, Fallstricke | 13 wicklungen gerechter und kann zugleich auch besser kritisch auf die Verhältnisse reagieren. Kategorien, die durch kritische Reflexion zwischen Theorie und Praxis gewonnen, sind nicht nur Beschreibungsweisen der Phänomene, sondern können auch auf die Entstehung kollektiver Formationen kritisch einwirken. Diese Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis ist entscheidend. Das ist ein Ziel der hier versammelten Beiträge: Sie tragen dazu bei, das Zusammenwirken von Theorie und Praxis in beiden Richtungen kritisch zu verstehen. Eine Vorrangstellung der Theorie wird aufgelöst und eine bloße und vermeintlich neutrale Beobachtung von Entwicklungen abgelehnt. P LÄDOYER FÜR EINE KOLLEKTIVIERTE T HEORIE Aus dieser Perspektive gehört es zu einer Wissenschaft, die kritisch zu sein beansprucht, nicht nur die Kollektivitäten (i.e. die konkrete Praxis) zu kollektivieren. Auch die Theorien, letztlich das Denken selbst, müssen kollektiviert werden. Damit ist vor allem Pluralisierung der theoretischen Ansätze gemeint – sowohl auf der die Theorietraditionen übergreifenden Ebene als auch die interne der Theorietraditionen, die allesamt ein Mindestmaß an Heterogenität aufweisen. Nicht gemeint ist, dass alle theoretischen Werkzeuge geöffnet und verflüssigt werden sollen. Es soll kein opakes und aussichtsloses Informationskonvolut entstehen. Aber die immer wieder aufgestellten Alleinherrschaftsansprüche theoretischer Paradigmata sind mit einem kritischen Theorie- oder Wissenschaftsverständnis nicht vereinbar. Multitemporalität, Multiperspektivismus, Multipolarität und Multiparadigmität gehören hingegen zu den methodischen Herangehensweisen eines kollektivierten Denkens. Zugleich wird damit nicht der Relativierung das Wort geredet. Im Gegenteil wendet sich das kollektivierte Denken explizit dagegen, über die Maßen Ziele zu zerteilen, Konflikte zu sezieren, Konfliktlinien zu fragmentieren und Strategien zu relativieren. Kollektiviertes Denken wendet sich sowohl gegen disziplinäre oder theorietraditionelle Gräben als auch gegen die postmoderne Beziehungslosigkeit zahlloser Einzelperspektiven. Es ist sich vielmehr dessen bewusst, dass Theorien ebenso prozessual entstehende kollektive Konstellationen sind wie die Kollektivitäten der Praxis, die sie zu erklären oder gar in Gang zu setzen versuchen. In diesem Bewusstsein legt kollektiviertes Denken auch die Prozessua- 14 | Thomas Telios/Mareike Kajewski lität und Kollektivität seiner (Denkpraxis-)Formen offen. Formen zeichnen sich einerseits durch Plastizität aus, einem kollektiven Prozess des Formgebens und Formannehmens. Andererseits sind es diese Formen, die analytischen Werkzeuge, die Begriffe und Konzepte, in die die kollektiven Praktiken eingeordnet werden. Ein kollektiviertes Denken gemahnt daran, die Vielfalt der kollektiven Praktiken nicht rigide unter einen Begriff zu subsumieren und zu vereinheitlichen. Stattdessen sollte ihnen Raum gegeben werden, auch in der Theorie weiter kollektiv zu existieren und zu entfalten. Zu kollektivem Denken gehört daher auch, die Multidimensionalität kollektive Konflikte beschreiben, erklären, kritisieren – und auch organisieren zu können. Es mag möglich sein, ein ökonomisches Regime (zumindest in der Theorie) auf einen Streich zu ersetzen, doch es ist eine langwierigere Angelegenheit, diskursive Diskriminierungsformen zu unterlaufen. Rassismus ist anders zu bekämpfen als Antisemitismus, und die Sichtbarmachung der Anteillosen bedarf einer anderen Theoretisierung als die Emanzipation von bereits akzeptierten Akteuren. Ähnliches gilt auch für die unterschiedlichen Formen kollektiver Praxis. Von der critical mass zu den unterschiedlichsten house squats, von Kommunen zu Streikformen, von lokalen Tauschringen und Solidarökonomien zu globalen Widerstands- und Vernetzungsformen und von spontaneistischen Handlungsformen zu organisierten Massenbewegungen, die systemische Ziele systematisch verfolgen – es gehört zu einem kollektivierten Denken, die Irreduzibilität dieser Praxisformen anzunehmen, sie je nach Akteuren und Zielen zu erfassen und – praktisch und prospektiv – neue, passende Formen je nach Akteuren und Zielen zu entwickeln, Kommunikationswege zwischen ihnen zustande zu bringen, sie zu koordinieren und zielgerichtet einzusetzen. Nicht zuletzt soll das kollektivierte Denken dazu beitragen, pathologische Auswüchse zu entlarven. Dazu gehört die Reproduktion von Autorität innerhalb sich emanzipierenden Kollektiven zu beseitigen, die Sedimentierung der immer in Bewegung bleibenden Kämpfe zu verunmöglichen, schlussendlich dem moralischen Sektierertum des einen, höheren, angeblich radikaleren Standpunktes Einhalt zu gebieten. Kollektiviertes Denken soll nicht zuletzt die durch die berüchtigte Dialektik zwischen Theorie und Praxis verursachten Missverständnisse ausräumen, die stets zugunsten der Theorie gelöst wurde. Diese gab sich der Praxis hin, um sie zu interpretieren, und fiel dann wie ein Grabstein auf sie nieder, erdrückte sie, indem sie sie fortan mit ihren herme(neu)tischen Theorieprodukten interpretierte und Kollektivitäten im Zwiestreit: Verheißungen, Ambivalenzen, Fallstricke | 15 sie somit letztlich zugunsten der eigenen theoretischen Erkenntnisse veränderte. Das vermeidet nur eine kollektivierte Theorie, die – wie queere Gendertheorien und -bewegungen – eine notwendig parallele Vielzahl von Erscheinungs- und Organisationsformen denken und ermöglichen kann. Ü BERSICHT ÜBER DIE B EITRÄGE Den Band und seinen ersten Teil „Neue kollektive Formationen“ eröffnet der Beitrag „The passage from hierarchy to horizontality: The self-managed factory of Vio.Me, Greece“ von Haris Malamidis, der an zweierlei erinnert: einerseits an die Kategorie des Arbeiter_innenkollektivs, die ihren avantgardistischen Charakter vielleicht eingebüßt hat, aber nach wie vor eine tragende Rolle im sozialen Gefüge spielt und denselben Ausbeutungs-, Entfremdungs-, Verdinglichungs- und Fremdbestimmungsverhältnissen ausgesetzt ist wie früher; andererseits an das traditionelle Prinzip, dass Klassenkampf gegen den produktiven Fließband-Kapitalismus immer noch und nur durch Aneignung der Produktionsmittel geführt werden kann. In seiner qualitativen Forschung zu der besetzten Fabrik von Vio.Me zeigt Malamidis mithilfe des Contentious-Politics-Ansatzes, wie die Arbeiter eine horizontale Selbstverwaltungsstruktur einführen und schrittweise eine neue kollektive Identität ausbilden. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die – nicht so traditionelle – Vernetzung mit Solidaritätsinitiativen und der (inter)nationalen Community sozialer Bewegungen. Diese stellen Know-how in puncto horizontaler Selbstverwaltung zur Verfügung, solidarische Arbeitskräfte und für die Produkte einen Nischenmarkt, der nicht nach neoliberalen Prinzipien organisiert ist. Weniger sozialen als politischen Charakter hat die Occupy-Bewegung. Deren kollektive Identitätsbildung unterzieht Alexander Lingk in „Das entfremdete Selbst und die Hoffnung auf kollektive Subjektivierung“ einer kritischen Analyse. Lingks Artikel gemahnt daran, dass zwar der klassische Marxismus einer subjekttheoretischen Erneuerung bedarf, umgekehrt aber manch junge oder gar postmarxistische Subjekttheorie die ökonomischen Grundlagen des großen Vorgängers nicht aus dem Blick verlieren sollte. Lingk arbeitet zunächst eine für das Occupy-Kollektiv spezifische organisatorische Offenheit und inhaltliche Unbestimmtheit heraus. Diese – so der Autor im Anschluss an Marx’ entfremdungstheoretische Überlegungen – 16 | Thomas Telios/Mareike Kajewski drückte ein Bedürfnis nach authentischer Subjektwerdung und Wirkmächtigkeit aus, dessen Erfüllung jedoch habe scheitern müssen. Denn ihre scheinbare Wirkmächtigkeit vermittelt die Occupy-Bewegung dadurch, dass sie – anstatt ihre eigene Vergesellschaftung in kapitalistischen Verhältnissen zu erkennen – sich als großes Kollektiv der „99-Prozent“ gegen das feindliche Außen des „1 Prozent“ imaginierte. Gewissermaßen ist damit eine Frage aufgeworfen, die der Beitrag von Esther Mader aufgreift: Wie lässt sich eine Kollektivität denken, deren Verbindung nicht identitär begründet ist? In ihrem Beitrag „Kollektivität, Handlungsfähigkeit und Affekte“ beschreibt sie die Ambivalenzen von Kollektivität anhand von queeren Räumen in Berlin. Sie zeigt auf, wie durch bestimmte Raumgestaltung, Praktiken und durch die Ko-Präsenz „verletzter“ Körper eine kollektiv hervorgebrachte, affektive Atmosphäre entsteht, die Handlungsfähigkeit schafft. Diese Handlungsfähigkeit ist also keine permanente Eigenschaft von individuellen Subjekten, sondern ein situatives, relationales und kollektives Phänomen. Sie setzt kein klassisches identitäres Kriterium voraus. Ausschlüsse produziert aber auch sie. Zu den neuesten Tendenzen der Kollektivitätenbildung zählen Phänomene aus den Bereichen Technik und techné (dritter und vierter Beitrag). Die Digitalisierung weist das Potential auf, soziopolitisches Leben in unvorhersehbare Art und Weise – emanzipatorisch oder repressiv – zu revoluIn der angedachten kritischen Theorie der Digitalisierung von Jan Beuerbachs Beitrag „Kollektiv ohne Masse“ tritt der zwiespältige Charakter technischen Fortschritts zutage. Einerseits eröffnet er politischen Bewegungen die Möglichkeit der multitude (M. Hardt/A. Negri), die sich im Arabischen Frühling zu manifestieren schien. Andererseits zeigt Beuerbach insbesondere am Beispiel Facebook, wie die vermeintlich unkontrollierbare Vielzahl der Singularitäten durch deren Ökonomisierung wieder rezentralisiert wird. Aus Beuerbachs Einsichten folgt die Notwendigkeit einer multidisziplinären Analyse des Internets: seine Materialität und Infrastrukturen, die Berücksichtigung lebensweltlicher Bezüge sowie die Ungleichzeitigkeit geisteswissenschaftlichen Verständnisses und technischer Entwicklung. Der techné widmet sich Alice Neusiedlers Beitrag. Neben Arbeiter_innen, politischen Aktivist_innen und der Technologie treiben Künstler_innen Kollektivierungsprozesse voran und stellen Modelle zur Verfügung, wie Kollektivitäten gedacht und gemacht werden können. Der Beitrag beginnt mit der Feststellung, dass das Feld der Kunst noch immer von Kollektivitäten im Zwiestreit: Verheißungen, Ambivalenzen, Fallstricke | 17 der Norm beherrscht wird, der zufolge Kunst Resultat des Handelns eines genialen Individuums sein müsse. Neusiedler zeigt, wie ein Künstler_innenkollektiv aus Wien die Anforderung dieser Norm erfüllt, indem sie einen genuin kollektiven Schaffensprozess etablieren. Das gelingt nicht durch arbeitsteilige Produktion, sondern durch die – phasenweise – Verschmelzung zu einer kollektiven Identität. Möglich wird dies durch ein strukturelles Merkmal der Kollektivitätenbildung: performative Narrativität. Erst durch die performative (situative) erzählende Bezugnahme auf ein Kollektiv ent- und besteht dieses, gewinnt einerseits situative Flexibilität und andererseits transsituative Kontinuität. Die Artikel des zweiten Teils „Das Kollektive neu denken“ setzen sich theoretisch mit den Ambivalenzen von Kollektivierungsprozessen auseinander. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kollektiven als politischen Akteuren setzte zur Zeit der ersten Massenbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts ein mit sozialpsychologischen wie psychoanalytischen Versuchen, die Massenkohäsion, ihre Beständigkeit trotz innerer Widersprüche zu erklären. Markus Brunner skizziert in seinem Beitrag „Collectivities and Anxieties“ eben jene Versuche und befragt sie auf ihre Aktualität, ihre Fähigkeit, zeitgenössische politische Kollektive zu charakterisieren, die sich auf Seiten gesellschaftlicher Emanzipation verorten und zudem weniger rigide organisiert sind, als etwa S. Freud das vor Augen hatte. Zu diesem zweck diskutiert Brunner die ambivalente Bedeutung von Angst und der Gruppe als psychosozialem Schutzraum für das Individuum. Das Kollektiv schützt und besänftig Ängste nach außen, kann aber auch selbst Angst produzieren, sei es durch die Konfrontation des Einzelnen mit unstrukturierten Massensituationen oder durch die nicht-intendierten Nebeneffekte eines organisierten Schutzes, wenn dieser die Responsivität der sozialen Beziehungen unterläuft („secondary anxiety“). Gorge Hristovs Beitrag „Organization of Collectivities Today: Assemblages or Totalities“ greift zwei Modelle auf, die sich auf den ersten Blick widersprechen: zum einen G. W. F. Hegels „Totalität“, zum anderen G. Deleuzes/F. Guattaris „Assemblage“. Jener stellt Organisation ins Zentrum seines Modells, diese Disorganisation. Hristov demonstriert, dass beide Modelle in komplementärer Weise anfällig sind für den Exzess des jeweils anderen Prinzips. Der Grund dafür liegt, so Hristov, jeweils in der Art und Weise, wie die Subjektivierung der Kollektivmitglieder konzipiert wird. 18 | Thomas Telios/Mareike Kajewski Thomas Telios' Beitrag „Collectivity as Critical Modell: Pace Adorno?” schlägt eine Weiterentwicklung von T. W. Adornos Philosophie vor. Dieser war – wie S. Freud oder F. Nietzsche – skeptisch gegenüber Massenbewegungen. Es fiel ihm jedoch schwer, eine Balance herzustellen zwischen seiner biographisch und theoretisch legitimierten Angst vor repressiven Kollektivitäten einerseits und der Verherrlichung kollektiver Sozialformen bei G. W. F. Hegel und K. Marx andererseits. Telios beginnt mit der Feststellung, dass Adorno die Bedeutung von Kollektivitäten im Bereich des Ästhetischen erkennen ließ, sich hingegen sehr skeptisch zeigte, sie auf der epistemologischen oder politischen Ebene zuzulassen. Er zeigt jedoch, dass auch Adornos epistemologisches Vokabular mit Begriffen infiziert ist, die Kollektivitäten thematisieren. Ausblicksweise legt er dar, wie im Anschluss an Adorno selbst das sankrosankte Individuum kollektiviert gedacht werden müsste. Im Sinne des Mottos, Kollektivitäten zu kollektivieren, legt der Artikel nah, wie mit Adorno nicht nur Denken kollektiviert werden kann, sondern solche sozialen Praktiken, die das Subjekt hervorbringen. Der zweite Teil schließt mit Franziska Haugs Beitrag „Queerfeministische Solidarität zwischen Kollektivität und Identität“, in dem sie die Frage bearbeitet, welche Rolle Solidarität in aktuellen queerfeministischen Diskursen spielt. Anhand einer Analyse und Kritik intersektionaler und identitätspolitischer Ansätze des Queerfeminismus argumentiert sie, dass Solidarität dasjenige Mittel emanzipatorischer Praxis darstellt, welches eine Alternative zu den sich gegenüberstehenden Polen eines (bürgerlichen) Universalismus und eines (identitätspolitischen) Partikularismus darstellen könnte. Zu diesem Zweck verbindet sie von J. Butlers Konzeption von queer (als das mit dem Bestehenden Nichtidentische) mit K. Marx' und F. Engels Begriff des Universalismus als Solidarität zur Aufhebung der Klassengesellschaft. Sie skizziert, wie ein queerer Universalismus aussehen könnte, der sich seiner bürgerlich-maskulinen Tradition bewusst ist und doch an der Universalität von Freiheit festhält. Der dritte Teil „Die politischen (Ab-)Gründe von Kollektivitäten“ widmet sich den politischen Formen der Ambivalenzen, die durch Kollektivität entstehen, und versucht, Wege aufzuzeigen, wie man mit diesen umgehen oder sie gar überwinden könnte. Dazu werden unterschiedliche politische Figuren und Kategorien wie etwa die Revolution, die kollektive Vernunft, die Staatsbürgerschaft und die Solidarität sowohl auf ihre Abgründigkeit als auch auf ihr Potential hin befragt. In ihrem Beitrag „Revolution und Kol- Kollektivitäten im Zwiestreit: Verheißungen, Ambivalenzen, Fallstricke | 19 lektivität – Zur Form revolutionären Handelns“ geht Mareike Kajewski der Frage nach, welche Rolle der Spontaneität im revolutionären Handeln zukommt. In Anlehnung an H. Arendt und F. Meskini erarbeitet sie einen handlungstheoretischen Ansatz, mit dem die Dimensionen der Spontaneität und Kreativität für dieses spezifische politische Handeln erschlossen werden. Damit grenzt sie sich von solchen Theorien ab, die das Ereignis Revolution als Instrument politischer Neuordnung verstehen. Das ermöglicht der Autorin nicht nur eine neue Perspektive auf Revolutionen, sondern auch auf die Dynamik des Kollektiven. Quelle und Gehalt von Revolutionen sind in der kollektiven Dynamik der Aktionsform revolutionären Handelns zu finden. Sie bergen Erfahrungen, die sich am besten analog zu V. Turners Liminalitätskonzept beschreiben lassen. Nebenbei stellt Kajewski auch die Frage nach der Legitimität revolutionärer Gewalt auf eine neue Grundlage. Statt der Spontaneität widmet sich der Beitrag von Tobias Schottdorf der Vernunft, genauer der kollektiven Vernunft bei F. L. Neumann. In der Weimarer Republik trat Neumann unter dem Eindruck der entstehenden Diktatur der Nationalsozialisten die Ambivalenz zwischen Produktivität und Gefahr kollektiver politischer Prozesse klar vor Augen. Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit einer differenzierten Analyse der Bedeutung von Kollektivierungsprozessen für die Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie. Schottdorf lotet Neumanns Werk in rechts-, gesellschafts- und politiktheoretischer Hinsicht aus und zeigt, dass sich besonders in der politischen Theorie Neumanns Elemente einer Vernunft finden, die in kollektiver Selbstbestimmung als „korrektive Kraft“ wirken könnte. Anastasiya Kasko widmet sich der wohl folgenschwersten Form von Kollektivmitgliedschaft, der Staatsbürgerschaft. Sie entwirft in ihrem Beitrag ein neues Verständnis deselben – als Synthese aus den politischen Theorien H. Arendts und J. Rancières. Staatsbürgerschaft soll sich nicht an vorgegebenen Merkmalen orientieren, sondern an der Partizpation in kollektiven politischen Praktiken, in denen die „Grenze des Gemeinsamen“ stetig erweitert wird. Von Rancière übernimmt sie die Idee, gemeinsames Handeln auf das Prinzip der Gleichheit auszurichten, von Arendt die potentielle politische Freiheit gemeinsamen Handelns, die bereits in Kajewskis Beitrag angeklungen war. Rancière steuert das Konzept des Dissenses als Streit um das Gemeinsame bei, in dem die „Anteillosen“ für ihre Gleichheit und eine neue „Aufteilung des Sinnlichen“ kämpfen. Doch erst Arendts Theorie gemeinsamen und spontanen Handelns schafft den den Raum für 20 | Thomas Telios/Mareike Kajewski Handlungen und Neuanfänge, mithilfe derer ein neues Konzept der aktiven und fluiden Staatsbürgerschaft denkbar wird. Abschließend geht Tom David Uhlig in seinem Beitrag „Gemeinschaft oder Solidarität“ den ambivalenten Verlockungen politischer Kollektivität nach, indem er in Nachkriegsdeutschland sozialpsychologische Verbindungen zwischen Kriegsniederlage, Verdrängung und Antisemitismus herstellt. Er stellt zunächst fest, dass scheinbar weltweit das Bedürfnis wächst, sich auf die Stammeslogik des Eigenen zurückzuziehen und auf die vermeintliche Unverrückbarkeit der Gemeinschaft zu setzen. Anschließend zeichnet er nach, wie das Kollektiv in der psychoanalytischen Sozialpsychologie historisch gedacht wurde und welche politischen Lehren sich daraus ziehen lassen. Diese Einsichten wendet er auf den Umgang mit dem völkischen Kollektiv des Nationalsozialismus an, welches derzeit als Sehnsuchtsort der Neuen Rechten und Rechtspopulisten Konjunktur feiert. Der Autor plädiert diesem regressiven Sog gegenüber für eine Politik, welche vor dem Hintergrund der Notwendigkeit der Gruppe zur politischen Willensbildung, es dem Individuum erlaubt, die Gruppe zu transzendieren, sich ihr als ein anderes zu setzen und dennoch in kritischer Solidarität verbunden bleibt. Das Heft dokumentiert einen wesentlichen Teil der Arbeiten der vierten Frankfurter Graduiertenkonferenz, die unter dem Titel „Challenging Collectivities“ vom 29.10-31.10.2015 an der Goethe-Universität Frankfurt/M. stattgefunden hat. Deshalb bedanken wir uns bei unseren Mitorganisator_innen Katharina Hoppe, Sonja Kleinod, Jonathan Klein und Sarah Mühlbacher. Des Weiteren möchten wir dem Leitungsteam der Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft, Herrn Prof. Klaus P. Hansen und Dr. Jan-Christoph Marschelke dafür danken, dass sie ausgewählte Beiträge dieser Konferenz in die Zeitschrift aufgenommen haben. Ferner gebührt ein ganz besonderer Dank Dr. Marschelke nicht nur für die Unterstützung des Projekts, sondern auch für die Betreuung, Editierung und akribische Lektüre der Beiträge. Schließlich danken wir dem Asta der Universität Frankfurt/M., sowie der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie für die großzügige finanzielle Unterstützung.