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Wer war Christoph Graupner? Mit dem jungen Theatermusiker Christoph Graupner (geb. 1683 in Kirchberg/Sachsen – gest. 1760 in Darmstadt) wollte Landgraf Ernst Ludwig in Darmstadt eine eigene Opernbühne einrichten. Dieser Plan erwies sich letztlich als viel zu ehrgeizig, zu teuer und mit den gegebenen Möglichkeiten auf Dauer nicht durchführbar. Zudem stieß das Vorhaben bei der Geistlichkeit, die die Opern als frivol und unmoralisch ansah, auf erhebliche Widerstände. Aber für ein Jahrzehnt – zwischen 1709 und 1719 – gelang es dem Landgrafen und seinem Hofkapellmeister immerhin, Darmstadt zu einem bedeutenden Zentrum der Musik in Deutschland zu machen. Neben Graupner ließen sich etliche weitere Spitzenmusiker nach Darmstadt locken; mit dieser Hofkapelle konnte der Landgraf im Kreis der musikliebenden Barockfürsten hervorragend repräsentieren und einen ausgezeichneten Ruf erwerben. Nur wenige von Graupners Opern sind heute erhalten. Offenbar hatte der Komponist selbst sie damals nicht archiviert. Aber seine übrigen Handschriften hat er sorgfältig aufgehoben; die Kantaten sind sogar durchweg datiert. Etwa 2000 Werke, die meisten als Partitur und Aufführungsmaterial, liegen heute noch unweit ihres Entstehungsortes in der Universitäts‐ und Landesbibliothek Darmstadt. Diese Notenblätter (allein ca. 1450 Kantaten) waren nach dem Tod des Komponisten 1760 Gegenstand eines langwierigen Rechtstreites, den die Erben mit dem Landgrafen führten. Der beanspruchte die hinterlassenen Manuskripte für sich, da sie ja schließlich während der Dienstzeit und in seinem Auftrag entstanden waren. Graupners Kinder aber hätten die Musikalien gerne verkauft. Der Prozess zog sich bis ins 19. Jahrhundert hin und wurde nie entschieden (der Begriff des Urheberrechts existierte noch nicht), sondern zuletzt durch einen Vergleich beendet. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte niemand mehr Interesse an der "alten Musik". Die Autographe erhielten einen Platz auf dem Dachboden des Darmstädter Schlosses – und wurden vergessen. Den Zweiten Weltkrieg überlebten sie nur durch Zufall, da man sie eher gedankenlos als mit Absicht zu den Archivalien gezählt hatte, die während der Bombenangriffe ausgelagert wurden. Christoph Graupner stammte aus einer Schneider‐ und Tuchmacherfamilie im Erzgebirge. Er war Thomasschüler in Leipzig gewesen (Unterricht bei Schelle und Kuhnau) und hatte anschließend dort Jura studiert. Allerdings schloss er sein Studium nicht ab, sondern zog 1706 (nach eigener Aussage aus Angst vor dem Einmarsch der Schweden im Nordischen Krieg) nach Hamburg, wo er an der Gänsemarktoper eine Stelle als Cembalist und bald auch als Komponist fand und eng mit Reinhard Keiser zusammenarbeitete. 1709 nahm er das Angebot des Landgrafen Ernst Ludwig an, nach Darmstadt zu kommen; und dort sollte er den Rest seines Lebens verbringen. Graupner gehört (wie Bach) zu den wenigen Komponisten der Zeit, die weder nach Italien noch in andere Länder reisten, obwohl Ernst Ludwig einigen Mitgliedern seiner Hofkapelle solche Reisen ermöglichte und sogar finanzierte. Der Gambist Ernst Christian Hesse, der Bassist Gottfried Grünewald, der Flötist und Oboist Johann Michael Böhm, mehrere Sängerinnen, allen voran die berühmte Johanna Elisabeth Hesse geb. Döbricht – sie alle gingen mehrfach auf Konzertreisen im In‐ und Ausland. Wir wissen nicht, warum Graupner immer in Darmstadt blieb und auch seine Musik kaum an anderen Orten bekannt machte. Aber so sehr der Landgraf auch seine Virtuosen schätzte, so nachlässig hielt er es mit deren Bezahlung. Fast alle Mitglieder der Hofkapelle erhielten neben ihrem Gehalt (das in der Regel vierteljährlich ausgezahlt wurde oder ausgezahlt werden sollte) ein Kontingent an Naturalien: Getreide, Brennholz, Mastvieh u.ä., oft auch Dienstkleidung und Schuhe. So mussten die Musiker zwar nicht hungern, aber sie waren gezwungen, sich zu verschulden, da die Gehaltszahlung allzu oft ausblieb. Nicht nur die Hofkapelle, sondern so gut wie alle Bediensteten am Hof teilten dieses Schicksal, denn der Staatshaushalt war völlig überschuldet; es drohte sogar der Staatsbankrott. Daher waren einige Musiker so unzufrieden, dass sie den Hof verließen, um sich eine bessere Anstellung zu suchen, oder dies zumindest anstrebten. Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit war sicher die Schließung der Oper 1719. Diese "Sparmaßnahme", zu der sich der Landgraf schließlich auf dringende Vorhaltungen seiner Regierungsräte hin entschließen musste, brachte zwar eine schmerzliche Einschränkung der musikalischen Möglichkeiten mit sich, hatte aber ihren Zweck insofern verfehlt, als sie nicht zu einer merklichen Besserung der Finanzsituation führte. 1723 versuchte Graupner vermutlich aus solchen Gründen, die frei gewordene Stelle des Thomaskantors in Leipzig zu erhalten. Die Geschichte ist bekannt: trotz seines Erfolges in Leipzig sollte Graupner in Darmstadt bleiben (und die Leipziger mussten mit Johann Sebastian Bach vorliebnehmen). Der Landgraf weigerte sich nämlich, seinen Hofkapellmeister "in Gnaden" zu entlassen und drohte ihm mit Schwierigkeiten in Sachsen. Auf der anderen Seite verdoppelte er fast sein Gehalt und sagte lebenslange Absicherung für ihn und seine Familie zu. Von Anfang an hatte Graupner in Darmstadt die sonntäglichen Kirchenkantaten zu besorgen, eine Aufgabe, die er sich mit seinem Vizekapellmeister Gottfried Grünewald teilte. Die neue theatralische Kirchenmusik, die sich wenig später als "protestantische Kirchenkantate" etablierte, wurde zu dieser Zeit in Mitteldeutschland geprägt, und Graupner hatte an dieser Entwicklung großen Anteil. Zu Anfang vertonte er Texte von Erdmann Neumeister u. a., dann von den Darmstädter Hofpoeten Georg Christian Lehms und ab 1719 fast ausschließlich von Johann Conrad Lichtenberg, einem Theologen, mit dem er verschwägert und befreundet war. Die Kirchenmusik nimmt bei weitem den größten Teil in Graupners Gesamtwerk ein. Nach der Schließung der Oper 1719 hat das Theaterhaus in Darmstadt vor allem als Ball‐ und Festsaal für große Empfänge des Hofes gedient. Somit gab es hier auch später durchaus noch Hofkonzerte, Tafelmusik und Tanzmusik. Sicherlich schrieb Graupner von Anfang an auch Instrumental‐ und Kammermusik für seinen Landgrafen. Belegt ist dies allerdings erst ab 1730. Da gibt es nämlich eine Eingabe an die Kanzlei, der Kapellmeister brauche jetzt mehr Notenpapier und Federkiele, "weilen er nunmehro auch die Instrumentalmusic zur Inkumbenz" habe. Erhalten sind von Graupners Instrumentalwerken ca. 50 Klavierwerke (Cembalo), ca. 60 Concerti und Kammermusikwerke, 85 Ouverturensuiten und 112 Sinfonien. Die Cembalo‐Sammlungen, von denen der größte Teil – im Gegensatz zu allen übrigen Werken – gedruckt wurde, gab er im Eigenverlag heraus und stach sie selbst in Kupfer. Sie datieren zwischen 1718 und 1733. Die Solokonzerte dienten zur Herausstellung der Leistungsfähigkeit der Hofmusiker und waren somit Repräsentationsobjekte sowohl für die Virtuosen als auch für ihren Arbeitgeber. Graupner bedachte unter diesen Gesichtspunkten die in Darmstadt verfügbaren Instrumente, also Violinen, Oboen, Flöten und Fagotte, vor allem aber auch die "besonderen" Lieblingsinstrumente Viola d’amore, Oboe d'amore und Chalumeau, die Graupners ausgeprägte Vorliebe für dunkle Klangfarben zeigen. Daneben kommen natürlich die "herrschaftlichen" Trompeten und Pauken, später zunehmend die Hörner, immer wieder zu ihrem Recht. Die neue Gattung der Sinfonie löste um die Mitte des Jahrhunderts die Ouverturensuite ab. Graupner bemühte sich gegen Ende seines Lebens sehr um diese neue Form, wie auch sein Vizekapellmeister und Nachfolger Johann Samuel Endler, der nach Graupners Erblindung ab 1754 die Hofkapelle leitetete. Obwohl Graupner selbst als Blinder noch Gutachten anfertigte und Personalangelegenheiten regelte, ist es gerechtfertigt, von einer Endler‐Zeit zu sprechen, die ungefähr mit der Regierungszeit von Ernst Ludwigs Sohn, Ludwig VIII. (1739‐1768), zusammenfällt. Die spezielle Lebensweise dieses Landgrafen wirkte sich nämlich unmittelbar auf die Hofmusik aus. Ludwig VIII., der ja auch als Jäger‐Landgraf bekannt wurde, lebte kaum in Darmstadt, sondern in verschiedenen Jagdschlössern, ab 1745 vor allem in Kranichstein. Dort brauchte er Musik zur Unterhaltung seiner Jagdgesellschaften. Es scheint, als sei vor allem Vizekapellmeister Endler dafür zuständig gewesen, während Graupner bis zu seiner Erblindung weiterhin die Kirchenmusik in Darmstadt besorgte. Graupner starb am 10. Mai 1760 in Darmstadt. Beate Sorg