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Bulletin-Info / Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien / Humboldt-Universität
zu Berlin, Berlin 28 (2017) 54
Bulletin – Info 54
ISSN 0947-6822
Herausgeber_in:
Geschäftsstelle des Zentrums für transdisziplinäre
Geschlechterstudien der Humboldt-Universität
zu Berlin
Georgenstr. 47, 10117 Berlin
Tel.: 030-2093-46200/-46201
Redaktion:
Dr. Gabriele Jähnert
Kerstin Rosenbusch
Erscheinungsweise:
halbjährlich (April und Oktober)
Redaktionsschluss:
März 2017
Druck:
Universitätsdruckerei der HU
Umschlaggestaltung:
Sabine Klopfleisch
Download unter:
http://www.gender.hu-berlin.de/publikationen/gender-bulletins
Neues aus dem Zentrum und der HU
G. Jähnert: Aktuelles aus dem ZtG ...................................................................... 1
I. Pache: Neues aus den Studiengängen – WS 2016/17 ..................................... 3
Lann Hornscheidt – Kündigung der Professur für Gender Studies und
Sprachanalyse ....................................................................................................... 4
K. Aleksander: Neues vom Repositorium Gender Open ..................................... 5
B. Wolf: Kulturen der Sexualität erforschen – das Profil der Forschungsstelle
Kulturgeschichte der Sexualität ............................................................................ 7
E.-L. Rother: Ziemlich international – ein Auslandssemester an der CEU
Budapest .............................................................................................................. 11
Initiativen in Forschung und Lehre bundesweit / international
Graduiertenschule Genderforschung (GGf) an der Universität KoblenzLandau ................................................................................................................ 14
Gender Studies & Queer Studies: Ein neuer Masterstudiengang in Köln .........15
K. Ganz/M. Wrzesinski: Open Access in der Geschlechterforschung – Open
Gender Journal .................................................................................................... 19
Neue Professor_innen / wiss. Mitarbeiter_innen stellen sich vor
Silvy Chakkalakal (Institut für Europäische Ethnologie) ................................... 21
Was machen eigentlich unsere Absolvent_innen?
Folke Brodersen .................................................................................................. 23
Tagungen – Ankündigungen / Berichte
J. Asmus: Internationales Festival/Symposium Moving Memory,
20.-22.10.2016 ..................................................................................................... 25
G.M. Chesi/F. Spiegel: Man, Machine, Animal and Monster- the Post Human in
the Ancient Greek Literature?, 27.-28.10.2016 ..................................................... 29
K. Aleksander: Tradition und Moderne – analog und digital: 51. Fachtagung des
i.d.a.-Dachverbandes, 28.-30.10.2017 ...................................................................31
M.M. Auma: Gender und Diversity in die Lehre! Strategien, Praxen, Widerstände,
24.-26.11.2016 ..................................................................................................... 34
M.-M. Pela/K. Neukirch: Schreiben im geteilten Deutschland – Emanzipation und
Erbe, 10.1.2017 ..................................................................................................... 37
P. Hanitzsch/M. Kuhn: Exzellenz, Brillianz, Genie. Historie und Aktualität
erfolgreicher Wissensfiguren, 13.-14.1.2017 ........................................................... 40
A. Böhmelt/M. Figge: Hartgesotten Hegemoniekritisch. Symposium zu Ehren von
Gabriele Dietze und Dorothea Dornhof, 19.-21.1.2017 ...................................... 45
Y. des Andrés/S. Adler: 25 Jahre Überparteiliche Fraueninitiative Berlin – Stadt der
Frauen e.V., 22.2.2017 ..........................................................................................51
J. Bringmann/F. Baum/M. Dietz: Prekarisierung Unbound?, 2.-3.3.2017 ........... 54
Forschungsliteratur / Rezensionen
S. Zilles: A. Kraß – „Ein Herz und eine Seele“ ................................................... 56
M. Kriszio: H. Ehlers u.a. (Hg.) – „Migration – Geschlecht – Lebenswege“ .... 59
Ch. Schörk: A. Naß u.a. (Hg.) – „Geschlechtliche Vielfalt (er)leben“ ............... 67
Forschungsförderung / Forschungspolitik
Programm „Geschlecht – Macht – Wissen“, Niedersachsen ........................... 71
Neues aus dem Zentrum und der HU
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Gabriele Jähnert
Aktuelles aus dem ZtG
Die Humboldt-Universität steht vor der Aufgabe, bis Ende des Sommersemesters 2017 einen Strukturplan für den Zeitraum von 2018 bis 2030 aufzustellen
und in dem Zusammenhang auch ein erhebliches strukturelles Defizit abzubauen. Dem ZtG und den Gender Studies ist es im Ergebnis dieses Prozesses ein
wichtiges Anliegen, die Infrastruktur des ZtG und die Professuren mit einer
Genderdenomination zu erhalten und wenn möglich auszubauen. Wir sind
dabei im Gespräch mit verschiedenen Fakultäten und Instituten, insbesondere
auch um die Verankerungsmöglichkeiten von Professuren mit einer Genderdenomination für den Zeitraum auszuloten, wo die jetzigen Stelleninhaberinnen
altersbedingt ausscheiden. Wir werden hierbei durch die Kultur-, Sozial- und
Bildungswissenschaftliche Fakultät unterstützt, und wir hoffen natürlich, dass
wir die Ressourcen in dem Bereich der Geschlechterforschung konsolidieren
und bislang nicht dauerhafte gesicherte Bereiche verankern können.
Neben dieser bereits im Wintersemester 2016/17 begonnenen Arbeit waren die
Konferenz „Hartgesotten Hegemoniekritisch“ vom 19.-21. Januar 2017 sowie die
Tagung „Prekarisierung Unbound“ vom 2.-3. März 2017 zentrale Schwerpunkte
der Arbeit des ZtG. Mit der Tagung „Hartgesotten Hegemoniekritisch“ wurde
anlässlich ihrer 65. Geburtstage das engagierte jahrelange Wirken von Gabriele
Dietze und Dorothea Dornhof in den Gender Studies der HU intensiv und mit
großer Resonanz gewürdigt (s. S. 45).
Die Tagung „Prekarisierung Unbound“ knüpft an die Forschungen des DFG
Projektes „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit’ und ‚Liebe’ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“ von Christine Wimbauer und Mona Motakef vom
Institut für Sozialwissenschaften an und wird gemeinsam mit dem ZtG
veranstaltet. Prekarisierung, Prekarität und Prekariat werden als Schlüsselbegriffe zeit- und gesellschaftskritischer Debatten verstanden. Es wurde u.a. danach
gefragt, was für wen prekär geworden ist – Erwerbsarbeit oder auch Sorge- und
Geschlechterverhältnisse – und welche sozialen Folgen aus Prekarisierung
erwachsen und welcher gesellschaftspolitische Handlungsbedarf entsteht. (s. S.
54).
Im kommenden Sommersemester findet das wissenschaftliche Kolloquium des
ZtG in Kooperation mit den Kolleg_innen der Princeton University am 15. und
16. Juni unter dem Arbeitstitel “Gender, Sexuality, Queer and Trans Studies
Write Back”: Agency, Performativity, Futurity after Gender, Race, Class, Nation,
Ability, and Religion” statt. Dank der Initiative und Vorarbeiten von Ulrike Auga
während ihres Forschungsaufenthaltes in Princeton ist es uns gelungen, Mittel
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Neues aus dem Zentrum und der HU
im Rahmen der Profilpartnerschaften der HU einzuwerben und damit diese
Veranstaltung zu ermöglichen sowie darauf aufbauend hoffentlich weiterführende Kooperationen zu entwickeln.
Publikationen
Gerade erschienen ist das Bulletin-Texte-Heft Nr.43 zum Thema „Grenzziehungen von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ im neuen Blick auf die Geschlechterverhältnisse“. Dokumentiert werden hier u.a. die Ergebnisse des gleichnamigen ZtGKolloquiums vom Wintersemester 2014/15, das von Sarah Elsuni, Sophia
Ermert, Marion Detjen und Gabi Jähnert vorbereitet worden war.
Das ZtG ist außerdem maßgeblich an dem Aufbau der neuen Online-Zeitschrift
der Gender Studies, dem Open Gender Journal, beteiligt (s. S. 19). Gegenwärtig
arbeiten in der Redaktion Gabriele Jähnert sowie Kerstin Palm von Seiten der HU
mit. Die Aktivitäten des ZtG im Bereich von Open Access finden auch ihren
Ausdruck in der Arbeit an einem Repositorium für die Gender Studies, einem
gemeinsamen Projekt der Geschlechterforschungseinrichtungen von FU, HU
und TU, in dem von Seiten des ZtG Karin Aleksander, Andreas Heinrich und
Eva-Lotte Rother mitarbeiten (s. S. 5).
Personalien
Wir freuen uns, an der HU als neue Kollegin die aus dem Nachwuchswissenschaftlerinnenprogramm der HU finanzierte Juniorprofessorin Silvy Chakkalakal
begrüßen zu können, und sind glücklich über die Verstärkung der Gender
Studies im Bereich der Europäischen Ethnologie (s. S. 21).
Wir gratulieren Nadja-Christina Schneider zu ihrem Ruf auf die W2-Professur
(befristet) für Gender und Media Studies for the South Asian Region und freuen
uns über die institutionelle Verankerung dieses wichtigen regionalwissenschaftlichen Schwerpunktes sowie über intensive Kooperationen mit dem ZtG.
Zu unserer großen Freude wird Maisha Auma im Sommersemester 2017 und im
Wintersemester 2017/18 erneut als Gastprofessorin, finanziert über das Berliner
Chancengleichheitsprogramm, am Institut für Erziehungswissenschaft und in
den Gender Studies tätig sein und das Lehrangebot durch Diversitäts- und
rassismuskritische Ansätze bereichern.
Wir freuen uns, dass mit Amrei Sander eine neue wissenschaftliche Mitarbeiterin den feministischen und Genderschwerpunkt in der Theologie weiterführen
wird, nachdem es leider nicht gelungen ist, die Juniorprofessur Religion und
Geschlecht zu verstetigen.
Neues aus dem Zentrum und der HU
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Wir hoffen für das kommende Semester, dass das Berufungsverfahren für die
Juniorprofessur Kulturwissenschaftliche Filmforschung mit Schwerpunkt Gender
zum Wintersemester 2017/18 abgeschlossen sein wird und wir für diesen
Bereich ebenfalls eine engagierte neue Kolleg_in willkommen heißen können.
Ilona Pache
Neues aus den Studiengängen – WS 2016/17
Studierende
Zum Wintersemester 2016/17 haben 116 Studierende das Studium der Gender
Studies neu aufgenommen. Im Bachelor waren es 86 und im Master 30 ErstSemesterinnen. Glücklicherweise waren die Gender Studies bei der Beantragung
zusätzlicher Mittel für zwei Tutorien erfolgreich, so dass auch in diesem
Wintersemester insgesamt wieder drei Tutorien für BA-Studierende und ein
Tutorium für MA-Studierende angeboten werden konnten.
Die Tutor_innen konnten im Wintersemester auf zwei weitere Broschüren
zurückgreifen. Zur Ergänzung der seit vielen Jahren erfolgreich eingesetzten
Handreichung „Wissenschaftliches Arbeiten in den Gender Studies. Ein
Leitfaden für Student_innen“ wurde rechtzeitig zum Studienbeginn eine weitere
Broschüre fertig gestellt: „Ein Workbook zum wissenschaftlichen Arbeiten in den
Gender Studies. Techniken, Tipps und Übungen von Student_innen für
Student_innen“. Das Workbook basiert auf dem langjährigen und hoch
motivierten Engagement mehrerer Generationen von Tutor_innen. Den
Autor_innen, die die Zusammenstellung der Materialien initiiert und die
intensive Phase der Fertigstellung des Workbooks durchgehalten haben, sei an
dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Das Workbook orientiert sich an
einem peer-to-peer-Ansatz und fokussiert – ergänzend zum o.g. Leitfaden – das
konkrete Einüben von Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens. Im
Wintersemester bewährte sich das Workbook auch bei der Einarbeitung der
neuen Tutor_innen und der abgestimmten Vorbereitung bei den BA-Tutorien.
Die zweite neue, Ende des Sommersemesters 2016 erschienene Broschüre
„Diskriminierungskritische Lehre. Denkanstöße aus den Gender Studies“ wurde
ebenfalls zum ersten Mal mit Studienbeginn und schon bei den Orientierungstagen eingesetzt. Diese Handreichung trifft auf großes Interesse bei
Studierenden, die den universitären Ort der Gender Studies mit Blick auf
diskriminierungskritische Wünsche und Herausforderungen reflektieren und
eine eigene Orientierung aufbauen wollen.
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Neues aus dem Zentrum und der HU
AG Lehre
Die AG Lehre hat verschiedene Projekte geplant, die im Sommersemester 2017
umgesetzt werden sollen. Im Zusammenhang mit der LSK der KSBF und gemäß
der HU Evaluationssatzung soll ein Konzept für die Evaluation vor allem der
regelmäßig durchgeführten bzw. Pflichtlehrveranstaltungen entwickelt werden.
Bei dem zu entwickelnden Verfahren wird vor allem wichtig sein, die Ergebnisse
für die unmittelbare Verbesserung der Lehrveranstaltungen bzw. für die mittelund längerfristige Optimierung der Studiengänge zu nutzen.
Außerdem angestrebt wird ein Workshop für Lehrende, bei dem die Reflexion
diskriminierungskritischer Lehre sowie das Empowerment der Lehrenden im
Mittelpunkt stehen. Dieses Angebot soll Impulse der o.g. Denkanstöße zu
diskriminierungskritischer Lehre aufgreifen und darauf reagieren, dass es kaum
Fortbildungen für Lehrende in diesem Themenkontext gibt.
Preise
Die Lehre im Sommersemester 2017 werden zwei durch Drittmittel geförderte
Lehrveranstaltungen bereichern. Bewilligt wurden das von der MA-Studentin
Maria Ebert angebotene Q-Tutorium „Aufstand der Prekären. Widerständige
Theorie und Praxis“ sowie das von den Rechtswissenschaftler_innen Tanja
Marielle Herklotz und Siddarth de Souza beantragte Q-Team, in dessen Rahmen
das Seminar „Legal pluralism and gender in India„ durchgeführt wird.
Lann Hornscheidt: Kündigung der Professur für Gender
Studies und Sprachanalyse
Lann Hornscheidt hat die Professur für Gender Studies und Sprachanalyse
gekündigt und ist seit dem 1. Dezember 2016 nicht mehr an der HumboldtUniversität tätig.
Lann hat die Arbeit des ZtG und die Entwicklung der Gender Studies über viele
Jahre wesentlich geprägt. Bereits als Teil des Mittelbaus hat Lann – im Rahmen
des Mittelbauforums – Mitte der neunziger Jahre intensiv an der Konzeption des
Magisterstudiengangs Geschlechterstudien/Gender Studies mitgearbeitet. Mit
großem Engagement hat Lann in den Gender Studies gelehrt, an der Vorbereitung wissenschaftlicher Kolloquien und von Publikationen mitgewirkt. Mit der
Repräsentation des ZtG im Promovierenden-Netzwerk Intergender hat Lann die
internationale Kooperation, insbesondere mit nordeuropäischen Ländern,
vorangetrieben sowie den wissenschaftlichen Nachwuchs der Gender Studies
intensiv unterstützt.
Neues aus dem Zentrum und der HU
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Die sprachpolitischen Interventionen von Lann Hornscheidt wurden in der
medialen Öffentlichkeit breit aufgenommen und kontrovers diskutiert. Sie waren
und sind Teil des Genderbashings und diffamierender persönlicher Angriffe,
denen es weiterhin auf allen Ebenen zu begegnen gilt.
Die Leitung des ZtG wünscht Lann Hornscheidt für den weiteren Lebensweg
alles erdenklich Gute.
Karin Aleksander
Neues vom Repositorium GenderOpen
In den letzten Heften des Bulletin-Info hatten wir regelmäßig über das Projekt
„GenderOpen – ein Repositorium für die Geschlechterforschung“ berichtet: von
den vorbereitenden Arbeiten (seit 2013), über den eingereichten DFG-Antrag
(2015), dass dieser Antrag bestätigt wurde (Februar 2016) und die Arbeit startete
(1.10.2016). An den drei Geschlechterforschungszentren der Berliner Universitäten, die das Projekt initiierten (Freie Universität – FU, Humboldt-Universität zu
Berlin – HU und Technische Universität – TU) wurden nach erfolgreicher
Ausschreibung jeweils eine wissenschaftliche und eine studentische Stelle
besetzt. Sie arbeiten gemeinsam am Projekt und sind mit ihren spezifischen
Schwerpunkten jeweils an einer der drei Universitäten angesiedelt, an der auch
ihre Projektverantwortlichen arbeiten (FU = Dr. Anita Runge, HU = Dr. Karin
Aleksander, TU = Prof. Dr. Sabine Hark).
An der FU verantwortet Marianne Seidig (mit Sarah Staeck) den Bereich
Projektkoordination und Kommunikation. Einer der ersten Schritte war der
Aufbau einer internen Kommunikationsplattform, die alle Beteiligten eifrig
nutzen. Eine Hauptaufgabe ist die Kommunikation nach außen. Ein Faltblatt mit
grundlegenden Informationen ist im Druck, ein Vortrag und Poster für den
kommenden Bibliothekstag in Frankfurt/Main (Mai/Juni 2017) in Vorbereitung
und ein Info-Workshop für den 31.März 2017 in Berlin geplant. Um alle
Aktivitäten sowohl transparent als auch archiviert und damit für die Nachnutzung darzustellen, ging am 8. März 2017 ein Weblog des Projektes online
(www.blog-genderopen.de).
Auf diesem Weblog wendet sich der Button „Informationen für Autor_innen“
direkt an alle Interessierten, die Publikationen im Repositorium veröffentlichen
möchten. Für diese Inhalte ist Aline Oloff (TU, mit Mareike Trawnik) verantwortlich. Um die Publikationen für GenderOpen zu bekommen, werden zurzeit zwei
Strategien verfolgt:
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Neues aus dem Zentrum und der HU
•
•
Alle aktuellen und zukünftigen Autor_innen der Geschlechterforschung
werden über verschiedene Informationskanäle aufgerufen, ihre Artikel,
Dissertationen, Habilitationen und andere Publikationen selbst einzureichen, d.h. auf der entstehenden Plattform selbst hochzuladen.
Der zweite Weg ist die bewusste Einwerbung und damit Bereitstellung
von digitalisierten Publikationen.
Besonders hier entsteht sehr viel Arbeit wegen des bestehenden Urheberrechtsgesetzes und der sich hier vollziehenden Veränderungen. Alle Autor_innen
müssen sich bewusst für eine Lizenz entscheiden. Das Projektteam strebt die
möglichst umfängliche Nutzung der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 an.
Welchen Aufwand die urheberrechtlichen Rahmenbedingungen erfordern, stellt
sich zum Beispiel für die „beiträge zur feministischen theorie und praxis“, einer
für Lehre und Forschung sehr wertvollen Zeitschrift, so dar:
Die Zeitschrift wurde von 1976 bis 2008 herausgegeben. In den 69 Heften
wurden Artikel von fast 700 Autor_innen publiziert. Für alle digitalisierten Artikel
brauchen wir eine Einverständniserklärung der Autor_innen für die Veröffentlichung. Neben dieser wertvollen Zeitschrift für die Geschichte der Frauen- und
Geschlechterforschung gab und gibt es zudem noch weitere, wie z.B. die
„Zeitschrift für Frauenforschung“ oder die „Freiburger Frauenstudien“ mit ihren
wechselnden Titeln oder die „metis“, die „feministischen studien“, „femina
politica“ etc.
All die notwendigen Informationen zu Open Access, zum Urheber- und
Zweitveröffentlichungsrecht sowie zu den verschiedenen Lizenzen sind im Blog
nachzulesen und werden auch im kommenden Workshop näher erklärt.
Überhaupt ist die persönliche Ansprache von ehemaligen und heutigen
Akteur_innen sehr wichtig. Deshalb sollen zahlreiche Pionierinnen der Frauenund Geschlechterforschung als „Botschafterinnen“ gewonnen werden, die
motivierend mithelfen, einen virtuellen Ort zu schaffen, wo Publikationen der
Gender Studies frei zugänglich sind und für die weitere Forschung genutzt
werden können. Auf diese Weise arbeiten alle am community building für unser
inter- und transdisziplinäres Feld.
Das Repositorium wird mit der Software DSpace eingerichtet, die für die
Projektlaufzeit vom Computer- und Medienservice am Grimm-Zentrum der
Humboldt-Universität zur Verfügung gestellt wird. Die dafür erforderlichen
Erfassungsmasken für die verschiedenen Publikationsarten und bibliographischen Metadaten verantwortet Andreas Heinrich (HU, mit Eva-Lotte Rother).
Inzwischen liegen diese Grundlagen diskutiert vor. Eine besondere Herausforderung ist die Verschlagwortung der Dokumente. Dafür soll eine kontrollierte
Schlagwortliste ebenso angeboten werden wie die Möglichkeit, beim Hochladen
Neues aus dem Zentrum und der HU
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von Texten auch selbst gewählte Schlagworte einzugeben. Die kontrollierte
Schlagwortliste entsteht als eine gemeinsame Wortgutsammlung aus den
verwendeten Schlagwortlisten der beteiligten Institutionen mit ihren Projekten.
Außerdem ist dazu später ein Workshop geplant und bereits die Zusammenarbeit mit dem Berliner Netzwerk der Lesben- und Frauenarchive und bibliotheken sowie dessen Dachverband i.d.a. beschlossen worden. Auch für den
Bereich Verschlagwortung sollen Expert_innen der Frauen- und Geschlechterforschung bei speziellen Themen einbezogen werden, wozu ein Expert_innenbeirat
gebildet werden soll.
Inzwischen wurde dem OpenGender-Team die erste Monografie für das
Repositorium angeboten und mehrere Akteur_innen erklärten sich bereit, ihre
Texte innerhalb der urheberrechtlichen Rahmenbedingungen zur Zweitveröffentlichung im Repositorium bereitzustellen. Wer selbst in der Frauen- und
Geschlechterforschung publiziert hat und sich damit am Repositorium
GenderOpen beteiligen möchte, sollte den Kontakt zu den Teammitgliedern
aufnehmen. Sie helfen bei allen Fragen, freuen sich über konstruktive Kritik und
Angebote zur Kooperation.
Kontakt: info@genderopen.de
Weblog: https://blog-genderopen.de
Benedikt Wolf
Kulturen der Sexualität erforschen – das Profil der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität
Die am Institut für deutsche Literatur angesiedelte Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität führt im Unterschied zu anderen Institutionen und
Zentren, die sich im deutschsprachigen Raum der Geschlechterforschung
(Gender Studies) und der kritischen Heteronormativitätsforschung (Queer
Studies) widmen, die Sexualität im Namen. In ihrem Anliegen, die Kulturgeschichte der Sexualität zu erforschen, kooperiert sie eng mit einer Vielzahl von
Institutionen, vor allem mit dem Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, dem Spinnboden Lesbenarchiv,
dem Schwulen Museum*, der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und dem
Haeberle-Hirschfeld-Archiv am Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der
Universitätsbibliothek. Das Profil der Forschungsstelle ist von einem kulturwissenschaftlichen und einem historischen Interesse geprägt. Sexualität steht nicht
als transhistorisch invariable und kontextunabhängige Gegebenheit im Fokus
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Neues aus dem Zentrum und der HU
der Forschung, sondern in ihrer historischen Entwicklung, in ihrer geschichtlichen Gewordenheit und in ihren konkreten kulturellen Formulierungen. Ein
bedeutender Schwerpunkt ist der Kulturraum Berlin und hier vor allem die
Bedeutung der emanzipationspolitisch positionierten Sexualwissenschaft
Magnus Hirschfelds (1868-1935) und seines Instituts für Sexualwissenschaft
(1919-1933).
In der ersten Phase des Bestehens der Forschungsstelle (2012-2015) stand die
historische Erforschung der Berliner Sexualwissenschaft und der Berliner
sexuellen Kulturen im Zentrum der Projekte, die von Andreas Pretzel als
wissenschaftlichem Mitarbeiter koordiniert wurden. In Zusammenarbeit mit der
Forschungsstelle erschloss, edierte und kommentierte Ralf Dose von der
Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft bedeutende Dokumente zur Geschichte des
Instituts für Sexualwissenschaft und zur Biographie Hirschfelds. Insbesondere
die kommentierte Edition der Stiftungsakte des Instituts für Sexualwissenschaft,
die vorsah, dass das Institut und ihr Stiftungsvermögen im Falle der Auflösung
an die Berliner Universität gehen sollte (die Nazis verhinderten dies 1933 durch
die Zerschlagung des Instituts), leistet einen Beitrag zur Geschichtsschreibung
unserer Universität. 1 Weiterhin fördert die Forschungsstelle eine Monographie
über das Institut für Sexualwissenschaft, die von Rainer Herrn erstellt wird. Auch
ein von der Forschungsstelle im Rahmen der Hirschfeld-Lectures organisierter
Vortrag von Dagmar Herzog 2 sowie ein von Andreas Kraß und Andreas Pretzel
herausgegebenes Themenheft der Zeitschrift Sexuologie (Bd. 20, Heft 1-2, 2013)
befassen sich in historischer und theoretischer Perspektive mit dem Erbe der
Berliner Sexualwissenschaft. In diesem Zusammenhang steht auch ein
Digitalisierungsprojekt der Forschungsstelle, das eine wichtige Grundlage für
Forschungen im Bereich der Literatur und der Bewegungsgeschichte des frühen
20. Jahrhunderts schafft. Unter Leitung von Janin Afken wird die erste Homosexuellenzeitschrift der Geschichte, Der Eigene, deren einzelne Hefte über eine
große Zahl von Bibliotheken verstreut und z.T. kaum aufzufinden sind, in
Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek der Forschung per Open Access
vollständig zugänglich gemacht. Das Projekt, das wir voraussichtlich in diesem
Frühjahr abschließen werden, ermöglicht auf einer neuen und benutzer_innenfreundlichen Datengrundlage breite Untersuchungen zur Geschichte
der Homosexualität und der homosexuellen Literatur. Das literarische Berlin und
1
Magnus Hirschfeld: Testament. Heft II, hg. von Ralf Dose, Berlin 2013; Ralf Dose: Das
verschmähte Erbe. Magnus Hirschfelds Vermächtnis an die Berliner Universität, Berlin 2015.
2
Dagmar Herzog: Paradoxien der sexuellen Liberalisierung, Göttingen 2013 (= Hirschfeld-Lectures
1).
Neues aus dem Zentrum und der HU
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seine sexuellen Außenseiter sind zudem Thema einer Monographie von Andreas
Kraß zu Hirschfelds literarischen Bezügen („Meine erste Geliebte“: Magnus
Hirschfeld und sein Verhältnis zur Schönen Literatur, 2014) und eines von
Andreas Kraß und Benedikt Wolf verfassten Buchkapitels, das 2017 im
Cambridge Companion to the Literature of Berlin erscheinen wird. 3
Seit 2015 hat die Forschungsstelle mit dem Einwerben einer Reihe von
Drittmittelprojekten ihren Fokus deutlich erweitert. Wir kooperieren in dem von
der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development (GIF)
geförderten Projekt „Jewish Presence in Weimar Gay and Lesbian Culture and
the German-Jewish Contribution to the Emergence of Gay Culture in Palestine/Israel, 1933-1960“ mit Historiker_innen der Hebrew University in Jerusalem.
Das Projekt erforscht den Beitrag von Jüdinnen und Juden zur homosexuellen
Kultur in Berlin vor 1933 und die Rolle deutsch-jüdischer Immigrant_innen in der
homosexuellen Kultur in Mandatspalästina und Israel. Das Projekt wird auf der
Berliner Seite von Andreas Pretzel, Luisa-Catarine Böck, Janin Afken und
Benedikt Wolf durchgeführt.
Die queeren 1970er Jahre sind Gegenstand des europäischen Projekts „Cruising
the 1970s: Unearthing pre-HIV/AIDS Queer Sexual Cultures“ (gefördert durch
Humanities in the European Research Area), das die Forschungsstelle zusammen
mit den Universitäten in Edinburgh, Newcastle, Murcia und Warschau
durchführt. Die 1970er Jahre, die häufig als ein ‚legendäres Jahrzehnt‘ für
LGBTIQ-Emanzipationspolitiken angesehen werden, 4 werden hier in europäischer Perspektive und mit einem kritischen Blick auf die Konstruktionsleistungen, die sie erst als legendäres Jahrzehnt konstituieren, beleuchtet. Das Berliner
Teilprojekt geht diesen Fragen in literaturwissenschaftlicher Perspektive nach
und fragt nach dem Beitrag von Literatur und Film zur Konstruktion eines
einflussreichen Jahrzehnts, aber auch für das Entdecken dieser Konstruktion
zuwiderlaufender Erzählungen. Eine internationale Tagung mit dem Titel „A
Golden Age for Queer Sexual Cultures? Lesbian and Gay Literature and Film in
1970s Germany“ wird dieses Thema vom 20. bis zum 22. Juli 2017 untersuchen.
3
Andreas Kraß: „Meine erste Geliebte“. Magnus Hirschfeld und sein Verhältnis zur schönen
Literatur, Göttingen 2013 (= Hirschfeld-Lectures 2); ders./ Benedikt Wolf: Queer Writing, in:
Andrew J. Webber (Hg.): The Cambridge Companion to the Literature of Berlin, Cambridge 2017,
S. 185–205.
4
Andreas Pretzel/Volker Weiß: Die westdeutsche Schwulenbewegung der 1970er Jahre.
Annäherungen an ein legendäres Jahrzehnt, in: dies. (Hgg.): Rosa Radikale. Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Bd. 2,
Hamburg 2012 (= Edition Waldschlösschen 12), S. 9–26.
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Neues aus dem Zentrum und der HU
Die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen in diesem Projekt nehmen die
Literatur der 1970er Jahre in den Blick. Janin Afken erforscht in ihrer Dissertation
die Spezifität lesbischer Literatur in den 1970er und 1980er Jahren im geteilten
Deutschland. Benedikt Wolf arbeitet in einem Postdoc-Projekt den Nachlass des
Journalisten und Satirikers Felix Rexhausen (1932-1992), der im Schwulen
Museum* liegt, auf, und fragt im Blick auf Nachlass und veröffentlichte Werke
Rexhausens nach den Leistungen der Satire für eine Kritik der Homosexuellenfeindlichkeit und für eine homosexuelle Emanzipation. Im Sommersemester
2017 bieten Janin Afken und Benedikt Wolf ein Seminar mit dem Titel „Autobiographisches Schreiben von lesbischen und schwulen Autor_innen in den 1970er
Jahren“ an, das auch für die Studierenden der Gender Studies geöffnet ist.
In einem Modellprojekt zum AIDS-Aktivismus, gefördert von der Bundesstiftung
Magnus Hirschfeld, wird das Forschungsprofil auf die 1980er und frühen 1990er
Jahre erweitert. In Zusammenarbeit mit Corinna Gekeler und Axel Schock vom
Arbeitskreis AIDS-Geschichte ins Museum sowie mit der Universitätsbibliothek
bereitet Liesa Hellmann ein Modellarchiv vor, das Nach- und Vorlässe von AIDSAktivist_innen der Forschung an der Humboldt-Universität zugänglich machen
wird.
Einen weiteren kunst- und kulturgeschichtlichen Schwerpunkt bauen wir zurzeit
neu auf. Die 2015 verstorbene US-amerikanische Kunstsammlerin Naomi Wilzig
hat in ihrem World Erotic Art Museum in Miami Beach eine weltweit einzigartige
Sammlung erotischer Kunst zusammengetragen, die für die Erforschung der
Kulturgeschichte der Sexualität immense Bedeutung hat. Die Sammlung kommt
im Rahmen eines Leihvertrags für fünf Jahre an die Humboldt-Universität und
wird in dieser Zeit von unserer Forschungsstelle erschlossen und erforscht. Das
im April 2017 startende Projekt wird von Hannes Hacke (derzeit wissenschaftlicher Volontär am Schwulen Museum*) betreut. Eine Reihe von Ausstellungen in
bestehenden Museen und Ausstellungsräumen sind bereits in Vorbereitung. Die
Arbeit an der Naomi Wilzig-Collection versteht sich auch als ein Projekt, das die
Zerstörung der Berliner Sexualwissenschaft und die Vertreibung und Ermordung
ihrer Protagonist_innen durch den Nationalsozialismus nicht auf sich beruhen
lassen will. In ihrer Sammlungstätigkeit ließ sich Naomi Wilzig unter anderem
durch das Bilderlexikon der Erotik (1928-1931) leiten, das das Institut für
Sexualforschung Wien herausgab. Diese Publikation dokumentierte fotografisch
Teile der kulturhistorischen Sammlung in Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft. Die Auseinandersetzung mit Naomi Wilzigs Sammlung verstehen wir
Neues aus dem Zentrum und der HU
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auch als einen Beitrag, das „verschmähte Erbe“ 5 der Sexualwissenschaft an der
Humboldt-Universität kritisch anzutreten.
Berlin gilt heute als eine Hauptstadt der nicht-normativen Sexualitäten. Die
kulturellen und politischen Bedingungen für LGBTIQs in Berlin bringen – bei
allen aktuellen bedrohlichen Entwicklungen in der Innen- und Außenpolitik –
eine diverse kulturelle, wissenschaftliche und aktivistische Landschaft hervor, die
auf der Welt ihresgleichen sucht. Dieser besonderen Stellung der LGBTIQ-Kultur
in Berlin soll in naher Zukunft durch ein gemeinsames Haus der Berliner Kultur-,
Bildungs- und Forschungsinstitutionen mit LGBTIQ-Bezug materieller und
institutioneller Ausdruck verliehen werden. An dem Projekt eines ElberskirchenHirschfeld-Hauses („E2H“), das Eingang in den Koalitionsvertrag der neuen
Berliner Regierung gefunden hat, ist unsere Forschungsstelle aktiv beteiligt und
hofft in diesem Rahmen ihre Forschungen zur langen Geschichte Berlins als
Hauptstadt der sexuellen Außenseiter noch viele Jahre fortzusetzen und die
Erinnerung an diese Tradition wachzuhalten.
Eva-Lotte Rother
Ziemlich International − ein Auslandssemester an der
CEU in Budapest
Die CEU –die Central European University ist noch sehr jung, wenn man sie mit
anderen Universitäten vergleicht. Sie liegt in Budapest und war für vier Monate
im Rahmen eines Erasmussemesters meine akademische Heimat. Gegründet
wurde diese Privatuniversität 1991 vor allem mit dem Ziel, den Wandel in
Ungarn als postkommunistischem Land zu begleiten. Mittlerweile hat sich das
ein bisschen gewandelt. Der Schwerpunkt liegt inzwischen vor allem auf
globalen Zusammenhängen. Mit 1600 Studierenden aus über 100 Ländern ist
die Universität zwar relativ klein, gehört aber zu den internationalsten Universitäten weltweit. Es werden vor allem Sozialwissenschaften unterrichtet und im
Vergleich zu der Größe der Universität sind die Gender Studies dort ein deutlich
größeres Fach als an der HU.
Das Semester, oder besser der Term beginnt Anfang September. Ich bin ein
bisschen überrascht, als ich merke, dass ich in Gender Studies die einzige
Deutsche bin. Meine Kommiliton_innen kommen aus Russland, USA, Spanien,
5
Dose, Das verschmähte Erbe.
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Neues aus dem Zentrum und der HU
Kroatien, Brasilien, Frankreich, China … Ich kann längst nicht alle Länder
aufzählen. Und es ist spannend, dass es, auch wenn weiße Personen immer
noch deutlich in der Überzahl sind, keine wirklichen nationalen Mehrheiten gibt.
Meine erste Woche ist angefüllt mit Informationsveranstaltungen, ganz
allgemeinen, aber auch solchen vom Department. Es gibt unter anderem eine
Diskussion über Spannungen zwischen Wissenschaft und Aktivismus, die sich
immer wieder ergeben und damit ein bisschen aufgeweicht werden sollen.
Außerdem stellen sich alle Professor_innen mit ihren Kursen vor, was die erste
„richtige“ Unterrichtswoche entlastet.
Die Kurse funktionieren ein bisschen anders, als ich das aus Berlin gewohnt bin.
Viele finden zwei Mal wöchentlich statt, eine Einheit sind 100 min statt der
gewohnten 90 und eines der ersten Dinge, über die ich stolpere, ist, dass am
Ende nicht geklopft oder geklatscht wird. Es wird viel Stoff behandelt. Wir
müssen bis zu vier Texte pro Woche für ein Fach lesen, regelmäßige Reflexionspapiere einreichen und natürlich Referate halten. Die Anwesenheit wird
kontrolliert. Außerdem sind deutlich weniger Fächer interdisziplinär ausgeschrieben. Zum einen ist es nett, weil ich dadurch meine Kommiliton_innen
schneller und besser kennenlerne und zumindest manche Grundlagen von allen
geteilt werden, zum anderen merke ich aber auch, wie erfrischend es ist, viel und
oft Einblicke und Meinungen von Menschen anderer Fächer zu bekommen.
Viele Themen habe ich auf die eine oder andere Art schon in Berlin angeschnitten. Und trotzdem sind es neue Diskussionen. Es dauert ein bisschen, bis ich
herausfinde, wieso sich die CEU so anders anfühlt als die HU. Ich glaube,
besonders einflussreich ist dabei, dass die meisten Studierenden maximal ein
Jahr da sind. Fast alle sind neu in der Stadt, es gibt weniger vorhandene
studentische Strukturen, aber es ist auch klar, dass es sich um eine „besondere
Zeit“ handelt, die nicht ewig ausgedehnt werden kann. Ich habe auch das
Gefühl, dass weniger streng mit Sprache umgegangen wird, weil Englisch zwar
Unterrichtssprache, für die meisten aber nicht die Muttersprache ist. Natürlich
werden viele Diskussionen um Sprachpolitik und Ausdrucksmöglichkeiten
geführt: Wer kann sprechen? Wer hat Redebeiträge? Wie können Dinge
ausgedrückt werden? Aber weil klar ist, dass Fehler in einer anderen Sprache
immer dazu gehören, habe ich den Eindruck, dass sich alle noch mehr Mühe
geben, gemeinsam eine positive Ausdrucksmöglichkeit zu finden.
Die CEU bietet viele Aktivitäten an. Ich bin mir nicht sicher, wie viele E-Mails ich
pro Tag bekommen habe. Im Schnitt konnte ich bestimmt an mindestens drei
verschiedenen Veranstaltungen pro Tag teilnehmen, aber zeitlich realistisch sind
eher zwei bis drei pro Woche. Dazu zählen für mich unter anderem Vorträge wie
der des Britischen Botschafters zu Brexit, Filmvorführungen, Book Launches, ein
Neues aus dem Zentrum und der HU
| 13
Podcast Workshop, der Uni-Chor, Wanderungen oder ein Abend mit der
Budapest Bike Maffia, die Brote für Obdachlose vorbereitet und dann (auf dem
Fahrrad) verteilt.
Das macht alles sehr viel Spaß, führt aber auch, zusammen mit der Sprachbarriere im Ungarischen, ein bisschen dazu, dass ich mich in einer Uni-Blase
wiederfinde. Je nachdem, mit welchen Erwartungen ein Erasmussemester
verknüpft ist, kann das in Ordnung sein oder ein bisschen schade. Die Sorge,
die ich vorher hatte, nämlich vor allem mit anderen Erasmus Studierenden
zusammen zu sein, bewahrheitet sich zumindest nicht. Mein Status als Erasmus
Studierende ist praktisch nicht erkennbar und ich bin einfach genau wie (fast)
alle anderen neu in Ungarn und neugierig.
Und am Ende des Terms, als wir tatsächlich in der Uni zu wohnen scheinen und
fieberhaft daran arbeiten, drei Hausarbeiten vor Weihnachten fertig zu
schreiben, stellen wir fest, dass es beinahe ein bisschen egal ist, ob die
Universität gerade in Budapest oder irgendwo anders auf der Welt steht, da wir
uns sowieso hauptsächlich in der Bibliothek aufhalten. Dass ein Semester viel zu
kurz ist, um Budapest ausreichend kennenzulernen. Dass es immer am meisten
auf die Menschen ankommt, die einen umgeben. Und ich weiß, dass ich auf
jeden Fall wiederkommen will.
14 | I n i t i a t i ve n i n F o r s c h u n g u n d L e h r e b u n d e s we i t / i n t e r n a t i o n a l
Graduiertenschule Genderforschung (GGf ) an der
Universität Koblenz-Landau
Die Graduiertenschule Genderforschung, kurz GGf, ist assoziiert mit dem
Interdisziplinären Promotionszentrum (IPZ) und bildet als strukturiertes
Promotionsprogramm den organisatorischen Rahmen für Promotionsprojekte
im Bereich der Genderforschung an der Universität Koblenz-Landau. Die GGf ist
eine interdisziplinäre Graduiertenschule, die mit diesem Profil der Ausdifferenzierung und der Komplexität des Forschungsfeldes Rechnung trägt und den
wissenschaftlichen Dialog der Fächer und Disziplinen im Kontext der Genderforschung weiter voranbringen möchte. Dies spiegelt sich sowohl in der
Konzeption der Angebote als auch in der fächerübergreifenden Beteiligung von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wider. Entsprechend wird die GGf
auch von einer disziplin- und campusübergreifenden Kommission geleitet, die
durch Prof. Dr. Claudia Quaiser-Pohl und Prof. Dr. Uta Schaffers als Sprecherinnen vertreten wird.
Das primäre Ziel der GGf ist die Förderung von Promotionsprojekten im Bereich
der Genderforschung an der Universität Koblenz-Landau. Dazu stehen der neu
gegründeten Graduiertenschule derzeit Mittel für drei Promotionsstipendien zur
Verfügung. Ein Stipendium ist besetzt, zwei Stipendien sind aktuell ausgeschrieben. Die Förderphase der beiden noch nicht besetzten Stipendien beläuft
sich mit einer monatlichen Stipendienrate von 1.250,- € auf 32 Monate. Eine
Bewerbung ist noch bis zum 01.04.2017 möglich.
Neben der Anbindung durch ein Stipendium besteht die Option einer assoziierten Mitgliedschaft. Während die Stipendien ausschließlich zur Förderung der
Promotionsphase vorgesehen sind, können sich sowohl Promovierende als auch
Postdocs der Universität Koblenz-Landau um eine Assoziierung bewerben.
Grundlegend für einen Antrag ist neben der Auseinandersetzung mit genderbezogenen Fragestellungen in den Forschungsarbeiten das Interesse an einem
interdisziplinären Austausch.
Die GGf ermöglicht ihren Mitgliedern durch wechselnde Veranstaltungsformate
einen regelmäßigen Austausch und Gelegenheit zur Diskussion der Forschungsprojekte. Der interdisziplinäre Dialog zwischen Promovierenden und Postdocs
sowie teilnehmenden Professorinnen und Professoren steht dabei stets im
Vordergrund. Das entsprechende Studienprogramm gliedert sich in einen
Pflicht- und einen Optionalbereich. Der Pflichtbereich beinhaltet die Module
„Theoretische und methodische Zugänge in der Genderforschung“ sowie
„Wissenschaftlicher Dialog“. Im Optionalbereich wählen die Nachwuchswissenschaftlerinnen flankierende Angebote, die sie bei Fertigstellung der Dissertation
I n i t i a t i ve n i n F o r s c h u n g u n d L e h r e b u n d e s we i t / i n t e r n a t i o n a l
| 15
und in der Ausbildung ihres wissenschaftlichen Profils unterstützen. Weiterhin
sieht die Förderung innerhalb der GGf unterstützende Maßnahmen vor, welche
die Entwicklung eines wissenschaftlichen Profils anstreben. Diese Maßnahmen
berücksichtigen sowohl das Aneignen relevanter Kompetenzen für die Promotionsphase als auch wesentliche Vorbereitungen für eine wissenschaftliche
Laufbahn. Außerdem stehen für die Stipendiatinnen Mittel für Tagungsbesuche
und Druckkostenzuschüsse im Falle einer Publikation der Dissertation in einem
Verlag bereit. Um die erforderliche Flexibilität für den Forschungsprozess zu
gewährleisten, wird die Umsetzung des Konzepts sukzessive gestaltet.
Zu den Kernanliegen der GGf zählt neben der Nachwuchsförderung auch die
Unterstützung einer fächer- und standortübergreifenden Vernetzung von
bestehenden sowie entstehenden thematisch passenden Forschungsprojekten
an der Universität Koblenz-Landau. Durch die zentrale Bedeutung der interdisziplinären Ausrichtung der GGf können sich Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler aus allen Fachbereichen der Universität Koblenz-Landau, d.h.
aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, aus den Bildungswissenschaften
und der Psychologie ebenso wie aus den Natur- und den Informationswissenschaften daran beteiligen.
Als ein Element der gleichstellungsfördernden Maßnahmen an der Universität
Koblenz-Landau erfolgt die Finanzierung der GGf über das Professorinnenprogramm II des Bundes und der Länder.
Weitere Informationen unter ggf-koblenz-landau.de
„Gender & Queer Studies“: ein neuer Masterstudiengang
in Köln 6
Zum Wintersemester 2017/2018 ist es soweit. Ein neuer, einzigartiger Studiengang
geht an den Start.
Die Möglichkeiten, die die Stadt Köln sowohl mit ihrer großen Hochschuldichte
wie mit ihren vielfältigen feministischen und queeren Bewegungen bietet, finden
sich in der Konzeption des Masters wieder. Der forschungsorientierte Studiengang wird von allen sechs Fakultäten der Universität zu Köln (UzK) unterstützt
und gemeinsam mit der Technischen Hochschule Köln realisiert. Er beinhaltet
6
Vorbehaltlich des Beschlusses nach dem Akkreditierungsverfahren, in dem sich der Studiengang
derzeit befindet.
16 | I n i t i a t i ve n i n F o r s c h u n g u n d L e h r e b u n d e s we i t / i n t e r n a t i o n a l
zudem eine Kooperation mit der Hochschule für Musik und Tanz Köln. „Queer“
als Kritik an essentialistischen, binären und heteronormativen Vorstellungen
und als Denkweise der Ermöglichung von Multiperspektivität wurde als
theoretischer Ausgangspunkt besonders hervorgehoben und ausdrücklich in den
Namen des Studiengangs aufgenommen. Der Abschluss ist ein Master of Arts,
der sowohl von der UzK als auch TH Köln zuerkannt wird. Der 1-FachMasterstudiengang richtet sich an Studierende aus ganz unterschiedlichen
Fachdisziplinen und bietet forschungsorientierte Profilierungsmöglichkeiten aus
den breiten Feldern der (angewandten) Sozial- und Erziehungswissenschaften,
Geistes- und Kulturwissenschaften, Natur- und Technikwissenschaften,
Rechtswissenschaften, Medizin, Wirtschaftswissenschaften und den Künsten.
Im Fokus des Studiengangs steht die Untersuchung der Hervorbringungen,
Konstruktionen, Materialisierungen von „Geschlecht“ und „Geschlechterverhältnissen“ sowie ihre Verflechtungen in sozialen, kulturellen, rechtlichen,
ökonomischen und naturwissenschaftlichen Ordnungsmustern und Klassifikationen. Hierarchisierung und Privilegierung/Benachteiligung qua Geschlecht und
weiterer Differenzsetzungen, Heteronormativität als vorherrschendes Denkmuster und naturalisierte Praxis werden besonders vor dem Hintergrund kulturellmedialer, didaktischer, sozio-ökonomischer, medizinischer und rechtlicher
Fragestellungen gemeinsam mit den kooperierenden Fakultäten und Hochschulen und gemäß ihrer jeweiligen Forschungsschwerpunkte im Rahmen des
Studiengangs problematisiert. Die übergeordnete Frage, welche Mechanismen
und Praxen Zweigeschlechtlichkeit in diesen Zusammenhängen immer wieder
stabilisieren, Dichotomien naturalisieren und Ausschlüsse und Diskriminierungen produzieren, wird aus diesen verschiedenen Blick- und Denkrichtungen
analysierbar und trotz ihrer verschiedenen Matrizes aufeinander beziehbar.
Gleichzeitig wird eine Wissenschaft etabliert, die neue Denkmöglichkeiten und
Handlungsspielräume für queer-feministische Interventionen in Bezug auf
medial-kulturelle Darstellungsformen, (Schul-)Bildung, binäre und prekäre
Arbeitsteilungen, Altersvorsorge, medizinische Betreuung und rechtliche
Gleichstellung aufzeigt.
Profil des Studiengangs
Der 1-Fach-Master Gender & Queer Studies bietet Studierenden aus unterschiedlichen Fachdisziplinen forschungsorientierte Profilierungsmöglichkeiten
aus den breiten Feldern der (angewandten) Sozial- und Erziehungswissenschaften, Geistes- und Kulturwissenschaften, Natur- und Technikwissenschaften,
Rechtswissenschaften, Medizin, Wirtschaftswissenschaften und den Künsten.
Der zweijährige Studiengang baut zudem auf die Erfahrungen, Fähigkeiten und
I n i t i a t i ve n i n F o r s c h u n g u n d L e h r e b u n d e s we i t / i n t e r n a t i o n a l
| 17
Interessen seiner Studierenden mit ihren vielfältigen Vorerfahrungen und
Orientierungen auf.
Studierende erwerben Qualifikationen, die sie auf ihr späteres Berufsleben
vorbereiten, beispielsweise grundlegende Kompetenzen und das Aufbauen von
Netzwerken für eine anschließende wissenschaftliche Tätigkeit, sowohl an
Hochschulen als auch an außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Sie
erwerben gendersensible Methodenkompetenzen, die in anwendungsorientierten Arbeitsfeldern, wie z.B. der Intervention und Beratung gefragt sind. Eine
spezifische Expertise in den Gender und Queer Studies in Verbindung mit dem
zuvor im Bachelor erworbenen fachlichen Profil wird ausgebaut. Ein solches
Fachwissen findet beispielsweise in der Politik- und Organisationsberatung, aber
auch in Bereichen der Sozialen Arbeit/Pädagogik Anwendung.
Der 1-Fach-Masterstudiengang Gender & Queer Studies ist als Vollzeitstudiengang mit einer Regelstudienzeit von vier Semestern geplant. Die Einrichtung
eines Teilzeitstudiums soll jedoch perspektivisch ermöglicht werden.
1. Sem.
BM I (9 LP) BM II (9 LP)
BM III (9
LP)
30 LP
2 Sem.
AM (9 LP)
AM (9 LP)
SM I (9 LP) EM (9 LP)
30 LP
3. Sem.
AM (9 LP)
AM (9 LP)
SM
LP)
30 LP
4. Sem.
Masterarbeit und Masterkolloquium
II
(9
30 LP
Basismodule (Pflichtmodule BM I-III):
Während sich das BM I aus der Einführung in die Gender und Queer Studies
sowie einer interdisziplinären Ringvorlesung zusammensetzt, werden in BM II
die grundlegenden Konzepte der Gender und Queer Studies in zwei aufeinander
abgestimmten Seminarveranstaltungen aus den Bereichen Transformationen
und Geschlecht sowie Macht und Geschlecht vertieft. Das BM III Methoden und
Vermittlung setzt sich aus einer einführenden Methodenvorlesung und einem
Spezifizierungsseminar aus den Bereichen empirische Sozialforschung,
Methoden der Intervention und Beratung oder text- und kulturwissenschaftlich
orientierte Analyseverfahren zusammen.
Schwerpunktmodule (SM I-II):
Die Schwerpunktmodule im zweiten (SM I oder „Studienprojekt I“) und dritten
Semester (SM II oder „Studienprojekt II“) dienen dazu, den Studierenden
18 | I n i t i a t i ve n i n F o r s c h u n g u n d L e h r e b u n d e s we i t / i n t e r n a t i o n a l
innerhalb des vielfältigen Angebots und der unterschiedlichen disziplinären
Zugänge eine Fokussierung und Erprobung zu ermöglichen. Die erworbenen
Grundlagen aus den BM I-III können durch ein Forschungs- bzw. Praxisprojekt,
eine Praxisphase oder eine Exkursion Anwendung finden, wobei Problemstellungen und mögliche Interventionsstrategien der Gender und Queer Studies auch
in den nicht-akademischen, öffentlichen Raum überführt werden können.
Aufbaumodule (AM I-V):
Die Aufbaumodule werden erstmals ab dem Sommersemester 2018 angeboten.
Aus insgesamt fünf Aufbaumodulen müssen vier gewählt werden. Sie erweitern
die disziplinäre Perspektive systematisch durch die disziplinübergreifenden
Themenfelder der Seminare und teilen sich in folgende Bereiche:
AM I
Vergeschlechtlichtes Wissen und Bildung
AM II
Körper, Sexualität und Bewegung
AM III Repräsentation, Ästhetik, Konstruktion und Medialisierung
AM IV Sozialpolitik und Sozialökonomie
AM V
Globale Transformation, sozio-kulturelle und rechtliche Ungleichheit
Mit den Aufbaumodulen wird die sich stetig erhöhende Komplexität und
Dialogizität von Wissenschaft, Welt und gesellschaftlichem Wandel reflexiv
erfahr- und kritisch nachvollziehbar.
Ergänzungsmodul (EM):
Das EM, in Form eines Kolloquiums, begleitet eine Studiengangkohorte vom
ersten bis zum dritten Semester. Hier wird der Austausch zwischen den
Studierenden ermöglicht. Es dient der Rahmung, Synthetisierung und Rückführung der im Studiengang entwickelten und ausdifferenzierten Perspektiven und
Problematisierungen.
Masterarbeit und Masterkolloquium:
Mit dem Verfassen der Masterarbeit sollen die Studierenden die Fähigkeit
nachweisen, innerhalb einer vorgegebenen Frist ein ihnen gestelltes Thema aus
dem Gegenstandsbereich der Gender & Queer Studies selbstständig mit
wissenschaftlichen Methoden und in klarer Darstellung der Erkenntnisse zu
bearbeiten.
Bewerbung ab 15.6.2017. Weitere Fragen bitte an: master-gender-queer[at]unikoeln.de
I n i t i a t i ve n i n F o r s c h u n g u n d L e h r e b u n d e s we i t / i n t e r n a t i o n a l
| 19
Kathrin Ganz, Marcel Wrzesinski
Open Access in der Geschlechterforschung: Open
Gender Journal
www.opengenderplattform.de | redaktion@opengenderjournal.de
OGJ. Open Gender Journal ist eine neue Open-Access-Zeitschrift für die
Geschlechterforschung, in der fortlaufend qualitätsgesicherte Fachbeiträge
veröffentlicht werden. OGJ wird herausgegeben von deutschsprachigen
Geschlechterforscher_innen (Gesine Ahlzweig, Tanja Carstensen, Kathrin Ganz,
Gabi Jähnert, Japhet Johnstone, Anja Michaelsen, Kerstin Palm, Anita Runge,
Marcel Wrzesinski), die mit ihren universitären Institutionen in verschiedenen
Funktionen und Rollen mitarbeiten. OGJ soll durch einen internationalen Beirat
unterstützt werden.
Eine Grundidee von OGJ ist es, die Breite und Vielfalt des wissenschaftlichen
Feldes der Geschlechterforschung ohne thematische Einschränkungen zu
spiegeln: OGJ verzichtet auf redaktionelle Themensetzungen und ermöglicht
durch eine fortlaufende Erscheinungsweise einen beschleunigten und offenen
Publikationsprozess. Damit erhält die Geschlechterforschung einen Ort, an dem
Wissenschaftler_innen ihre Forschungsergebnisse entsprechend der eigenen
aktuellen Schwerpunkte schnell publizieren können – ohne Limitierung durch
thematische Call for Papers.
Zugleich bietet OGJ verschiedenen Gruppen und Organisationszusammenhängen die Möglichkeit, die Beiträge aus wissenschaftlichen Veranstaltungen und
Projekten zu dokumentieren. Gegenwärtig werden vom Redaktionsteam unter
anderem Fachartikel zur Publikation vorbereitet, die im Rahmen der 6.
Jahrestagung der Fachgesellschaft Geschlechterstudien (Berlin 2016) zum
Thema „Materialität/en“ diskutiert wurden.
Das Open Gender Journal ist Teil der neu gegründeten Open Gender Plattform
und damit eingebettet in diverse Bestrebungen, geschlechterwissenschaftliches
Fachwissen frei zugänglich und nutzbar zu machen. Durch die Verwendung von
„Open Journal Systems“, einem weltweit verbreiteten Publikationssystem, sowie
einer freien Lizenz (Creative Commons; CC-BY 4.0) werden Zugänglichkeit und
langfristige Archivierung gesichert. Sowohl die Zeitschrift als auch die Plattform
werden auf der trinationalen Jahrestagung der deutschsprachigen Geschlechterforschung (D-A-CH) im September 2017 erstmals vorgestellt. Parallel dazu
arbeiten Mitglieder der AG Publikationen der Fachgesellschaft Geschlechterstudien daran, die Plattform um weitere Zeitschriften zu ergänzen, alternative
Verfahren der Begutachtung zu erproben (z.B. „Open Review“), eine Sektion für
20 | I n i t i a t i ve n i n F o r s c h u n g u n d L e h r e b u n d e s we i t / i n t e r n a t i o n a l
Open-Access-Monographien einzurichten und Möglichkeiten des Forschungsdatenmanagements zu sichten.
Call for Paper / Reviewers
Im Open Gender Journal werden fortlaufend Artikel zur Begutachtung angenommen und entsprechend veröffentlicht. Gemäß dem Selbstverständnis gibt es
weder Deadlines noch thematische Ausgaben, gleichwohl soll jeder Beitrag
einen erkennbaren geschlechterwissenschaftlichen Bezug haben. Geschlechterforschung wird dabei als Sammelbegriff für die verschiedenen methodischen
und theoretischen Ausrichtungen innerhalb des Feldes (Frauenforschung,
Geschlechterforschung, Genderforschung, Gender Studies, feministische
Forschung) verwendet. Angrenzende Felder wie Queer Studies, Disability
Studies, Rassismusforschung und Postcolonial Studies, Diversity Studies,
insbesondere auch die Berücksichtigung intersektionaler Perspektiven werden
mit eingeschlossen.
Daneben werden fortlaufend Fachgutachter_innen gesucht, die gemäß ihrer
jeweiligen Schwerpunkte die Redaktion bei der Qualitätssicherung der Beiträge
unterstützen. Durch ein elektronisches Begutachtungssystem wird die Arbeit
dabei einfacher und transparent gestaltet. Promovierte Wissenschaftler_innen
aus den oben genannten Feldern sind herzlich eingeladen, sich auf OGJ als
Gutachter_innen zu registrieren.
N e u e Pr o f e s s o r _ i n n e n / wi s s . M i t a r b e i t e r _ i n n e n
| 21
Silvy Chakkalakal
Juniorprofessur am Institut für Europäische Ethnologie der Philosophischen
Fakultät I der HU
Im April 2017 beginne ich meine Stelle als Juniorprofessorin am Institut für
Europäische Ethnologie mit dem Schwerpunkt Gender, Bildung und Zukunft. Ich
freue mich sehr, als Mitglied am ZtG die bereits vorhandene Schnittstelle
zwischen Gender Studies und Europäischer Ethnologie in Lehre und Forschung
zu verstärken und zu erweitern.
Mein Hauptstudium und meine Promotion habe ich an der HU absolviert und
kenne das ZtG also auch aus meiner Zeit als Studentin und Promovendin.
Zudem habe ich mehrere Jahre erst als studentische und dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Margherita-von-Brentano-Zentrum (vormals: Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung) an der Freien
Universität Berlin gearbeitet. Umso mehr freue ich mich darauf, mich nun in die
Lehre, die Betreuung und in die Gremienarbeit des ZtG miteinzubringen.
Nach meiner Promotion am Institut für Europäische Ethnologie war ich
Assistentin am Baseler Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische
Ethnologie. Gegenstand meines dort begonnenen Habilitationsprojekts sind die
kollaborativen und ästhetischen Arbeiten der US-amerikanischen Kulturanthropologin Margaret Mead. Mead selber hat sich während ihrer langen Berufslaufbahn immer wieder mit den Themen Geschlecht, Bildung und Zukunft
beschäftigt, die nun auch in meiner Arbeit einen zentralen Stellenwert haben
werden.
So freue ich mich, auf dem Schnittfeld von Europäischer Ethnologie und Gender
Studies folgende inhaltliche Schwerpunkte beizusteuern und zu verstärken:
Erstens arbeite ich an einer kulturanthropologischen Bildungsforschung, in der
es um die konkreten Bildungs- und Wissenspraktiken von Akteur_innen gehen
soll. Das Potential einer europäisch-ethnologischen Bildungsforschung sehe ich
darin, zu fragen, wie Menschen in ihrem Alltag Bildung praktizieren, konzeptualisieren und welchen Einfluss Bildung auf unterschiedliche Lebenswelten und bereiche hat. Ein solches weites Verständnis von Bildung ermöglicht es, den
Fokus nicht nur auf einzelne Bildungsinstitutionen zu legen, sondern in erster
Linie auf unterschiedliche Bildungspraktiken.
Zweitens interessiere ich mich mit dem Nexus Gender/Bildung/Zukunft für
Bildungspolitiken. Das Thema Bildung fungiert in öffentlichen Diskursen nicht
selten als ein Brennglas für unterschiedliche soziale Probleme. Hier lässt sich
untersuchen, wie eng Meinungen und Empfehlungen zu Bildung mit anderen
22 |
N e u e Pr o f e s s o r _ i n n e n / wi s s . M i t a r b e i t e r _ i n n e n
politischen Themen – wie z.B. Gleichstellung, Migration, Arbeit – zusammenhängen. Über Bildungskonzepte werden individuelle Lebenschancen, aber auch
zukünftige Gesellschaftsentwürfe verhandelt. Aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive will ich Bildung als ein politisches Feld analysieren, das durch
spezifische Macht- und Regierungslogiken konstituiert ist. Es geht mir hier auch
darum, in den Blick zu nehmen, wie unterschiedliche Bildungsakteur_innen
Bildung anbieten, konsumieren oder ablehnen und welche Art von gesellschaftlicher Zukunft sie hierbei entwerfen.
Drittens bin ich sehr an der Analyse künstlerischer und populärkultureller
(Bildungs-)Formate interessiert, die ich unter den Schwerpunkt „Bildung,
Medialität und ästhetisch-sinnliche Praxis“ fasse. Bereits in meiner Dissertation
habe ich die Verbindung zwischen Einbildung, Bild und Bildung untersucht und
auch in meiner aktuellen Forschung zu Margaret Meads Arbeit stehen
künstlerische, poetische und sinnliche Formate im Vordergrund.
Diese drei Schwerpunkte finden sich natürlich auch in meiner Lehre wieder, die
sich an Studierende der Europäischen Ethnologie und der Gender Studies
richtet. Ebenso betreue ich gerne Abschlussarbeiten in diesen inhaltlichen
Feldern. Über meine weiteren Interessen und Aktivitäten verweise ich an dieser
Stelle noch auf meine Baseler Homepage, da ich die HU-Seite erst noch
bestücken
muss:
https://kulturwissenschaft.unibas.ch/seminar/personen/profil/portrait/person/
chakkalakal/
Ich freue mich sehr darauf, bekannte Gesichter wiederzusehen und neue
Kolleg_innen und Studierende kennenzulernen!
W a s ma c h e n e i g e n t l i c h u n s e r e A b s o l ve n t _ i n n e n ?
| 23
Folke Brodersen
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut, München
Meine erste berufliche Anstellung nach Abschluss des Masterstudiengangs
Gender Studies hat sich durch vorherige Tätigkeiten als Praktikant und Hilfskraft
ergeben. Zufällig stieß ich Ende 2012 auf eine Ausschreibung des Deutschen
Jugendinstituts (DJI) in München (www.dji.de): Durchgeführt werden sollte eine
Pilotstudie zur Lebenssituation und Diskriminierungserfahrungen von
lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen. Nach einem Praktikum im
Rahmen meines BA-Studiums im darauffolgenden Frühjahr, einem Honorarvertrag in diesem Projekt und einer halbjährigen Beschäftigung als wissenschaftliche Hilfskraft in der anschließenden Hauptstudie nach Ende des Bachelor- und
vor Beginn des Masterstudiums, bin ich heute wieder am DJI tätig − nun als
wissenschaftlicher Mitarbeiter. Zusammen mit zwei Kolleginnen erarbeite ich in
einem DFG-Projekt Methoden der quantitativen Jugendforschung, die Jugendlichen mit Behinderungen in Bezug auf Kommunikationsformen und Fragebogenformate gerecht werden, passende Zugänge wählen und sich an ihrer Lebenswelt orientieren. Meine studienbegleitenden Tätigkeiten und die damalige
initiative Anfrage waren so in mehrerer Hinsicht folgenreich für mich. Ich habe
zum einen praktisches Forschungsvorgehen innerhalb eines Teams kennenlernen und die Abläufe und Bedingungen eines außeruniversitären Wissenschaftsbetriebs erfahren können, zum anderen konnte ich meine Masterarbeit in Bezug
und mit Daten der Studie ‚Coming out – und dann…?!‘ verfassen und hatte
schließlich die Chance, mich auf meine gegenwärtige Stelle zu bewerben. Meine
derzeitige Anstellung in Teilzeit bietet mir nun die Möglichkeit, in der Laufzeit
von zwei Jahren an einem spannenden Projekt teilzuhaben, mich in ein weiteres
Themenfeld intensiv einzuarbeiten wie auch genügend Raum für die Vorbereitung eines Promotionsvorhabens und gesellschaftspolitisches Engagement.
Das DJI als Forschungsstandort und Arbeitgeber unterscheidet sich an
bestimmten Stellen in seinen Schwerpunktsetzungen und seinem Forschungshandeln von dem an Hochschulen und Universitäten. Dies betrifft sowohl die
Genese von Forschungsfragen als auch die Dissemination von Forschungsergebnissen. So orientieren sich die meisten Projekte des DJI nicht primär an
theoretischen Neuentwicklungen wissenschaftlicher Perspektiven und fokussieren nicht ausschließlich Publikationsformen, die sich an ein wissenschaftliches
Publikum richten. Sie beantworten über den wissenschaftsimmanenten
Anspruch hinaus aktuelle Bedarfe aus Politik und stellen Handreichungen und
Empfehlungen für pädagogische Fachpraxis bereit. Die Forschung am DJI ist so
unter anderem durch Expertisen, Evaluierungen oder wissenschaftliche
Begleitungen pädagogischer Programme an konkreten politischen Steuerungs-
24 |
W a s ma c h e n e i g e n t l i c h u n s e r e A b s o l ve n t _ i n n e n ?
und Gesetzgebungsprozessen beteiligt. Diese unterschiedlichen Adressat_innengruppen jeweils passend zu bedienen, ist eine Herausforderung für die
jeweiligen Projekte und Arbeitseinheiten wie auch eine Chance, hohe Resonanz
in der Praxis zu finden. Auch die institutionelle Einbindung innerhalb des DJI ist
spezifisch: So besteht mit der Anstellung an dem außeruniversitären Wissenschaftsbetrieb keine Lehrverpflichtung, was ein intensives Arbeiten am
jeweiligen Forschungsprojekt ermöglicht. Zugleich besteht ein intensiver
Austausch innerhalb des Instituts – in zahlreichen Sitzungen der Abteilungen,
Fachgruppen, Arbeitskreisen und mit thematisch benachbarten Kolleg_innen
findet ein zwar zeitintensiver, aber produktiver Austausch statt, durch den
sowohl das eigene Projekt weiterentwickelt als auch das Institut gestaltet werden
kann und soll. Schließlich erfordert eine entsprechende Einbindung aber auch
die Bearbeitung organisatorischer Aufgaben . Anträge auf Dienstreisen und
Fortbildungen sowie die Vorbereitung von Sitzungen des Projektbeirats und
Workshops gehören neben der wissenschaftlichen Tätigkeit zu den Arbeitsaufgaben. Schließlich finden am DJI im Gegensatz zum universitären Kontext fast
ausschließlich Forschungen auf empirischer Basis statt. Methoden und
Ergebnisse sind dabei auf eine qualitative wie quantitative Beschreibung und
Einordnung gesellschaftlicher und sozialer Phänomene und Problemlagen
ausgerichtet, eher als auf eine Überarbeitung theoretischer Perspektiven. Das
Deutsche Jugendinstitut – wie sicherlich auch andere außeruniversitäre
Wissenschaftseinrichtungen – bietet damit einen Rahmen und Gelegenheiten für
eine wissenschaftliche Tätigkeit und stellt zugleich entsprechende Anforderungen an die Mitarbeitenden.
Innerhalb der Fachabteilungen ‚Kinder und Kinderbetreuung‘, ‚Jugend und
Jugendhilfe‘ und ‚Familien und Familienpolitik‘ sind am DJI dabei auch
zahlreiche Themen verortet, an die Absolvent_innen der Gender Studies
anschließen können. So bestehen Schwerpunkte in der Verteilung und
Transformation von Carearbeit wie auch im Detail in der Organisation und
Ausgestaltung von Kinderbetreuung, in der (aktiven) Vaterschaft und in
sexualisierter Gewalt. Darüber hinaus betrachtet eine diversitätsorientierte
Jugendforschung, die sich mit schwulen, lesbischen, bisexuellen, trans* und
inter* Jugendlichen beschäftigt wie auch mit Jugendlichen mit Behinderungen
und jungen Geflüchteten, methodische Perspektiven der Jugendforschung,
Lebenssituationen der Jugendlichen und Bedarfe der Jugendhilfe. Bei insgesamt
360 Beschäftigen und mehr als 50 neu ausgeschriebenen wissenschaftlichen
Stellen pro Jahr kann das DJI ein Ort sein, um nach dem Studium wissenschaftliches Arbeiten fortzusetzen und zu vertiefen und dabei an Perspektiven der
Gender Studies anzuschließen. Gerne stehe ich Interessierten bei Fragen als
Ansprechpartner zur Verfügung: brodersen@dji.de
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
| 25
Jana Asmus
Internationales Festival/Symposium Moving Memory,
Erinnerung in Bewegung 7
20.-22.10.2016
„Für uns ist es wichtig, Kunst und politische Bildung zu verschmelzen und verschiedene Formen der Wissensvermittlung zu kombinieren. Dazu gehören Musik, Tanz,
Theater, aber auch Vorträge und Seminare. Das ist insbesondere wichtig, da wir
transdisziplinär arbeiten und uns gerne mit Themen auf unterschiedlichen Ebenen
befassen.“ (Oxana Chi)
Oxana Chi 8 und Layla Zami 9 präsentierten vom 20.-22. Oktober 2016 das
Festival-Symposium „Moving Memory, Erinnerung in Bewegung.“ In Kooperation mit dem Frauen*-Referat an der Technischen Universität zu Berlin und dem
Projekt Berlin 2050 − Stadt der Zukunft des Kulturbüros des Studentenwerks
verbanden sie künstlerische und akademische Beiträge. Dabei gab es an allen
drei Tagen einen Genrewechsel von Tanzperformances, Panels, Spoken Words,
Film und Live Musik. Erstmals in Berlin begegneten sich unter diesem
aktivistischen_akademischen Dach Schwarze, jüdische, muslimische und Roma
Menschen, die sich teilweise als trans*, schwul, queer definieren. Kulturelle
Inspirationen aus Vietnam, Martinique, UK, Tanzania, Italien, Jamaika,
Kamerun, Nigeria, Guadeloupe, Frankreich, Deutschland und den USA teilten
sich die Bühne. Sie fragten und diskutierten darüber, wie Erinnerungskulturen
transformierbar seien und zukünftig gemacht werden könnten. Zentrale
Leitfragen waren:
−
−
−
Was hat mein eigener Körper mit kollektivem Wissen zu tun?
Wie lagern sich Spuren der Vergangenheit in mir ab? Wie haftet dieser
Vergangenheit das Gegenwärtige an?
Wie kann ich Grenzen zwischen Wissen und Fühlen überwinden, um
mich in den „Raum zwischen gestern und morgen“ (May Ayim) zu bewegen?
Der erste Abend, übertitelt mit „Afrofuture is now!“ leitete vortragend und
tanzend in das Thema „Moving Memory“ ein. Dabei verdeutlicht der physische
7
http://movingmemoryberlin.tumblr.com/event2016?soc_src=mail&soc_trk=ma
8
http://oxanachi.de/
9
http://www.laylazami.net/lichi.html
26 |
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
Körper unbewusst gespeichertes, auch traumatisches Wissen und verändert
dieses gleichsam positiv durch den subjektiven Ausdruck der Aktivist_in_
Künstler_in. Den Dialog eröffnete Stefanie-Lahya Aukongo 10 mit ihrer Spoken
Word Performance „Pulakena (Hör zu!)“. Die akademische Aktivistin Natasha A.
Kelly 11 präsentierte die von ihr herausgegebene Anthologie „Sisters and Souls“.
Sie ist der ghanaisch-deutschen Poetin May Ayim gewidmet, die mit ihrer
Diplomarbeit „raum zwischen gestern und morgen“ den Grundstein für die
Auseinandersetzung und Sichtbarmachung afrodeutscher Geschichte legte.
Schwarze Autorinnen verschiedener Generationen erzählen in unterschiedlichen
Textformen, wie sie auch heute noch persönlich und politisch von May Ayim
inspiriert werden. Auch die nachfolgende Performance von Oxana Chi und Layla
Zami „I Step On Air“ ist Ayim gewidmet. Die Choreographin Chantal Loïal 12
präsentierte zum krönenden Abschluss des Abends die Deutschland-Premiere
ihrer Soloperformance „On t´appelle Vénus – zur Erinnerung an Sawtche (Black
Venus)“. Chantal Loïal erinnert an die in der Kolonialzeit quer durch Europa
verschleppte Sarah Baartman, mit der Kolonisatoren die sexistisch-rassistische
Praxis des Ausstellens Schwarzer Körper erprobten. Zudem wurde ihr Körper
seziert. Die Performance entzieht die gewaltsame Vergangenheit der Vergessenheit und gedenkt der Persönlichkeit und Einzigartigkeit Sarah Baartmans.
Umrahmt wurden diese Beiträge um zirkulierendes Wissen in der Vergangenheit
und Gegenwart mit Rap-Lyrics von der Poetin Bahati 13. Passenderweise unter
anderem mit dem Stück „Wanderschaft“.
Am nächsten Tag wurde der begonnene Dialog zwischen Vergangenheit und
Gegenwart mit Zukünftigen vertieft. Unter der Überschrift „Moving with
Memory“ wurde zunächst in dem Podium „The Vocabulary of Memory“ die
Wirkmächtigkeit des Begriffs „Genozid“ diskutiert. Über die Anerkennung,
Reparationen und ihre politischen Arbeiten befanden sich Kien Nghi Ha,
Marianne Ballé Moudoumbou 14 und Filiz Demirova 15 im Gespräch. Die
Tanzperformance „Psyche“ von Oxana Chi unterbrach das Geistige und spürte
10
http://stefanie-lahya.de/
11
http://natashaakelly.com/
12
http://www.difekako.fr/
13
https://www.backstagepro.de/bahati
14
http://mu-to.net/
15
https://derparia.wordpress.com/
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
| 27
den Verbindungen von Psyche und Seele nach. Die Femmage „Durch Gärten“ 16
erinnerte an die jüdische und in Auschwitz ermordete Tänzerin Tatjana
Barbakoff. Wird sie meist als Lebensgefährtin des Malers Gert Wollheim
dargestellt, weist Chi durch Bewegungen auf die Vielzahl unterschiedlich
ausgestalteter Beziehungen zu Frauen hin. Neben diesen konkreten Fakten
kritisiert sie die von Androzentrismus durchtränkte Geschichtsschreibung. Mit
„Killjoy“ erinnert Chi an das queere Künstlerinnenpaar Claude Cahun und
Marcel Moore. Die Überschneidungen der eigenen Positionierung als queerer
Tänzerin mit dem Erleben der 1920er bis1930er Jahre des Künstlerinnenpaars
sind vordergründig.
Zufit Simon 17 kreierte mit ihrem Stück „all about nothing“ einen nervenaufreibenden Raum. Die Performance gehört zu ihrer Triologie „un-emotional“ und
thematisiert psychophysische Prozesse, die Emotionen erlebbar machen und
Ausdruck verleihen. Elektrisiert und gleichzeitig quälend beschauen Zuschauer_innen Simons fast 30 Minuten andauerndes unter Spannung stehendes
Zucken auf der Bühne. Gefühle werden als reine Geste dargestellt. Die Aussagen
dieser Gesten stehen im Spannungsverhältnis mit der Interpretation des
Publikums. Was echt und was „Fake“ ist, entscheidet jede_r für sich. Spoken
Words von Jumọke Adeyanju und Jayrôme C. Robinet 18 ließen den gefüllten Saal
aufleuchten_zuhören. „In the Heart of the Heart of Another Language“ platzierte
Robinet u.a. die doppelte Staatsbürger_inschaft und ihre innewohnende
Verknüpfung von Sexismus und Rassismus aus einer weißen Perspektive heraus.
Tina Campt 19, Mitherausgeberin von „Der Black Atlantic (2004)“ gab eine
Einführung zu ihrem kommenden Buch „Listening to Images“ (2017). Thematisch richtet ihr Werk den Fokus auf die Bildung einer Schwarzen Diaspora,
deren alltägliches Leben mit der Praxis der Ablehnung verbunden ist. Während
herkömmliche Photographie diese Praxis als still archiviert, kombiniert Campt
klangliche und haptische Aspekte innerhalb der Photographie, um die Komplexität und Vielfalt dieser Praxis darzustellen. Damit liefert sie eine innovative
Analysemethode, die tradiertes Wissen über die Identitätsprozesse der
Schwarzen Diaspora im Zusammenhang mit der Praxis der Ablehnung neu
interpretiert.
16
Die gleichnamige, dazugehörige Dokumentation kann in der Gender Bibliothek entliehen werden.
17
http://artblau.de/Simon.html
18
https://jayromeaufdeutsch.wordpress.com/
19
https://barnard.edu/profiles/tina-campt
28 |
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
Beeindruckend war vor allem die Personalunion der Kuratorinnen und
Moderatorinnen Layla Zami und Oxana Chi. Sie legen besonderen Wert auf
feministische Perspektiven und die Anerkennung, dass Gefühle und Körper
Wissen schaffen. Tanzkunst steht somit einer festgeklopften linear gedachten
Geschichtsschreibung nicht entgegen. Vielmehr interveniert sie in deren
heteronormativen Rahmen und deutet auf Auslassungen beispielsweise
innerhalb von Autobiographien hin. Während des Vortrages „Memory 2Go:
Diasporic Dance Moves in the 21st century“ lud Zami das Publikum zu
auflockernden Bewegungen ein und schaffte ein konkretes Erleben von
verkörpertem Wissen. Die gemeinsame Tanz-Musik-Wort Performance „I Step
On Air“ 20 von Chi und Zami thematisiert unter anderem die Instrumentalisierung Schwarzer und People of Color Künstler_innen, Aktivist_innen und
Wissenschaftler_innen, die sowohl in weißen Mainstreammedien als auch in der
weißen Akademie nur dann Aufmerksamkeit bekommen, wenn das Thema
Rassismus temporär salonfähig ist und sie als Expert_innen dienen sollen.
Student_innen präsentierten das Blog mit dazugehörigem Zine „UnGeHörig,
Nr. 2“. Dies ging aus dem Seminar „Performing memory“ hervor. Ähnlich wie
das Symposium diskutierte Layla Zami mit Student_innen im Sommersemester
2016 am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der HumboldtUniversität zu Berlin wie kulturelles Wissen entsteht und Kunst den Nährboden
für feministische und diasporische Blickwinkel geben kann, um in das hiesige
kulturelle Gedächtnis zu intervenieren. Den Übergang zur Präsentation schaffte
Sarah Mouwani. Sie präsentierte Auszüge aus ihrem Text „98 Prozent Wahrheit“, welcher alltägliche Rassismuserfahrungen aus Sicht einer Schwarzen
Studentin an der Humboldt Universität schildert. 21
Eine aktive Beteiligung wurde zusätzlich durch das Angebot des Tanzworkshops
„Afro-Caribbean Movement“ mit Chantal Loïal und den Didgeridoo Workshop
mit Sylvestre Soleil 22 geschaffen. Die Workshops waren von Symposiumsteilnehmer_innen als auch Tänzer_innen gut besucht. Die erprobte Choreographie
wurde zum Schluss durch eine spontane Zusammenführung beider Workshops
mit Didgeridoo begleitet.
20
Das Tanzstück begleitete EDEWA, eine Wanderausstellung, die in dem von Natasha A. Kelly
geleiteten Seminar „May Ayim – Schwarze deutsche Feministin?’ von 2011-2012 am ZtG
entstand. http://www.edewa.info/
21
Siehe: http://wortenundmeer.net/produkt/emily-ngubia-kuria-eingeschrieben-zeichen-setzengegen-rassismus-deutschen-hochschulen/
22
http://sylvestresoleil.wixsite.com/sylvestresoleil
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
| 29
Mit dem Symposium_Festival „Moving Memory“ wurden Grenzen zwischen
„Wissenschaft“ und „Kunst“ aufgelöst. Drei Tage wurde die Verräumlichung von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft intersektional diskutiert und ge_tanzt.
Gefühle und Körper beziehen sich auf vergangenes Wissen, können es
bewusstmachen und gleichsam im Sinne einer positiven Besetzung verschieben.
Layla Zami und Oxana Chi setzten einen Grundstein in der Verknüpfung
vielfältiger Perspektiven im Hinblick auf den Umgang mit Erinnerungskultur. Die
Besucher_innenzahl spiegelt das Interesse an Vernetzung und die Auseinandersetzung zu kollektivem Körper_Wissen wider.
Giulia Maria Chesi, Francesca Spiegel
Man, Machine, Animal and Monster: the Post-Human in
Ancient Greek Literature?
HU Berlin, 27.-28.10.2016
This has been the first conference on the Post-human in the field of ancient
Greek literature organized in Germany, and one of the first organized in Europe.
All the invited participants came to Berlin. The event was very successful: It was
very well attended, including a couple of students who decided to attend the
conference in order to get inspiration for their master’s and PhD thesis. There
was a lot of lively discussion between the invited speakers and the audience.
We had two goals first and foremost.
1.
To introduce the Post-human debate in the study of ancient Greek
literature and to test its applicability to ancient classical texts, with special
attention to the relation between humanity and animality and between humanity,
machines and monstrosity in Greek literary sources. We discussed what
conclusions could be drawn with regard to ancient Greek literature and its study
today. One of the main results was a new awareness of the human-animal
relations, new attention to technological devices, and “abnormal” creatures in
Greek mythology and how we read it today. We discussed the limits between
animal, human, and technological devices in Greek literature and how the
blurring of those limits is presented in target texts.
2.
To formulate a critique of Post-humanism from the vantage point of
classical philology and to test the limits of Post-human theory. One of the core
critiques discussed in the sessions was the Post-human idea that “we are all
monsters”. We came to the conclusion that it is important to value difference in
terms of class and gender. A considerable amount of time has been devoted to
30 |
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
defining the terminologies used when we speak of “monsters” today, and the
rhetoric of monsters in the ancient world; the relation of monsters with divinity
in ancient narratives, and how this is different to today's discourses of
monstrosity and the manner in which they are used (for example in journalistic
narrative). We also concluded that some of Post-humanism's core ideas, like for
example the notion of object agency, are already present in ancient discourses
on inanimate objects and technological devices and their relation to humans.
We are working now on an edited volume that we are going to submit to
Bloomsbury Publishing by mid/end of February. There has been a great deal of
interest from all speakers who attended the conference as well as other scholars
with whom we have been in contact since the event. Our conference and the
spin-off project of a publication sparked off international dialogue between
scholars from Germany, the USA, UK, Italy, Belgium, France, Russia, China and
Norway.
The conference caught the attention of the transdisciplinary centre for gender
studies; as a result we have begun to set up an official cooperation between the
department of Classics and the transdisciplinary centre for gender studies,
which did not exist before. We are delighted with this long overdue development.
This event was sponsored by the Berliner Antike-Kolleg and the Einstein
Foundation. It emerged after the conference that the most innovative and least
researched aspect was the topic of machines, robotics and automata in
antiquity. We are thinking of creating an international collaborative research
network. We have already a list of renowned scholars very much interested in
this network. We look forward to further collaborative work in this field.
(Giulia Chesi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin am Institut für
Klassische Philologie der HU; Francesca Spiegel ist Promovendin am Institut und war
zum Zeitpunkt der Konferenz Caroline-von-Humboldt Stipendiatin.)
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
| 31
Karin Aleksander
Tradition und Moderne – analog und digital : Bericht über
die 51. Fachtagung des i.d.a.-Dachverbandes
Köln, 28.-30.10.2016
Im Mittelpunkt der 51. Fachtagung des Dachverbandes der deutschsprachigen
Lesben-/Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationseinrichtungen 23
stand das Projekt „Digitales Deutsches Frauenarchiv“ (DDF) 24. Basierend auf
einer Aussage im Koalitionsvertrag 25 der jetzigen Regierung von 2013 und dem
erfolgreichen Antrag des i.d.a.-Dachverbandes startete dieses Projekt, gefördert
vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ),
am 01.07.2016. Mit dem Titel der Fachtagung „Digitales Frauenarchiv –
Vorstellung, Ziele, Perspektiven“ waren die Themen der Plenen und Arbeitsgruppen abgesteckt, aber auch die der öffentlichen Einführungsveranstaltung.
Die Fachtagung fand in diesem Jahr im FrauenMediaTurm 26 (FMT) in Köln statt,
in dem 1983 in Frankfurt/M. gegründeten „Universalarchiv zur Frauenfrage in
Deutschland“ 27, das 1994 an den „symbolträchtigsten Ort der Kölner Geschichte“ 28 zog und das Treffen zum zweiten Mal ausrichtete.
Mit diesem Blick in die Geschichte begann Alice Schwarzer ihre Begrüßungsrede
über die gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben von Frauenarchiven und bibliotheken in unserer Zeit. Bei einem Generationenwechsel passiere es leider
immer wieder, dass die Geschichte der Vorgängerinnen vergessen werde. Selbst
heute muss die Geschichte der ersten 10 bis 20 Jahre der neuen Frauenbewegung(en) und ihrer Akteurinnen vor dem Vergessen bewahrt werden. Dafür sind
die im i.d.a.-Dachverband organisierten Einrichtungen und v.a. das DDF-Projekt
von entscheidender Bedeutung. Der FrauenMediaTurm besitzt z.B. eine fast
vollständige Sammlung der autonomen Frauenbewegung. Das Archiv spielt
zudem mit seinen über 8.000 Fotos, die online verfügbar sind, eine entschei23
Der Dachverband wurde 1994 gegründet, basiert aber auf der Netzwerkarbeit der Einrichtungen
seit 1983. S.: www-ida-dachverband.de
24
Die Demoseite ist seit kurzem online: https://digitales-deutsches-frauenarchiv.de/
25
http://bit.ly/2m94M2k, S. 103
26
http://www.frauenmediaturm.de/frauenmediaturm/events/aktuelles/
27
http://www.frauenmediaturm.de/frauenmediaturm/
28
Schwarzer, Alice: Ein Turm für Frauen allein.
http://www.frauenmediaturm.de/frauenmediaturm/publikationen/ein-turm-fuer-frauen-allein/
32 |
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
dende Rolle für das kollektive Gedächtnis und die Bilderpolitik − auch um die
Gleichstellungspolitik erfolgreich durchzusetzen.
Im Grußwort des BMFSFJ übermittelte Christine Morgenstern einen Dank von
Ministerin Manuela Schwesig an den i.d.a.-Dachverband, weil durch dessen
Antrag das Projekt des Koalitionsvertrages erst realisiert werden konnte. Für
bevorstehende Gedenktage der Frauenbewegung, wie 100 Jahre Frauenwahlrecht
2018 und 70 Jahre Gleichberechtigungsgesetz 2019, wird das Digitale Deutsche
Frauenarchiv, kompetent Wissen, Fakten und Materialien bereitstellen.
Nach der Begrüßung durch Margit Hauser, Stichwort Wien und Vorstandsfrau
im i.d.a.-Dachverband, referierte Barbara Schneider-Kempf, Vorstandsfrau in der
Stiftung FrauenMediaTurm und Generaldirektorin der Staatsbibliothek
Preußischer Kulturbesitz Berlin, über die Notwendigkeit von Spezialbibliotheken
und Archiven, wozu alle i.d.a.-Einrichtungen gehören. Sie sammeln v.a. in die
Tiefe ihrer Gebiete, oft auch regional und nicht unbedingt alle Standardliteratur
– für den FMT betrifft das z.B. die Hälfte des gesamten Buchbestandes von ca.
15.000 Titeln. Auch deshalb ist die Vernetzung der einzelnen Einrichtungen,
national wie international, sehr wichtig. Mit dem META-Katalog 29 steht hier eine
wichtige Recherchequelle zur Verfügung, die bibliographische Daten sowohl aus
Bibliotheken als auch Archiven nachweist. Mit dem DDF werden ab 2018
darüber hinaus digitalisierte Bestände verfügbar. Und damit entsteht ein Ort,
der das nationale Kulturerbe als Patrimonium um das weibliche Kulturerbe
erweitert und diesen Bestand analog wie digital erhält. Dabei ist die Digitalisierung ein notwendiger Prozess, aber ein langwieriger. Nicht nur ist er arbeitsintensiv (nach dem Digitalisieren fängt die Arbeit mit dem Verzeichnen und
Verknüpfen erst an), sondern viele Digitalisate sind wegen der Urheberrechtsgesetze erst später für die Forschung einsehbar. Mit diesem Prozess entstehen
aber auch neue serviceorientierte Mehrwertdienste von Archiven und Bibliotheken; sie wirken damit nicht nur forschungsunterstützend, sondern forschungsanregend. Das alles erfordere neue Arbeitsabläufe, aber auch mehr Personal!
Danach gehörte die Bühne dem neuen Projekteteam des Digitalen Deutschen
Frauenarchivs. Für die meisten i.d.a.-Mitglieder war das die erste Gelegenheit,
alle 6 Mitarbeiterinnen des Kompetenzteams 30 kennenzulernen. Zwei von ihnen,
Dr. Birgit Kiupel und Jessica Bock, stellten an Beispielen ihrer Themengebiete
der Ersten und Zweiten Frauenbewegung inhaltliche und methodische Aspekte
29
Der Online-Katalog von über 30 deutschsprachigen i.d.a.-Einrichtungen aus 5 Ländern ist seit
2016 freigeschaltet: www.meta-katalog.eu
30
http://www.ida-dachverband.de/ueber-ida/ddf/
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
| 33
vor. Die Vorträge beeindruckten v.a. wegen der eingesetzten verschiedenartigen
Medien wie Fotos, Zeichnungen, Film- und Audiobeiträge. Damit deuteten sie
an, was auf der neuen Plattform zur Geschichte der Frauenbewegungen
darstellbar ist.
Ein Besuch in der im FrauenMediaTurm arbeitenden EMMA-Redaktion sowie
die Bibliotheks- und Turmführungen mit Jasmin Schenk, wissenschaftliche
Leiterin der Bibliothek des FMT, und Prof. Dr. Barbara Schock-Werner,
Vorstandsfrau im FMT und Dombaumeisterin von Köln i.R., bereicherten das
Tagesprogramm.
Ein Großteil der i.d.a.-Vollversammlung am kommenden Tag stand für all die
Fragen zum DDF-Projekt zur Verfügung. Das Projektteam kann nur umsetzen,
was die einzelnen Einrichtungen anbieten, die Schätze heben, die dort
schlummern oder schon glänzen. Dafür wurde ein Projektefonds eingerichtet,
der es einzelnen Archiven und Bibliotheken ermöglicht, Material zu digitalisieren, aufzuarbeiten, zu erschließen oder zu erwerben. Die Projekte der ersten 8
Einrichtungen waren bereits bestätigt worden und lagen zur Einsicht aus.
Weitere Antragsrunden sind vorgesehen.
Auch die Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit dem neuen Projekt, z.B. in
Bezug auf die Rechteklärung (AG Rechtsfragen, Dr. Kathrin Lehnert, Jana Haase,
Julia Brenner-Matté) oder wie die Bestände der Frauenbewegung(en) in der
DDR, der Wendezeit und danach gehoben, bewahrt und einbezogen werden
können (AG Archivierung der ostdeutschen Frauenbewegung, Jessica Bock). Für
die letztere AG bildete sich ein Netzwerk, das sich auch zwischenzeitlich treffen
möchte.
Die AG META (Dr. Karin Aleksander, Stefanie Pöschl) diskutierte notwendige
Verbesserungen bei der Datenlieferung für den gemeinsamen Online-Katalog
META. Er ist nach wie vor der Nucleus des DDF-Projektes, die bibliographische
Nachweisquelle für die Bestände zur Frauenbewegung sowie der Literatur zur
Frauen-und Geschlechterforschung. Qualitativ bessere Ergebnisse kann das
META-Service-Team im Online-Katalog anbieten, wenn die einzelnen Archive
und Bibliotheken ihre Datenlieferungen optimieren. Das bedeutet für alle,
stärker als bisher standardisierte Formate zu benutzen, was leichter fällt, wenn
sie gemeinsam diskutiert und beschlossen werden. Dieses Strategiepapier zur
Standardisierung wird weiterhin online diskutiert. Es ist eine große Hilfe für die
Einrichtungen selbst, besonders für die, die neu mit dem mehrheitlich
verwendeten Literaturrecherchesystem FAUST 8 arbeiten, aber auch für die
Arbeit des META-Service-Teams und für das Abliefern der Daten, was zukünftig
von allen Einrichtungen per Algorithmus selbst geleistet werden kann. Die
Diskussion zu diesem Thema soll nicht nur online auf der Kommunikations-
34 |
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
plattform, sondern auch in speziellen META-Workshops für interessierte
Einrichtungen übers Jahr fortgesetzt werden.
Wie alle anderen AG stellte auch die seit Jahren aktive AG Frauenraum-Debatte
Ergebnisse ihrer konstruktiven Diskussion beim Abschlussplenum vor. Sie
schlugen vor, darüber abzustimmen, ob in den kommenden zwei Jahren
männliche und Trans*Personen aus i.d.a.-Einrichtungen, d.h. aus ihren
Vorständen bzw. dort fest angestellt, an der i.d.a.-Fachtagung gleichberechtigt
teilnehmen dürfen. Die Abstimmung ergab eine große Mehrheit für die
Teilnahme von Männern und Trans*Personen an den Fachtagungen 2017 und
2018, d.h. ihre Teilnahme an den AG und Plenumsveranstaltungen und nicht –
wie bisher – nur beim öffentlichen Eröffnungsteil. Danach sollen die Erfahrungen evaluiert und der weitere Weg diskutiert werden. Wenn also 2019 der 70.
Jahrestag des Gleichberechtigungsgesetzes
(„Männer und Frauen sind
gleichberechtigt.“) begangen wird, könnten wir seiner Realisierung auch für die
Fachtagungen des i.d.a.-Dachverbandes ein Stückchen näher gekommen sein.
Maureen Maisha Auma
Gender und Diversity in die Lehre! Strategien, Praxen,
Widerstände
FU Berlin, 24.-26.11.2016
Vom Donnerstag, dem 24. November, bis zum Samstag, dem 26. November
2016, fand die Konferenz‚ Gender und Diversity in die Lehre! Strategien, Praxen,
Widerstände an der FU Berlin statt. Das Thema der Konferenz scheint einen
Nerv zu treffen; bereits Anfang November war die Tagung vollkommen
ausgebucht, zahlreiche Interessent*innen kamen daher auf eine Warteliste. Zu
den Arbeitsformaten der Konferenz gehörten zwei Keynotes, acht Panels, neun
AGs, vier Workshops, eine öffentliche Podiumsdiskussion und eine Tagungsbeobachtung/Konferenzkommentar. Alle Beitragenden beschäftigten sich mit dem
aktuellen Stand der Thematisierung und Verankerung von ‚Gender und
Diversity‘ in der Hochschullehre. Einige Beiträge befassten sich zudem mit dem
kontinuierlichen Aufbau damit verbundener gleichstellungspolitischer Infrastrukturen. Einige wenige Beiträge widmeten sich sich darüber hinaus ganz explizit
der konkreten Gestaltung diskriminierungskritischer, rassismuskritischer und
dekolonisierender Hochschuldidaktik als Voraussetzung für die Etablierung
einer gender- und diversitätsbewussten Hochschullehre.
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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Die Tagung wurde eröffnet von Dr. Andrea Bör, Kanzlerin der FU, gemeinsam
mit Dr. Mechthild Koreuber und Prof. Margreth Lünenborg, die Projektleiterinnen des Projekts ‚TOOLBOX, Gender und Diversity in der Lehre‘. Alle drei
Begrüßungsrednerinnen betonten die zunehmende Bedeutung von ‚Gender und
Diversity‘ als zukunftsorientiertes Forschungsfeld. Die Konferenz verfolgte aus
ihrer Sicht in erster Linie die Absicht, ‚Gender und Diversity‘ ganz explizit als ein
gemeinsames Projekt zwischen Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik zu kontextualisieren. „Gute Lehre ist Gender und Diversity bewusst“, stellten
sie heraus. Die Aufgabe ‚Gender und Diversity‘ im universitären Curriculum zu
verankern, sei eine zentrale Gestaltungsaufgabe von Hochschuldidaktik. Damit
ergebe sich die Selbstverpflichtung zu einer kontinuierlichen Qualifizierung aller
Mitarbeiter*innen der unterschiedlichen Statusgruppen. Universitäten als
lernende Organisationen müssen sich dafür einsetzen, dass diskriminierungsfreies Lernen und Lehren möglich werden. Geschlecht und Vielfalt seien in jeder
Lern-/Lehrsituation relevant. Es gelte den grundlegenden Anspruch zu
realisieren, ‚Gender und Diversity‘ als Kernkompetenzen zu verankern, die
Lehrende dann nachweisen müssen, wenn sie sich um eine Professur bewerben.
Die erste Keynote „Beyond Binaries, Bodies and Biology: Gender and Gender
Identity in Higher Education“ wurde von Dr. Sara-Jane Finlay von der University
of British Columbia in Canada gehalten. Ausgangspunkt des Vortrags bilden die
Errungenschaften der Geschlechterstudien im Wissenschaftsfeld. Es gibt einen
signifikanten Anstieg in der Teilhabe von Frauen, vor allem in MINT-Fächern.
Diese Erfolge beziehen sich auf hohe Immatrikulations- und Absolventenraten
und vor allem auf Auszeichnungen, die von Frauen im Wissenschaftsfeld
gewonnen werden. Leider spiegelt sich dieser Erfolg nicht in der Zusammensetzung von Lehrenden (fulltime Faculty). Die spezifischen strukturellen, systemischen und strategischen Maßnahmen, die zu diesen Erfolgen geführt haben,
gelte es gezielt auf weitere von Ungleichheit betroffene Gruppen (Studierende
und Faculty) zu übertragen. Dabei sei es wichtig, Auszeichnungen für die
konkrete Verringerung von Ungleichheit und Unterrepräsentation zu installieren
− als Anreizsystem (Equity Awards). Es sei an der Zeit, Gender Diverse und
Transgender Studierende und Faculty in ihrer Zugehörigkeit zur Institution zu
stärken. Ziel sei es Campus-Situationen aufzubauen, die Transinclusive sind.
Die zweite Keynote „Universität als Lebensform. Rassismuskritische Hochschulentwicklung“ wurde von Prof. Paul Mecheril von der Universität Oldenburg
gehalten. Ausgangspunkt dieses Vortrags bildete eine Reihe von Problematisierungen. Vor dem Hintergrund der ‚Gender- und Diversity-Debatten‘ an
Universitäten herrsche ein programmatisch postulierter Öffnungswunsch der
Institution Universität. Demgegenüber stehe aber eine problembehaftete
36 |
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
Geschichte der – teils ungebrochenen – Verstrickung in Dominanz- und
Exklusionsproduktion. Historisch wirkte die Universität als zentraler Ort der
Produktion gewaltförmigen Wissens. Im Feld von Rassismus sei es besonders
eklatant, bis in die Gegenwart hinein (Beispiel Differenzproduktion und Othering
der Intelligenzforschung). Es sei daher eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit der Universität dringend nötig. Inwieweit trägt Diversity (eine
oberflächliche Diversifizierung, inszenierte Diversität) zu einer Stärkung von
Elitenförderung (Internationalisierungsstrategie), der Förderung partikulärer
Interessen, zum Unsichtbarmachen von Klassenverhältnissen bei? Inwiefern
befähigt Diversity zu einer Überschreitung epistemischer Ordnungen? Hier sind
Paradoxien zu berücksichtigen und zu überwinden.
Die acht Panels umfassten die Themen ‚Hochschulpolitische Strategien und
Weiterbildung‘, ‚Diversität in der Lehramtsausbildung‘, ‚Gender in der
medizinischen Lehre und in MINT-Fächern‘, ‚Fächerkulturen und Diversität‘,
‚Auseinandersetzung mit Heteronormativität im Lernprozess‘, ‚Dekolonisierung
des Wissenschaftsbetriebs und der Hochschullehre‘ u.v.m. In den neun AGs
wurden folgende Themen diskutiert: ‚Genderkompetenz als Reflexionskompetenz‘, ‚Reflexion und Empowerment für diskriminierungskritische Lehre‘,
‚Barrierefreiheit in der Hochschullehre‘, ‚Klasse und soziale Herkunft in der
Hochschullehre‘, ‚Diversität und ungleichheitssensible Nachwuchsförderung‘
u.v.m. In den vier Workshops wurden die Themen ‚Teaching Gender‘, ‚Schöner
Lehren – gegendert und gequeert‘, ‚Technik- und Wissenschaftskritik in Gender
Studies‘ sowie ‚Differenz/ierung in der Lehrer*innenbildung‘ behandelt.
Ergebnisse: Studieninhalte/das Curriculum müssen an die unterschiedlichen
Lebensrealitäten von Bildungsteilnehmer*innen angepasst werden. Die
Reflexion des Faches und seiner didaktischen Kultur gehören leider nicht zum
Curriculum, besonders mit Blick auf die MINT-Fächer. Bestimmte Disziplingruppen reproduzieren Differenz und Hierarchien gerade darin, wie das Fach
vermittelt wird. Die Teilnahme an Lehrveranstaltungen kann zu einer erheblichen diskriminierungsrelevanten Belastung werden, sowohl für diskriminierungserfahrene Lernende als auch für diskriminierungserfahrene Educators.
Unterschiedliche Studienbedingungen müssen Berücksichtigung finden.
Hochschullehre gilt es barrierearm zu gestalten.
Kritik: Vier Speakers pro Panel waren eine zu große Besetzung. Die Panels sind
zum Ende hin hektisch geworden. Die letzten Referierenden hatten kaum
Vortragszeit. Das hat Unzufriedenheit verursacht.
Im Rahmen der öffentlichen Podiumsdiskussion ‚Intersektionale Diskriminierung an Hochschulen‘ diskutierten Prof. Swantje Köbsell, Prof. Annita Kalpaka
und Prof. Lars Schmitt. Moderiert wurde die Runde von Dr. Urmila Goel.
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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Ausgangspunkt bildete eine Kritik an der strukturell angelegten Konkurrenz
zwischen diskriminierungserfahrenen Bildungsteilnehmer*innen innerhalb von
gleichstellungspolitischen Instrumenten der Universität. Dies sei eine direkte
Folge der fehlenden Intersektionalität dieser Instrumente. Daraus ergebe sich
eine unproduktive Konkurrenzsituation um Ressourcen, der nur begegnet
werden kann durch die Auseinandersetzung mit den konkreten intersektionalen
Erfahrungen von Barrieren, die beeinflussen wie diskriminierungserfahrene
Studierende und Faculty sich durch die Universität bewegen.
Die Tagungsbeobachtung und der daraus gewonnene Konferenzkommentar
wurden von Prof. Maisha M. Auma und Anne Potjans, beide vom Zentrum für
transdisziplinäre Geschlechterstudien der HU Berlin, geleistet. Sie bilden die
Grundlage für diesen Konferenzbericht. Die Tagung endete mit einem Schlusswort der beiden Organisatorinnen Melanie Bittner und Pia Garske, Projektmitarbeiterinnen der ‚TOOLBOX Gender und Diversity in der Lehre‘, FU Berlin.
Maria-Magdalena Pela, Katrin Neukirch
Podiumsdiskussion Schreiben im geteilten Deutschland –
Emanzipation und Erbe
HU Berlin, 10.1.2017
Anfang des Jahres 2017 richteten wir, die Studentinnen der deutschen Literatur
Maria-Magdalena Pela und Katrin Neukirch eine Podiumsdiskussion aus, die im
Zusammenhang mit unserem Projekttutorium Kanon – Kunst – Klischee.
Weibliches Schreiben im geteilten Deutschland (SoSe 2016 bis WiSe 2016/17) von
uns an der HU initiiert wurde. Es war uns wichtig das weibliche Schreiben in den
Mittelpunkt zu rücken, denn noch immer besteht auf vielen Ebenen ein
Missverhältnis in der Wahrnehmung und Wertschätzung von Literatur von
Frauen. Die Subordination der weiblichen Literatur findet sich in offiziellen
literarischen Kanons, bei Preisverleihungen sowie bei der Bezahlung der
Autorinnen. Die Themen Politik, Recht, Elternschaft, Emanzipation und
Geschlechtergerechtigkeit sind nach wie vor aktuell, wie es z.B. die HashtagDebatte Aufschrei, das Nein-heißt-Nein Gesetz oder die politischen Auseinandersetzungen zu Lohngerechtigkeit zeigen.
Die Podiumsdiskussion hatte gleich mehreren Ansprüchen zu genügen: Zum
einen sollte sie angewandte Literaturwissenschaft sein und auch für NichtWissenschaftlerInnen zugänglich. Außerdem ist sie durch den Live-Mitschnitt
nun eine wichtige Quelle für einen Podcast, der das Tutorium abschließen wird.
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Der Titel der Diskussion (Schreiben im geteilten Deutschland – Emanzipation
und Erbe) verstand sich damit nicht nur als literaturgeschichtliche Revue,
sondern rief gleichzeitig dazu auf, sich die Anschlussoptionen und notwendigkeiten von Emanzipation zu vergegenwärtigen. Unterstützung in
finanzieller Form fanden wir bei der Humboldt-Universitäts-Gesellschaft.
Als Gäste begrüßten wir: Frau Prof. Dr. Ilse Nagelschmidt, die eine Professur an
der Universität Leipzig innehat und ausgewiesene Expertin für unser Thema ist,
sowie die Literaturwissenschaftlerinnen der Humboldt Universität Dr. Birgit
Dahlke, u.a. Dozentin und Leiterin der Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf an der HU; Prof. Dr. Ulrike Vedder, die Dekanin
des Instituts für deutsche Literatur, Dozentin und Herausgeberin. Einer ihrer
Forschungsschwerpunkte ist Genealogie und Gender. Als jüngste Vertreterin
und mit queerer Perspektive Janin Afken, die sich mit Gender Studies und
kritischer Heteronormativitätsforschung auseinander setzt. Die Verlegerin Britta
Jürgs vom AvivA Verlag bereicherte unsere Runde mit ihrer Perspektive aus dem
Literaturbetrieb. Es ist erwähnenswert, dass alle an Männer gerichteten
Einladungen aus Wissenschaft und Verlagswesen nicht wahrgenommen wurden.
Zunächst wurde die Diskussionsrunde zum Begriff des Weiblichen Schreibens
befragt, wobei sich herausstellte, dass dieser, zumindest wissenschaftlich, als
ein historischer gesehen wird. Von Seiten des Publikums war dies aber
befragenswert. Die Aussage der verstorbenen Autorin Irmtraud Morgner stellt
den Begriff gänzlich in Frage: Es gäbe kein Weibliches Schreiben, ansonsten
müsste es auch ein Männliches Schreiben geben. Dieser egalitäre Ansatz zeigte
beim Publikum wohl Resonanz, ging aber nicht gänzlich auf. Auch die Unterschiede der Forschungsstrukturen zu Zeiten der deutschen Teilung kamen zur
Sprache: wie der Arbeitsalltag strukturiert war, wie Mutterschaft machbar war.
Ebenso wurden die schwerfälligen Veränderungen in der Rechtsprechung
deutsch-deutscher „Hausfrauen“-Ehen, zum Schwangerschaftsabbruch oder
zum Vertragsrecht angesprochen. Frau Nagelschmidt wies in der Diskussion
immer wieder auf zweierlei hin: auf die Oberflächen, die geschaffen würden z.B.
in Gesetzen und institutionellen Strukturen, und die tatsächliche Lebensweise
der Menschen. In diesem Zusammenhang wurde auch von Britta Jürgs das
jüngst von Anna Kaminsky publizierte Buch Frauen in der DDR genannt, in
welchem einer Verklärung der Frauen-Emanzipation in der DDR entgegen
gewirkt wird.
Frau Dahlke berichtete von den anfänglichen Irritationen, die sich seit der
Wende im gemeinsamen Wissenschaftsbetrieb ergaben: Wer lernt von wem
was? Dem bewussten Umgang damit, was man selbst für eine Ausbildung hat,
wenn man in der DDR (aus)gebildet wurde. Und, wie nach den großen
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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Streitereien (Literaturstreit) das gemeinsame Forschen angegangen wurde. Frau
Jürgs erzählte, dass sie bei den Poetikvorlesungen von Christa Wolf ihr Studium
begonnen hatte. Sie pflichtete auch Frau Vedder insbesondere darin bei, dass
die Person an sich ein wichtiger Faktor von Inhalten und Emanzipation sei.
Frau Vedder und Frau Nagelschmidt legten den Fokus auch auf die Literatur
selbst, sprachen von Autorinnen wie z.B. Unica Zürn und Jana Hensel, die
entweder als Literatinnen besondere Aufmerksamkeit erfahren hatten und
wieder in Vergessenheit gerieten oder sich mit DDR-Thematiken beschäftigten.
Die Stile des Schreibens wurden dann im weitesten Sinne von Frau Nagelschmidt, sofern es die feministische Literatur(kritik) betraf, als ideologisch
(westlich) und ästhetisch (östlich) differenziert. Dies ist auf jeden Fall eine
Aussage, für die es sich lohnen würde ein eigenes Seminar anzubieten, wie es
das bei einigen Beiträgen an diesem Abend der Fall war.
Als es um die Möglichkeiten des Schreibens ging, und zwar im Sinne des
Schreibenkönnens (zeitlich, räumlich, kulturell) und des Schreibendürfens
(Publizieren/Verboten werden/Berufsverbote), nannte Frau Jürgs dem daraufhin
erstaunten Publikum die aktuellen Zahlen zum Frauen-/Männer-Anteil bei
Preisverleihungen und Veröffentlichungen. Die mageren Zahlen von Preisträgerinnen als auch die Veröffentlichungspraxis, was Personen/Figureninventar von
Romanen, Erzählungen angeht, waren ernüchternd.
Auch heute erschweren institutionelle Bedingungen es Eltern allgemein zu
schreiben. AutorInnen in Dauer-Teilzeit können Stipendien andernorts nicht
wahrnehmen und Lesereisen seien mit Kindern zeitlich und sozial nur schwer zu
überstehen. Die Verknüpfung mit besonderen Literaturformen wie dem
Montage-Roman oder der „kurzen“ Lyrik lägen da nahe, sie seien aber durchaus
kein genuines Alleinstellungsmerkmal Weiblichen Schreibens.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die weibliche Literaturgeschichte des
geteilten Deutschlands sich in die Gegenwart mit einschreibt. Politisch und
privat. Sie ist Teil der Kultur und der Gesellschaft. Daher lohnen sich Auseinandersetzung und Würdigung des literarischen Erbes deutsch-deutscher Emanzipation.
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Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
Paula Hanitzsch, Marta Kuhn
Exzellenz, Brillanz, Genie. Historie und Aktualität erfolgreicher Wissensfiguren
HU Berlin, 13.-14.1.2017
Warum werden mit ,Genie‘ meist männliche historische Figuren assoziiert? Was
verbindet ,Geschlecht‘ und ,Genie‘? Was wäre damit gewonnen, den Geniebegriff auf Frauen zu übertragen – oder anders gefragt: Wie könnte die Genderforschung ihn demontieren?
Diesen sowie weiteren Fragen nach Wortursprüngen, Konzeptionen, Symboliken,
Rhetoriken und der Diskursgeschichte der Geniefiguration in unterschiedlichen
Medienkontexten näherte sich das multidisziplinäre Symposium „Exzellenz,
Brillanz, Genie. Historie und Aktualität erfolgreicher Wissensfiguren“, das von
Julia B. Köhne am Institut für Kulturwissenschaft organisiert wurde und am 13.
und 14. Januar 2017 im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der HumboldtUniversität zu Berlin stattfand. In diesem Rahmen trafen sich internationale
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Kultur-, Literatur- und
Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sowie Gender- und Hochschulforschung.
Im Fokus des Symposiums stand eine kritische Auseinandersetzung mit dem
Geniebegriff, die unter anderem die Frage adressierte, welche historischen und
epistemologischen Verbindungslinien beziehungsweise veränderten Konfigurationen sich vom disziplinenübergreifenden Geniekult um 1900 bis hin zum
aktuellen Diskurs über ,Eliteuniversitäten‘, ,Exzellenzinitiativen‘ und ,Spitzenforschung‘ ausmachen lassen. Dabei schien sich eine Auffälligkeit von Beginn an
abzuzeichnen: Das Geniekonzept gewinnt seine Plausibilität und Wirkkraft,
indem es über Exklusionsmechanismen funktioniert, und fordert als Teil eines
wechselseitigen Beziehungsgeflechts von Wissenskonstitution und Machtstrukturen auch politische Fragestellungen heraus.
Im Diskurs um 1900 wurden ,Genies‘, wie Julia B. Köhne in ihrer Einführung
pointierte, meist als männliche, weiße, europäische/nordamerikanische und
nicht-jüdische Persönlichkeiten imaginiert. Um diesen Themenkomplex
auszuleuchten, sollen im Folgenden insbesondere all jene Vorträge aufgegriffen
werden, in denen die intersektionalen Kategorien ,Race‘, ,Klasse‘ und
,Geschlecht‘ als Produzenten von Wissen über die Geniefigur verhandelt
wurden. Zwei Herangehensweisen waren diesbezüglich im Rahmen des
Symposiums erkennbar: Erstens fragte eine Reihe von Vorträgen nach der
diskursiven Konstruiertheit des epistemischen Objekts ,Genie‘ und den
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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spezifischen Mechanismen des Ausschließens; zweitens wurden die subversiven
Strategien thematisiert, die weibliche Akteurinnen angesichts einer diskursiv und
normativ zementierten ,männlichen Genialität‘ entwickelten.
Thomas Macho (IFK/Wien, an der Kunstuniversität Linz), Gerhard Scharbert
(HU-Berlin), Cornelius Borck (Universität Lübeck), Ann-Christin Bolay (Verlag
Matthes & Seitz Berlin) und Darrin McMahon (Darthmouth College, Hanover)
lieferten Beispiele für einen enigmatischen und ausschließlich um männliche
Figuren zentrierten Geniekult. Während Macho den Verknüpfungspunkten
zwischen einer „Geniereligion“ (E. Zilsel) und der Figur des Doppelgängers
nachging, wurde in Scharberts Vortrag eine andere Form von Alterität in sich
selbst exploriert: in Gestalt des intellektuellen Drogenkonsumenten, der sich in
Diskursen zwischen Literatur, experimenteller Psychiatrie und einer ästhetischen
Moderne bewegte. Ebenso wie Scharbert betrachtete Borck ‚Genialität‘ in erster
Linie aus einer medizinhistorischen Perspektive: in der Figur des „Idiot Savant“,
in welche sich die Residuen eines Geniekults verflüchtigt hätten. Bolay wiederum
stellte den Männerkreis um Stefan George vor, der als genialer Lyriker sowie
charismatischer Führer von seinen Jüngern verehrt und heroisiert wurde. Auch
McMahon folgte dem Pfad eines auratischen quasi-religiösen Geniekonzepts
und hob dabei insbesondere auf das materielle Begehren der
Personenverehrung ab, das sich im Reliquienkult um verstorbene ,große
Männer‘ niederschlug – mit dem Kulminationspunkt eines getrockneten
Männerpenis als Devotionalie der Genieverehrung.
Dass es sich beim Geniebegriff von Anfang an um kein geschlechtsneutrales
Konzept handelte, spiegelt sich bereits in dessen antikem Wortursprung wider.
Während sich zwar mehrere Vortragende eines etymologischen Argumentationsansatzes bedienten, nahm Claudia Bruns (HU-Berlin) den Terminus
dezidiert in seiner geschlechtsspezifischen Präfiguration in den Blick. Wie sie
deutlich machte, lässt sich seine Wortherkunft auf den genius der römischen
Antike zurückführen, der ursprünglich als personifizierter Schutzgeist eines
Mannes verstanden wurde und das Prinzip genealogischer Abstammung sowie
männlicher Zeugungskraft verkörperte. Das weibliche Pendant hierzu sei in der
Iuno-Figur zu finden, die als römische Göttin der Geburt und Heirat den Frauen
schützend zur Seite stand. Die langlebige Begriffs- und Kulturgeschichte ihres
männlichen Analogons habe die Iuno-Vorstellung allerdings nicht geteilt, denn
ihre Bedeutungslinie sei sukzessive in Vergessenheit geraten, wohingegen sich
der genius-Begriff aus der körperlichen Dimension eines geschlechtlichen
Zeugens zugunsten der Vorstellung eines nunmehr geistigen Schöpfungsakts
gelöst und überdies im Zuge des Erstarkens von Subjektivierungsformen in der
Philosophie- und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts eine
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Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
Bedeutungsverschiebung erfahren habe: im Übergang vom Genie-Haben zum –
noch immer dem Mann vorbehaltenen – Genie-Sein.
Auch Renate Kroll (HU-Berlin) zielte in ihrer Intervention auf die
vergeschlechtlichenden Konnotationen von ‚Genialität‘ ab und griff hierzu Walter
Benjamins Lesart einer Verbindung von Geschlechterordnung und Geniewesen
auf, die sie an seinem Denkbild „Nach der Vollendung“ exemplifizierte. Frauen
könnten zwar geniale Männer gebären, blieben aber stets der körperlichgeschlechtlichen Sphäre verhaftet, die Benjamin von der „vollendeten
Schöpfung“, in welcher der männliche Genius mit Vollendung seines Werks
geistig neugeboren werde, deutlich unterschied. Dem ist hinzuzufügen, dass
Benjamin zwar die „Vergeschlechtlichung des Geistigen“ sowie die
Superioritätsansprüche des männerdominierten Genie- und Wissenschaftsdiskurses kritisierte, doch auch im Benjaminschen Verständnis waren Frauen zu
eigener ‚Genialität‘ letztlich nicht fähig.
Die hier anklingende vergeschlechtlichende Metaphorisierung des Genies griff
auch Julia B. Köhne in ihrem Vortrag auf. Trotz einer realpolitischen
Ausgliederung des ,Weiblichen‘ aus der Anwärtergemeinde auf den Genietitel
und dem Streben nach entkörperlichter, rein geistiger Schöpferkraft, sei im
Geniediskurs um 1900 eine Reproduktionsrhetorik evident gewesen. Eine auf
diese Weise ermöglichte rhetorisch-semantische Inklusion des ,Weiblichen‘
dürfe aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Frau in der Geistes- und
Wissenschaftsgeschichte um 1900 noch immer mit dem Gebären von Kindern
sowie dem Materiellen und Vergänglichen assoziiert wurde, das männliche
Genie hingegen mit der geistigen Zeugung und Geburt ,unsterblicher‘ und
,genialer‘ Werke (vgl. H.-St. Chamberlain, E. Kretschmer, O. Weininger).
Das Geniebild der Jahrhundertwende stand auch bei Gabriele Dietze (HU-Berlin)
im Fokus, die mit Blick auf den zeitgleich aufblühenden Wahnsinnsdiskurs ein
Konfliktfeld
skizzierte,
das
die
deutsche
Psychiatrie
in
ihrer
Professionalisierungsphase mit einer kleinen Gruppe junger expressionistischer
Dichter verband. Während ihre als abnormal empfundenen künstlerischen
Leistungen im Kampf um Deutungshoheit seitens des psychiatrischen Diskurses
meist pathologisiert und somit abqualifiziert worden seien, hätten die
literarisch-künstlerischen Avantgarden im Zeichen eines ,epistemischen
Ungehorsams‘ eine bewusst affirmative Beziehung zum Wahnsinn gepflegt. Wie
Dietze zeigte, fand dieses häufig aus antisemitischen Gründen ausgeschlossene
Kollektiv in den skandalisierten Stilrichtungen der Moderne neue Modi des
Gefühlsausdrucks, um seiner Ablehnung der konventionellen wilhelminischen
Männlichkeit Raum zu verschaffen und ein alternatives ,affektives‘ Männlichkeitskonzept zu entwickeln. Im expressionistischen Gegendiskurs habe die
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deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler eine Ausnahme dargestellt. In
ihrem ethnic drag-Alter Ego des Prinzen von Theben verbarg sie Dietze zufolge
nicht nur ihre Weiblichkeit und Herkunft, sondern nobilitierte sich im selben
Zuge als morgenländischer Adliger, wodurch sie männliche Machtansprüche zu
parodieren vermochte. Ein wichtiger Aspekt hinsichtlich Klassenfragen, der
sowohl von Dietze als auch Borck thematisiert wurde, war die Pathologisierung
von ‚Genialität‘ als bürgerliche Entmachtungsstrategie, welche unliebsame
Klassen als Störfaktor im Normalitätsdiskurs identifizierte.
Barbara Will (Darthmouth College, Hanover) wandte sich drei weiblichen
Figuren der künstlerisch-literarischen Moderne zu: Gertrude Stein, Claude
Cahun und Lou Andreas-Salomé. Dabei untersuchte sie in erster Linie, wie diese
drei Akteurinnen auf die Problematik des männlich markierten Geniekonzepts
reagierten – von Strategien der Selbstgenialisierung bis hin zu subversivem
Desinteresse. Stein habe Männlichkeit als ,conditio sine qua non‘ des ,Genies‘
verstanden und aus ihrer verkürzten Rezeption von Otto Weiningers Geschlecht
und Charakter (1903) die Idee einer geschlechtlichen Inversion entwickelt, um ihr
Modernitätsprojekt mittels einer performativen Männlichkeit zu legitimieren.
Cahun dagegen habe den Terminus ,Genie‘ in einer sowohl politischen als auch
künstlerischen Geste verneint und sich gegen die Beschränkung auf eine
einzige, distinkte Geschlechtsidentität gewehrt. In ihren photographischen
Selbstporträts seien die Grenzen zwischen Autorin/Künstlerin und Objekt
erodiert, wobei ihre Identität zwischen maskulinen, weiblichen, ambiguen und
kindlichen Personae changierte. Andreas-Salomé wiederum habe in der
weiblichen Postmenopause das Potential zur ‚Genialität‘ des weiblichen
Geschlechts gesehen: Erst von reproduktiven Funktionen befreit, könne eine
Frau das Stadium ‚genialer‘ Schöpfung erreichen. Schließlich stellte Will die
Frage, aus welchem Grund sich diese Frauen überhaupt mit dem exkludierenden
Geniestatus auseinandersetzten, wenn ihre exzeptionelle Virtuosität doch
jenseits künstlich-normativer Kategorisierungen lag. Eine mögliche Antwort
hierauf erblickte Will im Freiheitsversprechen des Qualitätssiegels ,Genialität‘.
Offen bleibt hierbei jedoch erstens, ob es konstruktiv ist, diese drei Frauen für
einen weiblichen Geniebegriff zu vereinnahmen; und zweitens, ob die Rede von
Freiheit überhaupt plausibel ist, wenn die Männlichkeit des ‚Genies‘ naturalisiert
und eine ‚weibliche Genialität‘ so vehement negiert, ja sogar pathologisiert
wurde. Werden dadurch die Eigenart und das subversive Potential der Werke
dieser Frauen nicht vielmehr ausgeblendet?
Dass die Photographie in der Zeit um 1900 eine ideale Grundlage für das
Auftauchen eines weiblichen Geniependants bot, führte Bettina Gockel
(Universität Zürich) aus, die in ihrem Vortrag auf die Zeitschrift Camera Work
und an diesem Projekt beteiligte Fotografinnen fokussierte. Gockel hob die
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Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
Relevanz hervor, die diesem Magazin bei der Durchsetzung der Photographie als
Kunstform und der Etablierung eines lang anhaltenden Bündnisses zwischen
Photographie und ‚Genialität‘ zukam. In der Programmatik des Herausgebers
Alfred Stieglitz sei die Figur des photographischen Genies mit dem weiblichen
Geschlecht konvergiert, was eine Stilisierung zur ‚genialen‘ Künstlerin
ermöglicht habe. In der anschließenden Diskussion zog Gockel darüber hinaus
eine Parallele zwischen der Frühphase der Photographie und den Anfängen der
Videokunst in den sechziger Jahren. In ihrer Neuartigkeit hätten diese
Medienformen einen Spielraum für das Wirken weiblicher Künstlerinnen
geschaffen, der im Rahmen bereits etablierter Medien nur schwer vorstellbar
gewesen wäre.
Joyce Chaplin (Harvard University) betrachtete das Geniekonzept nicht
vorrangig im Geschlechterkontext, sondern im Kontext rassenpolitischer
Fragestellungen im von Sklaverei und Leibeigenschaft geprägten Amerika des 18.
Jahrhunderts. Am Beispiel der Dichterin Phillis Wheatly und des Lyrikers Francis
Williams – beide afroamerikanischer Herkunft und zum Teil in Sklaverei lebend –
zeigte sie die ambivalenten Implikationen auf, die aus dem paradox anmutenden
„genius in bondage“ (Ignatius Sancho) erwuchsen. Obwohl die literarische
Leistung schwarzer Autor/innen eine geistige Überlegenheit der weißen
Bevölkerung in Frage stellte, hätten selbst Abolitionisten den Geniebegriff – hier
in einem dezidiert säkularen Sinne kognitiver und intellektueller Fähigkeiten
verstanden – nur zögerlich auf die betroffenen Literaten übertragen. Zudem
fanden Befürworter der Sklaverei, so Chaplin, ein entkräftendes Argument im
Vergleich zwischen afroamerikanischen Gelehrten und dressierten Tieren, denen
menschenähnliche Fähigkeiten lediglich antrainiert worden seien. Wie Chaplin
betonte, war das Geniekonzept per se problematisch, da es – ähnlich wie die
rassistischen Begründungsmuster der Sklaverei – Ungleichheiten zementierte
und Menschen in naturalisierte Hierarchiesysteme einordnete. So wichtig der
kritische Einwand gegen eine unhinterfragte Nutzbarmachung der
Geniekategorie auch war, wurde die gewagte Parallelisierung mit den
Exklusionsmechanismen der Sklaverei jedoch weder im Vortrag noch in der
darauffolgenden Diskussion hinreichend verhandelt.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die hier behandelten Beiträge und
anschließenden Diskussionen einen breit gefächerten Wissensraum zum
Exzellenz- und Geniekulttopos erzeugten, der zwischen kultur-, literatur- und
kunsthistorischen, postkolonialen, statistischen sowie geschlechter- und
wissenschaftsgeschichtlichen Perspektiven oszillierte. Dabei wurden die
historisierenden Ansätze, die sowohl Verflechtungen als auch konfligierende
Spannungen zwischen den Diskursen offenlegten, durch eine fortlaufend
kritische Verortung des Geniebegriffs im Macht-Wissen-Konnex komplementiert.
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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Auf diese Weise trat nicht nur die Signifikanz der Kategorien Geschlecht und
Race für eine historische Analyse des Geniekonzepts zum Vorschein, sondern
auch die Frage, inwieweit die gängige Rhetorik von Exzellenzierung, Brillanz und
Genialität der mythenreichen Figur des westlichen, strukturell männlichtranszendenzorientierten Genies verpflichtet bleibt. Gleichwohl kristallisierten
sich gerade mit Blick auf die aktuelle Begabtenförderung, deren institutionelle
Anfänge im frühen 20. Jahrhundert von Monika Wulz (ETH Zürich) am Beispiel
der Energetik- und Effizienzlehre Wilhelm Ostwalds nachgezeichnet wurden,
gewisse Neukonfigurationen heraus. Obwohl sie heutzutage mit vergleichsweise
weniger Exklusionsbegriffen und dem Teamgeistargument operiere, setze sie
nach wie vor auf strenge Selektionsverfahren, wie Ulrich Teichler (Universität
Kassel, INCHER-Kassel) und Stefan Hornbostel (Deutsches Zentrum für
Hochschul- und Wissenschaftsforschung Berlin) für den heutigen
Wissenschaftsbetrieb diagnostizierten, was neue Fragen nach gerechter und
demokratischer Ressourcenverteilung aufwerfe.
Zum Schluss eine kurze Bemerkung: Auch im konzeptionellen Rahmen des
Symposiums spiegelte sich in gewisser Weise der Versuch wider, einen
exkludierenden Geniemythos und sein Fortwirken in der aktuellen Forschung zu
unterlaufen, indem die Einleitung und Anmoderation der Vorträge nicht wie
üblicherweise von etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern,
sondern von Bachelor- und Master-Studierenden der HU-Berlin übernommen
wurden. Die Auswahlkriterien richteten sich hierbei nicht nach einer hierarchischen Klassifikation studentischer Leistungen, sondern stellten das intrinsische
Interesse der partizipierenden Studierendenschaft in den Mittelpunkt.
Agnes Böhmelt, Maja Figge
„Konfliktreiche Konkordanz“
Hartgesotten hegemoniekritisch. Symposium zur Ehren
von Gabriele Dietze und Dorothea Dornhof
ICI Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, 19.–21.01.2017 − veranstaltet vom
Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG), Konzept und
Organisation: Elahe Haschemi Yekani, Gabriele Jähnert, Julia B. Köhne,
Dorothea Löbbermann, Beatrice Michaelis, Julia Roth, Simon Strick
Die Tagung zu Ehren von Dorothea Dornhof und Gabriele Dietze versammelte
Beiträge von Kolleg_innen, Kompliz_innen und Schüler_innen, die „Genealogien, Konkurrenzen, Transformationen und innere Spannungen von Gender als
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Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
hegemoniekritische[r] Kategorie“ in den Blick nahmen. Dietze und Dornhof
waren maßgeblich für die Etablierung und Entwicklung der Gender Studies an
der Humboldt-Universität, wichtige Stützen des DFG-Graduiertenkollegs
„Geschlecht als Wissenskategorie“ und haben mit ihrer intellektuellen „Diskussionslust und Kritikliebe“ (Volker Hess) in den vergangenen Jahrzehnten die
Debatten zu Geschlecht, Intersektionalität und Hegemonie(selbst)kritik geprägt.
Dem Symposium ging es um nichts weniger als Geschichtsschreibung und
Schulbildung – im Anschluss an die Arbeit der beiden Wissenschaftlerinnen, die,
auch aufgrund ihrer multiplen Karrieren in Ost und West, von der Akademie nie
mit einer Professur bedacht wurden. Drei Tage lang standen die Ehrung und
(Erzählen über) gemeinsames Denken und Schreiben mit den beiden im
Zentrum: In sieben Panels, einer Keynote, einer Talkrunde mit den Geehrten,
Grußworten, Videobotschaften, einem Kurzfilm und einem Sketch wurden die
vielen Fäden aufgegriffen und weitergesponnen, die Gabriele Dietze und
Dorothea Dornhof in ihrer Forschung geknüpft haben. Damit bildete die
Veranstaltung auch Allianzen innerhalb der Gender Studies ab.
Wie wichtig diese sind, wurde gleich im ersten Panel Kompliz_innen/Kollaborationen deutlich, das sich diesen Fragen in theoretischer wie
politisch-persönlicher Perspektive widmete: Sabine Harks (Berlin) Vortrag Was
ist Kritik? Über Dissidenz und Partizipation verhandelte im Anschluss an u.a.
Adorno und Butlers ethische Überlegungen zu Prekarität vor der Folie dramatischer werdender Entwicklungen des Neoliberalismus, globaler postkolonialer
Ungerechtigkeit und einer allgemeinen „Kommodifizierung der Lebensführung“,
die die menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, ein gutes – wenn nicht gar
überhaupt ein – Leben zu führen, zunehmend verunmöglichen, „die vielleicht
vordringlichste Aufgabe auch kritischer feministischer Theorie“: dem „Denken
des Möglichen“ (Butler) einen Ort zu geben. Dafür bedarf es laut Hark sowohl
einer kritischen Befragung der Zusammenhänge von Macht-, Wissens- und
Daseinsformen als auch eines Bestärkens widerständiger Praxen, die zum
„Denken des Kommenden“ (Mbembe) als in der Gegenwart angelegtes
Mögliches in der Lage sind. Hark schloss damit, dass das Verstehen der
Dominanzkultur nicht von ihrer Veränderung zu trennen und daher augenblicklich „wohl eher der Moment der Straße als die Zeit des Schreibtisches“ sei. Jana
Husmann (Hagen/Berlin) plädierte in ihrem anschließenden Beitrag zu den
Chancen von Streitkultur dafür, Auseinandersetzungen als produktive Voraussetzung für Kompliz_innenschaft und (strategische) Kollaborationen zu (re-)
etablieren. Dass „Genderismus“ als Kampfbegriff auf rechts-konservativer Seite
Verwendung finde, zeige immerhin auch, dass „Gender [als hegemoniekritische
Analysekategorie] hegemonial“ geworden sei. Um wirkungsvolle Herrschaftsund Machtkritik in analytischer Schärfe praktizieren zu können und nicht zuletzt
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für den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in kritisch-politisches Handeln
in der Öffentlichkeit brauche es – auch in den Berliner Gender Studies – (wieder)
eine lebendige Debatten- und Streitkultur, die Auseinandersetzungen auch über
disziplinäre, epistemologische und/oder politische Grenzen hinweg sucht,
anstatt sie zu vermeiden oder stillstellen zu wollen. Mit ihrem sehr persönlichen
Text, der in seiner Briefform auch eine alte feministische Kulturpraxis aufgriff,
beschloss Claudia Brunner (Klagenfurt) das Panel. Sie erinnerte an ihre intensive
Zusammenarbeit mit Dietze und Dornhof im Rahmen des Graduiertenkollegs
„Geschlecht als Wissenskategorie“. Feminismus (un)kompliziert bedeutete
dabei zweierlei: einmal, dass auf den ersten Blick Einfaches sich im Anspruch
feministischen Erkenntnisgewinns verkompliziert, zum anderen eine „Bewegung
der Anstiftung“ als Komplizinnenschaft vermittels uneitler (und tatsächlich
unkomplizierter) Freundschaft im gemeinsamen Hinarbeiten auf eine bessere,
gerechtere Welt.
Panel II, Pop/Kultur, das wegen des Ausfalls von Julie Miess nur aus zwei
Beiträgen bestand, wurde von Lisa Kuppler (Berlin) eröffnet. In ihrem kenntnisreichen Beitrag Hard-Boiled Woman Revisited – Jessica Jones im Marvel
Cinematic Universe stellte sie die verfilmte Version der Comicserie und deren
Titelheldin in den Zusammenhang der von Gaby Dietze analysierten Hardboiled
Woman und der hier wie da verhandelten Gender-Arrangements, namentlich
„Weiblichkeitswahn“, komplexe, teilweise problematische Wahlfamilien und
Sexualpolitiken. Marietta Kesting (München) sprach in ihrem Vortrag Goldene
Zitronen über Race, Klasse und Gender in Beyoncés „Lemonade“. Ihre
„assoziative Interpretation“ des dichten Textgewebes auf dem visual album
thematisierte u.a. „Black History und [das Zelebrieren Schwarzer Alltagskultur in
der] afrikanische[n] Diaspora“, „weibliche Empörung, Zorn und Gewalt“ und
Beyoncé als „Female Star und Material Girl“. Diese bezöge sich affirmativ auf
den Rahmen aber auch die Möglichkeiten kapitalistischer Produktionsverhältnisse, und positioniere sich gleichzeitig dezidiert gegen die in der (gar nicht so
„post-“) „post-racial“-Ära nach wie vor präsente Ausbeutung von und Gewalt
gegen Schwarze Menschen und People of Color („#Black Lives Matter“).
Der Tag endete mit einer Keynote von Elahe Haschemi Yekani (Flensburg) und
Beatrice Michaelis (Rostock), die darin als Partners in Crime auf die lange
Zusammenarbeit mit Gabriele Dietze (zurück-)blickten und in neue Richtungen
weiterdachten: Von queerer Intersektionalität zu ethischem Begehren. Der zu
dritt verfasste Aufsatz „Checks und Balances“ hatte Intersektionalitätsansätze
und Queer Theory als korrektive Methodologien zusammengebracht; die weitere
Befragung und Infragestellung von Kategorien und kategorialem Denken wandte
sich im Lauf folgender kollaborativer Publikationen schließlich dem Affektiven
und Nicht-Menschlichen als Entgrenzung der Queer Theory im Spannungsfeld
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Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
des Neuen Materialismus zu. Ausblickend entwarfen Haschemi Yekani und
Michaelis einen Ansatz, der queere Freundschaft, Solidarität und ethisches
Begehren in den Mittelpunkt eines Projekts der für geteilte Wirklichkeiten
verantwortlichen „Gemeinsamkeit in Differenz“ rückte.
Am Freitag zog das Symposium in den Senatssaal der Humboldt-Universität
und verlieh damit dem Gesagten auch räumlich-institutionellen Nachdruck. Der
Vormittag begann mit einem Panel zu Ästhetiken/Artefakten. Julia B. Köhne
(Berlin) beschrieb Das schillernde Geschlecht des Genies. Geniologie um 1900
und dabei namentlich Verschiebungen der Konstitutionselemente des Geniekults in den Geisteswissenschaften, die auch als Reaktion auf die erste
Frauenbewegung bzw. die Krise der Männlichkeit um 1900 verstanden werden
müssten. Sie zeichnete detailliert die vergeschlechtlichten Metaphern nach, die
dem Geniekult als „Aufrichtung des Männlichen“ dienten, was mit der
Auslagerung des Weiblichen und Jüdischen einherging und eine männlicharische Genealogie begründete. Božena Chołuj (Frankfurt/Oder) begann ihren
Vortrag mit einer Würdigung ihrer Zusammenarbeit mit Dorothea Dornhof. Bei
dieser habe sie gelernt, mit Gleichzeitigkeiten und Uneindeutigkeiten umzugehen. Ausgehend davon lotete sie das kritische Potenzial feministischer
polnischer Kunst als Erinnerung und Provokation seit den 1990er-Jahren aus.
Anhand des Widerstands gegen zwei sehr unterschiedliche Arbeiten, die
Installation Passion (2001) von Dorota Nieznalska und die Fotoserie Let Them
See Us (2003) von Karolina Breguła, erläuterte Chołuj verschiedene künstlerische
Strategien und deren Wirksamkeit als Protestformen. Kathrin Peters (Berlin)
diskutierte unter dem Titel Fakten, Fantasien – Über Liebe Reden zwei filmische
Arbeiten, Ricerche: three (2013) von Sharon Hayes und deren ‚Vorbild‘ Comizi
d’amore (1963) von Pier Paolo Pasolini. In ihrer Darstellung wurde deutlich: 50
Jahre nach Pasolinis Beitrag zum Cinéma vérité, in dem er die italienische
Bevölkerung zu ihren Sexual-, Liebes- und Beziehungsauffassungen und praktiken befragt hatte, ist Hayes nicht mehr auf ‚Wahrheit‘ aus, sondern zeigt in
der Vielstimmigkeit ihres Films die Unproduktivität von Kategorisierungen und
Universalisierungen. Peters liest die Arbeiten medienarchäologisch als
Untersuchungen der Sagbarkeit der Liebe, in denen die „possibility of touching
across time“ (Carolyn Dinshaw) queerer Zeitlichkeit sichtbar wird.
Zu Beginn des Panels Solidaritäten/Bewegungen präsentierte Nana Adusei-Poku
(Rotterdam) eine erste Materialsammlung zu einem Projekt, das sich mit einer
speziellen Zusammenarbeit und vielfältigen wechselseitigen Appropriationen
beschäftigt: The God and the Italian Artist – Kanye West’s and Vanessa
Beecroft’s Collaboration. Anhand der Präsentation der dritten Yeezy-Kollektion
(2016) formulierte Adusei-Poku die Frage, ob die darin aufgegriffe-
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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nen/kommodifizierten Afrotropes, Symbole Schwarzer bzw. afrodiasporischer
Befreiung, als leere, ihrer Geschichte und Politik beraubter Symbole oder als
offene Möglichkeiten zu verstehen seien. Alanna Lockward (Berlin/Santo
Domingo) wurde per Skype zugeschaltet und analysierte in ihrem so persönlichen wie politischen Vortrag Letters als Lifesavers. Redefining Solidarity between
Feminisms Differenzen und materielle Unterschiede zwischen Schwarzen und
weißen Feministinnen und Feminismen in der deutschen Akademie. Sie betonte
dabei auch solidarische Praktiken als „labor of love“ und praktische ‚Lebensrettung‘ – die als solche auch ihre Beziehung zu Gabriele Dietze kennzeichne(te)n.
Angesichts der derzeitigen politischen Situation, angesichts des „Endes des
Humanismus“ (Mbembe) seien diese Akte umso notwendiger. Das Panel
endete mit einer weiteren Ehrung Gaby Dietze[s] in Bewegung: Karin Esders und
Carsten Junker (beide Bremen) rekurrierten auf das machtkritische Feld der
Mobility Studies, wie es Stephen Greenblatt in seinem Cultural Mobility
Manifesto (2009) entworfen hat. Darin wird Bewegung als Schlüssel zum
Verständnis von Kulturen gefasst; hier diente sie zur Beschreibung Dietzes als
„travelling scholar“ und „feminist flaneur“.
Im Panel Dämoninnen/Mörderinnen präsentierte Konstanze Hanitzsch
(Göttingen) ihr aktuelles Forschungsprojekt unter dem Arbeitstitel „Pure
Vernunft darf niemals siegen“ – Hexerei, Magie und der Neue Materialismus.
Ausgehend von gegenwärtigen Hexenphänomenen interessiert sie sich für die
Gründe der Wiederkehr des ‚unvernünftigen‘ Denkens im Kontext des New
Materialism. Anhand einiger utopischer Figuren, darunter Paul B. Preciados
Entwurf einer Transformation der Gattung mithilfe von Hormonen in Testo
Junkie (2015) und Annie Sprinkles ökosexuellen Praktiken, die sich auch in deren
Zusammenarbeit mit Donna Haraway niederschlagen, fragte Hanitzsch,
inwiefern diese ‚neuen‘ Utopien auf Gendertheorien basieren und etwa als
Zeichen einer „post-magic-science“ zu verstehen seien. Kathleen Heft (Berlin)
präsentierte Ergebnisse ihrer Diskursanalyse zu Kindstötungen in Ostdeutschland. Sie zeigte, dass im Kindsmorddiskurs ostdeutsche Differenz hergestellt
wird, während sich zugleich ein westdeutsches ‚Wir‘ formiert, das sich gegen die
ehemalige DDR abgrenzen und abheben möchte. Um diese Bewegung zu
analysieren, schlug Heft den Begriff der Ossifizierung des Kindsmords vor, da
die West-Ost-Differenz (anders als Kulturalisierungen/Ethnisierungen und
Rassifizierungen) weder postkolonial noch rassistisch, sondern völkisch
bestimmt sei.
Den zweiten Tag beschloss eine Talkrunde mit den Geehrten, die von Anson
Koch-Rein (Grinnell/Iowa) moderiert wurde und noch einmal die (wissenschafts)politische Dimension des Symposiums herausstellte. Dietze und Dornhof
waren Anfang der 1990er-Jahre an die Humboldt-Universität gekommen: Dietze,
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Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
die zuvor Lektorin beim Rotbuch Verlag gewesen war, brachte die Lust am
Denken und Aufschreiben dazu, eine akademische Laufbahn einzuschlagen;
Dornhof hatte in der DDR an der Akademie der Wissenschaften bereits
feministisch gearbeitet und unterhielt auch vor der Wende Kontakte zu
westdeutschen Forscher_innen. Beide lernten einander 1991 kennen und waren
als Beteiligte des Mittelbauforums der Humboldt-Universität maßgeblich an der
Einrichtung und Entwicklung der Gender Studies beteiligt: Dies bedeutete nicht
nur Veränderungen des Denkens und das praktische Erlernen von Transdisziplinarität, sondern auch Kollegialität und Zusammenarbeit, die es ermöglich(t)en,
„Gedanken in [dabei durchaus auch] konfliktreicher Konkordanz anstatt
Konkurrenz [zu] entwickeln“, wie Gabriele Dietze ausführte.
Daran anschließend eröffnete Isabell Lorey (Kassel/Berlin) am Samstagvormittag das Panel Interdependenzen/Dekolonialisierung und betonte erneut die
Bedeutung des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“ für die
Debatten um Intersektionalität und Interdependenzen. In ihrem Vortrag
Zwischen den Zeiten – Vom Bauernstand zum Witwenstand sprach Christina
Petterson (Canberra) über die Sozialstruktur der Herrnhuter Brüdergemeinde im
18. Jahrhundert und zeigte anhand ihrer Analyse der Einteilung der Gemeinde in
nach Alter, Geschlecht und Familienstand getrennte Chöre, dass in diesem
Prozess der kollektiven Subjektivierung Gemeindekonflikte eher als Genderdenn als Klassenkämpfe ausgehandelt wurden. Katharina Walgenbach (Hagen)
präsentierte in Weiterführung ihrer Arbeit zu Interdependenzen Überlegungen
zu Antikategoriale[n] Intersektionalitätsansätze[n] bzw. zur Vereinnahmung von
Intersektionalität und queerer Theorie und Praxis durch und für hegemoniale
Politiken. Die Neuordnung von Ökonomie, Staat und Privatsphäre führe zwar zu
partieller Integration, deren Maßstab jedoch Kriterien der Verwertbarkeit
bildeten. Daher sei hegemonie(selbst)kritisch zu fragen, inwiefern Intersektionalität im deutschsprachigen Raum sowohl akademisch als auch politisch eher
Spaltungen als neue Bündnisse und Allianzen befördere. Die Notwendigkeit
eines widerständigen Denkens „von den Kämpfen aus“ betonte in diesem
Zusammenhang Lorey in der daran anschließenden Diskussion. Manuela
Boatcă konnte leider nicht anwesend sei, ihr Beitrag, der über die praktische
Umsetzung von Okzidentalismuskritik spekulierte, wurde jedoch von Julia Roth
verlesen.
Auch die Lesung von Thea Dorn entfiel wegen Krankheit, ebenso der Vortrag von
Kirstin Mertlitsch. Das letzte Panel Feminismen/Hegemoniekritik schloss
unmittelbar an die zuvor geführte Diskussion zu den Potenzialen der Hegemonie(selbst)kritik an. Andrea Maihofers (Basel) Vortrag Säkularismus und
feministische Hegemonie(selbst)kritik stellte angesichts der allgemeinen
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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Revitalisierung von Religion und Religiosität die Frage: Wie weiter mit dem
Säkularismus? Sie plädierte angesichts christlicher wie islamischer Fundamentalismen für seine Weiterentwicklung im Rückgriff auf Hegemonie(selbst)kritik:
Auch die eigenen innergesellschaftlichen Selbstaffirmierungs- und OtheringProzesse gelte es, in den Blick zu nehmen. Als Basis einer nicht über Abwehrmechanismen, sondern als nicht-hierarchische Vielfalt organisierten neuen
Subjektivierungsform müsse ein „pluraler Universalismus“ dienen. Dieser
Entwurf wurde in der Diskussion im Hinblick auf seine Lokalisierung (Westeuropa) und seine Abgrenzung zu gegenwärtigen Resouveränisierungen befragt.
Abschließend skizzierte Käthe von Bose (Paderborn) unter der Überschrift „Sie
hatten alle sehr, sehr saubere Gesichter“: Vom Erforschen exklusiver Netzwerke
erste Beobachtungen und Fragen zu einem Projekt, das die Herstellung von
Exklusivität in elitären Netzwerken untersucht – als Analyse eines „doing
exceptionalism“ bezog sich auch dieser Beitrag auf die wegweisende Forschung
von Gabriele Dietze. Mit Bezug auf Pierre Bourdieus Analyse der „feinen
Unterschiede“ zeigte von Bose u.a. anhand des Projekts Adel auf dem Radel –
Radtouren von Gut zu Gut für den adeligen Nachwuchs –, wie die Herstellung
einer gesellschaftlichen Spitzenposition auch an der Produktion des Normalen
und Gewöhnlichen beteiligt ist.
Insgesamt bildete die Tagung als eine Art Klassentreffen der Dietze’schen und
Dornhof’schen Schule die anhaltende und überaus produktive Nachhaltigkeit
ihres Denkens ab, die sich in der beeindruckenden Vielfältigkeit der Beiträge
widerspiegelte. Darüber hinaus bedeuteten die angestoßenen Diskussionen ein
gemeinsames Weiterdenken von Hegemonie(selbst)kritik, Interdependenzen
und Solidarität. Man darf gespannt sein: auf weitere Entwicklungen dieser
Gedanken, nicht zuletzt aber auch auf die zukünftigen intellektuellen und
politischen Bewegungen dieser beiden hartgesottenen Hegemoniekritikerinnen
selbst!
Yvonne de Andrés, Sharon Adler
25 Jahre Überparteiliche Fraueninitiative Berlin − Stadt
der Frauen e.V. wurde im Abgeordnetenhaus gefeiert
22.2.2017
1992 hatten Berliner Parlamentarierinnen aus allen Fraktionen des Abgeordnetenhauses und Berliner Senatorinnen die Idee ein überparteiliches frauenpolitisches
Bündnis zu schmieden. Der ÜPFI-Neujahrsempfang war ein großes Frauenpolitisches
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Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
Treffen. AVIVA hat die Mitbegründerin und Vorstandsprecherin Carola von Braun
nach den wichtigsten Themen für 2017 befragt.
Es gab viel zu feiern beim traditionellen Neujahrsempfang der Überparteilichen
Fraueninitiative Berlin-Stadt der Frauen e.V. (ÜPFI) – denn gleichzeitig mit
dieser Feier wurde das 25. Jubiläumsjahr eingeleitet. Über 200 Teilnehmerinnen
kamen: aus Politik, Wissenschaft, Frauenprojekten, Medien, Unternehmen,
Vereinen und der Landesregierung. Geballte Frauen- und Genderkompetenz
fand sich am 22. Februar 2017 zusammen. Alle Fraktionen waren vertreten –
glücklicherweise mit Ausnahme der AfD –, vier Staatssekretärinnen aus Berlin
und Brandenburg und die neue Senatssprecherin Claudia Sünder gaben der
ÜPFI die Ehre.
Die AVIVA-Redaktion hat die Mitbegründerin und Vorstandsprecherin Carola
von Braun nach den wichtigsten Themen für 2017 befragt. Ihre Antwort: „Einsatz
für das wachsende Problem der von Obdachlosigkeit bedrohten Frauen. Die ÜPFI
gründete einen Beirat zu diesem Thema, dem Frauen aus vielen relevanten Trägern
der Wohnungslosenhilfe angehören. Es wurden Fachtagungen durchgeführt, an
denen auch die fachpolitischen Sprecher/innen der Fraktionen teilnahmen. Ergebnis:
es wurden weitere frauenspezifische Einrichtungen für wohnungs- und obdachlose
Frauen eingerichtet. Aber noch viel mehr bleibt zu tun, um obdachlosen Frauen zu
helfen.“
Besucherinnen der Ausstellung „Stadt der Frauen“ (die vom 17. März – 28.
August 2016 im Stadtmuseum Berlin gezeigt wurde) können sich sicher noch
daran erinnern, dass die ÜPFI im Foyer im Ephraim-Palais für Spenden zur
Verbesserung der Situation wohnungsloser Frauen in Berlin warb. Ebenfalls hat
ÜPFI in Kooperation mit der Stiftung Stadtmuseum die Besucherinnen und
Besucher der Ausstellung nach ihren politischen Einstellungen und Wünsche
befragt hat. Die Auswertung der 465 Fragebögen zeigt ein spannendes Bild.
Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit der ÜPFI ist der Einsatz für den Erhalt und
den Ausbau der Genderforschung in Berlin und so führt Carola von Braun aus:
„Die Genderforschung steht mit Zunahme der populistischen und Rechten
Strömungen unter zunehmendem Rechtfertigungsdruck. Gemeinsam mit
renommierten Gender-Forscherinnen führte die ÜPFI 2016 eine Fachtagung durch, in
der auf die Bedeutung und den Unterstützungsbedarf dieses Forschungsfeldes in
Berlin hingewiesen wurde. Eine von den Wissenschaftlerinnen erstellte Resolution
wurde von der ÜPFI an die Berliner Fraktionen und Parteien weitergeleitet. Ergebnis:
alle Parteien griffen das Thema auf, zum Teil sogar in ihren Wahlprogrammen. Aber
auch hier gilt: nichts bleibt selbstverständlich gesichert. Die ÜPFI wird weiter darauf
drängen, dass Berlin seinen guten Ruf als Standort für eine anerkannte Genderforschung behält.“
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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Mit stehender Ovation bedankten sich die anwesenden Frauen bei Carola von
Braun für ihre engagierte Arbeit als Mitbegründerin und Vorstandsprecherin der
ÜPFI.
Prof. Dr. Christina Thürmer-Rohr hielt eine bewegende und aufrüttelnde
Geburtstagsansprache „Eine ‚Welt in Scherben‘! Gender, Nation und Pluralität“.
In ihrem Vortrag wies sie auf die Bedeutung der Genderforschung für die
kulturelle Vielfalt und das friedliche Miteinander in unserer Gesellschaft hin.
Den Vortrag schloss Christina Thürmer-Rohr mit einem Zitat von Hannah
Arendt aus dem Interview mit Günther Gaus, wo es um das „Wagnis der
Öffentlichkeit“ geht: „Das Wagnis der Öffentlichkeit scheint mir klar zu sein. Man
exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit, und zwar als Person. Wenn ich auch der
Meinung bin, dass man nicht auf sich selbst reflektiert in der Öffentlichkeit erscheinen
und handeln darf, so weiß ich doch, dass in jedem Handeln die Person in einer Weise
zum Ausdruck kommt wie in keiner anderen Tätigkeit. Wobei das Sprechen auch eine
Form des Handelns ist. [...] Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, dass dieses
Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer
genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf das Menschliche aller
Menschen. Anders könnte man es nicht.“
Carola von Braun gab uns noch einen weiteren Ausblick auf dieses Jahr und
erzählte, wie wichtig ihr die Kongress-Reihe „Was ist Leistung?“ ist. „In ihrer
Veranstaltungsreihe wird die ÜPFI sich mit den Leistungen befassen, die Migrantinnen in unserer Gesellschaft einbringen und welche Probleme sie beim Zugang zu
Bildung und politischer Teilhabe zu bewältigen haben.“
Nicht alle Ideen die umgesetzt werden, kommen aus der eigenen Initiative und
so berichtet Frau von Braun: „Bei vielen weiteren Themen kommen engagierte
Frauen mit Anregungen auf die ÜPFI zu. Längst nicht alle Anregungen kann die
ÜPFI bearbeiten. Aber überall da, wo sie mit einem Verteiler von inzwischen knapp
1700 Adressen von Frauen in interessanten Tätigkeiten helfen kann, unterstützt sie
geeignete Anregungen durch Bekanntmachung über ihren Verteiler.“
(Nachdruck aus AVIVA-BERLIN.de im Februar 2017 − Beitrag vom 24.02.2017)
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Julia Bringmann, Franziska Baum, Martina Dietz
Prekarisierung Unbound?
Tagung des ZtG und des DFG Projekts „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit‘ und
‚Liebe‘ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“ (Wi2142/5-1), 2.3.3.2017, HU Berlin
Prekarisierung ist ein schillernder Begriff, der heute in Wissenschaft und Medien
häufig und vieldeutig verwendet wird. Doch was ist für wen wirklich prekär
geworden? Unter dieser Leitfrage diskutierten 200 Wissenschaftler*innen und
Studierende am 2. und 3. März 2017 auf der Konferenz „Prekarisierung
Unbound? Zum gegenwärtigen Stand der Prekarisierungsforschung aus
interdisziplinärer Perspektive“ in der Humboldt-Universität zu Berlin. Die
Organisation der Konferenz lag in den Händen von Dr. Gabriele Jähnert (ZtG
der HU Berlin), Prof. Dr. Christine Wimbauer und Dr. Mona Motakef (DFG
Projekt, HU Berlin). Sie wurde in Kooperation mit dem Institut für Sozialwissenschaften der HU Berlin und der Sektion Soziale Ungleichheit der DGS gestaltet.
Die Konferenz überzeugte, da sie inhaltlich und methodisch Teildisziplinen der
Sozialwissenschaften miteinander ins Gespräch brachte, die sonst oftmals
wenige Berührungspunkte aufweisen. So diskutierten Wissenschaftler*innen aus
den Gender Studies, der Familien- und Paarsoziologie und der Ungleichheitsforschung konstruktiv miteinander. In vielen Panels wurden Ergebnisse unterschiedlicher methodologischer Ansätze zusammengebracht. Während der
Austausch innerhalb des Faches Sozialwissenschaften dementsprechend sehr
bereichernd war, blieb die ursprünglich angestrebte Interdisziplinarität der
Konferenz etwas auf der Strecke: In einem Panel kamen medienwissenschaftliche Ansätze zu Wort. Beiträge aus den Disability Studies, der Geschichte oder
der kritischen Migrationsforschung waren jedoch nicht vertreten.
Ein schönes Zusammenspiel ergab sich aus den mehrheitlich empirischen
Fragestellungen in den Panels und den gesellschaftsanalytisch ausgerichteten
Key-Notes:
Brigitte Aulenbacher leitete in die breit angelegte Themensetzung ein, indem sie
diese als Auseinandersetzungen in einer neuen Stufe der kapitalistischen
Vergesellschaftung sozialer Reproduktion bestimmte, in der die Erfüllung von
Fürsorge und Selbstsorge durch steigenden Leistungsdruck verstärkt prekarisiert
sei. An dieser Zuspitzung entzünde sich vermehrt Alltagskritik und damit
Potenzial für Gesellschaftskritik. Klaus Dörre zeigte auf, dass populistisches
Alltagsbewusstsein sich in verschiedenen Formen auf prekäre Erfahrungen
berufe bzw. dieses von rechts vereinnahmt würde. Soziologische For-
Ta g u n g e n – A n k ü n d i g u n g e n / B e r i c h t e
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scher*innen sollten im Sinne einer öffentlichen Soziologie verstärkt die
Klassenspezifik des Rechtspopulismus aufzeigen. Isabell Lorey schloss die
Tagung mit einem Ausblick, wie ‚prekär sein‘ an sich und das damit einhergehende Verständnis von Zeit und Wechselseitigkeit emanzipatorisch gewendet
werden könnten und müssten.
In den zehn Panels wurden anhand konkreter Forschungsergebnisse Fragen in
der Debatte um Prekarisierung, Prekarität und Prekariat verhandelt: Wie wird
Prekarität definiert bzw. in welchen Dimensionen gemessen ─ als Abweichung
vom Normalarbeitsverhältnis, als unsicherer Lebenszusammenhang oder als
Klassenkonstellation? Ist eine Verwendung dieser Konzepte jenseits westlicher
Gesellschaften sinnvoll? Welche Umgangsweisen entwickeln Menschen mit
‚Prekärem‘ − beispielsweise Personen im ALG II-Bezug, heterosexuelle Paare,
Kinder und Jugendliche oder (migrantisierte) Solo-Selbstständige? Wofür fühlen
sich prekär Beschäftigte in ihrem Lebenszusammenhang (nicht) anerkannt? Wie
schreibt sich Prekarität in den Körper ein? Welche sozialen Folgen ergeben sich
für die individuelle Gesundheit, die subjektive Entfremdung, für die Frage eines
verfestigten ‚Prekariats‘ und die Möglichkeitsräume der Solidarität?
Insgesamt gewährte die sehr gut besuchte Konferenz aufschlussreiche Einblicke
in und ein gleichwertiges Nebeneinander der arbeits-, ungleichheits- und
geschlechtersoziologischen Prekaritäts- und Prekarisierungsforschung.
56 |
Forschungsliteratur / Rezensionen
Sebastian Zilles
Kraß, Andreas: Ein Herz und eine Seele. Geschichte der
Männerfreundschaft.
Frankfurt am Main: Fischer, 2016. − 480 S., ISBN 978-3-10-397206-1, 26,00 €
In seiner Untersuchung Liebe als Passion (1982) beobachtet Niklas Luhmann eine
Veränderung der Semantiken von Liebe und Freundschaft im Zuge des Umbaus
des Gesellschaftssystems von stratifikatorischer in funktionale Systemdifferenzierung: War im Zeitalter der höfischen Liebe noch eine (mitunter ununterscheidbare) Nähe zwischen Freundschafts- und Liebesdiskurs feststellbar, so
konkurrieren beide um 1800 zunehmend miteinander „um die Anwartschaft,
den Code der Intimität zu bestimmen“. 31 Luhmann führt dieses Spannungsverhältnis auf die affektive Anreicherung der Freundschaft einerseits und eine
Angleichung der Ehe an die Freundschaft andererseits zurück. Im Zuge der
romantischen Liebe triumphiert schließlich – so die These Luhmanns – die Liebe
über die Freundschaft: „Aufs Ganze gesehen hat jedoch die Liebe und nicht die
Freundschaft das Rennen gemacht und letztlich den Code für Intimität
bestimmt“. 32
Mit seiner literatur- und kulturwissenschaftlichen Studie Ein Herz und eine Seele
(2016) schließt der Mediävist Andreas Kraß an die Thesen Luhmanns an und
leistet einen entscheidenden Forschungsbeitrag zum literarischen Freundschaftsdiskurs. 33 Der Verfasser übernimmt dabei das Luhmann’sche Modell
nicht einfach nur, sondern er kritisiert, modifiziert es und konfrontiert die
Systemtheorie mit den geschlechter- und queer-theoretischen Arbeiten Michel
Foucaults, Judith Butlers und Eve Kosofsky Sedgwicks. Das Resultat ist eine
neue, erfrischende und eben auch andere Geschichte von Freundschaft, denn
31
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1994 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1124). S. 105.
32
Ebd. Vgl. auch S. 147: „Meine Vermutung ist, daß die Aufwertung der Sexualität dann auch die
Konkurrenz von ,Liebe‛ und ,Freundschaft‛ als Grundformeln für eine Codierung der Intimität
entscheidbar wird. Liebe gewinnt“.
33
Nahezu zeitgleich zu Kraß’ Untersuchung ist ein Sammelband aus dem Bereich der Soziologie
erschienen. Vgl. Janosch Schobin, Vincenz Leuschner, Sabine Flick, Erika Alleweldt, Eric A.
Heuser, Agnes Brandt (Hg.): Freundschaft heute. Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie. Bielefeld: Transcript 2016 (= Kulturen der Gesellschaft, Bd. 22). Schon Niklas Luhmann
bezog sich auf eine Studie von Albert Salomon: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in
Deutschland – Versuch zur Soziologie einer Lebensform. In: Zeitschrift für Soziologie 8 (1979). S.
279-308.
Forschungsliteratur / Rezensionen
| 57
der Verfasser widmet sich ausschließlich Männerfreundschaften. Dabei
analysiert er in fünf Kapiteln zwanzig Geschichten über Freundschaft von der
Antike bis in die Gegenwart, wobei jede Epoche vor dem Hintergrund eines
exemplarischen, philosophischen Textes interpretiert wird (vgl. S. 17), der den
diskursiven Rahmen bildet.
Eröffnet wird das Panorama mit einem theoretischen Grundlagenkapitel, das
von dem Grundgedanken geleitet wird, dass Freundschaften nicht nur als
Wesens-, sondern auch als Affektgemeinschaften zu verstehen seien (vgl. S. 48).
Kraß exemplifiziert zunächst am Beispiel des Gilgamesch-Epos, eine der ältesten
Freundschaftsgeschichten (vgl. S. 49), ein – wie sich herausstellen wird –
diachrones und in verschiedenen Kulturen präsentes narratives Muster:
Männerfreundschaften werden einerseits als eine passionierte Beziehung
dargestellt und andererseits als Passionsgeschichten erzählt (vgl. S. 49). Der
Tod des einen Freundes ist dabei unausweichlich und stellt – darin liegt die
Pointe der Interpretation – den Höhepunkt des Freundschaftsverhältnisses dar
(vgl. S. 79). Der Überlebende trauert nicht nur um den Verschiedenen, sondern
auch um „die Unmöglichkeit, das gleiche Geschlecht zu lieben. Der tote Freund
ist poetischer Ausdruck der Melancholie des Geschlechts“ (S. 77). Vor diesem
Hintergrund ergeben sich weitreichende Folgen für die Geschlechterpolitik:
„Wenn Freundschaftsgeschichten als Passionsgeschichten erzählt werden, so
geht es um die Sicherung der prekären Grenze zwischen Intimität und Sexualität,
die das virtuelle Kontinuum des männlich-homosozialen Begehrens strukturiert“
(S. 74. Herv. im Org).
In deutlicher Abgrenzung zu Luhmann beginnt Kraß seine Textanalyse in der
Antike (Kap. 2), die er als Zeitalter der Freundschaft deklariert (vgl. S. 81). Im
Zentrum des Intimitätsdiskurses stehen mann-männliche Beziehungen, die in
der Literatur häufig auf der Folie militärischer Freundschaften (Bsp. Homers
Ilias) verhandelt werden (vgl. S. 92). Am Beispiel des Johannes-Evangelium (vgl.
S. 123ff.) legt Kraß allerdings auch ein pazifistisches Gegenmodell offen.
Das dritte Kapitel widmet sich dem Freundschaftsdiskurs im Mittelalter, der eine
signifikante Verschiebung von der Politik hin zur Religion erfährt (vgl. S. 147).
Kraß vertritt die These, dass „religiöse Fundierung der Freundschaft erheblich zu
ihrer Emotionalisierung“ (ebd.) beiträgt. Souverän und schlüssig illustriert er
seine These an kanonischen Texten – etwa dem Rolandslied (vgl. S. 168-180) oder
dem Nibelungenlied (vgl. S. 180-189). Die Stärke des Kapitels liegt nicht allein in
den konzisen Einzelinterpretationen; dem Verfasser gelingt es auch, eine große
Linie zu ziehen und Unterschiede in den Gattungen nachzuzeichnen (vgl. S.
167): Zu Beginn steht die Heldenepik, die durch eine „monologische Männlichkeit“ (S. 211) markiert ist und in der die Freundschaft zwischen Rittern den
58 |
Forschungsliteratur / Rezensionen
dominierenden Code der Intimität darstellt. Im Zuge der Rezeption antiker Epen
in den 1160er Jahren setzt ein Paradigmenwechsel ein. „In den höfischen
Antikenromanen muss sich der Code der ritterlichen Freundschaft erstmals
gegen den Code der höfischen Liebe behaupten“ (S. 212). In den 1170er Jahren
begründet schließlich Chrétien de Troyes mit dem Artusroman eine neue
Gattung, der Liebe und Freundschaft nicht nach-, sondern nebeneinander stellt
und in eine trianguläre Figurenkonstellation einbindet (vgl. S. 213).
Im Zuge der Frühen Neuzeit (Kap. 4) übernimmt die Kunst als gesellschaftliches
Referenzsystem der Freundschaft und Liebe die Rolle der Religion (vgl. S. 224f.).
Gerade die Literatur avanciert zum „Medium einer Begegnung, die körperliche
Distanz überwindet und seelische Präsenz steigert“ (S. 225), was Kraß an
Montaignes Essays oder an Goethes Werther (1774) veranschaulicht. Diese Form
der Intimität hat einen Preis, der darin besteht, dass die passionierten Freundschaftsbeziehungen verdächtig erscheinen und daher einem Sexualitätsverbot
unterworfen werden, das formuliert und durchgeführt wird.
Der abschließende Teil der Monografie widmet sich der Moderne. Am Beispiel
des philosophischen Textes L’amitié von Blanchot weist Kraß einen Wandel im
Freundschaftsverständnis auf: „Freundschaft beruht nicht, wie es in der
Tradition seit Aristoteles immer wieder beschworen wurde, auf der Identität,
sondern vielmehr auf der Alterität der Freunde“ (309). Das sich daran anschließende bzw. darauf aufbauende Textkorpus überrascht: Mit dem Gedicht In
Memoriam (1850) des britischen Dichters Tennyson, Highsmiths amerikanischem Kriminalroman Der talentierte Mr. Ripley (1955), der Kurzgeschichte
Brokeback Mountain (1997) der Kanadierin Proulx und den deutschsprachigen
Romanen Der Freund und der Fremde (Timm, 2005) sowie Tschick (Hernsdorf,
2010) werden Texte gewählt, die mitunter qu(e)er zum literarischen Kanon
stehen. Das Anliegen der transnationalen Perspektive besteht darin, ein
narratives Muster aufzuweisen: Freundschaftsbeziehungen werden zum einen
psychologisiert und sie müssen sich zum anderen gegen den Verdacht der
Homosexualität abgrenzen. Der Sprung von Schillers Don Karlos (1787, Kap. IV)
in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint etwas groß, womit die
Zusammenstellung einige essentielle Fragen übergeht: Erstens ließe sich am
Beispiel der Frühromantik zeigen, dass Liebe und Freundschaft weiterhin noch
nicht gegeneinander ausdifferenziert sind. 34 Zweitens bleibt der Freundschaftskult im Biedermeier ebenso unberücksichtigt wie auch die Jugendbewegung um
die Jahrhundertwende. Drittens erlebt der Männerbund-Diskurs in Wissenschaft
34
Vgl. Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München: Fink 2007. S. 158-168.
Forschungsliteratur / Rezensionen
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und Literatur um 1900 eine diskursive Explosion. Hier wäre ein Blick auf die
Veränderungen interessant gewesen, die sich zwischen dem Zeitraum der
Jahrhundertwende und den im Anfangsteil aufgeführten Bünden in der
archaischen Zeit bzw. der Antike (Vgl. S. 18f., 81) ergeben. Viertens klammert
das Korpus die Erfahrungen zweier Weltkriege aus. Offen bleibt damit die
Möglichkeit nach einem anderen narrativen Muster, das das Reden, Begehren
und Beklagen des Kameraden behandelt, womit die Frage nach der Unterscheidung zwischen Freundschaft und (militärischer) Kameradschaft unausweichlich
erscheint. Die aufgeführten Fragen legen das Desiderat für weitere Forschungsarbeiten offen.
Ein Herz und eine Seele ist insgesamt betrachtet eine sehr lesenswerte und breit
angelegte literaturhistorische Studie über männliche Freundschaftsbeziehungen.
Sie überzeugt vor allem durch ihre Textinterpretationen, die zwar immer wieder
dieselbe Grundkonstellation herausstreichen, dabei aber keinesfalls versäumen,
auf Verschiebungen oder Brüche aufmerksam zu machen. Als besonders
leserfreundlich erweisen sich die zahlreichen Zusammenfassungen an den
Kapitelenden sowie die Hervorhebungen der wichtigsten Aspekte im Fließtext.
(Sebastian Zilles − Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Gestu_S /Zentrum für Gender Studies/ der
Universität Siegen)
Marianne Kriszio
Ehlers, Hella/Kalisch, Claudia/Linke, Gabriele/Milewski,
Nadja/Rudlof, Beate/Trappe, Heike (Hrsg.): Migration –
Geschlecht – Lebenswege. Sozial- und geisteswissenschaftliche Beiträge.
Berlin: Lit Verlag Dr. W. Hopf, 2015. – 280 S., ISBN 978-3-643-13139-3, 29,90 €
Die Arbeitsgruppe Gender-Forschung der Universität Rostock veranstaltete im
November 2013 ein Kolloquium, auf dem das Thema „Migration – Geschlecht –
Lebenswege“ aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Disziplinen untersucht wurde. Der hier besprochene Sammelband
erschien Ende 2015 und präsentiert die Mehrzahl der Beiträge dieses Kolloquiums. Die drei Themenblöcke beziehen sich auf familiäre Konstellationen,
Arbeitswelt und Darstellungen in Literatur und Film. Die Autor_innen kommen
aus Deutschland (darunter mehrere mit internationaler Herkunft), Österreich,
Großbritannien, USA und Schweden. Sie haben zum Zeitpunkt der Publikation
60 |
Forschungsliteratur / Rezensionen
z.T. bereits andere Positionen als während der Tagung oder zu der Zeit, als ihre
vorgestellte Studie durchgeführt wurde.
Im ersten Themenblock „Transformation in Familien“ geht es um Heiratsmigration
aus der Türkei bzw. zwischen Festland-China und Taiwan und um Eltern-KindBeziehungen in russland-deutschen Familien.
Can Aybek, inzwischen Professor an der Hochschule Bremen, untersucht die
Auswirkungen der neuen rechtlichen Regelung, nach der Heiratsmigrant_innen
aus Ländern wie der Türkei vor der Erteilung eines Visums zwecks Heirat erst
deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen (sofern sie nicht Akademiker_innen sind). Er hat dazu sowohl die Teilnehmer_innen von Sprachkursen in
Ankara wie die deutschen Heiratspartner_innen in einer Längsschnitt-Studie
mehrfach interviewt. Ein Ergebnis seiner Studie ist, dass sich die zeitliche
Struktur von Eheanbahnung und Eheschließung aufgrund dieser äußeren
Rahmenbedingungen gegenüber traditionellen türkischen Sitten verändert
(kürzere Zeit zwischen Kennenlernen, Antrag und Zustimmung zur Ehe und ggf.
standesamtlicher Eheschließung, ggf. längere Zeit zwischen standesamtlicher
und religiöser Eheschließung). Dabei gibt es einen deutlichen Unterschied
zwischen den Geschlechtern: Kommt die künftige Ehefrau aus der Türkei, so
muss die standesamtliche Heirat erfolgen, bevor die Eltern sie zum Sprachkurs
in die Großstadt schicken. Kommt dagegen der perspektivische Ehemann aus
der Türkei, dann erfolgt die standesamtliche Heirat erst nach erfolgreicher
Prüfung, damit die künftige Ehefrau und deren Eltern auch sicher sein können,
dass er das Visum erhält. In beiden Fällen halten die Ehekandidat_innen aber
bereits in der langen Vorbereitungszeit intensiven Kontakt per elektronische
Medien.
Lara Momesso, post docoral researcher an der University of Portsmouth,
behandelt in ihrem (auf Englisch geschriebenen) Beitrag cross-border families,
bei denen Partner_innen aus Festland-China nach Taiwan geheiratet haben,
insbesondere Frauen − dies vor dem Hintergrund der Entwicklung der
politischen Beziehungen zwischen Taiwan und China und den veränderten
Regelungen zur Mobilität in zwischen beiden Territorien. Die Untersuchungsmethode waren Tiefeninterviews und teilnehmende Beobachtungen. Sie konnte
feststellen, dass es trotz ähnlicher konfuzianischer Traditionen mit patriarchalischen Familienstrukturen doch deutliche Unterschiede in den Geschlechterrollen in beiden Ländern gibt, auf die die Ehepartner_innen so nicht vorbereitet
waren: In Taiwan sind die Vorstellungen in Bezug auf Geschlechterrollen
deutlich konservativer als in Festland-China. Dabei ergeben sich unterschiedliche Probleme für die erste Generation meist schon etwas älterer Frauen, z.T.
geschieden, oft aus ländlichen Gegenden, die verrentete und relativ arme
Forschungsliteratur / Rezensionen
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Soldaten-Veteranen aus Taiwan geheiratet hatten, und späteren Generationen
jüngerer Frauen, die ihre Männer z.T. über deren berufliche Aktivitäten in
Festland-China kennen gelernt haben. Insbesondere die Älteren litten unter den
restriktiven Regelungen, die Migrant_innen bis zu sechs Jahren keine Arbeitserlaubnis gewährten und die sie unerwartet zu „Hausfrauen“ machte, während sie
aufgrund ihres Alters die Erwartung an die Geburt von Kindern nicht mehr
erfüllen konnten. Die Jüngeren haben sich z.T. nach der Geburt von Kindern an
die Rollenerwartungen angepasst, obwohl sie vorher selbstverständlich
berufstätig waren, andere haben aber darunter sehr litten. Dazu kam die
unerwartete Anforderung zur Unterordnung unter die taiwanesischen Schwiegermütter, die in dieser Form in Festland-China nicht mehr besteht. Der Beitrag
berichtet auch über Bemühungen, sich in dieser Situation Freiräume zu
verschaffen. Die Beziehungen zu den Ehemännern selbst waren dagegen
insgesamt deutlich weniger problematisch als die zum sonstigen sozialen
Umfeld.
Der dritte Beitrag von Janina Zölch, Universität Flensburg, behandelt die
Entwicklungsmöglichkeiten junger Spätaussiedler aus Russland und deren
Beziehungen zu ihren Familien. Sie stellt das Beispiel eines Mannes vor, der als
Jugendlicher mit seinen Eltern aus Kasachstan nach Deutschland kam, die hier
eine Entwertung ihrer beruflichen Qualifikationen hinnehmen mussten. Die
Hoffnungen der Familie liegen nun insbesondere auf diesem Sohn. Auch er
musste hier aber deutlich längere Wege und Umwege bis zur Aufnahme seines
Studiums absolvieren, als er in seiner alten Heimat benötigt hätte. Inzwischen
studiert er an einer Fachhochschule, ist verheiratet und erwartet ein Kind. Die
Beziehung zu seiner Familie, insbesondere zur Mutter, ist sehr eng. Die Autorin
interpretiert dies so, dass es weniger eine Frage des Geschlechts sei, welchem
Kind die Rolle der engen Beziehung zu den Eltern zukomme, als vielmehr der
familiären Konstellation. Einen sonst angenommenen größeren Freiraum
männlicher Heranwachsender auch in der Migration gäbe es in dieser Konstellation nicht.
Im Block „Migrantinnen in der Arbeitswelt“ geht es um erzwungene Migrationsbewegungen in Zeiten politischer Umbrüche, Gastarbeiterinnen aus Ex-Jugoslawien in
Kärnten, migrantische Unternehmerinnen in Hannover und um Internationale
Professor_innen in Deutschland.
Maike Manske, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Schleswig-Holsteinischen
Landesbibliothek in Kiel, berichtet auf der Grundlage von Briefen und Tagebüchern, Reiseberichten und Erinnerungsschriften über die Flucht adliger Frauen
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Forschungsliteratur / Rezensionen
aus Frankreich nach der französische Revolution und deren Erfahrungen 35. Diese
hätten notgedrungen traditionelle Geschlechterbilder ins Wanken gebracht, da
die Frauen mit ihren Kindern auf der Flucht und später in den aufgesuchten
Gastländern oft auf sich allein gestellt waren und neue Wege finden mussten,
ihren Lebensunterhalt zu verdienen, was nicht immer standesgemäß gelang. Die
Palette der Beschäftigungen reichte von Gesellschafterin, Schriftstellerin und
Malerin bis zur Blumen- oder Putzmacherin, Wäscheaufseherin, Krankenpflegerin und Wasserträgerin.
Das Autorinnen-Team Viktorija Ratkovic´, Manuela Saringer und Rosemarie
Schöffmann aus Klagenfurt weist darauf hin, dass entgegen der öffentlichen
Wahrnehmung unter den „Gastarbeiter_innen“ der ersten Generation keineswegs nur Männer waren. Sie haben 2012 insgesamt sechs Interviews mit
ehemaligen „Gastarbeiterinnen“ im österreichischen Kärnten durchgeführt und
stellen in ihrem Beitrag die Erfahrungen von zwei Frauen aus Kroatien und
Serbien vor, die beide eigenständig beschlossen hatten nach Österreich zu
gehen, um dort Arbeit zu suchen, und diesen Plan durch die Vermittlung von
Bekannten realisieren konnten. Für beide Frauen war Arbeit das bestimmende
Element in ihrem Leben. Die Arbeitsstellen wurden mehrfach gewechselt, sie
lagen im Gastgewerbe, in der Reinigungsbranche, in einer Fischfabrik und einer
Fleischerei. Eine der beiden Frauen war nach einer Kündigung aufgrund eines
Konflikts mit der Familie ihrer Arbeitgeber eine Zeitlang nach Kroatien
zurückgekehrt, dann aber nach wenigen Jahren wieder nach Kärnten gekommen.
Die andere blieb immer dort. Beide haben Kinder. Die Vereinbarkeit von Arbeit
und Betreuung der Kinder war nicht einfach, eine der beiden musste ihr Kind
mehrere Jahre die Woche über in ein Kinderheim geben und konnte es nur am
Wochenende sehen. Den Begriff Diskriminierung verwenden die Frauen in den
Interviews nicht, aber eine berichtet von unkorrektem Verhalten von Arbeitgebern in Bezug auf Abgaben, und sie war nicht darauf vorbereitet, dass unverheiratete Österreicherinnen nach der Geburt eines Kindes eine längere Karenzzeit
nehmen durften (drei Jahre) als ausländische Arbeiterinnen wie sie. Beide
deuten das eigene Leben im Rückblick dennoch insgesamt als Erfolgsgeschichte.
Ruth May vom Institut für kritische Theorie in Berlin hat Existenzgründungen
von Migrantinnen in einem innenstadtnahen Stadtteil von Hannover mit hohem
Migrant_innenanteil untersucht, der Nordstadt. In diesem Beitrag wird das
Migrationsthema mit stadtplanerischen Gesichtspunkten und dem Bericht über
35
Dieser Beitrag wurde als einziger nicht auf dem Kolloquium in Rostock vorgetragen, sondern
nachträglich in den Sammelband eingefügt.
Forschungsliteratur / Rezensionen
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eine erfolgreiche Stadtteilsanierung verbunden, Existenzgründungen werden
dabei u.a. unter der Perspektive der selbstbewussten Aneignung eines Ortes
gesehen. Die fünf Fallstudien umfassen eine Boutique, eine Übersetzungsagentur, ein Atelier mit Kunstkursen, ein Lebensmittelgeschäft mit angeschlossener
Fleischerei sowie eine Unternehmensberatung für Kleinbetriebe mit Büroservice,
Finanzberatung und Buchführung; im letztgenannten Fall wird zugleich mit der
Rechtsanwaltskanzlei des Ehemannes kooperiert. Die Frauen kommen aus der
Türkei, aus Polen sowie aus Griechenland. Die Geschäftskonzepte sind in allen
Fällen über den Stadtteil hinaus ausgerichtet; zugleich gibt es bei mehreren aber
auch Verbindungen mit einer Art Solidarleistungen im Stadtteil und der
Unterstützung von Kundinnen oder Nachbarn durch Gespräche oder ggf.
persönliche Hilfen. Bei allen spielt der Bezug zum Stadtteil eine wichtige Rolle.
Für alle diese Kleinunternehmerinnen ist die städtische Lebensweise in diesem
Stadtteil in Verbindung mit der Trennung von Wohnung und Arbeitsort wichtig,
da sie ihnen eine Möglichkeit gibt sich von Beschränkungen und sozialen
Kontrollen im engeren Milieu z.B. der Großfamilie zu distanzieren.
Im Beitrag von Marianne Kriszio und Ole Engel geht es um die spezifischen
Befunde zu Frauen im Projekt „Internationale Mobilität und Professur“, das 2011
– 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt wurde. 36 Die
Gruppe aller Professor_innen internationaler Herkunft ist mit ungefähr 12%
etwa doppelt so groß ist wie diejenigen, die (nur) eine ausländische Staatsangehörigkeit haben. Allerdings stammt der größte Teil von beiden Gruppen aus
Europa oder Nordamerika, und die Kinder der früheren Arbeitsmigrant_innen
haben bisher nur in wenigen Ausnahmefällen den Karrieresprung auf eine
Professur geschafft. Der Frauenanteil lag bei den Internationalen Professorinnen
im Jahr 2012 mit einem guten Drittel (34%) deutlich höher als bei allen
Profesorinnen in Deutschland. Dies gilt für Universitäten, noch mehr aber für
Fachhochschulen (Anteil 40%). Im Übrigen zeigen sich starke Parallelen zur
generellen Situation von Professorinnen in Deutschland. In den höchsten
Besoldungsgruppen sind die Frauenanteile deutlich niedriger als bei den übrigen
Stellen und der Weg zur Professur führte bei den Frauen häufiger über
36
Das Projekt war von der Autorin dieser Rezension mit initiiert worden und wurde − unter ihrer
Beteiligung − geleitet von Andrä Wolter und Aylâ Neusel. Die vollständigen Ergebnisse sind
publiziert in: Aylâ Neusel/Andrä Wolter/Ole Engel/Marianne Kriszio/Doreen Weichert: Internationale Mobilität und Professur. Karriereverläufe und Karrierebedingungen von Internationalen
Professorinnen und Professoren an Hochschulen in Berlin und Hessen. Abschlussbericht an das
Bundesministerium für Bildung und Forschung: https://www.erziehungswissenschaften.huberlin.de/de/mobilitaet/projektergebnisse/abschlussbericht-1/abschlussbericht-internationalemobilitaet-und-professur.pdf [Aufruf 17.2.2017]
64 |
Forschungsliteratur / Rezensionen
Stipendien. Die Befunde zur persönlichen Lebenssituation zeigen, dass die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Dual Career-Problematik für
Internationale Professorinnen ebenso wie für ihre deutschen Kolleginnen ein
größeres Problem darstellt als für ihre männlichen Kollegen. Bei der Frage nach
erfahrenen Vor- und Nachteilen zeigt sich, dass das Zusammenwirken von
Geschlecht und Migrationshintergrund von großer Bedeutung ist. Frauen
benennen deutlich häufiger sowohl Vorteile als auch Nachteile aufgrund ihrer
nationalen oder ethnischen Herkunft und ihres Geschlechts. Bestimmte Formen
der Diskriminierung werden von Frauen häufiger genannt, aber auch die
Nutzung spezifischer Förderprogramme.
Der dritte Themenblock behandelt „Repräsentationen in künstlerischen Medien“, in
Literatur und Film.
Die schwedische Germanistin Linda Karlsson Hammarfelt aus Göteborg stellt
zwei Romane des tunesisch-schwedischen Autors Jonas Hassen Khemiri vor –
des wichtigsten „schwedischen Migrationsautors“, der in den schwedischen
Medien sehr präsent ist und sich immer wieder zu tagesaktuellen politischgesellschaftlichen Ereignissen äußert und dessen Texte inzwischen dort zur
Schullektüre gehören. „Kamel ohne Höcker“ ist eine Art Schelmen- und
Entwicklungsroman, „Montecore“ ein Werk in der Form eines E-Mailromans. In
beiden Büchern geht es um Konflikte zwischen dem tunesischen Vater, der sich
um Assimilation an die schwedische Gesellschaft bemüht, und dem Sohn, der
sich stärker mit seiner arabischen Identität auseinandersetzen will. Der Beitrag
versteht sich als intersektionale literaturwissenschaftliche Analyse, in der
„Literatur als ein Forum des Verhandelns über Männlichkeit, Identität und
Familienbeziehungen im Migrationskontext betrachtet wird“.
Die US-amerikanische Germanistin Marjanne E. Goozé von der University of
Georgia stellt in ihrem englischen Beitrag Barbara Honigmanns Briefroman
„Alles, alles Liebe!“ vor, in dem es um das Leben von Kindern jüdischer
Remigranten in der DDR geht. Die weiblichen Hauptfiguren Anna und Eva und
ihre Bekannten agieren im künstlerischen Milieu, insbesondere beim Theater.
Ihre Eltern sind überzeugte Kommunisten und Funktionsträger_innen im
politischen System der DDR. Die jüngere Generation steht dagegen eher in
Distanz zu diesem System und setzt sich intensiv mit ihrer jüdischen Identität
auseinander. Der Roman spielt in der Zeit 1975/76, publiziert wurde er im Jahr
2000. Die Protagonistinnen fühlen sich trotz einiger Privilegien als Kinder
verfolgter Eltern als Juden marginalisiert und irgendwie heimatlos, als Grenzgängerinnen. Berufsbedingte Umzüge aus Berlin in die Provinz verstärken noch
den Status als Außenseiterinnen. Auch die privaten Beziehungen laufen nicht
gut. Honigmann hatte selbst ein ähnliches Schicksal wie ihre Protagonistinnen,
Forschungsliteratur / Rezensionen
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hat aber die DDR bereits 1984 verlassen und lebt seitdem in Straßburg.
Auswanderung aus der DDR ist auch in dem Roman ein Thema, vermittelt z.B.
über jüdische Freunde aus der Sowjetunion, die sich dafür entschieden haben.
Für Anna und Eva ist dies aber kein Weg. Sie leben mit ihrer „diasporischen und
nomadischen Identität“. Dies wird als spezifisch jüdische Lebensstrategie
vorgestellt. Jüdisch-Sein in Deutschland werfe für Honigmann, anders als in
England oder New York, „always questions from others“ auf. Der Roman ist
nicht autobiographisch, in der Interpretation fällt aber der Begriff „Autofiktion“.
Goozé bezieht in ihren englisch geschriebenen Text nicht nur weitere Werke von
Honigmann mit ein, sondern auch umfangreiche Sekundärliteratur. 37
Anne Newball Duke, Romanistin an der Universität Rostock, analysiert eine
Kurzgeschichte von Constanza Liras, einer chilenischen Autorin, die bis 1991 in
Deutschland im Exil lebte, unter literatur- und kulturwissenschaftlicher
Perspektive. Im Gegensatz zu zahlreichen männlichen chilenischen Schriftstellern habe es überhaupt nur drei Frauen gegeben, die im deutschen Exil
schriftstellerisch tätig waren (darunter keine einzige in der DDR). Constanza
Liras hat in der Exilzeitschrift „Literatura Chilena en el Exilo“ drei Kurzgeschichten veröffentlicht; nach ihrer Rückkehr nach Chile hat sie nicht mehr publiziert.
In der Kurzgeschichte „Estante Cama“ (Das Schrankbett)von 1980 geht es um
ein junges Paar in Santiago de Chile zur Zeit der Militärdiktatur, das sich aus
allen politischen Dingen heraushalten und eine strikte Trennung zwischen dem
privaten Innenraum der eigenen Wohnung und allen Ereignissen „draußen„
vornehmen will. Das gelingt aber nicht: Aus einem neu gekauften Schrankbett
fällt abends der gefolterte und ermordete Körper einer Frau heraus. Nachdem
beide die Leiche entsorgt haben, finden sie am nächsten Abend wieder eine
Leiche, diesmal die eines Mannes. Die Ruhe ist für immer dahin. In der Analyse
von Duke spielen neben der politischen Dimension der Militärdiktatur
raumzeitliche Bestimmungen, Genderkonstruktionen und Handlungsräume
sowie Grenzsemantiken eine Rolle. Sie greift dabei auf die kultursemiotische
Erzähltheorie Jurij Lotmans und das Konzept der Heterotopien von Foucault
zurück.
Nadja Milewski und Clemens Langer vom Institut für Soziologie und Demographie an der Universität Rostock untersuchen im letzten Beitrag die TVSpielfilmreihe „Mordkommission Istanbul“. Dabei geht es um Genderdarstel37
Die aus Russland stammende und in Deutschland aufgewachsene Autorin Marianna Salzmann,
Leiterin der Studiobühne des Maxim-Gorki-Theaters, hat in ihrem Theaterstück „Muttersprache
Mameloschn“ eine ähnliche Thematik behandelt wie Honigmann. Auf sie wird in dem Beitrag
von Goozé kein Bezug genommen.
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Forschungsliteratur / Rezensionen
lungen im Set der handelnden Personen, aber auch um die ethnische Zusammensetzung der an den Filmen Beteiligten. Die Autoren und Regisseure sind
Deutsche, nur die Romanvorlage stammt von einer Autorin mit türkischem
Migrationshintergrund. Die immer wiederkehrenden Hauptdarsteller_innen
haben einen gemischten Migrationshintergrund (darunter einer mit lateinamerikanischer Herkunft), die übrigen Rollen werden z.T. mit Deutschen, zum Teil
mit Menschen türkischer Herkunft besetzt − die primären Episodenrollen
allerdings fast immer mit deutschen Darsteller_innen ohne (türkischen)
Migrationshintergrund. Die Genderdarstellungen werden unter Betrachtung der
Themenfelder
privater
und
öffentlicher
Raum,
Beruf,
Haushalt/Paarbeziehungen/Familie sowie Täter/Opfer/Tatmotiv untersucht, das
Thema Religion erwies sich bei der Analyse dieser TV-Reihe dagegen nicht als
ergiebig. Dafür gibt es immer wieder Bezüge zu Migration und Deutschland. Der
Hauptkommissar lebt in einer modernen, emanzipatorische Paarbeziehung, mit
einer selbstbewussten berufstätigen Ehefrau. In den Familien der Täter und
Oper gibt es andere Strukturen. Die Tatmotive liegen sowohl im familiären bzw.
ehelichen Leben wie auch im beruflichen Umfeld oder im Bereich organisierter
Kriminalität. Frauen kommen nicht nur als Opfer, sondern auch als Täterinnen
vor. Auffällig ist, dass der Kommissar bei der Lösung seiner Fälle oft aktive
Unterstützung von außen erhält, z.T. über Nebenhandlungen mit Hilfe seiner
Ehefrau. In anderen Fällen stellen deutsche Charaktere die entscheidenden
Informationen bereit; manchmal wirke es dann fast so, als hätte der Fall ohne
Hilfe aus Deutschland kaum gelöst werden können, dadurch dränge sich „der
Eindruck einer konstruierten Superiorität der Deutschen gegenüber Türken auf“.
Insgesamt ergibt sich also eine durchaus ambivalente Einschätzung dieser Serie
unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur Integration.
Insgesamt bietet dieser Sammelband eine Zusammenstellung spannender
Einzeldarstellungen zum Thema Migration und Geschlecht mit teilweise
expliziter, zumeist eher impliziter intersektionaler Herangehensweise, fokussiert
unter den Zugängen der Auswirkungen auf familiäre Konstellationen, Erfahrungen in der Arbeitswelt sowie Darstellungen in Literatur und Film. Auf der
zugrundeliegenden Tagung dominierten dabei Beiträge aus dem Bereich
Arbeitswelt im weiteren Sinne; in der Publikation fehlen leider drei der dort
vorgestellten Untersuchungen 38. Die Mehrzahl der Beiträge bezieht sich dabei
38
Darunter die von Yevgeniya Wirz über ukrainische Arbeitsmigrantinnen in der EU, von Anna
Rocheva über kirgisische Migrantinnen in Russland sowie von Tatjana Baraulina über Abwanderungsentscheidungen türkeistämmiger Frauen und Männer aus Deutschland. Auch die Untersuchung von Petra Wlasak über alleinerziehende bzw. alleinstehende Frauen aus Tschetschenien in
Graz ist nicht in diesem Band enthalten.
Forschungsliteratur / Rezensionen
| 67
auf migrierende/migrierte Frauen, zwei auf männliche Jugendliche und nur einer
− der Letzte − explizit auf beide Geschlechter. Wie schon die Herausgeberinnen
in ihrer Einführung angemerkt haben, sind queere Themen in den hier
vorgestellten Studien nicht bearbeitet worden.
Christin Schörk
Naß, Alexander/Rentzsch, Silvia/Rödenbeck, Johann/Deinbeck, Monika (Hrsg.): Geschlechtliche Vielfalt
(er)leben. Trans*- und Intergeschlechtlichkeit in Kindheit,
Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter.
Gießen: Psychosozial-Verlag, 2016. – 149 S., ISBN 978-3-8379-2597-5, 19,90 €
Bei der Veröffentlichung „Geschlechtliche Vielfalt (er)leben“ handelt es sich um
eine Sammlung von Redebeiträgen des gleichnamigen Weimarer Kongresses
von 2015 39, herausgegeben als Handreichung für v.a. Pädagog*innen,
Lehrer*innen und Psycholog*innen. Das Buch ist in der Reihe „Angewandte
Sexualwissenschaft“ erschienen, die in ihrer Themenauswahl den Fokus auf
einen interdisziplinären Austausch zwischen wissenschaftlichen Institutionen
und Vertreter*innen aktivistischer Praxisprojekte legt.
Das breite Themenspektrum des Kongresses – von sozialwissenschaftlichen
Untersuchungen bis hin zu aktuellen politischen Diskursen um geschlechtliche
Vielfalt – findet sich auch im Aufbau des Buches wieder. Das Einstiegskapitel
stellt eine empirische Studie zum Mitteilungsverhalten von Trans*Kindern bzgl.
ihrer geschlechtlichen Identität vor, wobei für den Autor v.a. folgende Aspekte im
Fokus standen: Inwiefern nehmen sich die Befragten Freiraum zum Ausleben
der eigenen Identität? Welche Signale zum Outen einer Trans*Identität werden
wann und an wen ausgesandt? Und wie häufig werden sowohl
„normabweichendes“ Verhalten als auch die eigene Geschlechtsidentität bis ins
Erwachsenenalter unterdrückt bzw. verborgen?
Hieran knüpft inhaltlich ein Beitrag zur Vorurteilsbildung und Verbreitung von
Stereotypen an, insbesondere in Bezug auf Homo- und Trans*Phobie. Zwei
Befragungen an repräsentativen Stichproben verdeutlichen die bestehenden
Vorurteile und das fehlende Wissen über Trans*Lebensweisen. Die Ausbildung
39
Der nächste Kongress findet vom 22. bis 24. September 2017 in Magdeburg statt.
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Forschungsliteratur / Rezensionen
von Vorurteilen wird hier u. a. durch den Hang zur Bildung sozialer Kategorien
oder das Streben nach eigenem positiven Selbstwert erklärt. Besonders bzgl.
Trans*Phobie sieht der Autor aber auch gesellschaftliche Geschlechternormen
und einen „Need for Closure“, das Bedürfnis nach schnellen und
unveränderlichen Entscheidungen, als einflussreich an. Gleichzeitig bietet der
Beitrag auch Interventionsmöglichkeiten zum Abbau bestehender Vorurteile
gegenüber Trans*Geschlechtlichkeit an und nimmt dabei insbesondere Kinderund Jugendeinrichtungen in die Verantwortung. Besprochen werden bspw.
Möglichkeiten, um Kontakt und Sichtbarkeit zu schaffen, Mobbing und
Diskriminierung zu ächten oder Geschlechternormen zu hinterfragen.
Auch durch Aufklärungsprojekte können Vorurteile gegenüber LGBTIQ*
abgebaut werden, sodass sich ein weiteres Kapitel mit der Evaluation
entsprechender Workshops in Deutschland befasst. Die durchgeführte Studie
wertet mittels qualitativer Inhaltsanalysen den Onlineauftritt von 45 Projekten
hinsichtlich deren Inhalten, Zielen und Methoden aus. Demnach sind an der
Mehrheit
der
in
Deutschland
durchgeführten
Aufklärungsprojekte
Trans*Personen selbst beteiligt und in dreiviertel der Workshops wird
Trans*Geschlechtlichkeit explizit behandelt. Im Fokus der Durchführenden stand
mehrheitlich, Einstellungen und Verhalten gegenüber Trans* zu verbessern und
die Wirkung von biografischen Inhalten, bspw. zum eigenen Coming-Out oder
persönlichen Diskriminierungserfahrungen, zu untersuchen. Eine Evaluation zur
Klärung weiterer Aspekte und inwiefern die Workshops tatsächlich Homo- und
Trans*Phobie abbauen können, ist bereits in Planung.
Weiterhin bietet das Buch konkret für die Soziale Arbeit konzipierte Zugänge
und Anregungen zum Thema Trans*. Ein Kapitel stellt in erster Linie die
Empfehlungen europäischer Ethikkommissionen bzgl. Geschlechtsbestimmender Behandlungen kritisch in den Fokus. Davon abgeleitet diskutiert der
Autor die Verantwortung von Beratungs- und Bildungsarbeit bei der Aufklärung,
Unterstützung und Begleitung Trans*- und Inter*Geschlechtlicher sowie ihrer
Eltern, aber auch Möglichkeiten, um diesbezüglich mehr gesellschaftliche
Offenheit zu schaffen.
Ein weiteres Kapitel ordnet diese Aspekte in eine körperbiologische Perspektive
ein. Der Autor bietet einen evolutionsgeschichtlichen Abriss der chromosomalen
Entwicklung von Geschlecht und Geschlechtsidentität, um damit zu einem
medizinethischen Diskurs überzuleiten. Unter Einbezug rechtlicher Normen wie
dem Personenstands- oder dem Transsexuellengesetz werden in diesem
Zusammenhang Fragen nach der Grenze zwischen geschlechtszuordnenden
und -vereindeutigenden Maßnahmen, der Ausgestaltung therapeutischer
Forschungsliteratur / Rezensionen
| 69
Fachberatungen oder der Rolle von Elternautonomie und Dispositionsbefugnis
Minderjähriger aufgeworfen.
Ebenso erhalten die Leser*innen durch das Buch Einblick in den Prozess der
Erarbeitung einer medizinischen Leitlinie, speziell zur bislang unveröffentlichten
S3-Leitlinie „Geschlechtsdysphorie“, die auf Grundlage von Betroffenenerfahrungen Richtlinien zur medizinischen Betreuung Trans*Geschlechtlicher
während des operativen Transitionsprozesses gibt.
Dem Thema Geschlechtlichkeit wird sich aber auch auf einer
gesamtgesellschaftlichen Ebene genähert, bspw. über eine juristische
Perspektive. Zwei Autor*innen betrachten kritisch, wie v.a. Heteronormativität
und Zweigeschlechtlichkeit über das Rechtssystem konstituiert und stabilisiert
werden. Gleichzeitig werden Lösungsstrategien dieses strukturellen Dilemmas
sowie deren jeweilige Probleme und Vorzüge diskutiert: Eine „Entgeschlechtlichung“ des Rechts würde Kategorisierungen mit Diskriminierungspotenzial
abbauen, hätte damit aber keinen Ansatzpunkt mehr, um tatsächlich
existierende Benachteiligungen zu verhindern. Dies kann hingegen durch eine
Ausdifferenzierung von Geschlecht im Recht geleistet werden, was jedoch ein
negativ-stereotypes Verständnis von Binarität reproduzieren und unzumutbare
Ausschlüsse verursachen würde.
Schließlich widmet sich ein Kapitel dem Thema sexueller Bildung sowie
Konzepten zur Prävention sexualisierter Gewalt und greift dabei aktuelle
politische Entwicklungen um Rechtsextreme und die „Alternative für
Deutschland“ (AfD) auf. Besorgt betrachtet der Autor die Instrumentalisierung
von Fragen zur Gleichstellung von Frauen oder zur Anerkennung sexuellgeschlechtlicher Vielfalt, um „besorgte Bürger*innen“ als Wähler*innen zu
gewinnen. Gleichzeitig werden hier auch intersektionale Ansätze für die
Sexualwissenschaft erörtert und in Beziehung zu den Übergriffen der Kölner
Silvesternacht 2015/16 sowie deren rassistischer Medialisierung gesetzt. Daher
sollten den Initiativen, Erfahrungsberichten, Aufklärungsprojekten oder
Onlinematerialien von People of Color zu sexueller Bildung zukünftig umso
mehr Aufmerksamkeit zukommen, um der Verbreitung rechtspopulistischen
Gedankenguts mithilfe intersektionaler Pädagogik entgegenzuwirken.
Die verständlich geschriebenen und immer wieder aufeinander Bezug
nehmenden Kapitel überzeugen v.a. dadurch, dass sie Mitarbeiter*innen aus der
Bildungs- und Sozialarbeit, in Schulen oder anderen öffentlichen Einrichtungen
durchgängig direkt in die Verantwortung einbeziehen, um Vorurteile und
Stereotypen gegenüber Trans* und Inter* abzubauen. Ergänzt wird dies durch
umfassende weiterführende Aufklärungs- und Arbeitsmaterialien, wie diverse
Literatur, Links zu Onlineprojekten oder konkrete Weiterbildungsangebote. Der
70 |
Forschungsliteratur / Rezensionen
Bezug zu sowohl aktuellen gesellschaftlichen Debatten als auch historischen
Diskursen bleibt dabei stets präsent und auch zentrale Konzepte der
Diskriminierungsforschung, wie Intersektionalität oder Wissenschaftskritik,
werden angeschnitten. Darüber hinaus räumt die Publikation auch dem
unermüdlichen Einsatz trans*- und inter*geschlechtlicher Aktivist*innen für ihre
eigenen Rechte Raum ein.
Gleichzeitig unterstützen die im Buch vorgestellten Studien stellenweise – auch
in Bezug auf Trans* – bestehende Geschlechtsstereotype, z.B. durch
Formulierungen wie Trans*Jungen konnten sich einen bestimmten Freiraum
erkämpfen, Trans*Mädchen hingegen waren nicht mutig genug oder hätten sich
nicht getraut. Weiterhin legen einige Beiträge ihren Fokus auf normative
Konzepte gelungener oder gesunder Entwicklung, Begrifflichkeiten, die als
problematisch einzuschätzen sind. Im Gesamten werden Trans*- und
Inter*Geschlechtlichkeit als psychische „Störungsbilder“ und deren
diagnostische Einordnung zu wenig reflektiert und z.B. die zugrundeliegenden
Konzepte und Methoden der besprochenen S3-Leitlinie nicht hinterfragt.
Denkbar wäre außerdem, Trans*- und Inter*Phobie in Bezug auf ihre
Verschränkung mit Rassismen, Bodyismen oder weiteren Heteronormativismen
zu thematisieren und auch explizit für eine Einbindung trans*- oder
inter*geschlechtlicher Personen in den Prozess der Bildungsarbeit zu plädieren.
Auch wenn die Autor*innen selbst nicht in der Sozialpädagogik oder Sozialarbeit
tätig sind, erlauben die Beiträge des Buches einen wichtigen und vielgestaltigen
Einblick in die Lebenssituation von Trans*- und Inter*Personen, aber auch in die
Herausforderungen der Arbeit pädagogischer Handlungsfelder, um die
Gesellschaft für mehr geschlechtliche Vielfalt zu öffnen. Insbesondere durch die
zahlreichen konkreten Ansatz- und Interventionsmöglichkeiten, die dabei
angeboten werden, ist die Publikation auch für Leser*innen abseits der
adressierten Tätigkeitsbereiche durchweg lohnend.
F o r s c h u n g s f ö r d e r u n g / F o rsc h u n g sp o l i t i k
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Aus den Pressemitteilungen des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur
Geschlecht – Macht – Wissen
Das Programm „Geschlecht – Macht – Wissen“ zielt auf die Förderung von
Vorhaben, die kooperativ und in der Regel hochschulübergreifend angelegt sind
und die aktuelle Fragestellungen der Genderforschung aufgreifen und weiterverfolgen.
Mit dem Programm folgt das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft
und Kultur einer Empfehlung der Wissenschaftlichen Kommission Niedersachsen (WKN) im Rahmen der Evaluation der Geschlechterforschung. Die WKN hat
den guten Stand der Forschung in Niedersachsen gewürdigt. Die WKN hat
unterstrichen, dass die gezielte und ausgewählte Förderung einzelner Bereiche
und Standorte weiterhin notwendig ist. Nur durch eine stärkere Verankerung in
den Fächern sowie eine intensivere hochschulübergreifende Vernetzung lassen
sich Innovationspotentiale erschließen. Dazu wurde eine explizite Landesförderung für inter- und multidisziplinäre Projekte zur Geschlechterforschung
angeregt.
Gefördert werden Verbundvorhaben von drei bis fünf Professuren mit einer
Laufzeit von bis zu drei Jahren und einer Gesamtfördersumme von bis zu
500.000 Euro. Aus den 17 eingereichten Anträgen wurden von der WKN
vergleichend begutachtet. Die Auswahlkommission hat fünf Anträge zur
Förderung zu folgenden Themen empfohlen:
•
•
•
•
•
„Macht und Ohnmacht der Mutterschaft. Die geschlechterdifferente
Regulierung von Elternschaft im Recht, ihre Legitimation und Kritik aus
gendertheoretischer Sicht“, (Universitäten Hildesheim und Göttingen),
„Gender, Flucht, Aufnahmepolitiken. Prozesse vergeschlechtlichter Inund Exklusionen in Niedersachsen“, (Universitäten Osnabrück, Oldenburg, Göttingen und Lüneburg),
„Materialität von Geschlecht und pädagogischer Autorität − Interferenzen von Körper und Dingen in Bildungsinstitutionen“, (Universitäten
Lüneburg und Hildesheim sowie TU Braunschweig),
„Caring for natures? Geschlechterperspektiven auf (Vor)Sorge im Umgang mit Natur/en“, (Universitäten Hannover und Lüneburg) und
„Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis. Studie zur aktuellen Situation aus linguistischer, phoniatrisch-psycholinguistischer und
juristischer Perspektive“, (Universität Hannover und MHH).
72 |
Forschungsförderung / Forschungspolitik
Ziel des Forschungsverbundes „Gender, Flucht, Aufnahmepolitiken. Prozesse
vergeschlechtlichter In- und Exklusionen in Niedersachsen“ (Sprecherin: Prof.
Dr. Helen Schwenken) ist es, aus einer gendertheoretischen Perspektive
Aufnahme- und Integrationspolitiken in Deutschland angesichts der gestiegenen
Herausforderung der Unterbringung, Aufnahme und Integration der gewachsenen Zahl an Geflüchteten zu untersuchen. Der Forschungsverbund differenziert
und erweitert den Blick auf ein breites Spektrum an Problemlagen und Fragen
nach Teilhabe von geflüchteten Frauen. Dabei liegt der Fokus auf vergeschlechtlichten Prozessen differenzieller Inklusion im Kontext von Aufnahmepolitiken
und den diese begleitenden Diskursen. Empirisch untersucht werden diese
Prozesse in vier zentralen Bereichen: ehrenamtliche und kommunale Flüchtlingsarbeit; Arbeitsmarktintegration, Gewaltprävention und Mediendiskurs. Der
Forschungsverbund ist ein Ergebnis der Kooperation innerhalb des seit Mai 2015
bestehenden Netzwerkes ‚Gender und Migration@Niedersachsen‘.
Das Projekt Caring for natures? Geschlechterperspektiven auf (Vor)Sorge im
Umgang mit Natur/en (Sprecherin: Prof. Dr. rer. soc. Tanja Mölders) ist in den
Raum-, Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaften verortet. ‚Care‘ stellt ein
aktuell viel beachtetes Thema der Geschlechterforschung dar. Das Forschungsvorhaben setzt in macht- und herrschaftskritischer Perspektive an den theoretischen und gegenstandsbezogenen ‚blinden Flecken‘ der Care-Debatte an. Es
wird der Frage nachgegangen, ob und wie die vornehmlich sozialwissenschaftlichen Zugänge zu ‚Care‘, die auf die Analyse von Mensch-Mensch-Beziehungen
ausgerichtet sind, eine Erweiterung auf den Gegenstandbereich ‚Natur/en‘
ermöglichen. Entsprechend ist das Ziel des Vorhabens, die macht- und
herrschaftskritische Perspektive der Geschlechterforschung auf Debatten zu
‚Care‘ um ein Konzept der Vorsorge für naturbezogene Handlungsbereiche zu
erweitern.
Als Ergebnis der Zusammenarbeit wird die Entwicklung von weiterführenden
Forschungsperspektiven, z.B. im Blick auf die Anwendung der Forschungsergebnisse in den ‚klassischen‘ Felder von Care-Tätigkeit etwa im Gesundheitsund Pflegebereich, erwartet.