Ist Theologie eine Wissenschaft?
Ralf Thomas Klein
1 Warum sollte Theologie Wissenschaft sein?
„Die Wissenschaft“ steht in unserer Kultur hoch im Kurs. Wenn eine Aussage
als „wissenschaftlich belegt“ oder gar (etwas irreführend) als „wissenschaftlich
bewiesen“ bezeichnet wird, dann kann diese Aussage nach dem Verständnis
vieler Zeitgenossen den höchstmöglichen Wahrheitsanspruch erheben. Was
genau unter „Wissenschaft“ oder „wissenschaftlich“ verstanden werden sollte,
ist durchaus umstritten, als erste Annäherung könnte man aber von einem verbreiteten alltagssprachlichen Gebrauch ausgehen: Für viele ist eine Wissenschaft ein Fach, das man an einer Universität oder Hochschule studieren kann,
und wissenschaftlich sind Aussagen, die nach den dort geltenden fachspezifischen Methoden hervorgebracht werden. Als Musterbeispiele für Wissenschaft
werden dabei oft die Naturwissenschaften angesehen, an denen sich die anderen Wissenschaften mehr oder weniger orientieren sollten.
Theologie, verstanden als Wissenschaft von Gott1, unterscheidet sich durch ihren
Gegenstand von anderen Wissenschaften. Sie muss daher sorgfältig darauf achten, dass sie keinen Wissenschaftsbegriff akzeptiert, der für sie nicht sachgemäß
ist. Sie sollte aber nicht auf den Titel einer Wissenschaft verzichten. Ein solcher
Verzicht würde sie zwar von der Notwendigkeit entbinden, unsachgemäße Forderungen mancher wissenschaftstheoretischen Ansätze zurückzuweisen. Eine
Aufgabe ihres Anspruches auf Wissenschaftlichkeit könnte aber von Christen
ebenso wie von Nicht-Christen als eine Preisgabe ihres Wahrheitsanspruches
verstanden werden. Dass Theologie sich diesen Titel nicht einfach verbieten
lässt, sondern ihre Argumente im Ringen um ein angemessenes Verständnis von
Wissenschaft zur Geltung bringt, erscheint mir daher ganz im Interesse einer
Verantwortung des christlichen Glaubens gegenüber jedem, der Rechenschaft
fordert über die Hoffnung, die in uns ist (1Petr 3,15).
Die wissenschaftstheoretische Debatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
wurde vor allem von zwei Ansätzen dominiert: dem Logischen Empirismus
und dem Kritischen Rationalismus. Die Kriterien für Wissenschaft, die der
1
Präziser könnte man Theologie beschreiben als „Wissenschaft von Gott, wie er sich
uns offenbart“. „Gott kann nur erkannt werden, wenn er sich selbst zu erkennen gibt.“
So Pannenberg, W., Systematische Theologie, Bd.1, Göttingen 1988, S. 207.
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Logische Positivismus vorgetragen hat, machen Theologie als Wissenschaft
unmöglich. Dieser Ansatz wurde zwar bald durch den Kritischen Rationalismus verdrängt, die Kritik an der Theologie als Wissenschaft war damit aber
nicht erledigt. Ich werde daher beginnen mit einer kurzen Darstellung dieser
beiden Wissenschaftstheorien und deren Implikationen für die Theologie. Im
Anschluss daran werde ich das Verständnis von Theologie als Wissenschaft bei
Pannenberg und Barth darstellen. Pannenberg versucht Theologie als Wissenschaft im Sinne des Kritischen Rationalismus zu konstituieren, während Barth
alle Ansprüche einer allgemeinen Wissenschaftstheorie an die Theologie strikt
zurückweist. Da ich in beiden Ansätzen Schwächen sehe, werde ich unter
Rückgriff auf die Arbeiten des amerikanischen Philosophen Alvin Plantinga
und die wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Thomas Kuhn versuchen, zu einem m.E. befriedigenderen Verständnis von Theologie als Wissenschaft zu gelangen.
2 Der Sinnlosigkeitsvorwurf des Logischen Empirismus
Mitte der 1920er Jahre bildete sich um den Physiker und Philosophen Moritz
Schlick der so genannte Wiener Kreis, der eine Wissenschaftstheorie entwickelte, von der man erwartete, dass sie eine „durchaus endgültige Wendung der
Philosophie“ bringen und „den unfruchtbaren Streit der Systeme“ beenden
werde.2 Die Lösung aller Probleme sah der Wiener Kreis in der konsequenten
Anwendung des Verifikationsprinzips: Nur solche Sätze sollen als sinnvoll
gelten, die empirisch verifiziert werden können. Alle wahren Sätze sind nach
diesem Verständnis naturwissenschaftliche Sätze. Andere Sätze sind eine sinnlose Aneinanderreihung von Wörtern.3 Der Satz „Karl wiegt 87 kg“ ist also
sinnvoll, da man ihn empirisch verifizieren kann, indem man Karl auf eine
Waage stellt. Sätze wie „Es ist moralisch schlecht, zu lügen“ oder „Gott existiert“ können nicht durch Sinneserfahrungen verifiziert werden, sie sind also
nach diesem Verständnis sinnlos. Alfred Ayers, der die Ideen des Wiener Kreises in England bekannt machte, formuliert es so: „Zu sagen, dass ‚Gott existiert‘, ist eine metaphysische Äußerung, die weder wahr noch falsch sein kann.
… Kein Satz, der vorgibt, die Natur eines transzendenten Gottes zu beschrei-
2
Schlick, M., Die Wende der Philosophie; in: Erkenntnis 1 (1930/31), S. 5.
Schlick, Wende, S. 8: „Es gibt also keine andere Prüfung und Bestätigung von Wahrheiten als die durch Beobachtung und Erfahrungswissenschaft. Jede Wissenschaft … ist
ein System von Erkenntnissen, d. h. von wahren Erfahrungssätzen; und die Gesamtheit
der Wissenschaften, mit Einschluß der Aussagen des täglichen Lebens, ist das System
der Erkenntnisse.“
3
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ben, kann irgendeine wörtliche Bedeutung besitzen.“4 Nicht nur Theologie,
sondern jede Rede von Gott wird damit radikal abgelehnt. Ayers hatte einen –
allerdings schwachen – Trost für Theisten:
„Wir bieten dem Theisten den gleichen Trost an wie dem Moralisten. Seine Aussagen können nicht gültig sein, sie können aber auch nicht ungültig sein. Da er überhaupt nichts über die Welt sagt, kann er nicht zu Recht angeklagt werden, etwas
Falsches zu sagen oder etwas, das ungenügend begründet ist.“5
Theologie, die das positivistische Verifikationsprinzip akzeptiert, muss Aussagen über Gott so umformulieren, dass sie zu empirisch überprüfbaren Sätzen
werden. Wie das aussehen kann, hat David Cox 1950 in einem Aufsatz gezeigt.
Die Aussage „Gott hat die Welt aus dem Nichts erschaffen“ wird umgeformt in
„Alles, was wir materiell nennen, kann so verwendet werden, dass es zum
Wohlergehen von Menschen beiträgt“.6 Dass auf diesem Weg der Inhalt der
Glaubensüberzeugung verloren geht, ist nicht zu übersehen. Weder christlicher
Glaube, noch Theologie als Wissenschaft von Gott ist unter den Denkvoraussetzungen des Logischen Positivismus möglich.
Karl Popper hatte allerdings bereits 1935 gezeigt, dass auch Naturwissenschaft
nicht unter diesen Denkvoraussetzungen möglich ist.7 Naturwissenschaften
wollen Gesetzesaussagen machen wie z.B. „Alle Massen ziehen sich gegenseitig an“ oder „Alle Raben sind schwarz“. Empirisch verifiziert wären diese
Sätze aber erst, wenn z.B. alle Raben, die jemals gelebt haben, jetzt leben oder
noch leben werden, beobachtet wurden. Diese Beobachtung ist natürlich nicht
durchführbar. Naturwissenschaftliche Gesetzesaussagen sind daher nicht verifizierbar. Eine Wissenschaftstheorie, die überhaupt keine Wissenschaft mehr
anerkennen kann, führt sich selbst ad absurdum. Der wissenschaftstheoretische Ansatz des Logischen Positivismus wurde daher von Poppers
„Kritischem Rationalismus“ abgelöst.
3 Der Kritische Rationalismus
Popper ersetzte die Forderung nach empirischer Verifizierbarkeit durch die
Forderung nach empirischer Falsifizierbarkeit. Aus einer Theorie oder Hypo-
4
Ayers, A., Language, Truth, and Logic, London 1936, S. 116. (Übersetzungen, falls
nicht anders angegeben, vom Verfasser des Artikels)
5
Ebd.
6
Cox, D., The significance of Christianity; in: Mind 59 (1950), S. 216.
7
Popper, K., Logik der Forschung, Wien 1935, S. 14ff.
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these8 müssen sich Voraussagen ableiten lassen, die empirisch falsifizierbar
sind. Die Hypothese „Alle Raben sind schwarz“ könnte widerlegt werden,
indem man einen weißen Raben beobachtet. Es handelt sich also um eine wissenschaftliche Hypothese. Wissenschaftliche Theorien oder Hypothesen können niemals „bewiesen“ werden, da es ja immer möglich ist, dass noch Beobachtungen gemacht werden, die die Theorie widerlegen. Alle wissenschaftliche Erkenntnis ist daher nur vorläufig.
Der Kritische Rationalismus verwendet also ein Kriterium für Wissenschaftlichkeit, das von Naturwissenschaften erfüllt werden kann. Ist dies aber ein
Wissenschaftsbegriff, der auch von der Theologie übernommen werden kann?
Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Vorwurf, dass Aussagen über Gott
sinnlos seien, weiterhin erhoben wurde, auch wenn nicht mehr gefordert wurde, dass sinnvolle Aussagen empirisch verifizierbar sein müssen, sondern nur
noch, dass sie falsifizierbar sein müssen. Die wohl berühmteste Version dieses
Vorwurfs hat Antony Flew 1950 in seiner Gärtnerparabel vorgetragen.9 Wenn
Gott nicht empirisch falsifizierbar ist, dann sei die Rede von Gott sinnlos, weil
sich ein nicht empirisch falsifizierbarer Gott nicht von einem nicht existenten
Gott unterscheide.
Theologie hat zwei Möglichkeiten auf diese Herausforderung zu reagieren: Sie
kann die Forderung nach empirischer Falsifizierbarkeit ablehnen, oder sie kann
die Herausforderung annehmen und zu zeigen versuchen, dass Aussagen des
christlichen Glauben eben doch empirisch falsifizierbar sind. Wolfhart Pannenberg hat einen bemerkenswerten Versuch unternommen, das Wissenschaftsverständnis des Kritischen Rationalismus zumindest in einer revidierten
Form auf die Theologie anzuwenden.
8
Das Wort „Theorie“ wird manchmal gebraucht, um einen größeren Komplex von
Hypothesen zu bezeichnen. Eine Hypothese ist nach diesem Sprachgebrauch nur eine
Vermutung über einen einzelnen Sachverhalt. Diese Unterscheidung wird allerdings
nicht konsequent verwendet und spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle.
9
Flew, A. / Hare, R.M. / Mitchell, B., Theology and Falsification. A Symposium; in:
Flew, A. u.a. (Hrsg.), New Essays in Philosophical Theology, London 1955, S. 96-108
(zuerst veröffentlicht 1950).
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4 Wolfhart Pannenberg – Theologie als Wissenschaft im Sinne
des Kritischen Rationalismus
Pannenberg hat 1973 in seinem Hauptwerk zur Wissenschaftstheorie10 einen
Grundgedanken Poppers für die Theologie übernommen, dass nämlich Wissenschaft Hypothesen aufstellt, die durch Erfahrung falsifizierbar sind. Wenn eine
Hypothese, die grundsätzlich empirisch falsifizierbar ist, trotz zahlreicher Versuche nicht widerlegt wurde, kann sie (vorläufig) als bewährt gelten.
Auf Theologie angewendet heißt das für Pannenberg, „dass der Gottesgedanke
auch in der Theologie hypothetisch bleibt und vor der Welterfahrung und
Selbsterfahrung des Menschen zurücktritt, an der er seine Bewährung zu finden
hat.“11 Aussagen über Gott sind in der Theologie wissenschaftliche Hypothesen, die sich empirisch zu bewähren haben.
Theologie unterscheidet sich von Naturwissenschaft dadurch, dass sie Gott als
Gegenstand hat, den Pannenberg als die alles bestimmende Wirklichkeit versteht. Theologie beschäftigt sich also mit der Wirklichkeit als Ganzem. Wirklichkeit ist aber immer historisch gegeben als eine unwiederholbare Abfolge
einzelner Ereignisse. Naturwissenschaft abstrahiert von diesem Zusammenhang, indem einzelne Ereignisarten untersucht werden, die wiederholbar sind,
sofern man von Zeit, Raum und manchen Details des Ereignisses absieht. So
ist z.B. der Rabe, den ich heute beobachte, ein anderer als der, den ich letzte
Woche beobachtet habe, oder zumindest findet die Beobachtung nicht zur gleichen Zeit oder am gleichen Ort statt. Naturwissenschaft berücksichtigt aber
nicht, dass es sich um individuelle Beobachtungsereignisse handelt, sondern
interessiert sich für diese nur, insofern sie wiederholbar sind. Theologie als
Wissenschaft von der Wirklichkeit als Ganzem, kann aber nicht von der Geschichte abstrahieren, sondern hat es mit der historischen Abfolge der Ereignisse zu tun.
Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, wenn Pannenberg die Offenbarung Gottes in der Geschichte verortet und zwar in der Geschichte als Ganzem.
Die Offenbarung liegt daher erst am Ende der Geschichte vollständig vor.12
Aber bereits im Verlauf der Geschichte geschieht Gottes Offenbarung als Geschichte und ist dem Menschen als solche erkennbar. „In dieser Sprache der
10
Pannenberg, W., Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973.
Pannenberg, Wissenschaftstheorie, S. 302.
12
Pannenberg, W., Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung; in: Offenbarung als Geschichte, hrsg. W. Pannenberg u.a., Göttingen, 51982 (11961), S. 95ff.
11
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Tatsachen hat Gott seine Gottheit erwiesen.“13 Diese Wahrheit liegt „vor aller
Augen“. „Man muss keineswegs den Glauben schon mitbringen, um in der
Geschichte Israels und Jesu Christi die Offenbarung Gottes zu finden. Vielmehr wird durch die Wahrnehmung dieser Ereignisse der echte Glaube erst
geweckt.“14 Die zentrale Rolle spielt dabei „das Geschick Jesu“. Die Auferweckung des Gekreuzigten ist „der eschatologische Selbsterweis Gottes“.15 Hier
ist das Ende der Geschichte schon vorweggenommen. „Auch das Weltende
wird lediglich in kosmischem Maßstab das vollziehen, was an Jesus bereits
geschehen ist.“16 Von daher bleibt es zwar dabei, dass unser Wissen um Gottes
Offenbarung nur vorläufig ist, durch die Auferweckung Jesu können wir aber
bereits um das Ende wissen.
Pannenberg akzeptiert den Ansatz des Kritischen Rationalismus und postuliert,
dass alle Sätze der Theologie allgemein überprüfbar sein müssen. Eine historische Überprüfung zentraler Inhalte der christlichen Botschaft hält er für möglich; alle Aussagen, auch der Gottesgedanke, bleiben aber hypothetisch, da sie
nur dann den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben können, wenn sie für
eine zukünftige Falsifikation offen sind.
Eine Würdigung Pannenbergs kann auf so engem Raum natürlich nicht versucht werden, zwei kritische Anmerkungen möchte ich aber dennoch machen.
Zum einen nimmt Pannenberg die Gottesferne des Menschen nicht ernst genug,
wenn er unterstellt, dass Menschen, die die Offenbarung Gottes in der Geschichte nicht erkennen, nur „zur Vernunft gebracht werden müssen“17, und
wenn er ausdrücklich behauptet, dass „der Heilige Geist nicht die Bedingung“
ist, „ohne die das Christusgeschehen nicht als Offenbarung erkannt werden
könnte“.18
Mein Haupteinwand ist aber ein anderer: Ich halte es für falsch, die Existenz
Gottes oder Aussagen über Gott in der Theologie als falsifizierbare Hypothesen zu betrachten. Naturwissenschaftliche Hypothesen sind Gesetzesaussagen
oder All-Aussagen wie z.B. „Alle Raben sind schwarz“. Aus solchen Hypothesen können Voraussagen abgeleitet werden, sie sind falsifizierbar. Aussagen
13
Pannenberg, Thesen,S. 100.
Ebd., S. 100f.
15
Ebd., S. 105. Die Auferweckung Jesu ist für Pannenberg ein Ereignis, das sich historisch belegen lässt. Argumente hierfür entfaltet er in: Grundzüge der Christologie,
Gütersloh 1964, S. 95ff.
16
Pannenberg, Thesen, S. 105.
17
Ebd., S. 100.
18
Ebd.
14
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über Einzelerfahrungen wie z.B. „Ich habe einen schwarzen Raben gesehen“
und die darin implizierte singuläre Existenzaussage „Es gibt einen schwarzen
Raben“ sind nicht wissenschaftliche Hypothesen, sondern Aussagen über die
Wirklichkeitserfahrung, an der Hypothesen zu bewähren sind. Meine Erfahrung „Ich habe einen schwarzen Raben gesehen“ ist nicht in diesem Sinne
falsifizierbar. Sie wäre auch dann nicht falsifiziert, wenn ich die einzige Person
wäre, die den Raben gesehen hat.19 Analog sind Gotteserfahrungen nicht falsifizierbar. Das Gegenstück zu einer naturwissenschaftlichen Theorie in der
Theologie sind nicht einzelne Aussagen über Gott, sondern etwa ein dogmatischer Gesamtentwurf. Ein solcher muss immer für neue Einsichten offen und
revidierbar sein, nicht aber jede Einzelaussage über Gott. Ich werde in Abschnitt 6 einen erkenntnistheoretischen Ansatz erläutern, der mit dieser Einsicht vereinbar ist.
Eine Übernahme des wissenschaftstheoretischen Rahmens des Kritischen Rationalismus für die Theologie scheint mir in dieser Form nicht möglich, es muss
nach einem anderen Ansatz gesucht werden.20 Karl Barths Verständnis von
Theologie als Wissenschaft geht von radikal anderen Denkvoraussetzungen aus
und bietet sich als mögliche Alternative an.
19
Eine Falsifizierung anderer Art wäre möglich, wenn ich den „Raben“ näher untersuche und feststelle, dass ich mich geirrt habe und der Vogel eine Elster ist. Damit ist
nicht die Erfahrung falsifiziert, sondern die darauf bezogene Beobachtungsaussage hat
sich als falsch erwiesen. Wenn ich aber wirklich einen Raben gesehen habe, kann dies
nicht durch andere Beobachtungen falsifiziert werden.
20
Einen bemerkenswerten Versuch zu einer Integration des Kritischen Rationalismus
in eine theologische Wissenschaftstheorie hat aus evangelikaler Sicht Heinzpeter Hempelmann unternommen: Kritischer Rationalismus und Theologie als Wissenschaft. Zur
Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens, Wuppertal 1980; Hempelmann, H., Christlicher Glaube vor dem Forum kritischer Vernunft. Kritischer Rationalismus und Theologie als Wissenschaft; in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 44 (2002), S. 307-329; ders., „Gemeinsam der Wahrheit etwas näher kommen“!
Zur Bedeutung des Kritischen Rationalismus für Theologie und Glaube; in: Der Kritische Rationalismus als Denkmethode und Lebensweise. Festschrift zum 90. Geburtstag
von Hans Albert, hrsg. v. G. Franco, Klagenfurt u.a. 2012, S. 298-323. Eine gewisse
Spannung besteht bei ihm zwischen der kritisch-rationalistischen Forderung, dass
Theologie darauf verzichten soll, ein Erkenntnisprivileg zu etablieren für die, die glauben (Gemeinsam, S. 307), und der Betonung der Glaubensgewissheit, die unverfügbares Geschenk Gottes ist. Hier scheint es mir sinnvoller wahrzunehmen, dass der Glaube
tatsächlich Erkenntnismöglichkeiten hat, die nicht jedem ohne weiteres zugänglich
sind. Ich werde in Abschnitt 6 erläutern, wie Alvin Plantinga Glaubensgewissheit in
seiner Erkenntnistheorie berücksichtigt.
60
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5 Karl Barth – Theologie als Glaubenswissenschaft
Im Gegensatz zu Pannenberg lehnt Barth es strikt ab, die Kriterien einer außerhalb der Theologie entwickelten allgemeinen Wissenschaftstheorie auf die
Theologie anzuwenden.
„Der Begriff der Theologie als Wissenschaft darf nicht unter Voraussetzung eines
allgemeinen Begriffs von Wissenschaft, sondern der allgemeine Begriff von Wissenschaft muß unter der Voraussetzung, daß auch Theologie Wissenschaft ist, formuliert werden.“21
Theologie ist „wie alle anderen sog. Wissenschaften menschliche Bemühung
um einen bestimmten Erkenntnisgegenstand“,22 aber ihr Erkenntnisgegenstand
ist eben ein besonderer. Barth bestimmt diesen Gegenstand als „Gott selbst in
seinem Wort“23 oder als „Gott in der Geschichte seiner Taten“24, als „das Werk
und Wort Gottes in seiner Fülle“25. Dieser Gegenstand gehört nicht wie die
Gegenstände der anderen Wissenschaften zu der „uns zugänglichen Wirklichkeit“26. Er kann nur im Glauben erkannt werden und dieser Glauben kann nur
von Gott gewirkt werden. Gott ist daher „in keinem Sinn ‚Objekt‘, sondern
unaufhebbares Subjekt“.27 Sowohl der Glaube als auch der Gegenstand der
Theologie sind dem Theologen unverfügbar, aber doch gewiss.28 Dogmatik
„setzt bei jedem Schritt und Satz die freie Gnade Gottes voraus, die sich als
Gegenstand und Sinn dieses menschlichen Handelns je und je schenken oder
auch verweigern kann.“29
21
So Barth, K., Apagogische Thesen über den Begriff der Theologie als Wissenschaft
(am 12.1.1930 an Heinrich Scholz geschickt); in: Barth, K., Vorträge und kleinere
Arbeiten. 1925-1930, hrsg. von H. Schmidt, Karl Barth Gesamtausgabe III, Zürich
1994, S. 539.
22
Barth, K., Kirchliche Dogmatik (KD), Bd. I,1, München 1932, S. 6.
23
Barth, K., Die dogmatische Prinzipienlehre bei Wilhelm Herrmann (1925); in: Vorträge und kleinere Arbeiten. 1922-1925 (GA III.19), S. 588. Das Wort Gottes hat für
Barth eine dreifache Gestalt: Verkündigung, Schrift und Offenbarung (KD I, §4 und
§5), wobei Wort Gottes und Offenbarung im engeren Sinne nur Jesus Christus ist. Auf
Barths Auffassung von „Wort Gottes“ und sein Schriftverständnis kann hier nicht näher
eingegangen werden.
24
Barth, K., Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962 (72010), S. 15.
25
Ebd., S. 98.
26
KD I,1, S. 7.
27
Barth, Prinzipienlehre, S. 588.
28
KD I,1, S. 11f.
29
KD I,1, S. 18.
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Theologie unterscheidet sich also durch ihren Gegenstand von allen anderen
Wissenschaften, dennoch will Barth für sie nicht auf den Titel der Wissenschaft verzichten, da dies als Verleugnung des Glaubens verstanden werden
könnte, als Preisgabe des Wahrheitsanspruches der Theologie: „Eine Begründung dieses Glaubens kommt nicht in Betracht, aber seine Verleugnung noch
weniger. Seine Verleugnung könnte aber der Sinn einer allzu reinlichen Unterscheidung der Theologie von den ‚Wissenschaften‘ sein.“30
Theologie hat trotz ihres andersartigen Erkenntnisgegenstands mit den anderen
Wissenschaften gemeinsam, dass sie eine „menschliche Bemühung um einen
bestimmten Erkenntnisgegenstand“ ist und „wie alle anderen Wissenschaften
einen bestimmten, in sich folgerichtigen Erkenntnisweg“ geht. „Sie ist wie alle
anderen Wissenschaften in der Lage, sich selbst und jedermann (jedermann,
der fähig ist, sich um diesen Gegenstand zu bemühen und also diesen Weg zu
gehen) über diesen Weg Rechenschaft abzulegen.“31 Aber die Anforderungen
eines allgemeinen Wissenschaftsbegriffs, wie sie Barths Freund Heinrich
Scholz formuliert hat,32 kann „die Theologie nur rundweg als für sie unannehmbar erklären“.33 Selbst die Forderung nach Widerspruchsfreiheit meint
Barth für die Theologie nicht akzeptieren zu können.
Pannenberg hat an dieser Stelle die kritische Frage gestellt: „Was bedeutet ein
‚in sich folgerichtiger Erkenntnisweg‘, wenn die Allgemeingültigkeit des Widerspruchssatzes bestritten wird?“34 In der Tat kann ich mir auch Theologie
nicht als Wissenschaft vorstellen, wenn zugleich eine Aussage A und ihr Gegenteil ¬A behauptet werden kann. Unter diesen Voraussetzungen wäre es
zulässig, gleichzeitig zu behaupten „Gott ist gut“ und „Gott ist nicht gut“.
Barth denkt bei seiner Ablehnung des Widerspruchssatzes sicher nicht an solche Sätze, sondern vermutlich an die Paradoxien der Trinitätslehre oder der
Zwei-Naturen-Lehre. Aber nach welchen Kriterien soll entschieden werden,
wann der Widerspruchsatz gilt und wann nicht? Wenn die Begründung für
seine Ablehnung ist, dass Gott unser Denken übersteigt, dann wären auch die
genannten Sätze möglich, da sie Sätze über Gott sind. Es scheint mir daher
weitaus sinnvoller, z.B. die Schwierigkeiten der Christologie als Paradoxien zu
sehen. Wir mögen nicht verstehen, wie es möglich ist, dass Jesus wahrer Gott
30
KD I,1, S. 10.
KD I,1, S. 6.
32
Scholz, H., Wie ist eine evangelische Theologie als Wissenschaft möglich?; in: Zwischen den Zeiten 9 (1931), S. 8-53.
33
KD, I,1, S. 7.
34
Pannenberg, Wissenschaftstheorie, S. 273.
31
62
Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft?
und wahrer Mensch ist, aber das bedeutet nicht, dass wir zu der Aussage berechtigt sind, dass dies unmöglich ist und wir es daher mit einem Widerspruch
zu tun haben.
Während ich Barth in diesem Punkt nicht folgen kann, halte ich seine Feststellung, dass es in der Dogmatik um „göttliche gewisse Erkenntnis“35 geht, für
angemessener als Pannenbergs Verständnis des Gottesgedankens als Hypothese. Auch seine Betonung der Unverfügbarkeit des Glaubens wird dem biblischen Zeugnis besser gerecht als Pannenbergs These, dass Einsichten des
christlichen Glaubens jedem „vernünftigen“ Menschen zugänglich seien und
sich an einer allgemein nachvollziehbaren Welterfahrung bewähren müssten.
Andererseits halte ich Barths schroffe Verweigerung eines Gesprächs mit säkularen Wissenschaftstheorien für bedauerlich. Wenn das Festhalten der Theologie am Anspruch der Wissenschaftlichkeit einem apologetischen Anliegen
entspricht, dann sollte der Versuch gemacht werden, diesen Anspruch so plausibel wie möglich zu begründen – freilich ohne die Besonderheit des Gegenstandes der Theologie aus dem Auge zu verlieren. Hilfreiche Einsichten für ein
solches Unterfangen bieten m.E. die Arbeiten von Alvin Plantinga.
6 Alvin Plantinga – christliche Glaubensüberzeugungen als
Wissen
Zeitgenössische erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Ansätze vermitteln
manchmal den Eindruck, als ob Aussagen der Mathematik oder Naturwissenschaften für uns so nachprüfbar seien, dass wir ihre Wahrheit garantieren könnten, während z.B. Sätze des christlichen Glaubens bestenfalls Vermutungen
und Hoffnungen sind, aber keine Aussagen, die als Wissen oder als wissenschaftlich gelten können. Hier ist zunächst auf ein wichtiges Ergebnis der erkenntnistheoretischen Diskussion seit Descartes hinzuweisen: Es gibt keine
Aussagen, deren Wahrheit wir garantieren können. Rene Descartes hat in einem Gedankenexperiment alles bezweifelt, was man bezweifeln kann, um zu
einem Fundament zu gelangen, das absolut unbezweifelbar ist.36 Er stellt dabei
auch Überzeugungen in Frage, die uns im Alltag absolut unbezweifelbar scheinen wie Erkenntnisse aufgrund von Sinneswahrnehmungen („Ich sitze gerade
auf einem Stuhl“) oder logischem Denken („2+3=5“). Können wir ausschließen, so fragt er, dass es einen sehr mächtigen Dämon gibt, der uns das alles nur
vorgaukelt, so dass nichts von diesen Überzeugungen wahr ist? Wenn es so
wäre, dann würde uns die Welt um uns herum, die Mathematik und Logik
35
36
KD I,1, S. 12.
Descartes, R., Meditationes. Lat.-Dt., hrsg. v. L. Gäbe, Hamburg 1959.
Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft?
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genau so erscheinen, wie sie uns jetzt auch erscheint, aber alles wäre eine Täuschung. Wir hätten keine Möglichkeit dies herauszufinden. Hilary Putnam hat
1981 ein analoges Gedankenexperiment konstruiert: Könnten wir nicht Gehirne in einem Tank mit einer Nährlösung sein, denen die Welt nur durch eine
Computersimulation vorgegaukelt wird?37 Auch unabhängig von solchen Szenarien ist klar: Alle Wesen, die nicht allwissend sind, können nie garantieren,
dass irgendeine ihrer Überzeugungen wahr ist, da sie nie ausschließen können,
dass unter den Sachverhalten, die sie nicht kennen, einer dazu führt, dass ihr
Erkenntnisvermögen sie täuscht.38
Warum erscheinen den meisten solche Überlegungen als realitätsfern? Warum
zweifeln wir im Alltag nicht an der Existenz des Stuhls, auf dem wir gerade
sitzen? Weil wir darauf vertrauen, dass unser Erkenntnisvermögen zuverlässig
ist. Wir sind normalerweise auch psychologisch gar nicht in der Lage zu glauben, dass z.B. der Stuhl nicht existiert. Darauf hatte schon Thomas Reid hingewiesen,39 und daraus den Schluss gezogen, dass erkenntnistheoretisch die
einzige sinnvolle Position ist, von der Zuverlässigkeit unseres Erkenntnisvermögens auszugehen. Würden wir diese Voraussetzung nicht machen, könnten wir nichts wissen. Wir können diese Voraussetzung allerdings nicht beweisen – dazu müssten wir ja wieder auf unser Erkenntnisvermögen vertrauen.
Genau genommen müsste man also sagen: „Vorausgesetzt, dass mein Erkenntnisvermögen zuverlässig ist, weiß ich, dass ich auf einem Stuhl sitze.“
Diesen Ansatz greift Alvin Plantinga in seiner Erkenntnistheorie auf:40 Wir
müssen die grundsätzliche Zuverlässigkeit unseres Erkenntnisvermögens voraussetzen. Sehr kurz zusammengefasst kann man sagen:41 Wenn die einzelnen
Module unseres Erkenntnisvermögens (Sinneswahrnehmung, Logik, Erinnerung etc.) richtig funktionieren und uns die Wahrheit einer Überzeugung mit
37
Putnam, H., Reason, truth, and history, Cambridge 1981, S. 1-21.
Descartes hielt zwar eine Erkenntnis für unbezweifelbar: „Ich denke, ich existiere.“
Aber andere haben dies durchaus bezweifelt (So etwa der deutsche Philosoph Thomas
Metzinger, Being no one. The self-model theory of subjectivity, Cambridge, 22004).
39
Reid, T., Inquiry and essays, hrsg. v. K. Lehrer u.a., Indianapolis 1983 (ursprünglich:
An inquiry into the human mind on the principles of common sense (1764); Essays on
the intellectual powers of man (1785)).
40
Plantinga, A., Warrant. The current debate, New York 1993; ders., Warrant and
proper function, New York 1993; ders., Warranted Christian belief, New York 2000.
41
Eine ausführliche Darstellung und Diskussion der Erkenntnistheorie von Plantinga
bei Klein, R.T., Können christliche Glaubensüberzeugungen Wissen sein? Der Beitrag
Alvin Plantingas zur Bestimmung des epistemischen Status von christlichen Glaubensüberzeugungen, FSÖTh 136, Göttingen 2012.
38
64
Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft?
maximaler Deutlichkeit signalisieren (Plantinga spricht hier von „doxastischer
Evidenz“), dann können wir von der Wahrheit dieser Überzeugung ausgehen.
Es kann natürlich sein, dass wir zu einer falschen Überzeugung kommen, weil
irgendetwas nicht richtig funktioniert – wir machen z.B. einen Denkfehler,
oder wir sehen etwas nicht richtig. Um diesen Fehler festzustellen, muss aber
unser Erkenntnisvermögen diesen Fehler deutlicher zeigen als die ursprüngliche Überzeugung.
Plantinga wendet diese Einsichten nun auf christliche Glaubensüberzeugungen
an.
Christen machen immer wieder bestimmte Erfahrungen: „Für den Gläubigen ist die
Gegenwart Gottes oft mit Händen zu greifen. Eine überraschend große Zahl von
Leuten berichtet, dass sie von Zeit zu Zeit die Gegenwart Gottes fühlen, oder es
scheint ihnen zumindest so, dass sie die Gegenwart Gottes fühlen – wobei ‚fühlen‘
nicht mit sinnlichen Eindrücken (sensuous imagery) einher zu gehen scheint. Viele
andere (keineswegs zum größten Teil spirituelle Helden oder auch nur ernsthafte
Gläubige) berichten von einem Hören, dass Gott zu ihnen spricht.“42 Oder sie lesen
die Heilige Schrift oder werden durch Predigt oder Gespräch mit deren Inhalt konfrontiert, mit den „großen Dingen des Evangeliums.“ „Was gesagt wird erscheint
einfach richtig, es scheint zwingend, wir finden uns mit der Überzeugung: ‚Ja, das
ist richtig, das ist die Wahrheit; das ist wirklich das Wort des Herrn.‘ ... Was man
hört oder liest scheint klar und offensichtlich wahr zu sein und scheint (zumindest
in den paradigmatischen Fällen) etwas zu sein, was der Herr lehren will.“43
Hier kommt für Plantinga das Wirken des Heiligen Geistes ins Spiel, der die
Wahrheit des Evangeliums erschließt. Wenn ich auf dem geschilderten Wege
zu der Überzeugung gelange „Gott ist da“ oder „Gott redet zu mir“, und diese
hohe doxastische Evidenz für mich hat, dann ist es vernünftig diese Überzeugung genauso für wahr zu halten wie andere Überzeugungen. Nur wenn ich
bessere Gründe mit höherer doxastischer Evidenz gegen diese Überzeugung
hätte, wäre es vernünftig sie aufzugeben. Wenn Christen also z.B. Gotteserfahrungen machen oder durch die Heilige Schrift Gottes Reden vernehmen, dann
sind die damit verbundenen Überzeugungen für sie – entgegen Pannenberg –
keine Hypothesen, sondern können bei entsprechender doxastischer Evidenz
Wissen sein. Können aber solche Überzeugungen wissenschaftlich sein? Welche Rolle können sie für eine wissenschaftliche Theologie spielen?
42
43
Plantinga, Warranted Christian belief, S. 181.
Ebd., S. 250.
Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft?
65
7 Abschließende Überlegungen: Theologie als Wissenschaft
Ich möchte bei meinen abschließenden Überlegungen zunächst versuchen zu
einem genaueren Verständnis des Begriffs der Wissenschaft zu gelangen und
werde dabei Überlegungen von Dilthey und Kuhn berücksichtigen. Wilhelm
Dilthey hat schon im 19. Jahrhundert den Begriff der „Geisteswissenschaften“
geprägt und darauf hingewiesen, dass der Bereich des menschlichen Geistes
uns erkenntnistheoretisch in einer ganz anderen Weise zugänglich als die Natur
und daher auch mit ganz anderen Methoden erforscht werden muss. Auf den
Geist anderer Personen haben aber wir mittelbar Zugang nur über sinnlich
wahrnehmbare Manifestationen des anderen Geistes. Wenn andere Menschen
ein Buch schreiben, ein Bild malen oder ein Haus bauen, dann zeigt sich etwas
von ihrem Geist in diesen Gegenständen, und wenn wir diese sinnlich wahrnehmbaren Lebensäußerungen richtig interpretieren, können wir etwas davon
verstehen, was andere gedacht, gefühlt, gewollt haben. Das gilt auch in Bezug
auf Gott: Wir können nur etwas über ihn erfahren, wenn er sich uns kundgibt
durch sein Reden oder sein Handeln. Theologie muss also hermeneutische
Wissenschaft sein, die versucht Gott zu verstehen durch die Interpretation dessen, was uns von seinem Handeln und Reden zugänglich ist.
Thomas Kuhn führt über den Kritischen Rationalismus hinaus, indem er zeigt,
dass selbst in naturwissenschaftlichen Theorien zwangsläufig eine Menge
Grundannahmen einfließen, die weder wissenschaftlich belegt werden können,
noch allgemein anerkannt sind.44 Nur innerhalb eines Paradigmas werden diese
Grundannahmen vorausgesetzt. Das Ringen unterschiedlicher Paradigmen um
die beste Erklärung eines Wirklichkeitsbereiches (oder sogar der Wirklichkeit
als Ganzem) gehört zur wissenschaftlichen Arbeit.
Wenden wir das skizzierte Verständnis von Wissenschaft auf einen theologischen Gesamtentwurf an. Bestandteil dieses Entwurfes werden zahlreiche Einzelergebnisse der historischen und exegetischen Arbeit sein, deren Anspruch
auf Wissenschaftlichkeit, soweit ich sehe, nicht bestritten wird. Zu einem solchen Entwurf gehören aber auch Grundannahmen, die nicht von allen geteilt
werden. Alvin Plantinga hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es inkonsequent wäre, wenn christliche Wissenschaftler z.B. Denkvoraussetzungen des
Naturalismus übernehmen würden, anstatt von christlichen Grundannahmen
auszugehen.45
44
Kuhn, T., The structure of scientific revolutions, Chicago 1962.
Plantinga, A., Advice to Christian philosophers; in: Sennet, J., The analytical theist.
An Alvin Plantinga reader, Grand Rapids 1998, S. 296-315.
45
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Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft?
Und selbstverständlich werden Theologen Erfahrungen mit Gott oder mit Gottes Reden in der Heiligen Schrift berücksichtigen, die sie selbst oder die Gemeinschaft der Gläubigen gemacht haben. Glaubensüberzeugungen, die für sie
eine hohe doxastische Evidenz haben, werden ein wichtiger Teil ihres Gesamtentwurfs sein. Wenn ein einzelner oder eine Glaubensgemeinschaft auf diesem
Weg zu der Gewissheit kommt, dass die Bücher der Schrift „sicher, getreu und
ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen
Schriften aufgezeichnet haben wollte“46, oder „daß die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilet
werden sollen, seind allein die prophetischen und apostolischen Schriften altes
und neues Testamentes“47, dann werden auch diese Überzeugungen zu den
Grundlagen dieser Theologie gehören.
Das schließt natürlich nicht aus, dass es offene Fragen gibt oder Schwierigkeiten,
die (noch?) nicht gelöst werden können. Dies ist allerdings eine unvermeidliche
Schwäche aller menschlichen Erkenntnisbemühungen und muss nicht zwangsläufig dazu führen, den gesamten theologischen Entwurf zu verwerfen. „Wenn
jeder einzelne Fehlschlag bei der Anpassung ein Grund für die Ablehnung einer
Theorie wäre, müssten alle Theorien allezeit abgelehnt werden.“48
Und schließlich: Theologie unterscheidet sich von anderen Wissenschaften
dadurch, dass ihr „Gegenstand“ eben kein „Gegenstand“ ist, dem man in sachlicher Neutralität gegenüber treten könnte, sondern die Person des lebendigen
Gottes. Theologische Arbeit ist daher nicht zu trennen von einer Lebensform,
die Luther mit den Worten „oratio, meditatio, tentatio“ (Gebet, Nachdenken,
Anfechtung) zusammengefasst hat.49
Theologie kann begründet den Anspruch erheben, Wissenschaft zu sein. Sie
muss dazu weder die Gewissheit des Glaubens ausklammern, noch jegliche allgemeingültige Kriterien für Wissenschaft ablehnen. Eine Theologie, die bezogen
auf ihren Gegenstand sachgemäß und wissenschaftlich arbeitet, wird einerseits
der Gemeinde Jesu Christi einen wichtigen Dienst erweisen können, indem sie
ihr hilft, Lehre und Leben an Gott und seiner Offenbarung auszurichten. Sie kann
andererseits auch einen Beitrag dazu leisten, Rechenschaft abzulegen über den
christlichen Glauben gegenüber jedermann, auch im akademischen Bereich.
46
Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Verbum, Art. 11.
Konkordienformel, Epitome, BSLK, Göttingen 1992, S. 767.
48
Kuhn, T., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967, S. 194.
49
Vgl. dazu Bayer, O., Theologie als Lebensform; in: Wahrheit und Erfahrung. Themenbuch zur Systematischen Theologie, Bd. 1, hrsg. v. C. Herrmann, Wuppertal 2004,
S. 186-195.
47
Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft?
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Aufgaben zur Vertiefung
1. Informieren Sie sich über die Arbeitsweise der hermeneutischen Wissenschaften (z.B. in Seiffert, H., Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 2,
München 112006, vor allem S. 104-123)
2. Vergleichen sie das Verständnis von Theologie als Wissenschaft bei Barth
und Pannenberg. Welche Stärken oder Schwächen sehen Sie in den beiden
Ansätzen?
3. Überlegen Sie, ausgehend von Oswald Bayers Aufsatz, wie Theologie als
Lebensform aussehen kann.
Weiterführende Literaturhinweise
Bayer, O., Theologie als Lebensform; in: Wahrheit und Erfahrung. Themenbuch zur Systematischen Theologie, Bd. 1, hrsg. v. C. Herrmann, Wuppertal 2004, S. 186-195
Barth, K., Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 72010
Hempelmann, H., Kritischer Rationalismus und Theologie als Wissenschaft.
Zur Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens, Wuppertal 1980
Plantinga, A., Warranted Christian belief, New York 2000
Seiffert, H., Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 2, München 112006