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Ist Theologie eine Wissenschaft?

2016, Ist Theologie eine Wissenschaft?, in: Verantwortlich glauben. Ein Themenbuch zur christlichen Apologetik“, Hg. Christian Herrmann/Rolf Hille

Ob Theologie als Wissenschaft anzusehen ist, hängt natürlich davon ab, welche Kriterien für Wissenschaftlichkeit angelegt werden. Es werden zunächst die wissenschaftstheoretischen Ansätze des Logischen Empirismus und des Kritischen Rationalismus untersucht.Ich argumentiere dafür, dass trotz der kritischen Anfragen dieser Wissenschaftstheorien Theologie eine Wissenschaft ist. Dabei nehme ich Bezug auf das Verständnis von Theologie als Wissenschaft bei Pannenberg und Barth, auf Überlegungen von Thomas Kuhn und die Erkenntnistheorie von Alvin Plantinga.

Ist Theologie eine Wissenschaft? Ralf Thomas Klein 1 Warum sollte Theologie Wissenschaft sein? „Die Wissenschaft“ steht in unserer Kultur hoch im Kurs. Wenn eine Aussage als „wissenschaftlich belegt“ oder gar (etwas irreführend) als „wissenschaftlich bewiesen“ bezeichnet wird, dann kann diese Aussage nach dem Verständnis vieler Zeitgenossen den höchstmöglichen Wahrheitsanspruch erheben. Was genau unter „Wissenschaft“ oder „wissenschaftlich“ verstanden werden sollte, ist durchaus umstritten, als erste Annäherung könnte man aber von einem verbreiteten alltagssprachlichen Gebrauch ausgehen: Für viele ist eine Wissenschaft ein Fach, das man an einer Universität oder Hochschule studieren kann, und wissenschaftlich sind Aussagen, die nach den dort geltenden fachspezifischen Methoden hervorgebracht werden. Als Musterbeispiele für Wissenschaft werden dabei oft die Naturwissenschaften angesehen, an denen sich die anderen Wissenschaften mehr oder weniger orientieren sollten. Theologie, verstanden als Wissenschaft von Gott1, unterscheidet sich durch ihren Gegenstand von anderen Wissenschaften. Sie muss daher sorgfältig darauf achten, dass sie keinen Wissenschaftsbegriff akzeptiert, der für sie nicht sachgemäß ist. Sie sollte aber nicht auf den Titel einer Wissenschaft verzichten. Ein solcher Verzicht würde sie zwar von der Notwendigkeit entbinden, unsachgemäße Forderungen mancher wissenschaftstheoretischen Ansätze zurückzuweisen. Eine Aufgabe ihres Anspruches auf Wissenschaftlichkeit könnte aber von Christen ebenso wie von Nicht-Christen als eine Preisgabe ihres Wahrheitsanspruches verstanden werden. Dass Theologie sich diesen Titel nicht einfach verbieten lässt, sondern ihre Argumente im Ringen um ein angemessenes Verständnis von Wissenschaft zur Geltung bringt, erscheint mir daher ganz im Interesse einer Verantwortung des christlichen Glaubens gegenüber jedem, der Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in uns ist (1Petr 3,15). Die wissenschaftstheoretische Debatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde vor allem von zwei Ansätzen dominiert: dem Logischen Empirismus und dem Kritischen Rationalismus. Die Kriterien für Wissenschaft, die der 1 Präziser könnte man Theologie beschreiben als „Wissenschaft von Gott, wie er sich uns offenbart“. „Gott kann nur erkannt werden, wenn er sich selbst zu erkennen gibt.“ So Pannenberg, W., Systematische Theologie, Bd.1, Göttingen 1988, S. 207. 54 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? Logische Positivismus vorgetragen hat, machen Theologie als Wissenschaft unmöglich. Dieser Ansatz wurde zwar bald durch den Kritischen Rationalismus verdrängt, die Kritik an der Theologie als Wissenschaft war damit aber nicht erledigt. Ich werde daher beginnen mit einer kurzen Darstellung dieser beiden Wissenschaftstheorien und deren Implikationen für die Theologie. Im Anschluss daran werde ich das Verständnis von Theologie als Wissenschaft bei Pannenberg und Barth darstellen. Pannenberg versucht Theologie als Wissenschaft im Sinne des Kritischen Rationalismus zu konstituieren, während Barth alle Ansprüche einer allgemeinen Wissenschaftstheorie an die Theologie strikt zurückweist. Da ich in beiden Ansätzen Schwächen sehe, werde ich unter Rückgriff auf die Arbeiten des amerikanischen Philosophen Alvin Plantinga und die wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Thomas Kuhn versuchen, zu einem m.E. befriedigenderen Verständnis von Theologie als Wissenschaft zu gelangen. 2 Der Sinnlosigkeitsvorwurf des Logischen Empirismus Mitte der 1920er Jahre bildete sich um den Physiker und Philosophen Moritz Schlick der so genannte Wiener Kreis, der eine Wissenschaftstheorie entwickelte, von der man erwartete, dass sie eine „durchaus endgültige Wendung der Philosophie“ bringen und „den unfruchtbaren Streit der Systeme“ beenden werde.2 Die Lösung aller Probleme sah der Wiener Kreis in der konsequenten Anwendung des Verifikationsprinzips: Nur solche Sätze sollen als sinnvoll gelten, die empirisch verifiziert werden können. Alle wahren Sätze sind nach diesem Verständnis naturwissenschaftliche Sätze. Andere Sätze sind eine sinnlose Aneinanderreihung von Wörtern.3 Der Satz „Karl wiegt 87 kg“ ist also sinnvoll, da man ihn empirisch verifizieren kann, indem man Karl auf eine Waage stellt. Sätze wie „Es ist moralisch schlecht, zu lügen“ oder „Gott existiert“ können nicht durch Sinneserfahrungen verifiziert werden, sie sind also nach diesem Verständnis sinnlos. Alfred Ayers, der die Ideen des Wiener Kreises in England bekannt machte, formuliert es so: „Zu sagen, dass ‚Gott existiert‘, ist eine metaphysische Äußerung, die weder wahr noch falsch sein kann. … Kein Satz, der vorgibt, die Natur eines transzendenten Gottes zu beschrei- 2 Schlick, M., Die Wende der Philosophie; in: Erkenntnis 1 (1930/31), S. 5. Schlick, Wende, S. 8: „Es gibt also keine andere Prüfung und Bestätigung von Wahrheiten als die durch Beobachtung und Erfahrungswissenschaft. Jede Wissenschaft … ist ein System von Erkenntnissen, d. h. von wahren Erfahrungssätzen; und die Gesamtheit der Wissenschaften, mit Einschluß der Aussagen des täglichen Lebens, ist das System der Erkenntnisse.“ 3 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? 55 ben, kann irgendeine wörtliche Bedeutung besitzen.“4 Nicht nur Theologie, sondern jede Rede von Gott wird damit radikal abgelehnt. Ayers hatte einen – allerdings schwachen – Trost für Theisten: „Wir bieten dem Theisten den gleichen Trost an wie dem Moralisten. Seine Aussagen können nicht gültig sein, sie können aber auch nicht ungültig sein. Da er überhaupt nichts über die Welt sagt, kann er nicht zu Recht angeklagt werden, etwas Falsches zu sagen oder etwas, das ungenügend begründet ist.“5 Theologie, die das positivistische Verifikationsprinzip akzeptiert, muss Aussagen über Gott so umformulieren, dass sie zu empirisch überprüfbaren Sätzen werden. Wie das aussehen kann, hat David Cox 1950 in einem Aufsatz gezeigt. Die Aussage „Gott hat die Welt aus dem Nichts erschaffen“ wird umgeformt in „Alles, was wir materiell nennen, kann so verwendet werden, dass es zum Wohlergehen von Menschen beiträgt“.6 Dass auf diesem Weg der Inhalt der Glaubensüberzeugung verloren geht, ist nicht zu übersehen. Weder christlicher Glaube, noch Theologie als Wissenschaft von Gott ist unter den Denkvoraussetzungen des Logischen Positivismus möglich. Karl Popper hatte allerdings bereits 1935 gezeigt, dass auch Naturwissenschaft nicht unter diesen Denkvoraussetzungen möglich ist.7 Naturwissenschaften wollen Gesetzesaussagen machen wie z.B. „Alle Massen ziehen sich gegenseitig an“ oder „Alle Raben sind schwarz“. Empirisch verifiziert wären diese Sätze aber erst, wenn z.B. alle Raben, die jemals gelebt haben, jetzt leben oder noch leben werden, beobachtet wurden. Diese Beobachtung ist natürlich nicht durchführbar. Naturwissenschaftliche Gesetzesaussagen sind daher nicht verifizierbar. Eine Wissenschaftstheorie, die überhaupt keine Wissenschaft mehr anerkennen kann, führt sich selbst ad absurdum. Der wissenschaftstheoretische Ansatz des Logischen Positivismus wurde daher von Poppers „Kritischem Rationalismus“ abgelöst. 3 Der Kritische Rationalismus Popper ersetzte die Forderung nach empirischer Verifizierbarkeit durch die Forderung nach empirischer Falsifizierbarkeit. Aus einer Theorie oder Hypo- 4 Ayers, A., Language, Truth, and Logic, London 1936, S. 116. (Übersetzungen, falls nicht anders angegeben, vom Verfasser des Artikels) 5 Ebd. 6 Cox, D., The significance of Christianity; in: Mind 59 (1950), S. 216. 7 Popper, K., Logik der Forschung, Wien 1935, S. 14ff. 56 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? these8 müssen sich Voraussagen ableiten lassen, die empirisch falsifizierbar sind. Die Hypothese „Alle Raben sind schwarz“ könnte widerlegt werden, indem man einen weißen Raben beobachtet. Es handelt sich also um eine wissenschaftliche Hypothese. Wissenschaftliche Theorien oder Hypothesen können niemals „bewiesen“ werden, da es ja immer möglich ist, dass noch Beobachtungen gemacht werden, die die Theorie widerlegen. Alle wissenschaftliche Erkenntnis ist daher nur vorläufig. Der Kritische Rationalismus verwendet also ein Kriterium für Wissenschaftlichkeit, das von Naturwissenschaften erfüllt werden kann. Ist dies aber ein Wissenschaftsbegriff, der auch von der Theologie übernommen werden kann? Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Vorwurf, dass Aussagen über Gott sinnlos seien, weiterhin erhoben wurde, auch wenn nicht mehr gefordert wurde, dass sinnvolle Aussagen empirisch verifizierbar sein müssen, sondern nur noch, dass sie falsifizierbar sein müssen. Die wohl berühmteste Version dieses Vorwurfs hat Antony Flew 1950 in seiner Gärtnerparabel vorgetragen.9 Wenn Gott nicht empirisch falsifizierbar ist, dann sei die Rede von Gott sinnlos, weil sich ein nicht empirisch falsifizierbarer Gott nicht von einem nicht existenten Gott unterscheide. Theologie hat zwei Möglichkeiten auf diese Herausforderung zu reagieren: Sie kann die Forderung nach empirischer Falsifizierbarkeit ablehnen, oder sie kann die Herausforderung annehmen und zu zeigen versuchen, dass Aussagen des christlichen Glauben eben doch empirisch falsifizierbar sind. Wolfhart Pannenberg hat einen bemerkenswerten Versuch unternommen, das Wissenschaftsverständnis des Kritischen Rationalismus zumindest in einer revidierten Form auf die Theologie anzuwenden. 8 Das Wort „Theorie“ wird manchmal gebraucht, um einen größeren Komplex von Hypothesen zu bezeichnen. Eine Hypothese ist nach diesem Sprachgebrauch nur eine Vermutung über einen einzelnen Sachverhalt. Diese Unterscheidung wird allerdings nicht konsequent verwendet und spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle. 9 Flew, A. / Hare, R.M. / Mitchell, B., Theology and Falsification. A Symposium; in: Flew, A. u.a. (Hrsg.), New Essays in Philosophical Theology, London 1955, S. 96-108 (zuerst veröffentlicht 1950). Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? 57 4 Wolfhart Pannenberg – Theologie als Wissenschaft im Sinne des Kritischen Rationalismus Pannenberg hat 1973 in seinem Hauptwerk zur Wissenschaftstheorie10 einen Grundgedanken Poppers für die Theologie übernommen, dass nämlich Wissenschaft Hypothesen aufstellt, die durch Erfahrung falsifizierbar sind. Wenn eine Hypothese, die grundsätzlich empirisch falsifizierbar ist, trotz zahlreicher Versuche nicht widerlegt wurde, kann sie (vorläufig) als bewährt gelten. Auf Theologie angewendet heißt das für Pannenberg, „dass der Gottesgedanke auch in der Theologie hypothetisch bleibt und vor der Welterfahrung und Selbsterfahrung des Menschen zurücktritt, an der er seine Bewährung zu finden hat.“11 Aussagen über Gott sind in der Theologie wissenschaftliche Hypothesen, die sich empirisch zu bewähren haben. Theologie unterscheidet sich von Naturwissenschaft dadurch, dass sie Gott als Gegenstand hat, den Pannenberg als die alles bestimmende Wirklichkeit versteht. Theologie beschäftigt sich also mit der Wirklichkeit als Ganzem. Wirklichkeit ist aber immer historisch gegeben als eine unwiederholbare Abfolge einzelner Ereignisse. Naturwissenschaft abstrahiert von diesem Zusammenhang, indem einzelne Ereignisarten untersucht werden, die wiederholbar sind, sofern man von Zeit, Raum und manchen Details des Ereignisses absieht. So ist z.B. der Rabe, den ich heute beobachte, ein anderer als der, den ich letzte Woche beobachtet habe, oder zumindest findet die Beobachtung nicht zur gleichen Zeit oder am gleichen Ort statt. Naturwissenschaft berücksichtigt aber nicht, dass es sich um individuelle Beobachtungsereignisse handelt, sondern interessiert sich für diese nur, insofern sie wiederholbar sind. Theologie als Wissenschaft von der Wirklichkeit als Ganzem, kann aber nicht von der Geschichte abstrahieren, sondern hat es mit der historischen Abfolge der Ereignisse zu tun. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, wenn Pannenberg die Offenbarung Gottes in der Geschichte verortet und zwar in der Geschichte als Ganzem. Die Offenbarung liegt daher erst am Ende der Geschichte vollständig vor.12 Aber bereits im Verlauf der Geschichte geschieht Gottes Offenbarung als Geschichte und ist dem Menschen als solche erkennbar. „In dieser Sprache der 10 Pannenberg, W., Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, S. 302. 12 Pannenberg, W., Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung; in: Offenbarung als Geschichte, hrsg. W. Pannenberg u.a., Göttingen, 51982 (11961), S. 95ff. 11 58 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? Tatsachen hat Gott seine Gottheit erwiesen.“13 Diese Wahrheit liegt „vor aller Augen“. „Man muss keineswegs den Glauben schon mitbringen, um in der Geschichte Israels und Jesu Christi die Offenbarung Gottes zu finden. Vielmehr wird durch die Wahrnehmung dieser Ereignisse der echte Glaube erst geweckt.“14 Die zentrale Rolle spielt dabei „das Geschick Jesu“. Die Auferweckung des Gekreuzigten ist „der eschatologische Selbsterweis Gottes“.15 Hier ist das Ende der Geschichte schon vorweggenommen. „Auch das Weltende wird lediglich in kosmischem Maßstab das vollziehen, was an Jesus bereits geschehen ist.“16 Von daher bleibt es zwar dabei, dass unser Wissen um Gottes Offenbarung nur vorläufig ist, durch die Auferweckung Jesu können wir aber bereits um das Ende wissen. Pannenberg akzeptiert den Ansatz des Kritischen Rationalismus und postuliert, dass alle Sätze der Theologie allgemein überprüfbar sein müssen. Eine historische Überprüfung zentraler Inhalte der christlichen Botschaft hält er für möglich; alle Aussagen, auch der Gottesgedanke, bleiben aber hypothetisch, da sie nur dann den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben können, wenn sie für eine zukünftige Falsifikation offen sind. Eine Würdigung Pannenbergs kann auf so engem Raum natürlich nicht versucht werden, zwei kritische Anmerkungen möchte ich aber dennoch machen. Zum einen nimmt Pannenberg die Gottesferne des Menschen nicht ernst genug, wenn er unterstellt, dass Menschen, die die Offenbarung Gottes in der Geschichte nicht erkennen, nur „zur Vernunft gebracht werden müssen“17, und wenn er ausdrücklich behauptet, dass „der Heilige Geist nicht die Bedingung“ ist, „ohne die das Christusgeschehen nicht als Offenbarung erkannt werden könnte“.18 Mein Haupteinwand ist aber ein anderer: Ich halte es für falsch, die Existenz Gottes oder Aussagen über Gott in der Theologie als falsifizierbare Hypothesen zu betrachten. Naturwissenschaftliche Hypothesen sind Gesetzesaussagen oder All-Aussagen wie z.B. „Alle Raben sind schwarz“. Aus solchen Hypothesen können Voraussagen abgeleitet werden, sie sind falsifizierbar. Aussagen 13 Pannenberg, Thesen,S. 100. Ebd., S. 100f. 15 Ebd., S. 105. Die Auferweckung Jesu ist für Pannenberg ein Ereignis, das sich historisch belegen lässt. Argumente hierfür entfaltet er in: Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, S. 95ff. 16 Pannenberg, Thesen, S. 105. 17 Ebd., S. 100. 18 Ebd. 14 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? 59 über Einzelerfahrungen wie z.B. „Ich habe einen schwarzen Raben gesehen“ und die darin implizierte singuläre Existenzaussage „Es gibt einen schwarzen Raben“ sind nicht wissenschaftliche Hypothesen, sondern Aussagen über die Wirklichkeitserfahrung, an der Hypothesen zu bewähren sind. Meine Erfahrung „Ich habe einen schwarzen Raben gesehen“ ist nicht in diesem Sinne falsifizierbar. Sie wäre auch dann nicht falsifiziert, wenn ich die einzige Person wäre, die den Raben gesehen hat.19 Analog sind Gotteserfahrungen nicht falsifizierbar. Das Gegenstück zu einer naturwissenschaftlichen Theorie in der Theologie sind nicht einzelne Aussagen über Gott, sondern etwa ein dogmatischer Gesamtentwurf. Ein solcher muss immer für neue Einsichten offen und revidierbar sein, nicht aber jede Einzelaussage über Gott. Ich werde in Abschnitt 6 einen erkenntnistheoretischen Ansatz erläutern, der mit dieser Einsicht vereinbar ist. Eine Übernahme des wissenschaftstheoretischen Rahmens des Kritischen Rationalismus für die Theologie scheint mir in dieser Form nicht möglich, es muss nach einem anderen Ansatz gesucht werden.20 Karl Barths Verständnis von Theologie als Wissenschaft geht von radikal anderen Denkvoraussetzungen aus und bietet sich als mögliche Alternative an. 19 Eine Falsifizierung anderer Art wäre möglich, wenn ich den „Raben“ näher untersuche und feststelle, dass ich mich geirrt habe und der Vogel eine Elster ist. Damit ist nicht die Erfahrung falsifiziert, sondern die darauf bezogene Beobachtungsaussage hat sich als falsch erwiesen. Wenn ich aber wirklich einen Raben gesehen habe, kann dies nicht durch andere Beobachtungen falsifiziert werden. 20 Einen bemerkenswerten Versuch zu einer Integration des Kritischen Rationalismus in eine theologische Wissenschaftstheorie hat aus evangelikaler Sicht Heinzpeter Hempelmann unternommen: Kritischer Rationalismus und Theologie als Wissenschaft. Zur Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens, Wuppertal 1980; Hempelmann, H., Christlicher Glaube vor dem Forum kritischer Vernunft. Kritischer Rationalismus und Theologie als Wissenschaft; in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 44 (2002), S. 307-329; ders., „Gemeinsam der Wahrheit etwas näher kommen“! Zur Bedeutung des Kritischen Rationalismus für Theologie und Glaube; in: Der Kritische Rationalismus als Denkmethode und Lebensweise. Festschrift zum 90. Geburtstag von Hans Albert, hrsg. v. G. Franco, Klagenfurt u.a. 2012, S. 298-323. Eine gewisse Spannung besteht bei ihm zwischen der kritisch-rationalistischen Forderung, dass Theologie darauf verzichten soll, ein Erkenntnisprivileg zu etablieren für die, die glauben (Gemeinsam, S. 307), und der Betonung der Glaubensgewissheit, die unverfügbares Geschenk Gottes ist. Hier scheint es mir sinnvoller wahrzunehmen, dass der Glaube tatsächlich Erkenntnismöglichkeiten hat, die nicht jedem ohne weiteres zugänglich sind. Ich werde in Abschnitt 6 erläutern, wie Alvin Plantinga Glaubensgewissheit in seiner Erkenntnistheorie berücksichtigt. 60 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? 5 Karl Barth – Theologie als Glaubenswissenschaft Im Gegensatz zu Pannenberg lehnt Barth es strikt ab, die Kriterien einer außerhalb der Theologie entwickelten allgemeinen Wissenschaftstheorie auf die Theologie anzuwenden. „Der Begriff der Theologie als Wissenschaft darf nicht unter Voraussetzung eines allgemeinen Begriffs von Wissenschaft, sondern der allgemeine Begriff von Wissenschaft muß unter der Voraussetzung, daß auch Theologie Wissenschaft ist, formuliert werden.“21 Theologie ist „wie alle anderen sog. Wissenschaften menschliche Bemühung um einen bestimmten Erkenntnisgegenstand“,22 aber ihr Erkenntnisgegenstand ist eben ein besonderer. Barth bestimmt diesen Gegenstand als „Gott selbst in seinem Wort“23 oder als „Gott in der Geschichte seiner Taten“24, als „das Werk und Wort Gottes in seiner Fülle“25. Dieser Gegenstand gehört nicht wie die Gegenstände der anderen Wissenschaften zu der „uns zugänglichen Wirklichkeit“26. Er kann nur im Glauben erkannt werden und dieser Glauben kann nur von Gott gewirkt werden. Gott ist daher „in keinem Sinn ‚Objekt‘, sondern unaufhebbares Subjekt“.27 Sowohl der Glaube als auch der Gegenstand der Theologie sind dem Theologen unverfügbar, aber doch gewiss.28 Dogmatik „setzt bei jedem Schritt und Satz die freie Gnade Gottes voraus, die sich als Gegenstand und Sinn dieses menschlichen Handelns je und je schenken oder auch verweigern kann.“29 21 So Barth, K., Apagogische Thesen über den Begriff der Theologie als Wissenschaft (am 12.1.1930 an Heinrich Scholz geschickt); in: Barth, K., Vorträge und kleinere Arbeiten. 1925-1930, hrsg. von H. Schmidt, Karl Barth Gesamtausgabe III, Zürich 1994, S. 539. 22 Barth, K., Kirchliche Dogmatik (KD), Bd. I,1, München 1932, S. 6. 23 Barth, K., Die dogmatische Prinzipienlehre bei Wilhelm Herrmann (1925); in: Vorträge und kleinere Arbeiten. 1922-1925 (GA III.19), S. 588. Das Wort Gottes hat für Barth eine dreifache Gestalt: Verkündigung, Schrift und Offenbarung (KD I, §4 und §5), wobei Wort Gottes und Offenbarung im engeren Sinne nur Jesus Christus ist. Auf Barths Auffassung von „Wort Gottes“ und sein Schriftverständnis kann hier nicht näher eingegangen werden. 24 Barth, K., Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962 (72010), S. 15. 25 Ebd., S. 98. 26 KD I,1, S. 7. 27 Barth, Prinzipienlehre, S. 588. 28 KD I,1, S. 11f. 29 KD I,1, S. 18. Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? 61 Theologie unterscheidet sich also durch ihren Gegenstand von allen anderen Wissenschaften, dennoch will Barth für sie nicht auf den Titel der Wissenschaft verzichten, da dies als Verleugnung des Glaubens verstanden werden könnte, als Preisgabe des Wahrheitsanspruches der Theologie: „Eine Begründung dieses Glaubens kommt nicht in Betracht, aber seine Verleugnung noch weniger. Seine Verleugnung könnte aber der Sinn einer allzu reinlichen Unterscheidung der Theologie von den ‚Wissenschaften‘ sein.“30 Theologie hat trotz ihres andersartigen Erkenntnisgegenstands mit den anderen Wissenschaften gemeinsam, dass sie eine „menschliche Bemühung um einen bestimmten Erkenntnisgegenstand“ ist und „wie alle anderen Wissenschaften einen bestimmten, in sich folgerichtigen Erkenntnisweg“ geht. „Sie ist wie alle anderen Wissenschaften in der Lage, sich selbst und jedermann (jedermann, der fähig ist, sich um diesen Gegenstand zu bemühen und also diesen Weg zu gehen) über diesen Weg Rechenschaft abzulegen.“31 Aber die Anforderungen eines allgemeinen Wissenschaftsbegriffs, wie sie Barths Freund Heinrich Scholz formuliert hat,32 kann „die Theologie nur rundweg als für sie unannehmbar erklären“.33 Selbst die Forderung nach Widerspruchsfreiheit meint Barth für die Theologie nicht akzeptieren zu können. Pannenberg hat an dieser Stelle die kritische Frage gestellt: „Was bedeutet ein ‚in sich folgerichtiger Erkenntnisweg‘, wenn die Allgemeingültigkeit des Widerspruchssatzes bestritten wird?“34 In der Tat kann ich mir auch Theologie nicht als Wissenschaft vorstellen, wenn zugleich eine Aussage A und ihr Gegenteil ¬A behauptet werden kann. Unter diesen Voraussetzungen wäre es zulässig, gleichzeitig zu behaupten „Gott ist gut“ und „Gott ist nicht gut“. Barth denkt bei seiner Ablehnung des Widerspruchssatzes sicher nicht an solche Sätze, sondern vermutlich an die Paradoxien der Trinitätslehre oder der Zwei-Naturen-Lehre. Aber nach welchen Kriterien soll entschieden werden, wann der Widerspruchsatz gilt und wann nicht? Wenn die Begründung für seine Ablehnung ist, dass Gott unser Denken übersteigt, dann wären auch die genannten Sätze möglich, da sie Sätze über Gott sind. Es scheint mir daher weitaus sinnvoller, z.B. die Schwierigkeiten der Christologie als Paradoxien zu sehen. Wir mögen nicht verstehen, wie es möglich ist, dass Jesus wahrer Gott 30 KD I,1, S. 10. KD I,1, S. 6. 32 Scholz, H., Wie ist eine evangelische Theologie als Wissenschaft möglich?; in: Zwischen den Zeiten 9 (1931), S. 8-53. 33 KD, I,1, S. 7. 34 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, S. 273. 31 62 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? und wahrer Mensch ist, aber das bedeutet nicht, dass wir zu der Aussage berechtigt sind, dass dies unmöglich ist und wir es daher mit einem Widerspruch zu tun haben. Während ich Barth in diesem Punkt nicht folgen kann, halte ich seine Feststellung, dass es in der Dogmatik um „göttliche gewisse Erkenntnis“35 geht, für angemessener als Pannenbergs Verständnis des Gottesgedankens als Hypothese. Auch seine Betonung der Unverfügbarkeit des Glaubens wird dem biblischen Zeugnis besser gerecht als Pannenbergs These, dass Einsichten des christlichen Glaubens jedem „vernünftigen“ Menschen zugänglich seien und sich an einer allgemein nachvollziehbaren Welterfahrung bewähren müssten. Andererseits halte ich Barths schroffe Verweigerung eines Gesprächs mit säkularen Wissenschaftstheorien für bedauerlich. Wenn das Festhalten der Theologie am Anspruch der Wissenschaftlichkeit einem apologetischen Anliegen entspricht, dann sollte der Versuch gemacht werden, diesen Anspruch so plausibel wie möglich zu begründen – freilich ohne die Besonderheit des Gegenstandes der Theologie aus dem Auge zu verlieren. Hilfreiche Einsichten für ein solches Unterfangen bieten m.E. die Arbeiten von Alvin Plantinga. 6 Alvin Plantinga – christliche Glaubensüberzeugungen als Wissen Zeitgenössische erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Ansätze vermitteln manchmal den Eindruck, als ob Aussagen der Mathematik oder Naturwissenschaften für uns so nachprüfbar seien, dass wir ihre Wahrheit garantieren könnten, während z.B. Sätze des christlichen Glaubens bestenfalls Vermutungen und Hoffnungen sind, aber keine Aussagen, die als Wissen oder als wissenschaftlich gelten können. Hier ist zunächst auf ein wichtiges Ergebnis der erkenntnistheoretischen Diskussion seit Descartes hinzuweisen: Es gibt keine Aussagen, deren Wahrheit wir garantieren können. Rene Descartes hat in einem Gedankenexperiment alles bezweifelt, was man bezweifeln kann, um zu einem Fundament zu gelangen, das absolut unbezweifelbar ist.36 Er stellt dabei auch Überzeugungen in Frage, die uns im Alltag absolut unbezweifelbar scheinen wie Erkenntnisse aufgrund von Sinneswahrnehmungen („Ich sitze gerade auf einem Stuhl“) oder logischem Denken („2+3=5“). Können wir ausschließen, so fragt er, dass es einen sehr mächtigen Dämon gibt, der uns das alles nur vorgaukelt, so dass nichts von diesen Überzeugungen wahr ist? Wenn es so wäre, dann würde uns die Welt um uns herum, die Mathematik und Logik 35 36 KD I,1, S. 12. Descartes, R., Meditationes. Lat.-Dt., hrsg. v. L. Gäbe, Hamburg 1959. Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? 63 genau so erscheinen, wie sie uns jetzt auch erscheint, aber alles wäre eine Täuschung. Wir hätten keine Möglichkeit dies herauszufinden. Hilary Putnam hat 1981 ein analoges Gedankenexperiment konstruiert: Könnten wir nicht Gehirne in einem Tank mit einer Nährlösung sein, denen die Welt nur durch eine Computersimulation vorgegaukelt wird?37 Auch unabhängig von solchen Szenarien ist klar: Alle Wesen, die nicht allwissend sind, können nie garantieren, dass irgendeine ihrer Überzeugungen wahr ist, da sie nie ausschließen können, dass unter den Sachverhalten, die sie nicht kennen, einer dazu führt, dass ihr Erkenntnisvermögen sie täuscht.38 Warum erscheinen den meisten solche Überlegungen als realitätsfern? Warum zweifeln wir im Alltag nicht an der Existenz des Stuhls, auf dem wir gerade sitzen? Weil wir darauf vertrauen, dass unser Erkenntnisvermögen zuverlässig ist. Wir sind normalerweise auch psychologisch gar nicht in der Lage zu glauben, dass z.B. der Stuhl nicht existiert. Darauf hatte schon Thomas Reid hingewiesen,39 und daraus den Schluss gezogen, dass erkenntnistheoretisch die einzige sinnvolle Position ist, von der Zuverlässigkeit unseres Erkenntnisvermögens auszugehen. Würden wir diese Voraussetzung nicht machen, könnten wir nichts wissen. Wir können diese Voraussetzung allerdings nicht beweisen – dazu müssten wir ja wieder auf unser Erkenntnisvermögen vertrauen. Genau genommen müsste man also sagen: „Vorausgesetzt, dass mein Erkenntnisvermögen zuverlässig ist, weiß ich, dass ich auf einem Stuhl sitze.“ Diesen Ansatz greift Alvin Plantinga in seiner Erkenntnistheorie auf:40 Wir müssen die grundsätzliche Zuverlässigkeit unseres Erkenntnisvermögens voraussetzen. Sehr kurz zusammengefasst kann man sagen:41 Wenn die einzelnen Module unseres Erkenntnisvermögens (Sinneswahrnehmung, Logik, Erinnerung etc.) richtig funktionieren und uns die Wahrheit einer Überzeugung mit 37 Putnam, H., Reason, truth, and history, Cambridge 1981, S. 1-21. Descartes hielt zwar eine Erkenntnis für unbezweifelbar: „Ich denke, ich existiere.“ Aber andere haben dies durchaus bezweifelt (So etwa der deutsche Philosoph Thomas Metzinger, Being no one. The self-model theory of subjectivity, Cambridge, 22004). 39 Reid, T., Inquiry and essays, hrsg. v. K. Lehrer u.a., Indianapolis 1983 (ursprünglich: An inquiry into the human mind on the principles of common sense (1764); Essays on the intellectual powers of man (1785)). 40 Plantinga, A., Warrant. The current debate, New York 1993; ders., Warrant and proper function, New York 1993; ders., Warranted Christian belief, New York 2000. 41 Eine ausführliche Darstellung und Diskussion der Erkenntnistheorie von Plantinga bei Klein, R.T., Können christliche Glaubensüberzeugungen Wissen sein? Der Beitrag Alvin Plantingas zur Bestimmung des epistemischen Status von christlichen Glaubensüberzeugungen, FSÖTh 136, Göttingen 2012. 38 64 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? maximaler Deutlichkeit signalisieren (Plantinga spricht hier von „doxastischer Evidenz“), dann können wir von der Wahrheit dieser Überzeugung ausgehen. Es kann natürlich sein, dass wir zu einer falschen Überzeugung kommen, weil irgendetwas nicht richtig funktioniert – wir machen z.B. einen Denkfehler, oder wir sehen etwas nicht richtig. Um diesen Fehler festzustellen, muss aber unser Erkenntnisvermögen diesen Fehler deutlicher zeigen als die ursprüngliche Überzeugung. Plantinga wendet diese Einsichten nun auf christliche Glaubensüberzeugungen an. Christen machen immer wieder bestimmte Erfahrungen: „Für den Gläubigen ist die Gegenwart Gottes oft mit Händen zu greifen. Eine überraschend große Zahl von Leuten berichtet, dass sie von Zeit zu Zeit die Gegenwart Gottes fühlen, oder es scheint ihnen zumindest so, dass sie die Gegenwart Gottes fühlen – wobei ‚fühlen‘ nicht mit sinnlichen Eindrücken (sensuous imagery) einher zu gehen scheint. Viele andere (keineswegs zum größten Teil spirituelle Helden oder auch nur ernsthafte Gläubige) berichten von einem Hören, dass Gott zu ihnen spricht.“42 Oder sie lesen die Heilige Schrift oder werden durch Predigt oder Gespräch mit deren Inhalt konfrontiert, mit den „großen Dingen des Evangeliums.“ „Was gesagt wird erscheint einfach richtig, es scheint zwingend, wir finden uns mit der Überzeugung: ‚Ja, das ist richtig, das ist die Wahrheit; das ist wirklich das Wort des Herrn.‘ ... Was man hört oder liest scheint klar und offensichtlich wahr zu sein und scheint (zumindest in den paradigmatischen Fällen) etwas zu sein, was der Herr lehren will.“43 Hier kommt für Plantinga das Wirken des Heiligen Geistes ins Spiel, der die Wahrheit des Evangeliums erschließt. Wenn ich auf dem geschilderten Wege zu der Überzeugung gelange „Gott ist da“ oder „Gott redet zu mir“, und diese hohe doxastische Evidenz für mich hat, dann ist es vernünftig diese Überzeugung genauso für wahr zu halten wie andere Überzeugungen. Nur wenn ich bessere Gründe mit höherer doxastischer Evidenz gegen diese Überzeugung hätte, wäre es vernünftig sie aufzugeben. Wenn Christen also z.B. Gotteserfahrungen machen oder durch die Heilige Schrift Gottes Reden vernehmen, dann sind die damit verbundenen Überzeugungen für sie – entgegen Pannenberg – keine Hypothesen, sondern können bei entsprechender doxastischer Evidenz Wissen sein. Können aber solche Überzeugungen wissenschaftlich sein? Welche Rolle können sie für eine wissenschaftliche Theologie spielen? 42 43 Plantinga, Warranted Christian belief, S. 181. Ebd., S. 250. Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? 65 7 Abschließende Überlegungen: Theologie als Wissenschaft Ich möchte bei meinen abschließenden Überlegungen zunächst versuchen zu einem genaueren Verständnis des Begriffs der Wissenschaft zu gelangen und werde dabei Überlegungen von Dilthey und Kuhn berücksichtigen. Wilhelm Dilthey hat schon im 19. Jahrhundert den Begriff der „Geisteswissenschaften“ geprägt und darauf hingewiesen, dass der Bereich des menschlichen Geistes uns erkenntnistheoretisch in einer ganz anderen Weise zugänglich als die Natur und daher auch mit ganz anderen Methoden erforscht werden muss. Auf den Geist anderer Personen haben aber wir mittelbar Zugang nur über sinnlich wahrnehmbare Manifestationen des anderen Geistes. Wenn andere Menschen ein Buch schreiben, ein Bild malen oder ein Haus bauen, dann zeigt sich etwas von ihrem Geist in diesen Gegenständen, und wenn wir diese sinnlich wahrnehmbaren Lebensäußerungen richtig interpretieren, können wir etwas davon verstehen, was andere gedacht, gefühlt, gewollt haben. Das gilt auch in Bezug auf Gott: Wir können nur etwas über ihn erfahren, wenn er sich uns kundgibt durch sein Reden oder sein Handeln. Theologie muss also hermeneutische Wissenschaft sein, die versucht Gott zu verstehen durch die Interpretation dessen, was uns von seinem Handeln und Reden zugänglich ist. Thomas Kuhn führt über den Kritischen Rationalismus hinaus, indem er zeigt, dass selbst in naturwissenschaftlichen Theorien zwangsläufig eine Menge Grundannahmen einfließen, die weder wissenschaftlich belegt werden können, noch allgemein anerkannt sind.44 Nur innerhalb eines Paradigmas werden diese Grundannahmen vorausgesetzt. Das Ringen unterschiedlicher Paradigmen um die beste Erklärung eines Wirklichkeitsbereiches (oder sogar der Wirklichkeit als Ganzem) gehört zur wissenschaftlichen Arbeit. Wenden wir das skizzierte Verständnis von Wissenschaft auf einen theologischen Gesamtentwurf an. Bestandteil dieses Entwurfes werden zahlreiche Einzelergebnisse der historischen und exegetischen Arbeit sein, deren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, soweit ich sehe, nicht bestritten wird. Zu einem solchen Entwurf gehören aber auch Grundannahmen, die nicht von allen geteilt werden. Alvin Plantinga hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es inkonsequent wäre, wenn christliche Wissenschaftler z.B. Denkvoraussetzungen des Naturalismus übernehmen würden, anstatt von christlichen Grundannahmen auszugehen.45 44 Kuhn, T., The structure of scientific revolutions, Chicago 1962. Plantinga, A., Advice to Christian philosophers; in: Sennet, J., The analytical theist. An Alvin Plantinga reader, Grand Rapids 1998, S. 296-315. 45 66 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? Und selbstverständlich werden Theologen Erfahrungen mit Gott oder mit Gottes Reden in der Heiligen Schrift berücksichtigen, die sie selbst oder die Gemeinschaft der Gläubigen gemacht haben. Glaubensüberzeugungen, die für sie eine hohe doxastische Evidenz haben, werden ein wichtiger Teil ihres Gesamtentwurfs sein. Wenn ein einzelner oder eine Glaubensgemeinschaft auf diesem Weg zu der Gewissheit kommt, dass die Bücher der Schrift „sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“46, oder „daß die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilet werden sollen, seind allein die prophetischen und apostolischen Schriften altes und neues Testamentes“47, dann werden auch diese Überzeugungen zu den Grundlagen dieser Theologie gehören. Das schließt natürlich nicht aus, dass es offene Fragen gibt oder Schwierigkeiten, die (noch?) nicht gelöst werden können. Dies ist allerdings eine unvermeidliche Schwäche aller menschlichen Erkenntnisbemühungen und muss nicht zwangsläufig dazu führen, den gesamten theologischen Entwurf zu verwerfen. „Wenn jeder einzelne Fehlschlag bei der Anpassung ein Grund für die Ablehnung einer Theorie wäre, müssten alle Theorien allezeit abgelehnt werden.“48 Und schließlich: Theologie unterscheidet sich von anderen Wissenschaften dadurch, dass ihr „Gegenstand“ eben kein „Gegenstand“ ist, dem man in sachlicher Neutralität gegenüber treten könnte, sondern die Person des lebendigen Gottes. Theologische Arbeit ist daher nicht zu trennen von einer Lebensform, die Luther mit den Worten „oratio, meditatio, tentatio“ (Gebet, Nachdenken, Anfechtung) zusammengefasst hat.49 Theologie kann begründet den Anspruch erheben, Wissenschaft zu sein. Sie muss dazu weder die Gewissheit des Glaubens ausklammern, noch jegliche allgemeingültige Kriterien für Wissenschaft ablehnen. Eine Theologie, die bezogen auf ihren Gegenstand sachgemäß und wissenschaftlich arbeitet, wird einerseits der Gemeinde Jesu Christi einen wichtigen Dienst erweisen können, indem sie ihr hilft, Lehre und Leben an Gott und seiner Offenbarung auszurichten. Sie kann andererseits auch einen Beitrag dazu leisten, Rechenschaft abzulegen über den christlichen Glauben gegenüber jedermann, auch im akademischen Bereich. 46 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Verbum, Art. 11. Konkordienformel, Epitome, BSLK, Göttingen 1992, S. 767. 48 Kuhn, T., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967, S. 194. 49 Vgl. dazu Bayer, O., Theologie als Lebensform; in: Wahrheit und Erfahrung. Themenbuch zur Systematischen Theologie, Bd. 1, hrsg. v. C. Herrmann, Wuppertal 2004, S. 186-195. 47 Ralf Thomas Klein: Ist Theologie eine Wissenschaft? 67 Aufgaben zur Vertiefung 1. Informieren Sie sich über die Arbeitsweise der hermeneutischen Wissenschaften (z.B. in Seiffert, H., Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 2, München 112006, vor allem S. 104-123) 2. Vergleichen sie das Verständnis von Theologie als Wissenschaft bei Barth und Pannenberg. Welche Stärken oder Schwächen sehen Sie in den beiden Ansätzen? 3. Überlegen Sie, ausgehend von Oswald Bayers Aufsatz, wie Theologie als Lebensform aussehen kann. Weiterführende Literaturhinweise Bayer, O., Theologie als Lebensform; in: Wahrheit und Erfahrung. Themenbuch zur Systematischen Theologie, Bd. 1, hrsg. v. C. Herrmann, Wuppertal 2004, S. 186-195 Barth, K., Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 72010 Hempelmann, H., Kritischer Rationalismus und Theologie als Wissenschaft. Zur Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens, Wuppertal 1980 Plantinga, A., Warranted Christian belief, New York 2000 Seiffert, H., Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 2, München 112006