Die himmlische Garde der Gottesmutter:
Maria zwischen den Engeln in der
frühbyzantinischen Kunst*
Maria Lidova
Wolfson College, Oxford
In den letzten Jahrzehnten hat sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit
verstärkt auf die Frage nach der Entwicklung der Muttergottesverehrung in
Byzanz gerichtet und zahlreiche Publikationen, mehrere Forschungsprojekte,
eine Reihe akademischer Veranstaltungen und besondere, themenbezogene
Ausstellungen hervorgebracht.1 Ungeachtet dieses großen Interesses bedürfen
die Entstehung marianischer Ikonographien und die Rolle, die die betreffenden Bilder bei der Verbreitung der Muttergottesverehrung gespielt haben, der
weiteren Klärung und einer exakten, möglichst parallelen Systematisierung
des bildlichen wie auch des textlichen Materials.2 Paradoxerweise debattieren
*
1
2
An dieser Stelle möchte ich mich bei den Editorinnen dieses Bandes, Franca Ela Consolino und Judith Herrin, für ihre wertvollen Kommentare und Anregungen, dem
Problem der Beziehung von Frauen zur Bibel nachzugehen, herzlich bedanken. Mein
ausdrücklicher Dank gilt Gabriele Stein und Irmtraud Fischer, die mit großer Aufmerksamkeit und Respekt vor dem Original den Text ins Deutsche übertragen haben.
Um nur einige zu nennen: Maria Vassilaki, Hg., Mother of God: Representations
of the Virgin in Byzantine Art (Mailand: Skira, 2000); Nicholas Constas, Proclus of
Constantinople and the Cult of the Virgin in Late Antiquity: Homilies 1–5, Texts and
Translations (SVigChr 66; Leiden: Brill, 2003); Robert N. Swanson, Hg., The Church and Mary: Papers Read at the 2001 Summer Meeting and the 2002 Winter Meeting
of the Ecclesiastical History Society (SCH[L] 39; Woodbridge: Boydell Press, 2004);
Maria Vassilaki, Hg., Images of the Mother of God: Perceptions of the Theotokos in
Byzantium (Aldershot: Ashgate, 2005); Bissera V. Pentcheva, Icons and Power: The
Mother of God in Byzantium (University Park: Pennsylvania State University Press,
2006); Chris Maunder, Hg., The Origins of the Cult of the Virgin Mary (London:
Burns & Oates, 2008); Leslie Brubaker und Mary B. Cunningham, Hg., The Cult
of the Mother of God in Byzantium: Texts and Images (Birmingham Byzantine and
Ottoman Studies 11; Farnham: Ashgate, 2011); Leena M. Peltomaa, Andreas Külzer und Pauline Allen, Hg., Presbeia Theotokou: The Intercessory Role of Mary
across Times and Places in Byzantium (4th–9th Century) (VBF 39/DÖAW.PH 481;
Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2015).
Zur neuesten Diskussion über die frühmittelalterliche marianische Ikonographie und
ihre Entwicklung siehe Arne Effenberger, „Maria als Vermittlerin und Fürbitterin. Zum Marienbild in der spätantiken und frühbyzantinischen Kunst Ägyptens“,
in Presbeia Theotokou: The Intercessory Role of Mary across Times and Places in
Byzantium (4th–9th Century) (hg. v. Leena M. Peltomaa, Andreas Külzer und Pauline
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
121
die Forscher bis heute darüber, ob die Gestalt der Maria in frühchristlichen
Kunstwerken von Anfang an einen gewissen unabhängigen Stellenwert besaß
oder ob sie noch lange auf die Figur ihres Sohnes bezogen,3 unweigerlich mit
dieser assoziiert und überhaupt nur aufgrund deren Bedeutung als heilsgeschichtliches Werkzeug visualisiert wurde.4
So problematisch diese Fragen auch sein mögen, wird doch gemeinhin
anerkannt, dass das Bild der Jungfrau spätestens im 5. bis 6. Jh., als sich die
Verehrung der Theotókos in allen Gebieten des byzantinischen Reichs ausbreitet, in der Kunst wie auch in der Theologie eine mehr oder weniger klar
definierte Form erhält und sich als ein zentrales Phänomen der christlichen
Kultur etabliert.5 In der fraglichen Zeit entstanden zahlreiche Marienkirchen,
und das Bild der Jungfrau schmückte nicht nur monumentale Bauten, sondern
fand sich auch auf Ikonen, Miniaturen, Elfenbeinarbeiten, Textilien, kleinformatigen Objekten, Siegelbildern und sogar Schmuckstücken.
Ein allgemeiner Überblick über die erhaltenen Monumente zeigt, dass
das Bild der von einem himmlischen Gefolge aus Engeln umgebenen und
3
4
5
Allen; VBF 39/DÖAW.PH 481; Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften, 2015), 49–108. Vgl. ebenso den Beitrag von Giuseppa Z. Zanichelli
im vorliegenden Band.
Richard Price merkt an: „Mary mattered precisely as the Theotokos, the one who
gave birth to Christ, God and man. She was not yet a theme in her own right“, Richard
M. Price, „The Theotokos and the Council of Ephesus“, in The Origins of the Cult
of the Virgin Mary (hg. v. Chris Maunder; London: Burns & Oates, 2008), 89‒103,
insbes. 96.98. Antonia Atanassova, „Did Cyril of Alexandria invent Mariology?“, in
The Origins of the Cult of the Virgin Mary (hg. v. Chris Maunder; London: Burns &
Oates, 2008), 105‒125, insbes. 105, bietet allerdings in ihrem Beitrag im selben Band
eine andere Deutung: „It was his [Cyril’s of Alexandria] victory at Ephesus, partial as it was, that would become the crucial element in facilitating the development
of formal Marian theology as integral to Christian tradition“. Zum frühen Stadium
der Marienverehrung siehe ebenso: Stephen J. Shoemaker, Mary in Early Christian
Faith and Devotion (New Haven: Yale University Press, 2016); Maria Lidova, „Embodied Word: Telling the Story of Mary in Early Christian Art“, in The Reception of
the Mother of God in Byzantium: Marian Narratives in Texts and Images (hg. v. Thomas Arentzen und Mary B. Cunningham; Cambridge: Cambridge University Press,
im Druck).
Entsprechende Vorstellungen finden sich bei einer ganzen Reihe christlicher Autoren
wie beispielsweise Johannes von Damaskus, der in seiner Expositio fidei über die
Bilderverehrung (Buch 4, Kap. 16) schreibt: „So ist es auch mit der Gottesmutter.
Denn die Verehrung, die man ihr erweist, bezieht sich auf den, der aus ihr Fleisch
geworden.“ (BKV1 44,229); im Originalbeitrag wird aus der englischen Übersetzung
von Frederic H. Chase zitiert: Saint John of Damascus: Writings (FaCh 37; Washington: The Catholic University of America Press, 1958).
Eine detaillierte Diskussion dieser Entwicklung bietet Averil Cameron, „The Early
Cult of the Virgin“, in Mother of God: Representations of the Virgin in Byzantine Art
(hg. v. Maria Vassilaki; Mailand: Skira, 2000), 3‒15; zur Verfestigung dieser Entwicklung in der mittelbyzantinischen Zeit vgl. den Beitrag von Mary Cunningham
im vorliegenden Band.
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Maria Lidova
flankierten Gottesmutter von Anfang an sehr beliebt war und in den vielfältigsten kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten breite Verwendung fand.
Symptomatisch ist in dieser Hinsicht, dass sich diese Art der Darstellung
auch auf privaten byzantinischen Siegelbildern findet; die frühesten Exemplare stammen aus dem 7. Jh.6 Wissenschaftler, die sich mit diesen kleinen
Symbolen individueller Autorität – winzigen und doch höchst detaillierten
Reliefkompositionen ‒ befasst haben, vermuten, dass sie in Anlehnung an
ähnliche Darstellungen in der Monumentalkunst entstanden sind. Tatsächlich
wird die Gottesmutter in ebendieser ikonographischen Form, als „Maria zwischen den Engeln“, die Apsiswölbung der allermeisten byzantinischen Kirchen erobern.7 Genau über dem Hauptaltar platziert sollte diese Darstellung
sich zur wichtigsten liturgischen Ikone und zum zentralen Andachtsbild des
Kirchenraums entwickeln.8
Ungeachtet ihrer Bedeutung ist diese in der Literatur so häufig erwähnte
und schlaglichtartig diskutierte Ikonographie jedoch kaum je eigens erforscht
worden, was vielleicht mit der vermeintlich unproblematischen Bedeutung
dieser allgegenwärtigen Darstellung zusammenhängt.9 Der vorliegende Artikel ist daher zunächst einmal von der Notwendigkeit bestimmt, diesen Aspekt
anzusprechen, und reagiert zudem auf die Notwendigkeit, die Entwicklung
der Ikonographie der „Maria zwischen den Engeln“ in der frühbyzantinischen
6
7
8
9
George Zacos und Alexander Veglery, Byzantine Lead Seals (6 Bde; Bern: Benteli, 1972–1985), I/2:722, Nr. 1125; 747, Nr. 1189; 765, Nr. 1236A; I/3:1668, Nr. 2948;
Valentina Shandrovskaya, „Kompositsia ‚Bogomater s arkhanghelami‘ na vizantiyskikh pechatyakh“ [Komposition der „Mutter Gottes mit Erzengeln“ auf byzantinischen Siegeln], in Vizantija v kontekste mirovoj kulʼtury (Trudy Gosudarstvennogo Ėrmitaža [Transactions of the State Hermitage Museum] 42; St. Petersburg:
Izdatelʼstvo. Gosudarstvennogo Ėrmitaža, 2008), 238‒251.
Robin Cormack, „The Mother of God in Apse Mosaics“, in Mother of God: Representations of the Virgin in Byzantine Art (hg. v. Maria Vassilaki; Mailand: Skira,
2000), 91‒105.
Zum Problem des Apsisbildes vgl. Maria Andaloro und Serena Romano,
„L’immagine nell’abside“, in Arte e Iconografia a Roma: Da Costantino a Cola di
Rienzo (hg. v. dens.; StArte 15; Di fronte e attraverso 537; Mailand: Jaca Book, 2000),
93‒132; Beat Brenk, The Apse, the Image and the Icon: An Historical Perspective
of the Apse as a Space for Images (Spätantike – Frühes Christentum – Byzanz / B:
Studien und Perspektiven 26; Wiesbaden: Reichert, 2010).
Zu den Werken, die diesen ikonographischen Typus umsetzen, vgl. Georg Stuhlfauth, Die Engel in der altchristlichen Kunst (ASCA 3; Freiburg: Mohr, 1897), 54;
Christa Ihm, Die Programme der christlichen Apsismalerei: Vom 4. Jahrhundert
bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts (FKGCA 4; Wiesbaden: Steiner, 1960; Nachdruck
1992), 52‒61; Carlo Bertelli, La Madonna di Santa Maria in Trastevere: Storia,
iconografia, stile di un dipinto romano dell’ottavo secolo (Rom: Eliograf, 1961), 45–
47; Franz Rademacher, Die Regina Angelorum in der Kunst des frühen Mittelalters
(KDRh.B 17; Düsseldorf: Schwann, 1972); Joan Barclay Lloyd, „Mary, Queen of
the Angels: Byzantine and Roman Images of the Virgin and Child Enthroned with
Attendant Angels“, Melbourne Art Journal 5 (2001): 5‒24.
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
123
Periode neu zu bewerten, um die Botschaft und ursprüngliche Aussage dieser
zentralen christlichen Darstellung weiblichen Jubels zu verstehen.
1.
„Maria zwischen den Engeln“: die
Entwicklung der Ikonographie
Die große Menge der erhaltenen Werke belegt, dass das Thema „Maria zwischen den Engeln“ in der Ikonographie der frühbyzantinischen Kunst durchaus unterschiedlich umgesetzt werden konnte. Dennoch lassen sich innerhalb
der großen Vielfalt von Formen und Gestaltungsweisen einige Grundmuster
erkennen. Diese Muster sind nicht starr und betreffen weniger die Jungfrau,
die stehend oder thronend und sowohl mit als auch ohne Kind abgebildet
sein kann, als vielmehr die Gestaltung der geflügelten Boten beiderseits der
Theotókos. Ihre Darstellung weist eine Reihe besonderer und leicht erkennbarer Merkmale auf, die eventuell als Indizien für mögliche Verwandtschaftsbeziehungen und ursprüngliche Unterschiede in der geographischen Herkunft
oder der Typologie der verwendeten Quellen dienen könnten.
Ein Blick auf die Ursprünge jedweder marianischen Ikonographie führt
uns unweigerlich zum Mosaikzyklus von der Kindheit Christi, der den Triumphbogen der Kirche S. Maria Maggiore in Rom schmückt und üblicherweise auf die Zeit Papst Sixtus’ III. datiert wird (432‒440).10 In dieser Bilderfolge
aus dem 5. Jh. erscheint Maria viermal: in den Szenen der „Verkündigung“,
der „Anbetung der Könige“ und der „Darstellung“ sowie in der Komposition,
10 Ihr einzigartiger Charakter, ihre frühe Entstehungszeit und natürlich der erhaltene
Zyklus aus dem 5. Jh., in dem das Bild der Gottesmutter zum ersten Mal einen zentralen Stellenwert erlangt, machen die Kirche S. Maria Maggiore zu einem der meistdiskutierten Bauwerke der wissenschaftlichen Literatur. Eine der frühesten vollständigen Beschreibungen des ikonographischen Programms bietet Dmitrij V. Ajnalov,
„Mozaiki IV i V vekov: Issledovanìâ v oblasti ikonografii i stilâ drevne-hristìanskago
iskusstva“, Zhurnal Ministerstva narodnogo prosveshcheniya [Journal of the Ministry of Education] 299 (1895), 94‒155. Einen Überblick über die vorliegende Historiographie mit einer Auswahl der wichtigsten Thesen über die frühchristliche Ausschmückung von S. Maria Maggiore bietet der Beitrag von Maria Raffaella Menna,
„I mosaici della basilica di Santa Maria Maggiore“, in La pittura medievale a Roma
312–1431: Corpus 1: L’orizzonte tardoantico e le nuove immagini, 312–468 (hg. v.
Maria Andaloro; Mailand: Jaca Book, 2006), 306‒346. In den letzten Jahren sind
die Mosaiken von S. Maria Maggiore erneut in den Fokus einer besonderen wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geraten, die zu einer Reihe von Aufsätzen und ausführlichen Erörterungen oder Überblicksdarstellungen in mehreren Dissertationen sowie
zu einer wichtigen Monographie geführt hat: Gerhard Steigerwald, Die frühchristlichen Mosaiken des Triumphbogens von S. Maria Maggiore in Rom (Regensburg:
Schnell & Steiner, 2016).
124
Maria Lidova
die die Heilige Familie vor den Toren einer Stadt zeigt und üblicherweise als
„Begegnung mit Aphrodisius“, dem Gouverneur der ägyptischen Stadt Sotinen, gedeutet wird.11 Neben der wohlbekannten zeitlichen Nähe dieses Zyklus
zum Konzil von Ephesus im Jahr 431, das Maria zur Theotókos, zur Gottesgebärerin, erklärt hatte, haben vor allem die Gewänder der Jungfrau großes Interesse erregt: Sie sind insbesondere im Vergleich zu späteren Darstellungen,
auf denen Maria sehr viel bescheidenere Kleidung und das Maphorion trägt,
ungewöhnlich kostbar.12
In allen vier Fällen ist Maria in den Gewändern einer hochgestellten Römerin, das heißt in einer weißen Tunika und einer goldenen Dalmatica dargestellt.13 Diese feierliche Kleidung wird noch durch die Verwendung goldener
Glas-Tesserae betont, die den Stellenwert der abgebildeten Person unterstreichen und ihre Gestalt innerhalb der Bilderzählung und der sonstigen Farbgebung des Triumphbogens visuell hervorheben. Die Jungfrau ist die einzige
Figur des Kindheitszyklus, die mit solch kostbaren, funkelnden Gewändern
geehrt wird: Es sind Gewänder, die einen eindeutigen Zusammenhang mit
11 Die „Begegnung mit Aphrodisius“ ist in der Geschichte der christlichen Kunst ein äußerst seltenes oder sogar einmaliges Sujet. Sie stammt aus apokryphen Erzählungen
und ist hauptsächlich aus dem Pseudomatthäusevangelium bekannt (Ps.-Mt. 22‒24),
findet sich aber auch im sogenannten Arabischen Kindheitsevangelium. Diese Zuordnung der Szene wurde erstmals von Kondakov in der französischen Ausgabe seiner
Geschichte der byzantinischen Kunst vorgeschlagen: Nikodim P. Kondakov, Histoire de l’art byzantine: Considéré principalement dans les miniatures (Paris: Libraire
de l’art, 1886‒1891), 105. Eine detaillierte Historiographie zu diesem Sujet und eine
alternative, allerdings weniger überzeugende Deutung bietet Suzanne Spain, „‚The
Promised Blessing‘: The Iconography of the Mosaics of S. Maria Maggiore“, ArtB 61
(1979): 518‒540; 519, Anm. 7. Zur neuesten Deutung dieser Szene als Begegnung
zwischen Christus und Kaiser Augustus siehe Steigerwald, Die frühchristlichen
Mosaiken, 96–111.
12 Zum Konzil von Ephesus siehe: Basil Studer, „Il Concilio di Efeso (431) nella luce
della dottrina mariana di Cirillo di Alessandria“, in La mariologia nella catechesi
dei Padri (Età postnicena) (hg. v. Sergio Felici; BSRel 95; Roma: LAS, 1991), 49–67;
John A. McGuckin, St. Cyril of Alexandria: The Christological Controversy: Its
History, Theology, and Texts (Crestwood: St. Vladimir’s Seminary Press, 2004). Zu
visuellen Wiedergaben der Figur Marias in dieser Dekoration vgl.: Maria Lidova,
„The Imperial Theotokos: Revealing the Concept of Early Christian Imagery in Santa
Maria Maggiore in Rome“, Convivium 2/2 (2015), 60–81.
13 Es handelt sich um eine Toga oder Trabea picta laut Brenk, vgl. Beat Brenk, Die
frühchristlichen Mosaiken in S. Maria Maggiore zu Rom (Wiesbaden: Steiner, 1975),
50; oder eine Cyclas, wie kürzlich von Steigerwald postuliert: Gerhard Steigerwald,
„Die Rolle Mariens in den Triumphbogenmosaiken und in der Weiheinschrift der
Basilika S. Maria Maggiore in Rom“, JAC 51 (2008): 137‒151; 140. Eine detaillierte
Diskussion dieser für eine Reihe spätantiker Frauendarstellungen typischen Gewandung bietet Kathrin Schade, Frauen in der Spätantike – Status und Repräsentation:
Eine Untersuchung zur römischen und frühbyzantinischen Bildniskunst (Mainz: von
Zabern, 2003), 107‒112.
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
125
Abb. 1: Rom, S. Maria Maggiore, Triumphbogen, Darstellung im Tempel und Begegnung
mit Aphrodisus (Foto der Autorin).
der sakral-himmlischen Dimension des goldenen Hintergrunds herstellen
und überdies die Botschaft einer göttlichen und zugleich irdisch-königlichen
Macht vermitteln.
Eine weitere Besonderheit des Zyklus, die die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf sich gezogen hat, besteht darin, dass Christus und seine Mutter auf dem Triumphbogen von S. Maria Maggiore stets von Engeln begleitet
werden. Das Auftreten dieser himmlischen Entourage ist insofern durchaus
ungewöhnlich, als die Engelfiguren sichtbar in den Kontext der Szenen eingebunden sind. Sie stehen auf derselben Ebene wie die irdischen Protagonisten
und übernehmen in der narrativen Struktur des gesamten Programms eine
wichtige Funktion. Im Augenblick der „Verkündigung“ sind sie neben dem
Thron der Jungfrau platziert, während ein weiterer geflügelter Bote vom Himmel herabsteigt und Maria mit der göttlichen Botschaft von der Menschwerdung Gottes begrüßt.14 Die gleich darunter befindliche Komposition der „Anbetung“, die gemeinhin als die rätselhafteste Szene des ganzen Zyklus gilt, ist
um die zentrale Gestalt des Christuskindes herum angeordnet, das auf einem
riesigen und prächtigen Thron sitzt. Hier sind die Engel hinter der hohen Rückenlehne des Throns zu sehen. Sie blicken auf den Stern über dem Thron und
werden eindeutig stärker mit Jesus als mit der zu seiner Rechten sitzenden
Maria in Verbindung gebracht. In zwei anderen Szenen, die die Begegnungen
mit Simeon im Tempel und mit Aphrodisius vor den Toren der Stadt Sotinen
14 Zur Verkündigungsszene und ihrer Bedeutung in dieser Dekoration siehe: Giuseppe
de Spirito, „L’Annonciation de Sainte-Marie-Majeure: image apocryphe?“, Apocrypha 7 (1996), 273–292; Steigerwald, Die frühchristlichen Mosaiken, 33–52.
Allgemein zur Diskussion über diese Ikonographie siehe: Maria Lidova, „XAIPE
MAPIA: Annunciation Imagery in the Making“, IKON 10 (2017), 45–62.
126
Maria Lidova
Abb. 2: Ravenna, Sant’Apollinare Nuovo, Thronende Jungfrau zwischen Engeln (Foto
der Autorin).
darstellen, folgen die überirdischen Wesen der Gottesmutter und ihrem Sohn
oder flankieren sie symmetrisch, treten also klar erkennbar als ihre Wächter
und ihr höfisches Gefolge auf. (Abb. 1)
Diese Mosaiken der römischen Basilika aus dem 5. Jh. zeigen die Engel
praktisch in Frontalansicht, im Stehen und in ganzer Länge; sie tragen weiße Tuniken und Pallia und vollführen meist die Geste der Acclamatio. Ihre
Kleidung und ihre Proportionen (sie sind ein wenig größer als die anderen
Personen) vermitteln ebenso wie die Tatsache, dass sie in einer gewissen Distanz zur Jungfrau platziert sind, den Eindruck einer offiziellen Funktion als
schweigende Begleiter der Heiligen Familie.
Diese Tradition und die Tendenz, die körperlose Eskorte der Jungfrau aus
genau vier Engeln bestehen zu lassen, setzt sich allem Anschein nach in der
bekannten Komposition aus S. Apollinare Nuovo in Ravenna fort, die nicht
selten in einem Atemzug mit dem römischen Zyklus aus dem 5. Jh. genannt
wird (Abb. 2).15 Die dortige Szene, die aus dem frühen 6. Jh. stammt und sich
in der äußersten östlichen Ecke der Nordseite des Kirchenschiffs befindet,
zeigt die thronende Jungfrau mit dem Christuskind und vier himmlischen
15 Emanuela Penni Iacco, La basilica di S. Apollinare Nuovo di Ravenna attraverso
i secoli (Studi e scavi / Università di Bologna, Dipartimento di Archeologia NS 8;
Bologna: Ante Quem, 2004); Deborah Deliyannis, Ravenna in Late Antiquity (Cambridge: Cambridge University Press, 2010), 146‒174.
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
127
Wesen, die die Gottesmutter symmetrisch umrahmen.16 Die mächtigen geflügelten Gestalten neben Maria unterstreichen nicht nur die Bedeutung der
beiden zentralen Personen, sondern spiegeln zudem eine ähnliche Komposition auf der gegenüberliegenden Seite des Kirchenschiffs wider, wo Jesus als
thronender Herrscher ebenfalls von vier Engeln flankiert dargestellt ist. Die
vier Geistwesen fungieren offenkundig als Vermittler zwischen der Jungfrau
und einer langen Reihe menschlicher Gestalten, die seit den Veränderungen,
die im 6. Jh. an diesem Teil des ikonographischen Programms vorgenommen
wurden, als heilige Jungfrauen und Märtyrerinnen daherkommen und von
den Heiligen Drei Königen angeführt werden, die Geschenke bringen.17 In
Anbetracht der Tatsache, dass Christus auf der anderen Seite des Kirchenschiffs den Vorsitz über die Prozession männlicher Heiliger führt, dient das
Bild Marias hier eindeutig als Exemplum und erhabenste Verkörperung weiblicher Heiligkeit.
Obwohl die Engelsgestalten im Mosaikprogramm von S. Apollinare Nuovo beträchtlich unter den schwerwiegenden restauratorischen Eingriffen des
19. Jh. gelitten haben, scheinen der typische, massige Körperbau der himmlischen Wächter und die Beschaffenheit ihrer ursprünglichen Gewandung getreu reproduziert worden zu sein. Letztere verdient wegen ihrer unverkennbaren Ähnlichkeit nicht nur mit den weißen, togaartigen Gewändern der Engel
in S. Maria Maggiore, sondern auch mit der Bekleidung des Christuskindes
auf dem Schoß der Jungfrau Beachtung: Möglicherweise wollte der Künstler
in dieser Szene andeuten, dass Jesus dieselbe göttliche, immaterielle Natur
besitzt wie die himmlischen Wesen.
Engel in strenger Frontalansicht, um mit Maguire zu sprechen, „steif und
reglos“, die die Gestalt der Jungfrau einrahmen, sollten sich in der späteren
16 Viele Wissenschaftler haben vermutet, dass diese Komposition dem Bild der thronenden Jungfrau nachempfunden ist, das Kaiser Leo I. für die Blachernenkirche
in Konstantinopel in Auftrag gegeben hatte: Henri Stern, „Sur les influences byzantines dans les mosaïques ravennates du début du VIe siècle“, in Il passaggio
dall’antichità al medioevo in occidente: 6–12 aprile 1961 (SSAM 9; Spoleto: Centro,
1962), 521‒540; 526.532; Friedrich W. Deichmann, Ravenna: Hauptstadt des spätantiken Abendlandes 2/1: Kommentar 1: Die Bauten bis zum Tode Theoderichs des
Großen (Wiesbaden: Steiner, 1974), 148; Raffaella Farioli Campanati, „Ravenna,
Costantinopoli: Aspetti topografico-monumentali e iconografici“, in Storia di Ravenna (hg. v. Antonio Carile; 5 Bde; Venedig: Marsilio, 1992), 2,2:127‒157; 147f. Die
Frage ist allerdings spekulativ, und es scheint müßig, darüber nachzudenken, ob die
Darstellung der Engel auf demselben, rein hypothetischen Prototyp basiert.
17 Zu den Veränderungen vgl. Giuseppe Bovini, „Antichi rifacimenti nei mosaici di
S. Apollinare Nuovo di Ravenna“, Corso di cultura sull’arte ravennate e bizantina 13 (1966): 51–81; Arthur Urbano, „Donation, Dedication, and Damnatio Memoriae: The Catholic Reconciliation of Ravenna and the Church of Sant’Apollinare“,
JECS 13/1 (2005): 71‒110.
128
Maria Lidova
byzantinischen Kunst
zu einem konstanten
Leitmotiv entwickeln.18
Ein gutes Beispiel
hierfür ist die Mosaikausschmückung der
Kapelle im Amphitheater von Durrës (frühes
6.–8. Jh.). Dort tragen
die himmlischen Wesen prächtige höfische
Gewänder ‒ Tuniken
und mit Fibeln an den
Schultern
befestig- Abb. 3: Durrës, Kapelle des Amphitheaters, Maria Köte Paludamenta ‒ und nigin zwischen den Engeln, aus: Heide Buschhausen
halten Stäbe in der lin- und Helmut Buschhausen, „Durazzo und die Anfänge
des Christentums in Albanien“, Steine sprechen 40/120
ken Hand, während die (2001): 2‒19.
rechte Handinnenfläche
auf Brusthöhe dem Betrachter zugewandt ist.19 Von Kopf bis Fuß wie königliche Wachen gekleidet
stehen sie an der Seite der Jungfrau, die ohne das Kind, doch im vollen Ornat
der byzantinischen Kaiserin abgebildet ist (Abb. 3).
Als möglicher Nachhall dieser frühbyzantinischen Art der Engelsdarstellung können die Wanddekorationen zweier weiterer, bedeutender Baudenkmäler gedeutet werden. Beide hängen mit der besonderen Verehrung
zusammen, die die Bilder der Gottesmutter nach dem Ende der ikonoklas18 Henry Maguire, „Style and Ideology in Byzantine Imperial Art“, Gesta 28/2 (1989):
217‒231; 223.
19 Maria Andaloro, „I mosaici parietali di Durazzo o dell’origine costantinopolitana
del tema iconografico di Maria Regina“, in Studien zur spätantiken und byzantinischen Kunst (hg. v. Otto Feld und Urs Peschlow; 3 Bde; Bonn: Habelt, 1986), 3:103–
112; Dhorka Dhamo, „Les mosaïques paléochrétiennes en Albanie“, in LʼAlbania dal
Tardoantico al Medioevo, aspetti e problemi di Archeologia e Storia dellʼArte: Ravenna, 29 aprile – 5 maggio 1993; XL Corso di Cultura sullʼArte Ravennate e Bizantina (hg. v. Raffaella Farioli Campanati; Ravenna: Ed. del Girasole, 1993), 491–504;
Reshat Gega, „L’architecture des monastères byzantins et postbyzantins en Albanie“, in ebd., 505–525; Heide Buschhausen und Helmut Buschhausen, „Durazzo und die Anfänge des Christentums in Albanien“, Steine sprechen 40/120 (2001):
2‒19; Kim Bowes und Afrim Hoti, „An Amphitheatre and Its Afterlives: Survey
and Excavation in the Durrës Amphitheatre“, JRAr 16 (2003): 380–394; Kim Bowes
und John Mitchell, „The Main Chapel of the Durres Amphitheater: Decoration and
Chronology“, MEFRA 121/2 (2009): 569‒595; Elisabetta Neri, Bernard Gratuze
und Nadine Schibille, „Dating the Mosaics of the Durres Amphitheatre through
Interdisciplinary Analysis“, Journal of Cultural Heritage 28 (2017): 27–36 (bestätigt
die Datierung ins frühe 6. bis 8. Jh.).
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
129
Abb. 4: Nicäa, Koimesis-Kirche, Stehende Jungfrau (Apsis) und Engel (Bema), aus:
Underwood, „Evidence“, Abb. 3.7.
tischen Auseinandersetzung zurückgewannen. Eine offenkundige Parallele
zu der von vier Engeln – zwei auf jeder Seite – flankierten Jungfrau bildete
die Ausschmückung von Apsis und Bema in der Koimesis-Kirche von Nicäa (Abb. 4).20 Die frontalen Darstellungen der geflügelten Begleiter befanden
sich im Bema-Bereich: Sie trugen äußerst kostbare Gewänder einschließlich
des Loros, des breiten kaiserlichen Schultertuchs, hielten Standarten mit dem
Trisagion in Händen und wurden durch die Beschriftung als Fürstentümer,
Mächte, Herrschaften und Gewalten ausgewiesen. Leider existiert die Kirche
nicht mehr; sie wurde 1922 zerstört, und ihre Ausgestaltung ist nur noch von
Schwarz-Weiß-Aufnahmen bekannt, die kurz zuvor gemacht worden waren.
Eine intensive Debatte kreist um die Frage, ob die Kirche im 7. Jh. erbaut wurde oder ein Beispiel für die künstlerische Aktivität in der Region zu
Zeiten des Bilderstreits ist – eine These, die in der Forschung zuletzt immer
mehr Anhänger gefunden hat.21 In diesem Zusammenhang lassen mehrere
signifikante Veränderungen, die an der Mosaikausschmückung der Kirche
vorgenommen wurden und auch auf den Aufnahmen aus dem frühen 20. Jh.
20 Zu den Engeln in diesem ikonographischen Programm vgl. Glenn Peers, Subtle Bodies: Representing Angels in Byzantium (The Transformation of the Classical Heritage 32; Los Angeles: University of California Press, 2001), 42f.82‒88; hier findet sich
auch eine detaillierte weiterführende Bibliographie.
21 Marie-France Auzépy, „Liturgie et art sous les Isauriens: À propos de la Dormition
de Nicée“, in Le saint, le moine et le paysan: Mélanges dʼhistoire byzantine offerts à
Michel Kaplan (hg. v. Olivier Delouis, Sophie Métivier und Paule Pagès; Byzantina
Sorbonensia 29; Paris: Publications de la Sorbonne, 2016), 29–58.
130
Maria Lidova
deutlich zu erkennen sind, Raum für vielfältige Interpretationen.22 Unstrittig
ist einzig die Tatsache, dass die frühere Darstellung des Kreuzes in der Konche zu einem bestimmten Zeitpunkt – höchstwahrscheinlich im 8. Jh. – durch
das Mosaik einer stehenden Jungfrau mit dem Christuskind ersetzt wurde.
So unterschiedlich die jeweiligen Ansichten auch sein mögen, alle Forscher,
die sich mit diesem Bauwerk befasst haben, stimmen darin überein, dass sich
das Bild der Theotókos, selbst wenn es nicht Teil der ursprünglichen Ausgestaltung war und aus einer späteren Zeit stammt als die himmlischen Wesen,
harmonisch in das ältere ikonographische Programm eingefügt und, wann
immer es angefertigt worden sein mag, in diesem Rahmen seine reibungslose
theologische Bestätigung und Anerkennung gefunden habe.
Das zweite grandiose Beispiel der Monumentalkunst, in dem sich die Tradition der Gottesmutter mit den sie beiderseits flankierenden Engelsgestalten
fortsetzt, ist die berühmte Ausschmückung des Altarraums in der Hauptkirche des byzantinischen Reichs – der Hagia Sophia in Konstantinopel.23 Hier
wurde die Zahl der geflügelten Wächter von vier auf zwei reduziert, doch ihre
Frontalstellung, ihre feierliche Haltung und ihr hoher Rang, der durch die
prächtigen Gewänder und die Insignien höfischer Beamter signalisiert wird,
weisen darauf hin, dass dieser Ausgestaltung, die den Gedanken von der Wiederherstellung der Ikonen- und Theotókos-Verehrung vollendet visualisiert,
dasselbe Vorbild zugrunde liegen könnte.24
22 Paul A. Underwood, „The Evidence of Restorations in the Sanctuary Mosaics of the
Church of the Dormition at Nicaea“, DOP 13 (1959): 235‒243; Charles Barber, „The
Koimesis Church, Nicaea: The Limits of Representation on the Eve of Iconoclasm“,
JÖB 41 (1991): 43‒60; Ders., „Theotokos and Logos: The Interpretation and Reinterpretation of the Sanctuary Programme of the Koimesis Church, Nicaea“, in Images of
the Mother of God: Perceptions of the Theotokos in Byzantium (hg. v. Maria Vassilaki; Aldershot: Ashgate, 2005), 51‒59.
23 Cyril Mango und Ernest J. W. Hawkins, „The Apse Mosaics of St. Sophia at Istanbul. Report on Work Carried out in 1964“, DOP 19 (1965): 115‒151; Cyril Mango, „St. Michael and Attis“, DCAH 12 (1984‒1986): 39‒62; Nikolas Oikonomidès,
„Some Remarks on the Apse Mosaic of St. Sophia“, DOP 39 (1985): 111‒115; Robin
Cormack, „The Mother of God in the Mosaics of Hagia Sophia at Constantinople“,
in Mother of God: Representations of the Virgin in Byzantine Art (hg. v. Maria Vassilaki; Mailand: Skira, 2000), 107–124; 111f.
24 Das monumentale Programm der Konche aus dem 9. Jh. ist vielleicht nicht die früheste Darstellung der Theotókos mit Engeln in der Hauptkirche des byzantinischen
Imperiums. Dafür spricht unter anderem der Hinweis des Paulus Silentiarius, der
vier Silberplatten beschreibt, die einst das Innere der St.-Sophienkirche geschmückt
hätten. Auf dreien davon war Christus dargestellt, dem jedes Mal entweder Engel,
Apostel oder Propheten zur Seite standen. Der letzte Clipeus trug dem im 6. Jh.
schreibenden Autor zufolge das Bild der Jungfrau. In Anbetracht der Komposition
der anderen drei Schilde ist es naheliegend, dass diese Darstellung ähnlich gestaltet
war; die Engel können gewiss als die aussichtsreichsten Bewerber um die Plätze neben der Gottesmutter gelten: Bertelli, La Madonna di Santa Maria, 46f.; Cormack,
„The Mother of God in the Mosaics of Hagia Sophia“, 108.
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
131
In beiden Arrangements sind
die flankierenden Engelgestalten
nicht Teil des Muttergottesbildes,
sondern an die Seitenwände und
in den Bemabereich „ausgelagert“. Dennoch könnte man den
Standpunkt vertreten, dass auch
in diesen Fällen an der ursprünglichen Vorstellung von ihrer Rolle
und Funktion als der einer himmlischen Wache festgehalten wurde.
In diesem Fall wäre ihre Präsenz
für den Betrachter noch immer
Abb. 5: Mailand, Diözesanmuseum, Reliquiar stark mit der in der Mitte der
von San Nazaro, Seite A: Thronende Jungfrau Konche platzierten Jungfrau vermit Kind, aus: Gemma Sena Chiesa, Hg., Il bunden gewesen. Was den räumTesoro di San Nazaro: Antichi argenti liturgi- lichen Aspekt betrifft, eröffnete
ci della basilica di San Nazaro al Museo Didie getrennte Darstellung in der
ocesano di Milano (Mailand: Silvana, 2009),
frühbyzantinischen Komposition
166, Taf. 12.
zudem weitere Konnotationen, da
die verschiedenen Bildteile nun
den Altarraum umschlossen und gleichzeitig nach außen gerichtet waren,
wodurch eine komplexere Interaktion zwischen den Zelebranten und der im
Kirchenschiff stehenden Gemeinde wie auch mit anderen Bilderzählungen
gewährleistet wurde, die die Wände schmückten.
In vielen anderen byzantinischen Kunstwerken, deren Entstehungszeitraum von der Spätantike bis in die Epoche der Palaiologen reicht, findet sich
eine ganz andere Art der Engelsdarstellung. Das auffälligste Kennzeichen
dieses Typus ist die ehrerbietige, geneigte Haltung der Figuren, die mit Geschenken in den Händen (Diademen oder runden goldenen Tellern) oder einfach mit erhobenen Händen abgebildet sind und sich zur Mitte hin und der
Gottesmutter zuwenden.25 Die Ausrichtung der geflügelten Diener, die im
25 Nach Ansicht einiger Forscher geht dieses Schema höchstwahrscheinlich auf die
weithin bekannte Komposition des „Aurum Coronarium“ zurück. Diese Ikonographie wurde hauptsächlich in der römischen Kunst verwendet, um die facettenreiche Beziehung zwischen dem Herrscher und den eroberten Völkern oder Vasallen
wiederzugeben; später reproduzierte sie offenbar reale Zeremonien der Geschenkübergabe und des Goldverteilens, die einen wesentlichen Teil des byzantinischen
Hofzeremoniells ausmachten. Die Beliebtheit dieser Szene im Oströmischen Reich
wird durch die berühmten Reliefs an der Basis des von Theodosius I. im Hippodrom
von Konstantinopel aufgestellten Obelisken eindrucksvoll belegt. Theodor Klauser,
„Aurum Coronarium“, MDAI 59 (1944): 129‒153; Roland Delmaire, Largesses sacrées et res privata: L’aerarium impérial et son administration du IVe au VIe siècle
(CÉFR 121; Rom: École française de Rome, 1989), 377‒400, Anm. 1; Fergus G. B.
132
Maria Lidova
Profil zu sehen sind,
und ihre klar erkennbare Hinwendung zu
und Interaktion mit der
Jungfrau kristallisieren
sich als die markantesten Merkmale dieses
ikonographischen Typus heraus, der übrigens
auch eine der frühesten
uns bekannten Muttergottesdarstellungen
überhaupt kennzeichnet:
das Seitenrelief auf dem
silbernen Reliquiar von
San Nazaro in Mailand, Abb. 6: Rom, S. Maria Antiqua, „Palimpsest-Wand“, Redas in das 4. Jh. datiert konstruktion der Maria Königin zwischen den Engeln,
wird und damit noch äl- aus: Wladimir de Grüneisen, Sainte Marie Antique
ter ist als die Mosaiken (Rom: Bretschneider, 1911), 138, Abb. 105.
in S. Maria Maggiore in
Rom (Abb. 5).26
Diese Art der Komposition mit Engeln, die Geschenke bringen und sich
Christus und der Jungfrau Maria zuwenden, entwickelt sich in den nachfolgenden Jahrhunderten weiter. Eines der zweifellos interessantesten frühbyzantinischen Beispiele für diesen Typus hat auf der „Palimpsest-Wand“ von
S. Maria Antiqua die Zeit überdauert und stammt anscheinend aus dem ersten
Drittel des 6. Jh. (Abb. 6).27 Die Jungfrau ist dort als Maria Königin auf einem
Millar, „aurum coronarium“, in The Oxford Classical Dictionary (hg. v. Simon
Hornblower und Antony Spawforth; Oxford: Oxford University Press, 42012), 213.
26 Vgl. Marco Navoni, „Per una storia della capsella argentea: Da Ambrogio a Carlo
Borromeo fino ai nostri giorni“, in Il Tesoro di San Nazaro: Antichi argenti liturgici
della basilica di San Nazaro al Museo Diocesano di Milano (hg. v. Gemma Sena
Chiesa; Mailand: Silvana, 2009), 17‒26; Gemma Sena Chiesa, „La capsella e il suo
decoro: Il linguaggio delle immagini fra devozione cristiana e tradizione imperiale“,
in ebd., 27‒54; Fabrizio Slavazzi, „La capsella di San Nazaro: Indagini sull’apparato
figurativo“, in ebd., 55‒62; Elisabetta Gagetti, „Bibliografia storica: La fortuna nei
secoli di un oggetto tra devozione e arte“, in ebd., 63‒72.
27 Joseph Wilpert, Hg., Die römischen Mosaiken und Malereien der kirchlichen Bauten vom IV. bis XIII. Jahrhundert (4 Bde; Freiburg: Herder, 1917), 2:658‒660, und
4:Taf. 133f.; Wladimir de Grüneisen, Sainte Marie Antique (Rom: Bretschneider,
1911), 136‒139; Nikodim P. Kondakov, Ikonografia Bogomateri (2 Bde; St. Petersburg: Otdelenie russkogo iazyka i slovesnosti Imperatorskoy akademii nauk, 1914;
Nachdruck Moskau: Palomnik, 1999), 1:270.276‒280; Gerhard Steigerwald, Das
Königtum Mariens in Literatur und Kunst der ersten sechs Jahrhunderte (Diss.,
Freiburg i. Br., 1965), 185‒193; Per Jonas Nordhagen, „The Earliest Decorations
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
133
prächtigen Thron mit Lyra-Rückenlehne und in zeremonieller Gewandung
abgebildet. Sie trägt eine Krone und darunter eine reich dekorierte Mütze,
und um ihr purpurnes Gewand schlingt sich ein kostbarer Loros, ein königliches Schultertuch. Das Christuskind sitzt auf ihrem Schoß, während links
und rechts von Maria zwei geflügelte Engel in leuchtend weißen Gewändern
und mit Diademen in den Händen leicht gebeugt dastehen. Nur der Engel zur
Linken der Jungfrau ist erhalten geblieben, der andere wurde höchstwahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 6. Jh. zerstört, als die ursprünglich rechteckige Nische in eine halbrunde Apsis verwandelt wurde.
Eine weitere Spielart oder vielleicht ein Pendant zu diesem Muster hob den
zeremoniellen Charakter der Komposition stärker hervor: Hier wurden die
Engel mit Weihrauchgefäßen in den Händen dargestellt und übernahmen in
der Gegenwart Gottes eine Funktion, die der des Diakons am Altar entsprach.
Diese Elemente verstärkten die Konnotationen der Szene als einer Art des
himmlischen Dienstes und erzeugten eine besondere liturgische Bedeutung,
bei der die überirdischen Wesen nicht nur die tatsächlichen kirchlichen Feiern nachahmten, sondern zudem das Göttliche enthüllten und auf sakralen
Charakter der Figuren im Zentrum hinwiesen. Eines der prominentesten Beispiele für diesen Typus kommt aus Ägypten und findet sich auf einem Wandgemälde in der Apsis der Kapelle XXVIII in Bawit, dessen Beschriftungen
die Engel bezeichnenderweise als ΑΓΓΕΛΟΣ ΤΗΕΟΥ („Engel Gottes“) und
ΑΓΓΕΛΟΣ ΚΥΡΙΟΥ („Engel des Herrn“) ausweisen.28 Diese Namen weichen
von den bekannteren und in Byzanz gebräuchlichen Engelbezeichnungen ab.
Mehrere erhaltene Darstellungen der „Jungfrau zwischen den Engeln“ ‒ etwa
der Wandteppich von Cleveland (6. Jh.), die Apsismosaiken in der Kathedrale
von Gelati in Georgien (12. Jh.) und in der Mavriotissa-Kirche am KastoriaSee (spätes 12. Jh.) und andere ‒ sind ebenfalls mit griechischen Inschriften
versehen, die darauf hinweisen, dass die beiden himmlischen Boten in Byzanz in der Regel, wenn auch nicht ausschließlich, mit den Erzengeln Michael
und Gabriel assoziiert wurden.
in Santa Maria Antiqua and Their Date“, AAAHP 1 (1962): 53–73; 56f. (Nachdruck
in Ders., Studies in Byzantine and Early Medieval Painting [London: Pindar Press,
1990], 157–176; 160f.). In der Regel wird dieses Wandgemälde auf die erste Hälfte
des 6. Jh. datiert; meiner Meinung nach lassen jedoch einige stilistische und ikonographische Besonderheiten sowie die Geschichte und Reihenfolge der Machtverhältnisse im frühmittelalterlichen Rom eine Datierung auf die Zeit der ostgotischen
Herrscher, das heißt auf das erste Drittel des 6. Jh. zu, vgl. Eva Tea, La Basilica di
Santa Maria Antiqua (Pubblicazioni dell’Università Cattolica del Sacro Cuore 5; Scienze storiche 14; Mailand: Vita e pensiero, 1937), 37.171–173; Maria Lidova, „Maria
Regina on the ‚Palimpsest‘ Wall in S. Maria Antiqua in Rome: Historical Context
and Imperial Connotations of the Early Byzantine Image“, Iconographica 16 (2017):
9–25.
28 Ihm, Programme, 61.203.
134
Maria Lidova
Alle späteren Kompositionen, auf denen die Engel im Profil zu sehen sind
und sich entweder verneigen oder einen Schritt in Richtung Bildmitte tun,
scheinen – das legt die Verbreitung der betreffenden Darstellungsweise nahe
‒ auf diese in der frühbyzantinischen Periode etablierte Tradition zurückzugehen. Durch diese Art der dynamischen Interaktion entsteht der Eindruck,
als könne man einen kurzen Blick auf das gleichsam mitten in der Bewegung
erstarrte Zeremoniell der himmlischen Liturgie erhaschen: Die himmlischen
Boten präsentieren dem Betrachter Christus und seine Mutter und fungieren
so als Bindeglied zwischen den Gläubigen und der Gottheit. Die konkreten
Geschenke und Gaben fehlen in diesen Kompositionen häufig oder sind (wie
beispielsweise in der Apsis der Kirche Panagia Angeloktistos auf Zypern aus
dem 6.–7. Jh.) durch die typischen Attribute Weltkugel und Zepter ersetzt.
Dennoch bleiben die wesentlichen Elemente durch die gesamte byzantinische
Zeit hindurch erkennbar; das gilt auch noch für die aus dem 12. Jh. stammenden Fresken im mazedonischen Kurbinovo und viele weitere.
Ebenso wie das „Aurum Coronarium“ ist auch die „Anbetung der Könige“
eine Darstellungsform, über deren mögliche Verbindung zu der hier behandelten Ikonographie viel diskutiert worden ist. Diese Szene, in der dem neugeborenen König Geschenke überreicht werden, hat in der frühbyzantinischen
Kunst unterschiedliche Gestaltungen erfahren. Die häufigste war eine horizontale Komposition, bei der die Sterndeuter in einer Reihe hintereinander
vor der thronenden Jungfrau standen und im Profil dargestellt waren. Schon
zu einem recht frühen Zeitpunkt wurde jedoch eine weitere Umsetzung des
Themas noch beliebter: Hier saß die Gestalt der Jungfrau in der Mitte, während die Besucher symmetrisch zu beiden Seiten ihres Thrones angeordnet
waren.29 Das Wandgemälde aus den Katakomben der Hl. Marcellinus und
Petrus in Rom (4. Jh.) ist ein gutes Beispiel für diese Lösung, zumal hier sogar
die Anzahl der Sterndeuter „passend gemacht“, das heißt auf zwei reduziert
worden ist.30
Ist es denkbar, dass sich diese Komposition ursprünglich aus der verlorengegangenen Anbetungsszene entwickelt hat, die bekanntlich die Fassade
der Geburtskirche in Bethlehem schmückte?31 Die Bedeutung dieser Stätte
29 Barclay Lloyd, „Mary, Queen of the Angels“, 6.
30 Kondakov, Ikonografia Bogomateri, 1:30‒34; Ihm, Programme, 52; Johannes G.
Deckers, Hans R. Seeliger und Gabriele Mietke, Die Katakombe „Santi Marcellino e Pietro“: Repertorium der Malereien (RSCr 6; Città del Vaticano: Pontificio
Istituto di Archeologia Cristiana, 1987); Maria Andaloro, Hg., La pittura medievale
a Roma 312–1431: Corpus 1: L’orizzonte tardoantico e le nuove immagini, 312–468
(Mailand: Jaca Book, 2006), 136f.; Jeffrey Spier, Hg., Picturing the Bible: The Earliest Christian Art (New Haven: Yale University Press, 2007), 181: „Catacomb of
Marcellinus and Peter: Frescoes from the ‚Crypt of the Virgin‘“.
31 Siehe dazu Joseph A. Munitiz et al., Hg., The Letter of the Three Patriarchs to
the Emperor Theophilos and Related Texts (Camberley: Porphyrogenitus, 1997), 42;
Dmitrij V. Ajnalov, The Hellenistic Origins of Byzantine Art (New Brunswick: Rut-
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
135
und die Beliebtheit der Szene in der
frühen christlichen Kunst und nicht
zuletzt auch auf Pilgerzeichen, die
zweifelsfrei mit Palästina in Verbindung gebracht werden können,
ist als Hinweis darauf gewertet
worden, dass die Genese der thronenden Jungfrau möglicherweise
durch ihre Platzierung in der Apsis
und der Dekoration der bethlehemitischen Kirche bedingt gewesen
sein könnte.32
Mehrere Elfenbeinschnitzereien, Wandgemälde und, noch wichtiger, frühbyzantinische Ikonen zeigen noch eine weitere Variante der
Komposition „Maria zwischen den
Engeln“. Hier sind die himmlischen
Wesen hinter der Rückseite des
Abb. 7: Sinai, Katharinenkloster, Ikone der Throns zu sehen. Sie fliegen emThronenden Jungfrau zwischen den Hei- por oder stehen in einer sehr chaligen, aus: Robert S. Nelson und Kristen rakteristischen, pulsierenden Pose
M. Collins, Hg., Holy Image, Hallowed da, die den Eindruck einer inneren
Ground: Icons from Sinai (Los Angeles:
Dynamik erzeugt und der Szene
J. Paul Getty Museum, 2006), 49.
eine stärkere räumliche oder sogar
sphärische Ordnung verleiht. Die
Immaterialität der Engel wird durch das Unstete ihrer Haltung zum Ausdruck
gebracht: Sie sind körperlos, durchscheinend und beinahe gewichtlos, fliegend, in der Luft schwebend dargestellt; oft entsteht dieser Effekt vor allem
dadurch, dass der untere Teil ihres Körpers durch den Thron verdeckt wird.
Eine typische Drehung der Figuren, die in manchen Fällen von der vertikalen
Achse abweicht und eher an der lyra-förmigen Rückenlehne des Throns oder
an zusätzlichen diagonalen oder unregelmäßigen Linien ausgerichtet scheint,
bereichert die Komposition und kontrastiert häufig mit der strengen Frontalstellung und Unbeweglichkeit der Gottesmutter.
gers University Press, 1961), 233‒237; André Grabar, Martyrium: Recherches sur
le culte des reliques et l’art chrétien antique (3 Bde; Paris: Collège de France, 1943–
1946), 2:163; Ihm, Programme, 52; Gerhard A. Wellen, Theotokos: Eine ikonographische Abhandlung über das Gottesmutterbild in frühchristlicher Zeit (Utrecht: Het
Spectrum, 1961), 147.
32 Maria Lidova, „Mary and the Adoration of the Magi: From Iconic Space to Icon in
Space“, in Festschrift in Honour of A. Lidov (im Erscheinen).
136
Maria Lidova
Das berühmteste Beispiel für
diese Variante ist natürlich die
Ikone aus dem Sinaikloster, auf
der die Jungfrau von zwei heiligen
Soldaten flankiert wird (Abb. 7).33
Die Engel hinter dem Thron unterscheiden sich auffällig von den
übrigen Figuren auf der Ikone.
Aufgrund der hellen Farben ihrer
Gewänder und ihrer dynamischen
Posen wirken ihrer Leiber beinahe
durchscheinend und immateriell.
Sie blicken nach oben auf einen
Himmelsauschnitt, durch den das
göttliche Licht aus Gottes Hand
auf die thronende Maria herabstrahlt.
Diese Art der Darstellung ähnelt der auf einer Ampulla aus dem
Heiligen Land (6.–7. Jh.), die heute Abb. 8: Rom, S. Maria in Trastevere, Madonin Monza aufbewahrt wird.34 Auf na della Clemenza (Foto der Autorin).
dieser Pilgerdevotionalie ist auf
der einen Seite der thronenden Jungfrau die „Anbetung der Könige“ und auf
der anderen Seite die „Verkündigung an die Hirten“ zu sehen; hinter dem
Thron erkennt man zwei fliegende Engel. Sie flankieren die zentralen Figuren
und treten den Königen und Hirten gegenüber als göttliche Boten auf. Gleichzeitig stehen sie ‒ genau wie der Stern, der auf exakt derselben vertikalen
Achse platziert ist wie Maria und das Kind ‒ für den himmlischen Bereich.
33 Ernst Kitzinger, „Byzantine Art in the Period between Justinian and Iconoclasm“,
in Berichte zum XI. Internationalen Byzantinischen Kongress IV/1 (München: Beck,
1958), 1–50; 47; Kurt Weitzmann, The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai.
The Icons 1: From the Sixth to the Tenth Century (Princeton: Princeton University
Press, 1976), 18–21 (B. 3); Peers, Subtle Bodies, 49‒52; Robin Cormack, „Icon of
the Virgin and Child between Archangels Accompanied by Two Saints“, in Mother
of God: Representations of the Virgin in Byzantine Art (hg. v. Maria Vassilaki; Mailand: Skira, 2000), 262f.; Ders., „The Eyes of the Mother of God“, in Images of the
Mother of God: Perceptions of the Theotokos in Byzantium (hg. v. Maria Vassilaki;
Aldershot: Ashgate, 2005), 167–174.
34 André Grabar, Ampoules de Terre Sainte (Monza – Bobbio) (Paris: Klincksieck,
1958), 16–21; Graziano A. Vergani, „Ampolla-reliquiario con Adorazione del Bambino e Ascensione“, in La rivoluzione dell’immagine: Arte paleocristiana tra Roma e
Bisanzio (hg. v. Fabrizio Bisconti und Giovanni Gentili; Cinisello Balsamo: Silvana
Editoriale, 2007), 202f.
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
137
Eine komplexe Kontrapost-Drehung der Engel, bei denen der obere und
der untere Teil von Körper und Rumpf in entgegengesetzte Richtungen zeigen, kennzeichnet zahlreiche Kunstwerke der frühbyzantinischen Periode,
angefangen bei der Maria-Regina-Ikone in Sta. Maria in Trastevere in Rom
(Abb. 8)35 über die Mosaikdarstellung der Jungfrau im nördlichen Kirchenschiff von St. Demetrios in Thessaloniki bis hin zu Elfenbeinarbeiten wie denen von Berlin oder Paris (Abb. 9)36 und sogar Textilien wie dem berühmten
Wandteppich von Cleveland (Abb. 10).37 In der Mehrheit dieser Fälle sind die
Engel klassisch in helle Weißtöne gekleidet. Sie tragen Zepter oder Weltkugeln in der einen Hand und halten die andere Hand auf Brusthöhe, wobei die
offene Innenfläche dem Betrachter zugewandt ist. Durch diese achsensymmetrisch gespiegelte Geste wird der Eindruck einer Umrahmung oder Einklammerung der zentralen Figuren noch verstärkt.
Die Besonderheit der gebogenen, beinahe tanzenden oder leicht verdrehten Haltung der Engel in diesen Werken ist so offensichtlich, dass sie nicht als
bloßer Zufall abgetan werden kann. Sie stellt offenbar einen von frühmittelalterlichen Meistern häufig verwendeten Kunstgriff dar, und ihre Beliebtheit
deutet vielleicht auf einen bestimmten Prototyp dieser Darstellungsweise hin,
den manche in Konstantinopel vermuten. Leider wissen wir nicht, wie die
Ausschmückung der Blachernenkirche, des wichtigsten Marienheiligtums
der Stadt, ausgesehen hat, obwohl die Quellen belegen, dass die Szene der
35 Zur Ikone vgl. Bertelli, La Madonna di Santa Maria; Maria Andaloro, „La datazione della tavola di S. Maria in Trastevere“, RINA 19/20 (1972/1975): 139–215; Maria Lidova, „L’icona acheropita della Vergine di Santa Maria in Trastevere a Roma“,
in Le arti a confronto con il sacro: Metodi di ricerca e nuove prospettive di indagine
interdisciplinare: Atti delle giornate di studio, Padova, 31 maggio–1 giugno 2007
(hg. v. Valentina Cantone und Silvia Fumian; Padua: CLEUP, 2009), 19‒28; Dies.,
„Empress, Virgin, Ecclesia: The Icon of Santa Maria in Trastevere in the Early Byzantine Context“, IKON 9 (2016): 109–128.
36 Zum Bild aus Thessaloniki: Robin Cormack, The Church of Saint Demetrios: The
Watercolours and Drawings of W. S. George (Thessaloniki: Municipality of Thessaloniki, 1985). Zu den Elfenbeineinbänden: „Diptychon mit thronendem Christus und
thronender Maria mit Kind, Nr. X.26“, in 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit:
Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn (hg. v. Christoph Stiegemann und
Matthias Wemhoff; 3 Bde; Mainz: Philipp von Zabern, 1999), 2:740–742 (mit vorangestellter Bibliographie); John Lowden, „The Word Made Visible: The Exterior of
the Early Christian Books as Visual Argument“, in The Early Christian Book (hg. v.
William E. Klingshirn und Linda Safran; Washington: Catholic University of America Press, 2007), 13–47.
37 Kurt Weitzmann, Hg., Age of Spirituality: Late Antique and Early Christian Art,
Third to Seventh Century (New York: Metropolitan Museum of Art, 1979), 532f.:
„Icon of the Virgin Enthroned, Nr. 477“; Dorothy G. Shepherd, „An Icon of the Virgin: A Sixth-Century Tapestry Panel from Egypt“, BCMA 56 (1969): 90‒120; MarieHélène Rutschowscaya, Coptic Fabrics (Paris: Biro, 1990), 134f.
138
Maria Lidova
Abb. 9: Berlin, Diptychon aus Elfenbein, Thronende Maria zwischen den Engeln, aus: Ludwig
Wamser, Hg., Die Welt von Byzanz – Europas
östliches Erbe: Glanz, Krisen und Fortleben einer
tausendjährigen Kultur (Stuttgart: Theiss, 2004),
163.
Abb. 10: Cleveland, Wandteppich, Thronende
Jungfrau zwischen den Engeln Michael und
Gabriel, aus: Vassilaki, Hg., Mother of God,
224.
„Maria zwischen den Engeln“ darin enthalten war.38 Mithin bleibt es äußerst
problematisch, hier ihren Ursprung anzunehmen; zum einen, weil wir nicht
in der Lage sind, die fehlenden Verbindungsglieder zwischen den einzelnen
Baudenkmälern zu rekonstruieren, und zum anderen, weil das erhaltene Material eine überaus breite Palette an Formen und Variationen aufweist.
Schließlich erscheint die von Engeln flankierte Maria in Darstellungen, die
eine bestimmte Episode aus den Evangelien, nämlich die Himmelfahrt Christi, zum Thema haben. Diese Komposition besteht üblicherweise aus zwei Teilen: einem oberen, wo Christus von fliegenden Engeln in den himmlischen
Bereich geleitet wird, und einem unteren, irdischen Bereich, wo die Apostel
sich um die im Zentrum stehende Gottesmutter scharen. In dieser Szene werden Maria meist zwei Engel zur Seite gestellt, die eine Art räumlicher Unterbrechung oder Zäsur zwischen der Jungfrau und den Aposteln bewirken.
Überraschenderweise enthält der Text des Evangeliums keinerlei Hinweis auf
38 Cyril Mango, The Art of the Byzantine Empire 312–1453: Sources and Documents
(Englewood Cliffs: Prentice-Hall, 1972), 34f.
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
139
diese Anwesenheit der
die Jungfrau begleitenden Engel, ja nicht
einmal auf die Anwesenheit Mariens selbst.
Dass sie in diese Komposition aufgenommen
wurde, muss durch die
ikonographische Entwicklung und durch
das Bestreben bedingt
gewesen sein, die Person der Maria hervorzuheben, ihr innerhalb
der Szene größere Bedeutung zu verleihen
und sie sichtbar in die
Apotheose des himmlischen Hofstaats im
oberen Bildteil zu inteAbb. 11: Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, grieren.
Ein
wunderbares
Tetraevangeliar des Rabbula (Plut. 1.56, f. 13v), aus:
Bernabò, Hg., Il Tetravangelo di Rabbula, Taf. XXVI.
Beispiel für diese Gestaltungsweise ist die
berühmte Miniatur im Rabbula-Evangeliar aus dem 6. Jh. Interessanterweise
kombiniert diese Illustration (Florenz, Laurent. Plut. I. 56. fol. 13v) mehrere der oben beschriebenen Arten von Engeldarstellungen, da die betreffende Szene mit nicht weniger als drei Engelpaaren bestückt werden musste
(Abb. 11).39 Zunächst erscheinen sie mit den üblichen offiziellen Attributen
im oberen Bereich neben dem Thron des von einer Mandorla umgebenen Erlösers. In der Bildmitte sind zwei weitere Engel zu sehen, die in ihren ausgestreckten Händen goldene Diademe darreichen und sich vor dem Anblick des
in den Himmel auffahrenden Christus verneigen. Und schließlich wird im
unteren Bereich die Gottesmutter von zwei geflügelten Begleitern flankiert.
Sie sind, wie auf solchen Darstellungen üblich, in aktiver Kommunikation
mit den Aposteln begriffen und machen diese auf die Theophanie aufmerksam, die sich über ihnen abspielt. Gleichzeitig unterstreichen diese mächtigen
39 Carlo Cecchelli, Giuseppe Furlani und Mario Salmi, Hg., The Rabbula Gospels:
Facsimile Edition of the Miniatures of the Syriac Manuscript Plut. I,56 in the Medicaen-Laurentian Library (Monumenta occidentiis 1; Olten: in aedibus Urs Graf,
1959); Massimo Bernabò, Hg., Il Tetravangelo di Rabbula: Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 1.56: L’illustrazione del Nuovo Testamento nella Siria del
VI secolo (Folia picta 1; Rom: Edizioni di storia e letteratura, 2008).
140
Maria Lidova
Gestalten in ihren weißen Gewändern die Bedeutung der Jungfrau innerhalb
der Gruppe der Jünger Jesu. Damit ähnelt ihre Funktion der von Wächtern,
die einerseits den Zugang zur Gottheit beschränken und anderseits mit den
Umstehenden interagieren. Ähnliche Engeldarstellungen finden sich in der
Apsis der Euphrasius-Basilika in Poreč (Mitte des 6. Jh.) und in vielen anderen frühbyzantinischen Gebäudeausschmückungen.40
Die breite Palette der Umsetzungen, die das Thema „Maria zwischen den
Engeln“ in der frühbyzantinischen Kunst erfahren hat, beweist seine überwältigende Beliebtheit und Vielfalt. Die Aussage des im Grunde immer gleichen
Bildes wird sowohl durch auffällige Unterschiede als auch durch kleinere
Abweichungen leicht modifiziert. Auf diese Weise vermitteln die marianischen Kompositionen eine subtilere, feiner nuancierte Botschaft, die eine je
unterschiedliche emotionale Wirkung erzeugt. Deshalb muss sich jeder, der
sich an einer angemessenen Deutung der Szene versuchen will, zunächst mit
verschiedenen marianischen Begriffen, Texten und Vorstellungen vertraut
machen, die in der damaligen Zeit im Umlauf waren und das Verständnis
wie auch die Verbreitung des Themas der „Maria zwischen den Engeln“ in
frühbyzantinischer Zeit letztlich geprägt haben.
2.
„Maria zwischen den Engeln“: die
Konzepte hinter dem Bild
Dass, wie im Vorigen erläutert, schon auf den Wänden von S. Maria Maggiore
aus dem 5. Jh. Engel aktiv präsent sind, wirft unweigerlich Fragen auf und
verlangt nach Erklärungen. Zunächst einmal ist es wichtig zu verstehen, ob
und wie diese Ausschmückung der biblischen Erzählung, wie sie sich auf den
Mosaikfeldern des Triumphbogens entfaltet, mit irgendeiner textlichen Überlieferung korreliert. Zweitens ist zu prüfen, ob das Auftreten der Engelgestalten vielleicht durch Faktoren bedingt sein könnte, die nicht mit der eigentlich
biblischen Beschreibung zusammenhängen – etwa durch die Notwendigkeit,
nach dem Konzil von Ephesus bestimmte theologische Begriffe und/oder einen veränderten Status der Jungfrau zum Ausdruck zu bringen. Eine dritte
erwägenswerte Alternative ist die Möglichkeit, dass diese ikonographische
Lösung das Ergebnis einer künstlerischen Weiterentwicklung und Anpassung des bestehenden heidnischen oder imperialen Repertoires an christliche Verhältnisse gewesen ist; ein Prozess, für den die zahlreichen imperialen
Konnotationen des Zyklus im Allgemeinen und der majestätischen Figur der
40 Henry Maguire und Ann Terry, Dynamic Splendor: The Wall Mosaics in the Cathedral of Eufrasius at Poreč (2 Bde; Pennsylvania: Pennsylvania State University
Press, 2007).
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
141
Jungfrau im Besonderen geradezu prädestiniert scheinen. Da das ikonographische Programm von S. Maria Maggiore eines der frühesten erhaltenen
Beispiele der von Engelfiguren flankierten Jungfrau Maria in der christlichen
Monumentalkunst darstellt, könnte man annehmen, dass sich darin eine frühe
Entwicklungsphase dieses in der Malerei so beliebten Sujets wiederspiegelt.
Antworten auf diese Fragen sind daher von besonderer und grundlegender
Bedeutung für das Verständnis der gesamten nachfolgenden Kunsttradition.
Die religiösen Texte, die üblicherweise mit den betreffenden Bildern in
Verbindung gebracht werden, können die Präsenz der Engel in den römischen
Mosaiken aus dem 5. Jh. nur teilweise erklären. Bekanntlich stützten sich
die Zyklen mit Ereignissen aus der Kindheit Christi und vor seiner Geburt
weitgehend auf apokryphe Quellen.41 Das hängt damit zusammen, dass die
kanonischen Berichte aus dem Lukasevangelium – dem einzigen, das Maria
nennenswerte Bedeutung beimisst – weder die nötigen Details noch ausreichend Informationen bieten, um das Leben der Jungfrau auf dieser Grundlage
stimmig zu rekonstruieren.42 In der Regel verweist die Forschung hauptsächlich auf zwei Apokryphen: das Pseudomatthäusevangelium (8./9. Jh.) und
das Protoevangelium des Jakobus (2. Jh.). Letzteres ist hinsichtlich des hier
diskutierten Themas nicht sonderlich hilfreich; Ersteres dagegen liefert mehrere interessante Einzelheiten. Aus dem sechsten Kapitel des Pseudomatthäusevangeliums erfahren wir, dass Maria noch während ihrer Zeit im Tempel,
das heißt noch vor der Geburt Jesu, nicht nur von Engeln ernährt, sondern
zudem oft in ihrer Gegenwart gesehen wurde:
Täglich erquickte sie sich lediglich an eben der Speise, die sie aus der Hand des
Engels empfing […]. Häufig sah man, daß Engel mit ihr sprachen; und sie gehorchten ihr wie einer sehr teuren Freundin (Ps.-Mt 6,3).
41 Zu den Kindheits- und Marienevangelien siehe die entsprechenden Kapitel in: Outi
Lehtipuu und Silke Petersen, Hg., Antike christliche Apokryphen: Marginalisierte
Texte des frühen Christentums (Die Bibel und die Frauen 3.2; Stuttgart: Kohlhammer, 2018), sowie zu Darstellungen derselben: Jacqueline Lafontaine-Dosogne,
„Iconography of the Cycle of the Life of the Virgin“, in The Kariye Djami 4: Studies
in the Art of the Kariye Djami and Its Intellectual Background (hg. v. Paul A. Underwood; BollS 70/4; London: Routledge, 1975), 161–194; Dies., „Iconography of the
Cycle of the Infancy of Christ“, in ebd., 195–241.
42 Allgemeinere Erläuterungen hierzu finden sich bei James K. Elliot, The Apocryphal New Testament: A Collection of Apocryphal Christian Literature in an English
Translation (Oxford: Clarendon Press, 1994), 57‒67; Savvas Agouridis, „The Virgin
Mary in the Texts of the Gospels“, in Mother of God: Representations of the Virgin
in Byzantine Art (hg. v. Maria Vassilaki; Mailand: Skira, 2000), 59‒65; Ioannis Karavidopoulos, „On the Information Concerning the Virgin Mary Contained in the
Apocryphal Gospels“, in ebd., 67‒76; James K. Elliott, „Mary in the Apocryphal
New Testament“, in The Origins of the Cult of the Virgin Mary (hg. v. Chris Maunder; London: Burns & Oates, 2008), 57–70.
142
Maria Lidova
Interessanterweise enthält der Text eine sehr klare Vorstellung von der Verehrung, die Maria – noch ehe sie überhaupt die Mutter Gottes geworden war
‒ von himmlischen Wesen entgegengebracht wurde. Das ist insofern von Bedeutung, als es ganz offensichtlich mit den Darstellungen der die Jungfrau
begleitenden Engel in der Kunst zusammenhängt.
Derselbe Text hilft auch, die Präsenz der Engel in der Anbetungsszene in
S. Maria Maggiore zu verstehen. Der Autor erzählt, wie die Heilige Familie in
Bethlehem ankommt und dort in einer Höhle wohnt, und er merkt an:
Und dort gebar sie einen Sohn, und die Engel umgaben Ihn bei seiner Geburt.
Und sobald er geboren worden war, stand er auf Seinen Füßen, und die Engel
schmückten Ihn und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Friede
den Menschen guten Willens (13,2).43
Dieses Ereignis wird von einem anderen apokryphen Text, dem sogenannten
Arabischen oder Syrischen Evangelium von der Kindheit des Erlösers, bestätigt (wahrscheinlich aus dem 6. Jh.).44 Dieser Text wird aus mehreren Gründen
nur selten im Zusammenhang mit byzantinischen Marienzyklen diskutiert.
Er bietet eine hochinteressante und sehr viel detailliertere Beschreibung der
Geschichte und basiert höchstwahrscheinlich auf denselben Quellen wie die
anderen Kindheitsapokryphen. Auch die syrische Version erzählt im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Geburtshöhle, dass Engel dort gewesen
seien:
Zur gleichen Zeit kamen die Hirten und entfachten ein Feuer und freuten sich
überschwenglich, und ihnen erschienen himmlische Heerscharen, die jubelten
und priesen Gott (4).
Die Bedeutung dieser Quelle beruht jedoch vor allem auf ihrem Bericht von
der Beschneidung, der ansonsten unbekannte Details enthält:
„Da sah ihn der ehrwürdige Greis Simeon, als er wie ein Lichtstrahl leuchtete,
während Maria, die Jungfrau, seine Mutter, ihn auf ihren Armen trug. Und sie
war erfreut über ihn, und die Engel umgaben ihn im Kreis, wobei sie [ihn] lobpriesen wie ein Heer vor dem König“ (6).
43 Diese Schilderung ist besonders interessant, wenn man sie mit den liturgischen Interpretationen des Kirchenraums vergleicht. In der Patriarch Germanos zugeschriebenen Schrift Kirchengeschichte und mystische Betrachtung entspricht die Apsis „der
Höhle von Bethlehem, wo Christus geboren wurde“, womit die Anwesenheit der Engel eine zusätzliche Rechtfertigung erfährt, vgl. Cormack, „The Mother of God in
Apse Mosaics“, 95.
44 Elliot, The Apocryphal New Testament, 100‒107.
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
143
Die Erwähnung von Engeln beim Einzug der Heiligen Familie in den Tempel
ist auffällig und passt offenbar gut zu der Komposition der Darstellungsszene
auf dem Mosaik von S. Maria Maggiore, wo zwei Engel die Gestalt der Maria
flankieren, während ein dritter Engel hinter Josef und der Prophetin Hanna zu
sehen ist. Der Text verweist nicht nur auf die Präsenz der himmlischen Kreaturen, die der hellsichtige Blick des Hl. Simeon zu erkennen vermag, sondern
schreibt ihnen überdies die Funktion von Wächtern an der Seite Christi zu,
der hier bezeichnenderweise mit einem irdischen König verglichen wird.
Dieser Teil der christlichen Erzählung ist nicht nur für sich genommen und
im Analysekontext der breiteren textlichen Überlieferung interessant, sondern gewinnt zudem durch den Vergleich mit erhaltenen Kunstwerken eine
herausragende Bedeutung. Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass
Engel in der byzantinischen Kunst nicht selten eine wichtige Rolle spielen.45
Was uns hier interessiert, ist nicht so sehr die künstlerische Umsetzung narrativer Szenen des AT oder NT, in denen Engel als himmlische Boten, Mittler
zwischen Gott und den Menschen oder Überbringer des göttlichen Willens
eine ganz konkrete Funktion ausüben, sondern das Vorkommen dieser höheren Wesen in bildlichen Kontexten, die nicht erkennbar durch eine bestimmte
biblische Erzählung bedingt sind.
Zusätzlich zu ihren feierlichen Posen und der Größe der Engelsgestalten
wird ihr hoher Rang, wie wir gesehen haben, regelmäßig durch verschiedene
Insignia wie Weltkugeln und Stäbe, die sie in Händen halten, und zuweilen
auch durch höfische Gewänder wie das Divitision signalisiert, das oft durch
einen prächtigen kaiserlichen Loros ergänzt wird.46 Allerdings kommt, wie
Mango gezeigt hat, „die imperiale Ikonographie von Erzengeln nie in narrati45 Zu den Engeln und ihren Darstellungen vgl. Raffaele Garrucci, Storia della arte
cristiana nei primi otto secoli della chiesa (6 Bde; Prato: Guasti, 1873–1881), 1:292–
297; Stuhlfauth, Engel; Demetrios I. Pallas, „Himmelsmächte, Erzengel, Engel“,
RBK 3 (1978): 13‒119; Gerhard Podskalsky und Anthony Cutler, „Angel“, ODB 1
(1991): 97; Aleksandr Kazhdan und Nancy Patterson Ševčenko, „Archangel“,
ODB 1 (1991): 155; Marco Bussagli, Storia degli angeli: Racconto di immagini e
di idee (Storia 10; Mailand: Rusconi, 1995); Raffaella Giuliani, „Angelo“, in Temi
di iconografia paleocristiana (hg. v. Fabrizio Bisconti; SSAC 13; Città del Vaticano:
Pontificio Istituto di Archeologia Cristiana, 2000), 106‒109; Marco Bussagli und
Mario D’Onofrio, Hg., Le Ali di Dio: Messaggeri e guerrieri alati tra Oriente e Occidente (Mailand: Silvana, 2000); Peers, Subtle Bodies; Cecilia Proverbio, La figura
dell’angelo nella civiltà paleocristiana (Todi: Tau, 2007); Elżbieta Jastrzębowska,
„New Testament Angels in Early Christian Art: Origin and Sources“, Światowit 8
(49)/A (2009–2010): 153–164.
46 Colette Lamy-Lassalle, „Les archanges en costume impérial dans la peinture murale italienne“, in Synthronon: Art et archéologie de la fin de l’Antiquité et du Moyen
Âge (hg. v. André Grabar et al.; BCAr 2; Paris: Klincksieck, 1968), 189‒198; Mango, „St. Michael“, 39‒45; Maguire, „Style and Ideology“; Catherine Jolivet-Lévy,
„Note sur la représentation des archanges en costume imperial dans l’iconographie
byzantine“, CAr 46 (1998): 121‒128.
144
Maria Lidova
ven Szenen“, sondern „nur in statischen oder ‚ikonischen‘ Bildern“ vor.47 Die
frühchristlichen Wurzeln dieser Tradition sind durch die berühmten Worte
des Severus von Antiochia belegt, mit denen der Autor des 6. Jh. die Praxis
kritisiert, Engel in kaiserlichen Purpurgewändern und mit „Zeichen allumfassender Macht“ darzustellen. An einer anderen Stelle gibt er zu bedenken, dass
weiße Gewänder angemessener wären.48 Diese Aussage steht in interessanter
Korrelation zu den frühen Paralleltraditionen, Engel entweder in weißen Tuniken und Pallae oder in offizieller, beinahe königlicher Kleidung abzubilden.
Die Verbindungen zwischen den Kaisern und Bildern kaiserlicher Macht
auf der einen und Engeldarstellungen auf der anderen Seite waren in der byzantinischen Kultur stets sehr eng. Die Bestrebungen, wie etwa in S Maria
Maggiore den höfischen Charakter der himmlischen Wächter und ihres Auftrags im Dienst des allmächtigen Königs und seiner Mutter zum Ausdruck zu
bringen, bleiben sowohl in der byzantinischen Kunst als auch in der Literatur
weiterhin bestehen. Nicht nur die Engel werden regelmäßig mit Konnotationen und Attributen ausgestattet, die besser zu hohen kaiserlichen Beamten
oder Heerführern passen würden, sondern auch die Kaiser werden umgekehrt
in den verschiedensten Panegyriken und offiziellen Anreden mit Engeln verglichen.49 Die Konstruktion des Engelbildes auf der Grundlage offizieller Repräsentationsformen und sichtbarer Verkörperungen einer realen, irdischen
Macht ist von besonderer Bedeutung. Sie weist darauf hin, dass die Darstellung der „Mutter Gottes zwischen den Engeln“ von Anfang an die Züge einer
offiziellen Entourage aufwies und dass somit eine denkbar enge visuelle und
symbolische Parallele zwischen den himmlischen Kreaturen und einer königlichen Wache bestand.
Für den mittelalterlichen Betrachter war diese Gleichsetzung umso offensichtlicher, da die Ikonographie der „Maria zwischen den Engeln“ in aller
Regel auf Kompositionen beruhte, die rein weltlichen Kontexten entnommen
waren: Das zugrundeliegende Schema wurde weitgehend mit offiziellen, repräsentativen Anlässen am Hof eines Konsuls oder Kaisers assoziiert. Das
belegen zahlreiche elfenbeinerne Diptychen der frühbyzantinischen Periode,
die die Konsuln in sitzender Haltung von vorne und flankiert von Wächtern
oder Allegorien der Städte Rom und Konstantinopel zeigen, und das belegt
auch das aufsehenerregende Beispiel der berühmten, noch vor dem Jahr 512
entstandenen Miniatur der Prinzessin Anicia Juliana aus dem Wiener Dioskurides (cod. med. gr. 1. fol. 6v).50 Die Prinzessin sitzt, genau wie die Jungfrau
47
48
49
50
Mango, „St. Michael“, 44.
Mansi 13:184; Mango, „St. Michael“, 42f.; Peers, Subtle Bodies, 60.74f.
Maguire, „Style and Ideology“, 222–224.
Richard Delbrück, Die Consulardiptychen und verwandte Denkmäler (2 Bde; Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 2; Berlin: de Gruyter, 1929); Cecilia Olovsdotter, The Consular Image: An Iconological Study of the Consular Diptychs (BAR
International Series 1376; Oxford: John and Erica Hedges, 2005). Informationen zu
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
145
auf entsprechenden Darstellungen, auf einem Thron
und wird von zwei Figuren
flankiert, bei denen es sich in
diesem Fall jedoch nicht um
Engel, sondern um Personifikationen handelt (Abb. 12).
Bestimmte Details an
den Gewändern der Engel
und vor allem der Stab, den
sie auf den Darstellungen regelmäßig in der Hand halten,
rechtfertigen einen Vergleich
und eine Assoziation mit byzantinischen
Hofbeamten
wie etwa den Cubicularii,
Ostiarii oder Silentiarii. Die
Inhaber des letztgenannten
Abb. 12: Wien, Österreichische Nationalbiblio- Ranges hatten bekanntlich
thek, Dioskurides, Anicia Juliana (cod. med. gr. 1. das Recht, als Erkennungsfol. 6v), aus: Kiilerich, „The Image of Anicia Ju- zeichen ihres Amtes kostliana“, 170.
bare (aus Gold angefertigte
und mit Perlen geschmückte)
Zepter zu tragen.51 Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die
Tatsache, dass einige Silentiarii eigens als Begleiter und Diener der Kaiserin
ernannt wurden, was innerhalb der höfischen Kultur eine direkte und deutliche Parallele zu den Darstellungen der von himmlischen Wächtern eskortierten Jungfrau herstellen würde. Eine andere Gruppe byzantinischer Höflinge,
die hier Erwähnung verdient, sind natürlich die der Eunuchen, die in schriftlichen Texten regelmäßig mit Engeln verglichen und vorwiegend im Dienst der
den jüngsten Analysen dieser Miniatur aus dem Wiener Dioskurides und weiterführende bibliographische Hinweise bieten Bente Kiilerich, „The Image of Anicia
Juliana in the Vienna Dioscurides: Flattery or Appropriation of Imperial Imagery“,
SO 76/1 (2001): 169‒190; Leslie Brubaker, „The Vienna Dioskorides and Anicia
Juliana“, in Byzantine Garden Culture (hg. v. Antony Littlewood, Henry Maguire
und Joachim Wolschke-Bulmahn; Washington: Dumbarton Oaks, 2002), 189‒214;
Diliana N. Angelova, Gender and Imperial Authority in Rome and Early Byzantium,
First to Sixth Centuries (Diss., Harvard University, 2005), 111‒118.
51 ODB 3 (1991): 1896. Die Parallele zwischen den Silentiarii und den Engeln hat Gerhard Wolf im Zusammenhang mit der Darstellung der Himmelswesen auf der Ikone
aus S. Maria in Trastevere besonders hervorgehoben, vgl. Gerhard Wolf, „Alexifarmaka: Aspetti del culto e della teoria delle immagini a Roma tra Bisanzio e Terra
Santa nell’Alto Medioevo“, in Roma fra Oriente e Occidente (2 Bde; SSAM 49; Spoleto: CISAM, 2002), 2:785.
146
Maria Lidova
kaiserlichen Familie und insbesondere ihrer weiblichen Mitglieder eingesetzt
wurden.52
Allerdings kommen Engel auch in anderen Kontexten und Situationen der
byzantinischen Kunst vor und können nicht ausschließlich als Bestandteil
der marianischen Ikonographie betrachtet werden. Ihre Präsenz an der Seite
Christi ist jedoch durchaus logisch und lässt sich leicht aus den religiösen Texten, insbesondere aus der atl. Überlieferung und verschiedenen Epiphanieberichten, erklären. Das ist deshalb wichtig, weil die christlichen Vorstellungen
und Deutungen von Engeln tief in der älteren jüdischen Schrifttradition verwurzelt waren.53
Das Auftreten himmlischer Wesen an der Seite Gottes diente offenkundig
dem Zweck, die Herrlichkeit der Gottheit zu visualisieren. Zum Teil geht es
auf Vorgängermodelle aus der römischen Vergangenheit und auf heidnische
Ikonographien der absoluten, triumphalen Überlegenheit und Königswürde
zurück, die oft und reichlich von Siegesgöttinnen und anderen geflügelten
Wesen Gebrauch machten. Neben Gott selbst konnten die Engelfiguren auch
das Symbol des Kreuzes, die Hetoimasia (den Thron der Wiederkunft) und
den Altar flankieren.54 Gelegentlich finden sie sich auch an der Seite eines
52 Myrto Hatzaki, Beauty and the Male Body in Byzantium: Perceptions and Representations in Art and Text (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2009), 86‒115; Maria
Parani, „Look like an Angel: The Attire of Eunuchs and its Significance within the
Context of Middle Byzantine Court Ceremonial“, in Court Ceremonies and Rituals
of Power in Byzantium and the Medieval Mediterranean: Comparative Perspectives (hg. v. Alexander D. Beihammer, Stavroula Constantinou und Maria G. Parani;
Leiden: Brill, 2013), 433‒463; Georges Sidéris, „Sur l’origine des anges eunuques
à Byzance“, in Constructing the Seventh Century (hg. v. Constantin Zuckerman;
TMCB 17; Paris: Association des Amis du Centre d’Histoire et Civilisation de Byzance, 2013), 539‒558.
53 Vgl. Lourdes Diego Barrado, „Le rôle des anges dans l’iconographie de la Rome
byzantine“, in Les anges et les archanges dans l’art et la société à l’époque préromane et romane: Actes des XXIXe Journées Romanes de Cuixà, 8‒16 juillet 1996
(Les Cahiers de Saint-Michel de Cuxa 28; Codalet: Association culturelle de Cuixà,
1997), 133–144; 133; Peers, Subtle Bodies, 13‒60. Zum Problem einer angemessenen
Rekonstruktion des frühchristlichen Engelbegriffs und seinen engen Verbindungen
mit der älteren Schrifttradition (einschließlich eines kurzen Überblicks über die betreffende Historiographie) vgl. Ellen Muehlberger, Angels in the Religious Imagination of Late Antiquity (Diss., Indiana University, 2008), 9‒14. In der Dissertationsschrift werden diese Fragen detaillierter erörtert als in ihrem kürzlich erschienenen
Buch: Ellen Muehlberger, Angels in Late Ancient Christianity (Oxford: Oxford
University Press, 2013). Vgl. ebenso Garrucci, Storia.
54 Das Thema der den Altar flankierenden Engel zählt zu den zentralen Ikonographien der byzantinischen Welt. Eine eingehende Analyse der erhaltenen Baudenkmäler zeigt, wie sich dieses Thema aus frühen Beispielen wie etwa den Mosaiken von
Germigny-des-Prés (beginnendes 9. Jh.), wo der fragliche Altar unverkennbar auf die
atl. Bundeslade anspielt (vgl. Ann Freeman und Paul Meyvaert, „The Meaning of
Theodulf’s Apse Mosaic at Germigny-des-Prés“, Gesta 40/2 [2001]: 125‒139; Gillian
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
147
bestimmten Heiligen wie etwa im Fall des Hl. Neophytos, der in seiner Grabkapelle und früheren Einsiedlerhöhle (enkleistra) im Neophytos-Kloster in
Paphos auf Zypern zwischen zwei Engeln dargestellt ist (1182‒1183). Das
Wandgemälde bezieht sich eindeutig auf die Vorstellung von der Heiligkeit
des Mönchs, der durch sein frommes Erdenleben in die Nähe der himmlischen Wesen gerückt ist.55 Ähnliche Muster waren schon in der Spätantike
zur Darstellung von verschiedenen Heiligen üblich, wie z. B. für die Hl. Thekla und den Säulenheiligen Simon, die beide regulär von Engeln begleitet
portraitiert wurden.56
Gleichwohl belegt eine umfassende Analyse der erhaltenen Kunstwerke
zweifelsfrei, dass die Jungfrau nach Christus die einzige Person ist, der regelmäßig und sogar in der Mehrzahl der Fälle himmlische Begleiter zur Seite
gestellt werden. Das wirft die Frage auf, ob diese besondere Aufmerksamkeit
Maria selber gilt oder ob es letztlich doch wieder der himmlische König ist,
der mit diesem offiziellen Gefolge geehrt werden soll. Da die Jungfrau und
das Christuskind üblicherweise gemeinsam dargestellt werden und mithin
nicht voneinander zu trennen sind, ist diese Angelegenheit recht kompliziert.
Dennoch legen die ikonographische Entwicklung dieses Bildes, die Tatsache,
dass Jesus in einigen dieser Kompositionen nicht anwesend ist, und bestimmte literarische Quellen den Gedanken nahe, dass das Thema der flankierenden
Engel gerade für die Verehrung der Gottesmutter besonders relevant war und
V. Mackie, „Theodulf of Orléans and the Ark of the Covenant: A New Allegorical
Interpretation at Germigny-des-Prés“, Racar 32/1‒2 [2007]: 45‒58; Ivan Foletti,
„Germigny-des-Prés, il Santo Sepolcro e la Gerusalemme Celeste“, Convivium 1/1
[2014]: 32‒49), zum mittelbyzantinischen Motiv der Engel entwickelt hat, die in der
„Gemeinschaft der Apostel“ um den Altar herumstehen: eine Szene, die üblicherweise die Apsiswölbung ausschmückt. Erzengel erscheinen in der byzantinischen Kunst
auch regelmäßig zu beiden Seiten des Allerheiligsten, auf der Ikonostase oder rechts
und links des Kircheneingangs, vgl. Georgi Gerov, „Angels – Entrance Guardians“,
Zbornik radova Vizantoloskog instituta 46 (2009): 435‒442.
55 Cyril Mango und Ernest Hawkins, „The Hermitage of St. Neophytos and Its Wall
Paintings“, DOP 20 (1966): 119‒206. Interessanterweise findet sich die Vorstellung,
dass die Lebensweise helfen kann, einen engelgleichen Status zu erlangen, auch in
der marianischen Theologie, insbesondere bei Cyrill von Jerusalem, vgl. Cameron,
„The Early Cult of the Virgin“, 7.
56 Die Theklaakten bieten dafür den Hintergrund, da der Text nach der Beschreibung der
Erscheinung des Paulus sagt, dass er einmal einem Menschen, ein andermal einem
Engel geglichen habe; vermutlich hat die oft gezogene Parallele zwischen heiligen
Menschen und den geflügelten Kreaturen diese Assoziation verstärkt; vgl. Wilhelm
Schneemelcher, Hg., Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung 2:
Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes (Tübingen: Mohr, 51989), 216. Siehe
ebenso Johannes Chrysostomus, Homilien zum Matthäusevangelium 8,4, wo er die
zahlreichen Mönche der ägyptischen Wüste mit den Chören der Engel in menschlicher Form vergleicht.
148
Maria Lidova
in den Augen des christlichen Betrachters eine tiefe symbolische Bedeutung
erlangte.57
Im weithin bekannten Hymnos Akathistos, der gemeinhin Romanos Melodos zugeschrieben, heute aber häufig früher datiert wird und hinsichtlich
der Marienverehrung vielleicht den repräsentativsten frühbyzantinischen
Text überhaupt darstellt, übernehmen die Engel verschiedene Funktionen.58
Die Eröffnungszeile der ersten Strophe (oikos) dieses Preisgedichts auf die
Theotókos enthält einen Verweis auf den himmlischen Überbringer der Verkündigungsbotschaft ‒ dadurch entsteht die Illusion, der Hymnus sei die
Vergegenwärtigung eines Dialogs zwischen Maria und Gabriel ‒ und dient
als Vorlage für die nun folgenden vielfältigen Anrufungen der Jungfrau, die
allesamt mit „Sei gegrüßt“ oder „Freue dich“ (chaire) beginnen; sie basieren
weitgehend auf atl. Figuren, die die Christen als biblische Präfigurationen der
Theotókos deuteten.
In dieses dichterische Gewebe sind an mehreren Stellen Hinweise eingeflochten, die Engel zu biblischen Episoden, aber vor allem zur Muttergottes
selbst in Beziehung setzen, etwa wenn Maria apostrophiert wird als die „Tiefe, die selbst für die Augen der Engel unsichtbar ist“, als „von den Engeln
vielbestauntes Wunder“, als eine, „die das Leben von Engeln spiegelt“, und
schließlich als „heiligster Wagen dessen, der über den Seraphim ist, […] erhabenste Wohnstatt dessen, der über den Seraphim ist“. Diese Epitheta und
insbesondere das komplette 9. Kontakion – „Alle Stände der Engel staunten
über das große Werk deiner Menschwerdung; denn sie sahen den Gott, unzu57 Man denke etwa an den koptischen Architrav aus frühbyzantinischer Zeit, der im
Britischen Museum aufbewahrt wird (EA1502) und eine interessante, in drei Reihen
verlaufende Inschrift aufweist. Der Textfluss wird in der Mitte der oberen Zeile durch
eine muschelähnliche Palmette unterbrochen. Nach einer Anrufung der Heiligen
Dreifaltigkeit wendet sich der Text (in dieser Reihenfolge!) an den heiligen Michael,
die heilige Maria und den heiligen Gabriel. Mithin wird der Name Mariens vor den
Augen des Lesers logisch und optisch von den Namen der beiden Erzengel flankiert
und folgt damit dem Muster, das wir nun als die herkömmliche oder archetypische
Version des Themas „Maria zwischen den Engeln“ annehmen dürfen. Bezeichnenderweise ist der Verweis auf Gott als Heilige Dreifaltigkeit, der an erster Stelle steht,
gewissermaßen von der nachfolgenden, dreigeteilten Struktur getrennt, die größtenteils in die zweite, das heißt die mittlere Zeile passt und in der der Name der Gottesmutter zentral platziert ist. Insgesamt ähnelt die Gestaltung sehr dem Türsturz mit
den Namen der Erzengel und der Jungfrau, der in Cleveland aufbewahrt wird (online: http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_
details.aspx?assetId=379598001&objectId=124203&partId=1 [zuletzt abgerufen am
19.10.2018]).
58 Vasiliki Limberis, Divine Heiress: The Virgin Mary and the Creation of Christian
Constantinople (London: Routledge, 1994); Luigi Gambero, Mary and the Fathers of
the Church: The Blessed Virgin Mary in Patristic Thought (San Francisco: Ignatius
Press, 1999); Leena M. Peltomaa, The Image of the Virgin Mary in the Akathistos
Hymn (The Medieval Mediterranean 35; Leiden: Brill, 2001).
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
149
gänglich, als Menschen, allen zugänglich, wie er unter uns wohnte und von
allen hörte: Halleluja“ ‒ weisen klar darauf hin, dass im Akathistos die Jungfrau selbst und nicht nur ihr Sohn von den Engeln gefeiert wird.
Die verschiedenen bildlichen Kontexte, in denen Engel Verwendung finden, zeigen, dass die Hinzufügung körperloser Wesen auf beiden Seiten der
Bildmitte die zentrale Darstellung nicht nur besonders hervorhebt, sondern
zudem die Heiligkeit der betreffenden Person und ihren übergeordneten Rang
in der himmlischen Hierarchie unterstreicht. Die Vorstellung von der Jungfrau, einer irdischen Frau, die zu größerer Höhe und Heiligkeit aufstieg als
die Engel, Vorrang vor allen himmlischen Wesen erhielt und am himmlischen
Hof, wo allein Gott über ihr steht, eine herausragende Stellung bekleidet, ist
ein wesentliches Prinzip des christlichen Denkens und ein fester Bestandteil
liturgischer Gebete, Hymnen, Homilien und patristischer Texte. Man denke
nur an die Zeilen des im christlichen Osten so beliebten Mariengebets Áxion
estín aus der Liturgie des Johannes Chrysostomos aus dem 4. Jh.: „Die du geehrter bist als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim
…“. Diese Assoziation war es, die in den Gläubigen systematisch erzeugt und
gleichzeitig in den künstlerischen Darstellungen der von Engeln flankierten
Gottesmutter visualisiert wurde.
In diesem Zusammenhang muss man sich fragen, ob die Komposition der
„Maria zwischen den Engeln“ womöglich für die weiblichen Gemeindemitglieder von besonderer Bedeutung war. Die Beteiligung von Frauen und insbesondere Kaiserinnen an der Entwicklung und Herausbildung des frühen
Marienkults bot den weiblichen Gläubigen einen sehr facettenreichen und anregenden Weg, mit Darstellungen der Theotókos59 zu interagieren. Das Verhaltensmodell und didaktische Vorbild, zu dem die Gestalt der Maria in den
Kunstwerken stilisiert wurde, diente nicht nur als Quelle der Inspiration, sondern verkörperte die Vorstellung von einem absoluten spirituellen Triumph
weiblicher Heiligkeit, die sogar die der himmlischen Wesen übertraf.60
59 Siehe dazu Kate Cooper, „Empress and Theotokos: Gender and Patronage in the
Christological Controversy“, The Church and Mary: Papers Read at the 2001 Summer Meeting and the 2002 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society
(hg. v. Robert N. Swanson; SCH[L] 39; Woodbridge: Boydell Press, 2004), 39–51;
Jean-Michel Spieser, „Impératrices romaines et chrétiennes“, in Mélanges Gilbert
Dagron (TMCB 14; Paris: Association des Amis du Centre d’Histoire et Civilisation de Byzance, 2002), 593–604; Liz James, „The Empress and the Virgin in Early
Byzantium: Piety, Authority and Devotion“, in Images of the Mother of God: Perceptions of the Theotokos in Byzantium (hg. v. Maria Vassilaki; Aldershot: Ashgate,
2005), 145–152; Diliana N. Angelova, Sacred Founders. Women, Men, and Gods
in the Discourse of Imperial Founding, Rome through Early Byzantium (Oakland:
University of California Press, 2015), 250–259.
60 Zum Problem der Reaktionen von Frauen auf Bilder und der komplexen Interaktion
der Byzantinerinnen mit der Gestalt der Jungfrau vgl. Judith Herrin, Unrivalled
150
Maria Lidova
Gleichwohl fungierte Maria aufgrund ihrer irdischen Herkunft im Himmelreich stets als Mittlerin und wurde in den Anliegen der Menschen zu einer
unverzichtbaren Fürsprecherin bei Gott. Darstellungen der Muttergottes zwischen den Engeln zeugten also von ihrem Verbleib im Paradies und gleichzeitig von ihrer Rolle als Himmelskönigin und göttlicher Autorität, die über
den himmlischen Heeren stand. Und schließlich gewannen die körperlosen
Wächter auch für das im Zusammenhang mit der Jungfrau zentrale Thema
der Menschwerdung besondere Bedeutung.61 Die Gegenwart von Engeln wurde grundlegend für die Vermittlung der Lehre von den zwei Naturen Christi,
dessen Menschheit durch eine irdische Frau gewährleistet wurde, während
die Nähe der überirdischen Himmelswesen seine Gottheit bezeugte.
Ein weiterer Aspekt der fraglichen Ikonographie betrifft die Notwendigkeit, Marias Verherrlichung für den Betrachter anschaulich werden zu lassen
und die feierliche Verehrung, die der himmlische Hofstaat ihr zuteilwerden
ließ, explizit darzustellen. Zahlreiche Quellen bestätigen diese Vorstellung
und sprechen regelmäßig davon, dass die Engel zu Ehren der Gottesmutter
singen und feierliche Rituale vollführen.62 Schon im 4. Jh. beschreibt Epiphanios von Salamis in einer Homilie über die Jungfrau eine spirituelle Himmelsvision, in der die Theotókos zum Objekt der Proskynesis oder Verehrung
seitens der Engel wird.63 Noch wichtiger aber ist in unserem Kontext, dass
dieselbe Vorstellung auch durch die Inschriften bestätigt wird, die mehrere
Darstellungen der „Maria zwischen den Engeln“ begleiten und wesentlich ergänzen.
Eine dieser Inschriften ist das bereits erwähnte ikonographische Programm
der Koimesis-Kirche von Nicäa, das durch eine Reihe mit Mosaiksteinchen
(tesserae) gelegter Textzeilen vervollständigt war. Die Zeile über dem Bild
der Gottesmutter war unterhalb der drei von der Hand Gottes ausgehenden
göttlichen Lichtstrahlen im Himmelssegment ganz oben in der Konche platziert, was darauf hinweist, dass der betreffende Satz für das Verständnis des
Influence: Women and Empire in Byzantium (Princeton: Princeton University Press,
2013), insbes. 28f.38‒79.131‒193.
61 Peers weist zu Recht darauf hin, dass die geheimnisvolle Natur der Engel in Byzanz
eine Art Gegenstück zu der hochkomplizierten Vorstellung von der Menschwerdung
Gottes bildete, Peers, Subtle Bodies, 17.106.
62 Zum Beispiel der Hymnus „Χαῖρε Θεοτόκε ἀγαλλίαμα τῶν ἀγγέλων“, der auf dem
griechischen Papyrus 1029 im Britischen Museum erhalten ist und ins 6. Jh. datiert
wird; vgl. Anton Baumstark, „Ein frühchristliches Theotokion in mehrsprachiger
Überlieferung und verwandte Texte des ambrosianischen Ritus“, OrChr 7/8 (1918):
37‒61.
63 „Λέγω γὰρ ταύτην οὐρανὸν καὶ θρόνον ὁμοῦ τε καὶ σταυρόν· τὰς γὰρ ἁγίας ἀγκάλας
ἐκτείνασα, τὸν Δεσπότην ἐβάστασεν ὁ θρόνος χερουβικὸς, σταυροειδὴς, οὐράνιος,
περὶ ἧς διὰ τῶν Γραφῶν ἐν οὐρανοῖς παρακύπτω, καὶ βλέπω ταύτην ὑπὸ ἀγγέλων
προσκυνουμένην“ (PG 43,497). Ich danke Arkadii Avdokhin, der mich auf diesen
Text aufmerksam gemacht hat.
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
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Programms von wesentlicher Bedeutung gewesen sein muss. Er lautete: +ΕΓ
ΓΑΣΤΡΟΣ ΠΡΟ ΕΩΣΦΟΡΟΥ ΕΓΕΝΗΚΑ ΣΕ – „Ich habe dich gezeugt noch
vor dem Morgenstern“ (Ps 109,3LXX). Dieser verbale Ausdruck der Menschwerdung spielt auf Gottvater an, durch dessen Willen der Erlöser in die Welt
gekommen ist. Mithin diente dieses Zitat als Kommentar zu der bildlichen
Menschwerdungsdarstellung in der Apsis, wo Gottvater in Form einer Hand
und Christus – eher unkonventionell – innerhalb der Gestalt der Maria visualisiert war. Was uns aber hier besonders interessiert, ist die Zeile, die gleich
zweimal unmittelbar unter den Engelgestalten im Bema zu lesen war: +ΚΑΙ
ΠΡΟΣΚΥΝΗΣΑΤΩΣΑΝ ΑΥΤΩ(Ι) ΠΑΝΤΕΣ ΑΝΓΕΛΟΙ – „Vor ihm sollen
sich alle Engel niederwerfen“, die üblicherweise mit Ps 96,7LXX assoziiert
wird, sich aber wahrscheinlich vor allem auf Hebr 1,6 bezog, der auch der
Inschrift in der Konche und der Apsisdekoration insgesamt zugrunde liegt.64
Ungeachtet ihrer räumlichen Trennung formten diese Inschriften das
gesamte Programm des Altarraums zu einer Einheit und verbanden sich zu
einem ununterbrochenen Text: „Ich habe dich gezeugt noch vor dem Morgenstern, vor ihm sollen sich alle Engel niederwerfen“ – wobei sich der erste
Teil auf die Menschwerdung bezieht, während der zweite als Reaktion darauf
die Engel auffordert, dieses erhabene Wunder freudig zu bestaunen. Da der
Platz in der Konche letztendlich größtenteils von der Gestalt der stehenden
Jungfrau ausgefüllt war, galt die Verehrung der himmlischen Mächte, auf die
sich die Inschriften beziehen, allem Anschein nach in erster Linie dem Bild
der Theotókos.
Nicäa ist nicht das einzige Beispiel für diese Art der Ausgestaltung. Aus
einem völlig anderen kulturellen Umfeld und doch ebenfalls aus dem Kontext der Komposition „Maria zwischen den Engeln“ stammt die lateinische
Inschrift, die den Rahmen der wunderbaren Ikone in der römischen Kirche
S. Maria in Trastevere (6. bis frühes 8. Jh.) schmückt. Heute ist nur noch ein
Teil des Textes erhalten; er beginnt mit einem Kreuz in der oberen linken
Ecke und läuft von dort aus in zwei Richtungen. Die eine Zeile lautet: DS
QYOD IPSE FACTYS EST und wurde in Bertellis Rekonstruktion mit dem
Wort YTERO vervollständigt:65 die andere Zeile lautet: ASTANT STYPEN64 Zu dieser Identifikation des Nicäa-Textes, siehe: Cyril Mango, „The Chalkoprateia
Annunciation and the Pre-Eternal Logos“, DCAH 17 (1993–1994), 165–170. Kritisch
dazu allerdings Barber, „Theotokos and Logos“, bes. 51, der die Inschrift als Teil
von Oden 2,43/Dtn 32,43 sieht. Dieselbe Zeile wird auch im Traktat „Über die göttliche Liturgie“ des Hl. Germanos zitiert: Germanos von Konstantinopel, On the
Divine Liturgy (hg. v. Paul Meyendorff; Crestwood: St. Vladimir’s Seminary Press,
1999), 74f. Diese Tatsache stützt den Ansatz einiger Forscher, die das gesamte Programm und insbesondere die Engelfiguren liturgisch deuten und auf den Parallelismus von irdischer und himmlischer Kirche bezogen wissen wollen, wie er für die
byzantinischen liturgischen Schriften des 8. und 9. Jh. typisch war, vgl. Auzépy,
„Liturgie et art sous les Isauriens“.
65 Bertelli, La Madonna di Santa Maria, 34–42.
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Maria Lidova
TES ANGELORYM PRINCIPES – GESTARE NATYM. Beide Zeilen sind
unvollständig, doch die erhaltenen Fragmente erlauben uns eine annähernde
Rekonstruktion und Übersetzung des Texts: „Die Erzengel stehen ehrfürchtig
vor der einen, die … geboren hat … Gott hat sich selbst [aus deinem Schoß?]
erschaffen“.
Diese Rahmeninschrift ist weniger formelhaft und allgemein, sondern
offenbar als Kommentar unmittelbar auf die in der Ikone dargestellte Szene bezogen. Sie spricht von den Engeln im Plural: Reglos stehen sie da und
verharren in schweigender Anbetung vor der Mutter Gottes, die der Welt den
menschgewordenen Christus geschenkt hat – der Bezug zum künstlerischen
Programm des Bildfelds und der oben bereits thematisierten besonderen Engeldarstellung ist hier unverkennbar. Der zweite Teil der Inschrift betont die
Unabhängigkeit des wunderbaren göttlichen Wirkens und enthält Anklänge
an liturgische christliche Gebete vor allem aus der weihnachtlichen Zeit, die
damals weit verbreitet waren; darin wurden zum einen die Theotókos, die den
Erlöser zur Welt gebracht hat, zum anderen Christus selbst, der die Jungfrau
Maria für seine Menschwerdung erwählt hat, und schließlich auch der Jubel
und Lobpreis der Engel herausgehoben.66
Darstellungen, die die Verehrung der Gottesmutter durch Engel zum Gegenstand haben, beschreiben – das dürfen wir nicht vergessen – nicht einfach eine abstrakte Zeremonie der jenseitigen Welt, sondern fungieren als
Hinweis darauf, welche Haltung der Jungfrau Maria gegenüber angemessen
ist. Die Verehrung durch die himmlischen Wesen war als Zeugnis für die
Heiligkeit der Jungfrau von grundlegender Bedeutung und diente als Muster
für ein andächtiges und ehrfürchtiges Verhalten. Durch die ihr zur Seite gestellten himmlischen Wächter wurde das in vielen byzantinischen Kirchen
auf der Hauptachse platzierte Bild der Gottesmutter anschaulich verherrlicht,
mit herrschaftlichem Glanz versehen und vor den Augen der Gemeinde in
liturgischer Weise gefeiert.
66 Vere dignum et justum est, aequum et salutare, nos tibi gratias agere, Domine sancte, Pater omnipotens, aeterne Deus, quia hodie Dominus noster Jesus Christus dignatus est visitare mundum. Processit de sacrario corporis virginalis, et descendit pietate de coelis. Cecinerunt Angeli, Gloria in excelsis, cùm humanitas claruit
Salvatoris. Omnis denique turba exultabat Angelorum: quia terra Regem suscepit
aeternum. Maria beata facta est templum pretiosum, portans Dominum dominorum.
Genuit enim pro nostris delictis vitam praeclaram, ut mors pelleretur amara. Illa
enim viscera, quae humana non noverant macula, Deum portare meruerunt. Natus
est in mundo, qui semper vixit et vivit in coelo, Jesus Christus, Filius tuus, Dominus
noster. Per quem maiestatem tuam laudant Angeli (John M. Neale und George H.
Forbes, The Ancient Liturgies of the Gallican Church: Now First Collected, with an
Introductory Dissertation, Notes, and Various Readings, Together with Parallel Passages from the Roman, Ambrosian, and Mozarabic Rites [Burntisland: Pitsligo Press,
1855], 36).
Maria zwischen den Engeln in der frühbyzantinischen Kunst
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Diese Erfahrung inspirierte den Betrachter, der der unter dem Bild zelebrierten Liturgie beiwohnte, in seinen Gebeten zur Himmelskönigin aufzuschauen und sich mit den Chören der Engel zu vereinen, um der Theotókos
seine persönliche Verehrung zu bekunden. Die Parallele zwischen den Engelscharen und den irdischen Zelebranten ist ein Gemeinplatz der byzantinischen liturgischen und theologischen Tradition und wurde insbesondere
in Bezug auf die Jungfrau gelegentlich explizit formuliert.67 Sogar Quellen,
die zeitgenössische Geschehnisse beschreiben, tendieren zum Vergleich mit
der Versammlung der Engel. Dies belegen die berühmten Worte von Gregor
von Nazianz bei der Beschreibung des Eintritts von Kaiser Valentius in die
Kathedrale: „Als er hineinkam, war er wie vom Donner gerührt vom Psalmengesang, der an sein Ohr drang. Er sah das Meer aus Menschen und die
ganze wohlgeordnete Anordnung rund um den Altar und in dessen Nähe, die
mehr aus Engeln denn aus Menschen zu bestehen schien“ (Or. 43,52). Texte
wie diese zeigen an, dass ähnliche Ideen und Assoziationen bereits in früher
christlicher Zeit als topos Standard gewesen sein mussten.
Das Bild der „Maria zwischen den Engeln“ stellt zweifellos eines der
wichtigsten ikonographischen Schemata der byzantinischen Kunst dar. Seine
Ursprünge sind nach wie vor nicht restlos geklärt und bedürfen der weiteren
Forschung. Dennoch scheint die Annahme gerechtfertigt, dass es schon zu
einem recht frühen Zeitpunkt nicht nur genutzt wurde, um eine komplexe
theologische Botschaft zu übermitteln, sondern in erster Linie dazu diente,
die Marienverehrung bekanntzumachen und weiterzuentwickeln. Die Bildstruktur, die diese Darstellung prägt, ist facettenreich, weil sie sich parallel und in Abhängigkeit von der Christus-Ikonographie, älteren heidnischen
Darstellungsformen und literarischen Beschreibungen entwickelte, doch ihre
Beliebtheit und Langlebigkeit vermitteln einen Eindruck von der Wirkung
und allgegenwärtigen, zeitlosen Bedeutung dieser frühbyzantinischen visuellen Formel.
67 Rebecca Dubowchik, „Singing with the Angels: Foundation Documents as Evidence
for Musical Life in Monasteries of the Byzantine Empire“, DOP 56 (2002): 277‒296,
insbes. 281f.; Muehlberger, Angels in the Religious Imagination, 114‒128.