Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                
«Die Seuchenangst schafft Sündenböcke» - - tagesanzeiger.ch 08.11.12 09:48 «Die Seuchenangst schafft Sündenböcke» Von Hannes Nussbaumer. Aktualisiert am 01.05.2009 3 Kommentare Eine neue Seuche hält die Welt in Atem. Äussern sich kollektive Ängste heute anders als früher? Und: Wie wirken sich Seuchen politisch aus? Ein Gespräch mit der Historikerin Silvia Berger. «Wir stehen schon im Bann der Seuche, bevor sie bei uns angekommen ist»: Schutzmassnahmen am Bodensee, 2006. Bild: Keystone Frau Berger, macht Ihnen die Schweinegrippe Angst? Ich bin wie alle irritiert. Was ist von der Krankheit zu halten? Soll ich mir eine Schutzmaske besorgen? Oder soll ich darauf vertrauen, dass auch im Fall der Vogelgrippe Katastrophenszenarien kursierten, ohne dass sie sich bewahrheitet haben? Ich weiss es nicht. Gehören Seuchenängste zu den Urängsten der Menschheit? Gewiss gab es immer wieder Seuchenängste. Im 14. http://www.tagesanzeiger.ch/18445335/print.html Seite 1 von 5 «Die Seuchenangst schafft Sündenböcke» - - tagesanzeiger.ch Silvia Berger Interaktiv-Box Schweinegrippe Zur Person Silvia Berger Silvia Berger, 35, ist als Historikerin an der 08.11.12 09:48 Jahrhundert fürchtete man die Pest. Im 19. Jahrhundert ängstigten Cholera-Epidemien die Bevölkerung. Immer wieder gab es aber auch Fälle, wo Angst und Realität in einem Missverhältnis standen. Als 1892 die Cholera in Hamburg ausbrach, versetzte sie ganz Deutschland in Angst und Schrecken, obschon die Krankheit nie über Hamburg hinausreichte. Das ging so weit, dass selbst Ärzte ihr Brot mit Desinfektionsmittel übergossen und es anschliessend im Ofen wieder trockneten. Allerdings ist der Vergleich von Seuchenfällen in der Geschichte schwierig. Es fehlt an Informationen. Und die vorhandenen Informationen sind oft nicht einfach zu interpretieren. Universität und ETH in Zürich tätig. Ihre Warum nicht? Eine Geschichte der medizinischen Seuchen und Seuchenängste sind enorme Bakteriologie in Deutschland 1890–1933» Herausforderungen für die Behörden. Entsprechend gross wurde mit dem Henry-E.-Sigerist-Preis ist deren Interesse, dass ihre Arbeit positiv wahrgenommen ausgezeichnet. Sie erscheint in Kürze im wird. Das kann dazu führen, dass Misserfolge ausgeblendet Wallstein-Verlag. Berger ist zudem oder wider besseres Wissen zu Erfolgsgeschichten Mitherausgeberin von «Bakteriologie und umgedeutet werden. Bei der Spanischen Grippe etwa Moderne. Studien zur Biopolitik des verkündeten deutsche Gesundheitsbeamte noch im Winter Unsichtbaren». 1918, nachdem schon Tausende gestorben waren, das Land sei bisher glücklicherweise von einer grossen Seuche verschont geblieben. Offiziell fand die Grippe in Deutschland lange Zeit gar nicht statt. Dissertation «Bakterien in Krieg und Frieden. Heute informieren die Behörden früh und offensiv – ist das die Lehre aus der Geschichte? Das globale Newsnetz lässt heutigen Gesundheitsbehörden wohl keine andere Wahl. Früher konnten sie den Informationsfluss kontrollieren. Mit der Folge, dass vielen Menschen im Fall der Spanischen Grippe das Ausmass der Pandemie gar nicht bewusst war. Thomas Mann etwa hat in seinem Tagebuch von einzelnen Grippefällen in seinem Bekanntenkreis berichtet; vom verheerenden Ausmass der Krankheitsverbreitung ahnte er nichts. Inzwischen haben wir eher eine Über- als eine Unterversorgung mit Informationen. Ja, heute stehen wir schon im Bann der Seuche, bevor sie bei uns angekommen ist. Wir haben eine ganz andere Konstellation. Die Behörden müssen rasch und entschlossen handeln, sie müssen Antworten parat haben. Klar haben sie auch dazugelernt. Es gibt nationale Pandemiepläne; es gibt die WHO, und man arbeitet international eng zusammen. 1918 gab es praktisch keinen Austausch und schon gar keine weltweite Koordination. Jeder Staat machte, was er für richtig hielt. In der Schweiz wurden Versammlungsverbote erlassen. In Deutschland hielt man dagegen weder Schulnoch Theaterschliessungen für nötig. Man riet der Bevölkerung, die Hände zu waschen, mit Kochsalzlösung zu gurgeln und bei Fieber im Bett zu bleiben. http://www.tagesanzeiger.ch/18445335/print.html Seite 2 von 5 «Die Seuchenangst schafft Sündenböcke» - - tagesanzeiger.ch 08.11.12 09:48 Wie hat sich im Lauf der Zeit das Vertrauen in die Beherrschbarkeit von Seuchen verändert? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Aufstieg der Bakteriologie, wurde erstmals hochoffiziell verheissen: Wir stehen vor einer Zukunft ohne Seuchen. Der Glaube an die Möglichkeit, die Infektionskrankheiten zu beherrschen, war total. Grund der Zuversicht war, dass man endlich sicher zu wissen meinte, wie Seuchen entstehen. Früher vermutete man, dass schlechte sanitäre Bedingungen, Dünste aus dem Boden und andere Faktoren Seuchen auslösen könnten. Jetzt verkündete man: Es gibt eine einzige Ursache, nämlich die Bakterien. Wenn man sie vernichten kann, kriegt man Krankheiten in den Griff. Entsprechend gross war die Euphorie. Die führenden Wissenschaftler, etwa Robert Koch, wurden wie Helden verehrt. Eine trügerische Euphorie . . . . . . aber eine hartnäckige. Als in den 1940er-Jahren die Antibiotika aufkamen, wuchs die Zuversicht erneut. Sie erlebte ihren Höhepunkt 1980, als die WHO den Tod der Pocken verkündete. Da glaubte man: Voilà, jetzt sind wir am Ziel, jetzt haben wir die Welt von der Seuchenplage befreit. Viele Mediziner wurden in den 70er-Jahren auch entsprechend ausgebildet. An den Unis hiess es: Infektionskrankheiten werden in Zukunft nur noch eine Randerscheinung sein. Doch das Aufwachen kam rasch: Aids, Ebola und in jüngster Zeit Sars, die Vogel- und jetzt die Schweinegrippe begruben den Traum von der seuchenfreien Welt. Wecken Seuchen besondere Ängste, weil sie eine unsichtbare Bedrohung darstellen? Die Unsichtbarkeit flösst Furcht ein, das ist bestimmt so. Darum weckten auch die Gasangriffe im Ersten Weltkrieg besondere Ängste – oder in neuerer Zeit die Bedrohung durch nuklearen Niederschlag oder den Bioterrorismus. Der Erfolg der Bakteriologie im späten 19. Jahrhundert ist zu einem grossen Teil darauf zurückzuführen, dass sie das Bedürfnis nach Sichtbarkeit befriedigen konnte. Sie war in der Lage, die vermeintlichen Erreger zu zeigen – es gab Ausstellungen mit Mikroskopen, durch welche die Besucher schauen konnten; es gab Modelle von Bakterien, Abbildungen in Zeitschriften. Das kam zwar alles sehr gut an; die Hoffnung, dass dadurch die Angst vor Seuchen verschwindet, erfüllte sich aber nicht. Ein paar Modelle machen aus einer unsichtbaren noch keine handfeste, greifbare Bedrohung. Wenn es um Seuchen geht, bekommt die Sprache einen militärisch-martialischen Charakter. Dann ist von Kampf und Vernichtung die Rede. Dann wird es richtig brutal – warum eigentlich? Diese martialische Sprache gibt es in der Bakteriologie seit Ende des 19. Jahrhunderts. Das Bakterium gilt als Feind, der vernichtet werden muss. Medizinische und politische Rhetorik haben sich oft wechselseitig befruchtet. Bei der Beschreibung von Krankheiten im Ersten Weltkrieg etwa folgten die deutschen Mediziner der damaligen propagandistischen Rhetorik. Dazu gehörte die Behauptung, Deutschland sei überfallen worden und müsse nun einen Verteidigungskrieg führen. Analog wurden Krankheiten erklärt: Bazillenheere aus dem Feindesland waren in die Heimat http://www.tagesanzeiger.ch/18445335/print.html Seite 3 von 5 «Die Seuchenangst schafft Sündenböcke» - - tagesanzeiger.ch 08.11.12 09:48 eingefallen. So wurde gewissermassen der doppelte Verteidigungskrieg ausgerufen – jener der Nation und jener der individuellen Körper. Die Bakteriologen inszenierten sich selbst als potente Kämpfer gegen die Invasoren. Damit unterstrichen sie einerseits ihre eigene Kompetenz. Zweitens erhöhte die Verknüpfung von politischem und medizinischem Kampf das Prestige ihrer Disziplin. Die Kriegsrhetorik als roter Faden durch die Seuchengeschichte? Nein, es gibt Konjunkturen. Bereits in den 20er-Jahren, nach der Spanischen Grippe, welche die Bakteriologie zutiefst verunsichert hatte, gab es Bemühungen, diese militärische Sprache zu überwinden. Man wollte neue Begriffe für das Verhältnis von Mensch und Mikrobe finden. In jüngster Zeit gibt es ähnliche Versuche. So organisierten Mikrobiologen und Gesundheitsbehörden in Washington 2005 eine Tagung mit dem Titel «Ending the War Metaphor». Im alltäglichen Sprachgebrauch dominieren allerdings bis heute die Kriegsmetaphern. Da ist von «Killervirus», «Todesgrippe» und «Mikroterroristen» die Rede. Dazu passt, dass es in Computeranimationen, welche die Ansteckung eines Körpers mit einem Erreger veranschaulichen, wie in einem Kriegsspiel zu und her geht. Eine Art Star Wars im Körper Die asiatische Grippe, die Hongkong-Grippe, Sars und die Vogelgrippe hatten ihre Ursprünge alle im Osten, also in Gebieten, die der Westen lange Zeit als zivilisatorisch unterlegen wahrnahm. Jetzt kommt ein gefährliches Grippevirus aus dem Westen. Eine Zäsur? Das kann man so nicht sagen. Es hat schon früher Seuchen gegeben, die nicht aus dem Osten kamen. Hingegen ist es tatsächlich so, dass die Seuchengeschichte stark von der Wahrnehmung geprägt ist: «Der «böse» Erreger kommt aus der unzivilisierten Welt, und das ist der Osten.» Der Osten symbolisierte Rückständigkeit und hygienische Unkultur, den Seuchenherd schlechthin. Verkörpert wurde diese Wahrnehmung durch die Ostjuden, die als Inbegriff von Krankheit und Verlausung galten. Es gab im Ersten Weltkrieg deutsche Feldpostkarten, auf denen Ostjuden mit Insektenflügeln auf Läusen ritten. Sind Seuchen günstige Gelegenheiten, um Sündenböcke zu kreieren? Das sind sie tatsächlich. In Bedrohungssituationen gibt es für die Ausgrenzung und Stigmatisierung der angeblichen oder tatsächlichen Urheber einen breiten Konsens. Davon waren früher die Ostjuden betroffen. In der Aidsära gerieten die Homosexuellen unter Druck. Heute ist man rasch bereit, Migranten als «unrein» wahrzunehmen. Die Seuchenangst schafft Sündenböcke. Je grösser die Angst, umso grösser die Bereitschaft, angeblich unreine Personen zu diskriminieren. Auch dies eine Vermischung von Medizinischem und Politischem . . . Es ist generell so, dass sich kollektive Ängste gut instrumentalisieren lassen. Das zeigte sich eindrücklich nach dem 11. September 2001. Wäre die Angst vor einem weiteren Anschlag nicht gewesen, hätte es mehr Opposition gegeben gegen die Überwachungsmassnahmen oder die Sicherheitsvorkehrungen an den Flughäfen. Analog akzeptiert man bei Pandemien Einschränkungen der Freiheit und Eingriffe in die körperliche Integrität. Man ist in solchen Fällen eher bereit, sich disziplinieren zu lassen. So gesehen haben Krisenzeiten für Behörden und Politiker immer auch ihr http://www.tagesanzeiger.ch/18445335/print.html Seite 4 von 5 «Die Seuchenangst schafft Sündenböcke» - - tagesanzeiger.ch 08.11.12 09:48 Gutes: Sie ermöglichen den politischen Akteuren, sich als unentbehrlich zu inszenieren. Das schafft Legitimität. Mit Silvia Berger sprach Hannes Nussbaumer (Tages-Anzeiger) Erstellt: 01.05.2009, 23:34 Uhr Alle Kommentare anzeigen http://www.tagesanzeiger.ch/18445335/print.html Seite 5 von 5