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(2021) Juristische Hermeneutik

2021, Handbuch Rechtsphilosophie

GRAZ JURISPRUDENCE KARL-FRANZENS-UNIVERSITÄT GRAZ UNIVERSITY OF GRAZ Juristische Hermeneutik Matthias Klatt Das neuzeitliche Kunstwort Hermeneutik (griech. ἑρμηνεύειν (hermeneuein): aussagen, deuten, erklären, übersetzen) bezeichnet seit dem 17. Jahrhundert die Theorie der Interpretation. Gegenstand der Juristischen Hermeneutik ist das Problem der auch als Auslegung bezeichneten Interpretation von Rechtsnormen und Rechtshandlungen. Der Begriff Juristische Hermeneutik wird in einem engen und in einem weiten Sinn verwendet. Im engen Sinn bezeichnet er eine vor allem in den 1970er Jahren wirkungsmächtige Richtung innerhalb der deutschen juristischen Methodenlehre, die sich auf die Hermeneutik Gadamers stützt. In einem weiten Sinn steht der Begriff als veraltete Sammelbezeichnung für die Regeln und Elemente der juristischen Interpretation insgesamt sowie für den Teil der Rechtswissenschaft, der sich der juristischen Interpretation widmet (juristische Methodenlehre), jedoch besser als Theorie der juristischen Argumentation zu bezeichnen ist. Das zeitlos virulente Hauptthema der juristischen Methodenlehre, die juristische Interpretation, erfuhr in der deutschen Rechtsphilosophie vor allem in den 1970er und 1980er Jahren erhebliche Aufmerksamkeit. Die Juristische Hermeneutik im engen Sinn markiert den Anfang dieser Phase, ist dann jedoch von einer umfassenderen Theorie der juristischen Argumentation abgelöst worden. Gleichwohl beschreiben grundlegende Thesen der Juristischen Hermeneutik auch heute noch gültige Einsichten in die Interpretation von Rechtsnormen. Die rechtliche Virulenz des Problems der juristischen Interpretation ergibt sich vornehmlich aus Verfassungsprinzipien, insbesondere aus dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip. Betroffen ist namentlich das Gebot der Gewaltenteilung, vor allem das Verhältnis von Legislative und Judikative (Klatt 2004, S. 22– 23). Zu diesem rechtlichen Rahmen muss sich jede Theorie der juristischen Interpretation verhalten. Ursprünge Die Ursprünge der Juristischen Hermeneutik liegen außerhalb der Jurisprudenz, nämlich in der philosophischen Hermeneutik. Als philosophische Theorie tritt die Hermeneutik in zwei unterschiedlichen Strömungen auf, die als Methodologie und als Strukturtheorie des Verstehens bezeichnet werden können (Klatt 2004, S. 50). Als Methodologie wurde die Hermeneutik als 3 allgemeine Lehre der Elemente und Regeln des Verstehens in den Geisteswissenschaften im 19. Jh. vor allem von Schleiermacher und Dilthey entwickelt. Noch in den 1950er Jahren manifestiert sich diese Tradition in den Arbeiten Emilio Bettis (Betti 1967) und Helmut Coings (Coing 1959). Interpretation ist demnach die Umkehrung des schöpferischen Prozesses unter Beachtung der hermeneutischen Regeln (Betti 1967, S. 179–187). Demgegenüber richtet die Hermeneutik als Strukturtheorie ihr Augenmerk auf die existentiellen Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. In der Auseinandersetzung mit der methodologischen Hermeneutik begründet Gadamer in Wahrheit und Methode die ontologische Hermeneutik. Seine existentialphilosophisch und epistemologisch begründete Kernthese lautet, dass die Möglichkeit des Verstehens voraussetzt, dass der Verstehende bereits mit einem Vorverständnis an den Text herantritt (Gadamer 1990, S. 281–295). Dieses Vorverständnis umfasst inhaltliche und sprachliche Vormeinungen sowie eine vorläufige Konzeption der Sinngesamtheit des Textes. Verstehen wird nicht als rein reproduzierender, sondern als produktiver Prozess verstanden. Der Interpret wendet den interpretierten Text auf die Gegenwart an, er „appliziert“ ihn auf seine derzeitige Bewusstseinslage. Diese muss daher explizit in den Interpretationsprozess einbezogen werden. Ebenso ist das Vorverständnis vom Interpreten stetig zu reflektieren und zu revidieren. Rezeption der Philosophischen Hermeneutik Gadamers Thesen wurden in der deutschen Rechtsphilosophie enthusiastisch aufgegriffen. Die Rezeption erfolgte vor allem durch Josef Esser, Arthur Kaufmann, Karl Larenz, Joachim Hruschka und Winfried Hassemer. Dass Gadamers Lehren in der Rechtswissenschaft auf derart fruchtbaren Boden fielen, ist der damaligen Situation der deutschen Methodenlehre geschuldet (Rottleuthner 1976, S. 11–12). Die wesentlichen Koordinaten juristischer Methodik waren zweifelhaft geworden. Kritisiert wurde eine Überschätzung der Bedeutung des Normtextes für die richterliche Entscheidungstätigkeit. Die Leistungsfähigkeit der canones der traditionellen juristischen Hermeneutik wurde ebenso bezweifelt wie das Subsumtionsmodell. Die canones seien mangels einer klaren Rangfolge beliebig verwendbar. Nach einem berühmten Wort von Esser bedeuteten sie „dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle“ (Esser 1972, S. 7). Somit stand die Rationalität juristischer Entscheidungen insgesamt auf dem Spiel. In dieser Situation waren die Erkenntnisse der ontologischen Hermeneutik Gadamers eine willkommene Erklärung für die Schwierigkeiten der juristischen Interpretation. Im Mittelpunkt des Interesses der juristischen Hermeneutiker stehen die Probleme des Verhältnisses von Norm und Sachverhalt 4 und der Offenheit von Sprache. Mit Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung formulierte Josef Esser eine fundamentale Kritik an der traditionellen Methodenlehre. Er übertrug die Grundbegriffe Gadamers auf das Verstehen von Rechtsnormen. Ontologische Voraussetzung der juristischen Interpretation sei ein juristisches Vorverständnis, das durch soziale Erfahrung und Lernprozesse während der Ausbildung geprägt wird (Esser 1972, S. 10). Mit Hilfe seines Vorverständnisses filtere der Richter die relevanten Umstände eines Falles und die geeigneten Normen unbewusst heraus. Gesteuert werde die Rechtswendung dabei auch von einer Richtigkeitserwartung, mit der der juristische Interpret auf ein gerechtes Ergebnis vorausgreife. Somit erwiesen sich gerade die entscheidenden Faktoren der juristischen Entscheidungstätigkeit als vom Vorverständnis und von Werturteilen des Rechtsanwenders determiniert. Esser hielt eine Einhegung des Vorverständnisses durch rationale Bindungen für möglich. Insbesondere sei eine „Richtigkeitskontrolle“ des Interpretationsergebnisses erforderlich, welche dogmatische Autorität zugunsten „rechtspolitischen Argumentierens über die Sachgerechtigkeit“ suspendiere (Esser 1972, S. 19). Weitere eigenständige Ausprägungen der juristischen Hermeneutik finden sich unter anderem in den Untersuchungen Kaufmanns zur Analogie (Kaufmann 1982) und in der von Larenz entwickelten Typuslehre (Larenz 1991, S. 218–221). Insgesamt ist den Hermeneutikern nach Gadamer die Betonung der volitiven Elemente jeder Rechtsanwendung gemeinsam. Im Detail sind die Konsequenzen der ontologischen Hermeneutik für die juristische Interpretation aber auch unter den Hermeneutikern selbst umstritten geblieben (Klatt 2004, S. 61–62). Begriff der juristischen Interpretation Im Zentrum der Juristischen Hermeneutik steht das Problem der Interpretation von Rechtsnormen. Jede hermeneutische Theorie setzt daher einen klaren Begriff der Interpretation voraus. Für die Zwecke der juristischen Hermeneutik ist der Begriff der Interpretation im engeren Sinne entscheidend (zu den Abstufungen des allgemeinen Interpretationsbegriffes (Wróblewski 1983, S. 72–73). Dieser bezeichnet das Verstehen sprachlicher Äußerungen, deren Sinn zweifelhaft ist. Die Interpretation im engeren Sinne beginnt mit einer Frage und endet mit der Wahl zwischen mehreren möglichen Deutungen. Die juristische Interpretation ist demnach das Verstehen des Sinnes von Rechtsnormen und Rechtshandlungen, deren Sinn zweifelhaft ist. Ihre Gegenstände sind Rechtsnormen, Präjudizien, Verträge, Willenserklärungen, etc. Von der Interpretation anderer geistes- oder kulturwissenschaftlich relevanter Gegenstände unterscheidet sich die juristische Interpretation durch ihren normativen 5 und institutionellen Charakter (Alexy 1995, S. 73–74). Ihr normativer Charakter folgt daraus, dass sie auf die Ermittlung dessen, was rechtlich gesollt ist, gerichtet ist. Bei der juristischen Interpretation geht um die Bestimmung dessen, was geboten, verboten oder erlaubt ist. Der institutionelle Charakter der juristischen Interpretation ergibt sich einerseits daraus, dass ihre Gegenstände institutionelle Akte eines Rechtssystems sind, deren rechtliche Geltung von institutionell geschaffenen Kompetenzen abhängt. Er folgt andererseits aus dem Umstand, dass auch die Interpreten in die institutionellen Bedingungen eines konkreten Rechtssystems eingebunden und zur Interpretation ermächtigt sind. Anhand des Subjektes der Interpretation können vier verschiedene Arten der juristischen Interpretation unterschieden werden (Alexy 1995, S. 74). Die authentische Interpretation erfolgt durch den Normgeber selbst. Dies ist die sogenannte Legaldefinition; sie ist allgemeinverbindlich. Die judizielle Interpretation erfolgt durch die Gerichte. Sie ist in der Regel nur für die Parteien des konkreten Rechtsstreites verbindlich, soweit nicht eine Präjudizienbindung besteht. Die Interpretation durch die Rechtswissenschaft wird als Doktrinalinterpretation bezeichnet. Sie ist unverbindlich, kann aber als verfestigte Dogmatik und herrschende Meinung einen erheblichen faktischen Einfluss auf die Entscheidungspraxis der Gerichte gewinnen. Die Laieninterpretation erfolgt durch die Bürgerinnen und Bürger. Sie ist unverbindlich, soweit sie nicht als Usualinterpretation zu Gewohnheitsrecht erstarkt. Ziel der juristischen Interpretation Das Ziel der juristischen Interpretation ist von höchster Bedeutung, weil es die Kriterien für die Richtigkeit oder Vertretbarkeit einer Interpretation determiniert. Das Interpretationsziel kann anhand von zwei Dichotomien bestimmt werden, einer sachlichen und einer zeitlichen. Die sachliche Dichotomie ist durch den Gegensatz zwischen subjektiver und objektiver Auslegungszieltheorie bestimmt (Mennicken 1970). Nach der subjektiven Theorie ist die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers das Ziel der juristischen Interpretation. Die objektive Theorie sieht dagegen die Bestimmung des vernünftigen oder gerechten Sinnes des Gesetzes als Ziel der Auslegung an. Überlagert wird dieser sachliche Gegensatz durch die zeitliche Dichotomie von Entstehungszeit und Auslegungszeit. Insgesamt steht damit eine Matrix aus vier möglichen Auslegungszielen zur Diskussion: Die subjektiv-entstehungszeitliche Theorie fragt nach dem faktischen Willen des historischen Gesetzgebers; für die subjektivauslegungszeitliche Theorie zählt der hypothetische Wille des gegenwärtigen Gesetzgebers; die objektiv-entstehungszeitliche Theorie sieht den vernünftigen Sinn des Gesetzes zur 6 Entstehungszeit als maßgeblich an; für die objektiv-auslegungszeitliche Theorie ist der vernünftige Sinn des Gesetzes zum Zeitpunkt der Auslegung entscheidend. Praktisch relevant sind vor allem die subjektiv-entstehungszeitliche und die objektiv-auslegungszeitliche Theorie. Mittlerweile konnte gezeigt werden, dass der Streit nicht im Sinne eines strikten Vorrangs der einen oder der anderen Theorie aufzulösen ist (Alexy 1995, S. 83). Vielmehr sprechen gute Argumente sowohl für als auch gegen die jeweiligen Positionen. Die subjektive Theorie kann sich vor allem auf die Autorität des Gesetzgebers stützen, die ihrerseits durch die Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung legitimiert wird. Für die objektive Theorie dagegen spricht der Gerechtigkeitsbezug des Rechts, der die inhaltliche Richtigkeit der Interpretation verlangt. Im Ergebnis ist daher immer nur ein bedingter Vorrang des einen oder des anderen Auslegungsziels möglich, der anhand einer Abwägung zwischen formellen und materiellen Prinzipien im Einzelfall festzusetzen ist. Dabei sind Kriterien wie das Alter und die Regelungsdichte des Gesetzes, die Eindeutigkeit des Willens des historischen Gesetzgebers, der Umfang des gesellschaftlichen Wandels und das Gewicht der Gerechtigkeitsargumente heranzuziehen. Mittel der juristischen Interpretation Es mangelt nicht an Versuchen, das äußerst reichhaltige Spektrum an canones (Mitteln, Kriterien, Elementen, Methoden, Argumentarten) der juristischen Interpretation zu kategorisieren. Einigkeit über die Klassifikation konnte bisher nicht erzielt werden. Weitgehend gebräuchlich, wenngleich nicht vollständig trennscharf ist eine Unterscheidung zwischen vier Arten von Auslegungsargumenten. 1. Die semantische Interpretation bestimmt die umgangssprachliche oder die fachsprachliche Bedeutung der in einer Norm enthaltenen Ausdrücke. Die Bedeutung richtet sich aufgrund der normativ-konventionellen Struktur von Sprache nach den Wortgebrauchsregeln, die in der jeweiligen Sprachgemeinschaft gelten. Zu unterscheiden ist zwischen einer Feststellung und einer Festsetzung der Bedeutung (Klatt 2004, S. 64–65). Semantische Interpretation liegt nur dann vor, wenn ein tatsächlich vorhandener Sprachgebrauch festgestellt wird. Soweit Bedeutung vom Interpreten festgesetzt wird, kann dies nicht aufgrund einer semantischen Interpretation erfolgen, sondern nur aufgrund der anderen drei Argumentarten. Häufiger als vielfach angenommen führt die semantische Interpretation zu einem eindeutigen Ergebnis: Der Sachverhalt ist unter den Rechtsbegriff zu subsumieren (positiver Kandidat), oder er ist nicht zu subsumieren (negativer Kandidat). Die semantische Interpretation sieht sich vor die 7 Probleme der Mehrdeutigkeit, Vagheit und evaluativen Offenheit der Sprache gestellt. Aufgrund dieser Probleme ergibt die semantische Interpretation oft lediglich die Möglichkeit der Subsumtion (neutraler Kandidat). In diesen Fällen setzt die Entscheidung zwingend die Anwendung der anderen Argumentarten voraus. Das semantische Argument führt dann lediglich zu dem Ergebnis, dass eine Festsetzung der Bedeutung mit Hilfe der anderen Argumentarten erforderlich ist. 2. Die genetische Interpretation bezieht sich auf die Entstehungsgeschichte der Norm. Es sind zwei Arten der genetischen Interpretation zu unterscheiden. Bei der subjektiv-semantischen Interpretation wird mit dem Wortgebrauch des historischen Gesetzgebers argumentiert. Die subjektiv-teleologische Interpretation zieht die vom historischen Gesetzgeber verfolgten Zwecke heran. Die dafür erforderliche Bestimmung des Willens des historischen Gesetzgebers kann anhand der Problem- oder Dogmengeschichte der Norm sowie anhand der Materialien der Gesetzgebung (Motive, Protokolle, Begründungen) erfolgen. Die genetische Interpretation entspricht in besonderer Weise der subjektiven Auslegungszieltheorie. 3. Die systematische Interpretation argumentiert mit der Konsistenz und Kohärenz, also mit der Widerspruchsfreiheit und inhaltlich-systematischen Einheit der Rechtsordnung. Dabei wird in holistischer Perspektive die „verfassungsmäßige Rechtsordnung als ein[…] Sinnganze[s]“ (BVerfGE 34, 269 (287)) vorausgesetzt. Unter diesem Topos versammeln sich diverse Interpretationsarten. Sie reichen von kontextuellen Argumenten, die eine Interpretation aus der Stellung der Norm im Gesetz und ihrem Verhältnis zu anderen Normen herleiten, über den Aspekt der Vermeidung von Normwidersprüchen (Posterioritäts-, Superioritäts- und Spezialitätsregel) bis zu präjudiziellen, auf frühere Entscheidungen Bezug nehmenden Argumenten. Auch die Rechtsvergleichung, mit der auf andere Rechtssysteme Bezug genommen wird, gehört zur systematischen Interpretation. Die daraus gewonnenen komparativen Argumente können entweder eine Universalitätsbehauptung oder eine Divergenzthese stützen und damit für eine Übertragung oder für eine Abgrenzung zwischen Rechtssystemen sprechen. 4. Die teleologische Interpretation ermittelt den Zweck der auszulegenden Norm (ratio legis). Je nach Auslegungszieltheorie kann dieses Kriterium auf den vom historischen Gesetzgeber mit der Norm verfolgten Zweck (subjektiv-teleologische Interpretation) oder aber auf einen von einem objektiven Standpunkt als vernünftig oder gerecht bestimmten Zweck (objektivteleologische Interpretation) bezogen werden. Zur teleologischen Interpretation in beiden Varianten zählen auch Folgenargumente, die auf die Auswirkungen der 8 Interpretationsalternativen abstellen. Da die Beurteilung von Folgen und Zwecken Bewertungen einschließt, beruht teleologische Interpretation auf rechtsethischen Argumenten. Mit dieser Wirkung einer Brücke zur allgemein praktischen Argumentation öffnet die objektivteleologische Interpretation die juristische Interpretation für ethische und moralische Erwägungen. Die juristische Interpretation erweist sich damit als Sonderfall allgemeinpraktischer Argumentation (Alexy 1978, S. 263–272). Auch aus methodologischen Gründen ist daher die Ansicht der Systemtheorie, das Recht sei ein geschlossenes System, widerlegt. Einzelfragen 1. Der sogenannte hermeneutische Zirkel beruht auf Gadamers Erkenntnis der ontologischen Bedingungen des Verstehens. Der Interpret tritt zwangläufig mit einem Erwartungshorizont an den Text heran, mit inhaltlichen und sprachlichen Vormeinungen. Das Bild des Zirkels drückt aus, dass zwischen dem zu interpretierenden Text und dem Vorverständnis des Interpreten eine Wechselwirkung stattfindet (Klatt 2004, S. 51–52). Diese Wechselwirkung wird seit Gadamer nicht mehr als methodologisches Problem, sondern als Voraussetzung des Verstehens von Normtexten gesehen. Es gibt insgesamt drei verschiedene Arten des hermeneutischen Zirkels (Alexy 1995, S. 75–77). Sie betreffen das Verhältnis zwischen Vorverständnis und Text, zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen und zwischen Norm und Sachverhalt. Alle drei Zirkelarten sind für die juristische Interpretation relevant. Aus ihnen ergeben sich die Anforderungen, bei der Norminterpretation das eigene Vorverständnis zu reflektieren sowie alle Elemente der Norm und des Sachverhaltes kohärent und vollständig zu berücksichtigen. 2. Das Problem der Wortlautgrenze betrifft die Abgrenzung zwischen den Rechtsanwendungsmethoden der Interpretation und der Rechtsfortbildung. Es ist zwischen einer Rechtsfortbildung im engeren Sinne und einer Rechtsfortbildung im weiteren Sinne zu unterscheiden. Jede Interpretation ist immer zugleich eine Rechtsfortbildung im weiteren Sinne. Die Rechtfortbildung im engeren Sinne dagegen unterscheidet sich von der Interpretation dadurch, dass gegen den Wortlaut der Norm entschieden wird. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze kann auf zwei Weisen erfolgen. Sie liegt einerseits dann vor, wenn ein Sachverhaltselement trotz des entgegenstehenden Wortlautes der Norm subsumiert wird. Hier liegt der Einschluss eines negativen Kandidaten durch eine Analogie vor. Andererseits ist die Wortlautgrenze dann überschritten, wenn ein Sachverhaltselement trotz des entgegenstehenden Wortlautes nicht subsumiert wird. Es handelt sich dabei um den Ausschluss eines positiven Kandidaten durch eine teleologische Reduktion. Der Wortlaut einer Norm zieht also nicht nur 9 einer extensiven, sondern auch einer restriktiven Rechtsanwendung Grenzen. Außerhalb eines Analogieverbotes, wie es zum Beispiel im Strafrecht besteht, ist eine Entscheidung gegen das Ergebnis der semantischen Interpretation, also gegen den Wortlaut, zwar möglich. Ihre Kategorisierung als Rechtsfortbildung im engeren Sinne löst jedoch erhöhe Rechtfertigungsanforderungen aus. Der Rechtsanwender kann die Verantwortung für die Entscheidung in diesen Fällen nicht in demselben Maße wie bei einer Interpretation an den Normgeber delegieren und muss daher einen gesteigerten Begründungsaufwand betreiben. Die Frage, ob die Wortlautgrenze existiert, ist einer der größten Streitpunkte zwischen juristischer Hermeneutik i.e.S., postmodernen Interpretationslehren und der analytischen Theorie der juristischen Argumentation, (Klatt 2004, S. 40–114; Bäcker et al. 2012). Skeptiker wenden im Kern ein, dass die Bedeutung der Rechtsnorm vom Interpreten erst selbst festgelegt werde und daher die Rechtsanwendung nicht begrenzen könne (Busse 1993, S. 100, 130-131). Sprachliche Bedeutung ist jedoch normativ strukturiert, wie insbesondere anhand der Bedeutungsphilosophie Robert Brandoms gezeigt werden konnte. Semantische Normativität und die inferentielle Struktur von Wortgebrauchsregeln führen zu einer Externalität der Sprache für das Recht, mit der zugleich eine Rehabilitierung der semantischen Interpretation verbunden ist. In der analytischen Theorie der juristischen Argumentation ist daher ein System aus acht allgemeinen und fünf besonderen Arten der Wortlautgrenze etabliert (Klatt 2004, S. 238–264). 3. Das Problem der Rangfolge betrifft die Frage, ob zwischen den canones ein Rangverhältnis besteht. Ein Rangverhältnis würde bedeuten, dass Argumentarten mit niedrigerem Rang nur dann angewendet werden, wenn Argumentarten mit höherem Rang nicht zu einem eindeutigen Ergebnis der Auslegung führen. Das Problem stellt sich insbesondere deshalb, weil die Auslegungselemente im Einzelfall oft zu divergierenden Ergebnissen führen. Der Interpret kann dann seine Entscheidung nicht auf alle Auslegungselemente stützen, sondern muss auswählen, welchen Elementen er folgt. Die Lösung dieses Auswahlproblems würde durch eine Rangfolge der canones erleichtert. Die Rangfolge hängt von der zugrundeliegenden Auslegungszieltheorie ab. So werden Anhänger der subjektiven Auslegungszieltheorie semantische und genetische Argumente vorziehen, während Anhänger der objektiven Auslegungszieltheorie der objektiv-teleologischen Interpretation einen höheren Rang einräumen. Der institutionelle Charakter der juristischen Interpretation sowie das Demokratieund das Rechtsstaatsgebot stützen eher die erste Ansicht, während der praktische Charakter der juristischen Interpretation und das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit für die zweite Ansicht streiten. Angesichts dieses Zielkonfliktes dürfte es vorzugswürdig sein, statt einer starren Rangfolge flexible Relationen zwischen den Auslegungselementen anzunehmen. Eine flexible 10 Rangfolge liegt vor, wenn derjenige, der von ihr abweichen will, die Argumentationslast trägt. Solche prima facie Vorränge müssen begründet werden und haben den Vorteil, sich im Einzelfall aufgrund besserer Argumente auch umdrehen zu können. Flexible Rangfolgen dieser Art können durch Abwägungen zwischen den beteiligten Verfassungsprinzipien, insbesondere zwischen dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsgebot und dem Gebot der gerechten Entscheidung, begründet werden. Auch mit prima facie Rangfolgen ist eine Entlastung des Interpreten allerdings nur bedingt verbunden, denn es gilt das Gebot der Ausschöpfung aller hermeneutischen Mittel (Larenz) bzw. der Sättigung aller Argumente (Alexy). 4. Ein weiteres Kernproblem der juristischen Hermeneutik ist die Frage nach der Bedeutung der Logik für die Rechtsanwendung. Diese Bedeutung wird vielfach gerade unter Hinweis auf die hermeneutischen Einsichten in die ontologischen Bedingungen des Verstehens bestritten. Gegen derartige Relativierungen spricht aber bereits die Grobstruktur der Rechtsanwendung, die unbestritten eine logische Form hat. Diese besteht im sogenannten Justizsyllogismus; dieser folgt der Schlussregel des modus ponendo ponens. Für jede Rechtsanwendung gilt das Deduktivitätspostulat: Das im Einzelfall rechtlich Gebotene muss aus einer abgrenzbaren Menge an Prämissen logisch deduzierbar sein. Das Deduktivitätspostulat folgt unmittelbar aus verfassungsrechtlichen Bestimmungen, wie zum Beispiel dem Grundsatz der Bindung des Richter an Gesetz und Recht gem. Art. 20 Abs. 3 GG und dem im Sinne der Rechtsanwendungsgleichheit verstandenen Gleichbehandlungsgebot gem. Art. 3 Abs. 1 GG. Es liegt weiterhin den verfahrensrechtlichen Geboten der schriftlichen Begründung richterlicher Entscheidungen zugrunde. Im gerichtlichen Instanzenzug führen Urteilsbegründungen, die logisch fehlerhaft sind, zur Aufhebung des Urteils. Juristische Interpretation findet im Rahmen der Begründung konkreter rechtlicher Sollensurteile statt, und diese Begründung hat eine logische Struktur. Zu unterscheiden ist freilich zwischen der internen und der externen Rechtfertigung juristischer Behauptungen. Die interne Rechtfertigung bezieht sich auf die logische Struktur. Erfüllt ein Urteil das Deduktivitätspostulat, ist es intern gerechtfertigt. Hinzutreten muss aber die externe Rechtfertigung. Diese bezieht sich auf die sachliche Begründung aller Prämissen der Entscheidung. Die juristische Interpretation wird bei der externen Rechtfertigung relevant, soweit Prämissen über die Bedeutung von Normen für die Konklusion benötigt werden. Der strukturelle Ort der Interpretation im Rahmen der Begründung konkreter Sollensurteile lässt sich damit sehr präzise angeben. Der Hauptvorteil der internen Rechtfertigung besteht neben der Gewährleistung der oben angeführten Verfassungsgebote darin, dass die logische Struktur sichtbar macht, welche Prämissen extern zu begründen sind. Andererseits ist die Rationalität der juristischen Argumentation immer 11 zusätzlich von der Qualität der externen Begründung der Prämissen abhängig. Die Logik ist somit zwar keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung für eine rationale juristische Begründung. 5. Die juristische Interpretation ist zwar Hauptgegenstand der juristischen Methodenlehre, jedoch keineswegs die einzige Herausforderung, die sich im Prozess der Rechtsanwendung stellt. Im klassischen Vierstufenmodell werden vier Stufen der Rechtsanwendung unterschieden: die Ermittlung des Sachverhalts, die Ermittlung der einschlägigen Normen und ihrer Bedeutung, die Subsumtion und die Festsetzung der Rechtsfolge. Auf jeder dieser Stufen stellen sich spezifische Probleme. Die juristische Hermeneutik betrachtet lediglich die zweite und, soweit sich dort interpretatorische Fragen stellen, die vierte Stufe. Insbesondere die vielfältigen wissenschaftstheoretischen und praktischen Probleme der Sachverhaltsermittlung werden – von Ausnahmen abgesehen (Koch und Rüßmann 1982, S. 270–345; Klatt und Schmidt 2013) – in der deutschen juristischen Methodenlehre zu unrecht nur selten thematisiert. 6. Der juristischen Hermeneutik können insgesamt drei verschiedene Dimensionen zugeordnet werden. Die normative Dimension betrifft die Frage, wie und anhand welcher Regeln und Kriterien ein gegebener Fall rechtlich richtig entschieden werden soll. Die analytische Dimension fragt nach den logischen und begrifflichen Grundlagen der Rechtsanwendung. Die empirische Dimension erfasst die tatsächlichen Beweggründe und Auswirkungen juristischer Entscheidungen, zum Beispiel mit Hilfe der Entscheidungssoziologie oder –psychologie. Das Verhältnis dieser drei Dimensionen hängt vom jeweils vertretenen Begriff der Rechtswissenschaft insgesamt ab. Jede Theorie der juristischen Argumentation muss das Problem lösen, wie sie alle drei Dimensionen in ein adäquates Verhältnis setzt. Wirkung und Bewertung 1. Ideengeschichtlich steht die Juristische Hermeneutik i.e.S. bereits in den 1970er Jahren in Konkurrenz zu teils verwandten, teils gegensätzlich ausgerichteten Strömungen in der deutschen juristischen Methodenlehre (Hilgendorf 2005). Verwandt sind die insbesondere von Theodor Viehweg neu belebte Topik und die von Fritjof Haft sowie später von Wolfgang Gast entwickelte Rechtsrhetorik. Gegensätzlich waren demgegenüber die auf die Rezeption analytischer Wissenschaftstheorie ausgerichtete logisch-analytische Rechtstheorie sowie der Versuch, sozialwissenschaftliche Methoden für das Rechts zu nutzen. Dieses Theorienspektrum führte nicht nur zu teils bis heute fortwirkenden, erbitterten Auseinandersetzungen um die 12 juristische Interpretation. Es wirft auch das bis heute nicht befriedigend gelöste Problem der Möglichkeit einer integrativen, holistisch ausgerichteten Methodenlehre auf, die sich gegenüber dem Vorwurf, bloßer Methodensynkretismus zu sein, behaupten müsste. Gleichfalls stellt sich die Frage der Einbeziehung einer wertebezogenen, substantiell aufgeladenen praktischen Vernunft. 2. Eine der Hauptschwächen der juristischen Hermeneutik i.e.S. ist, dass sie nicht in der gebotenen Klarheit zwischen dem tatsächlichen Vorgang der Gewinnung des Interpretationsergebnisses und seiner argumentativen Rechtfertigung unterscheidet. Der process of discovery (Entdeckungszusammenhang) und der process of justification (Begründungszusammenhang) sind jedoch zu differenzieren. Der zentrale Erkenntnisgewinn der Juristischen Hermeneutik im engeren Sinn, nämlich der Einfluss der volitiven Elemente auf die Rechtsanwendung, kann sich nur auf den Entdeckungszusammenhang beziehen. Er trägt als deskriptive These für die normative Frage, wie eine juristische Entscheidung argumentativ gerechtfertigt werden kann, wenig aus. Mit jeder juristischen Interpretation wird jedoch ein Anspruch auf Richtigkeit erhoben. Dieser Anspruch auf Richtigkeit schließt einen Anspruch auf Begründbarkeit ein. Er verweist damit notwendig auf die Rechtfertigung der Interpretation durch das Vorbringen von Gründen und das Widerlegen von Gegengründen. Dabei darf die für die Interpretation zentrale Wahl zwischen mehreren Deutungsmöglichkeiten nicht auf unreflektiert-intuitive Mechanismen und primär volitive Einflüsse gestützt werden. Der Interpret muss die gewählte Interpretationsalternative vielmehr argumentativ rechtfertigen. Interpretation ist Argumentation. Die juristische Auslegung hat den Charakter eines Diskurses (vgl. BVerfGE 82, 30 (38)). Dies ist der Grund dafür, dass die juristische Hermeneutik notwendig in einer umfassenderen Theorie der juristischen Argumentation aufgehen muss (Ricoeur 1994). Auch deswegen hat die Juristische Hermeneutik i.e.S. in den 1980er Jahren schnell an Bedeutung verloren. 3. Ein zweiter Mangel der Juristischen Hermeneutik i.e.S. liegt darin, dass sie die juristischen Methoden nicht vollständig erfasst. Sie ist daher als Theorie juristischer Methodologie deutlich zu eng. Insbesondere untersucht die Hermeneutik die Abwägung nicht als eigenständiges Problem. Während sich die juristische Interpretation auf Regeln bezieht, kommt die Abwägung bei Prinzipien zur Anwendung. Interpretation und Abwägung stellen damit zwei kategorial verschiedene juristische Methoden dar, deren Grundlage die normtheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien ist. Abwägungen sind in der praktischen Rechtsanwendung allgegenwärtig. Zugleich werfen sie eine Fülle hochvirulenter theoretischer Fragen auf, die von interpretatorischen Problemen grundsätzlich zu trennen sind (Klatt 2013). Diese Fragen 13 betreffen etwa die Struktur der Abwägung, den Umgang mit normativen und empirischen Erkenntnisunsicherheiten sowie die auch im internationalen Diskurs besonders umstrittene Möglichkeit der Rationalität der Abwägung. Zudem kommt es im Prozess der Rechtsanwendung zwischen Interpretation und Abwägung zu vielfältigen Überschneidungsund Ergänzungsphänomenen. So setzt zum Beispiel die objektiv-teleologische Argumentation Abwägungen zwischen kollidierenden Zwecken und Werten voraus. Ebenso sind Interpretation und Abwägung in der Anwendung von Verfassungsprinzipien miteinander verschränkt. Diese Zusammenhänge zwischen den aus normstrukturellen Gründen kategorial verschiedenen Rechtsanwendungsmethoden der Abwägung und der Interpretation sind nach wie vor nicht zureichend erforscht. 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Larenz, Karl (1991): Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 6. Aufl. Berlin. Mennicken, Axel (1970): Das Ziel der Gesetzesauslegung. Eine Untersuchung zur subjektiven und objektiven Auslegungstheorie. Bad Homburg: Gehlen. 14 Ricoeur, Paul (1994): Zu einer Hermeneutik des Rechts. Argumentation und Interpretation. In: DZPhil 3, S. 375– 384. Rottleuthner, Hubert (1976): Hermeneutik und Jurisprudenz. In: Hans-Joachim Koch (Hg.): Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie. Kronberg/Ts., S. 7–30. Wróblewski, Jerzy (1983): Legal Reasoning in Legal Interpretation. In: Jerzy Wróblewski und Aulis Aarnio (Hg.): Meaning and Truth in Judicial Decision. 2. Aufl. Helsinki, S. 72-112.