Acta Müstair, Kloster St. Johann, Band 3
Hans Rudolf Sennhauser (Herausgeber)
unter Mitarbeit von Katrin Roth-Rubi und Eckart Kühne
Wandel und Konstanz
zwischen Bodensee und Lombardei
zur Zeit Karls des Grossen
Kloster St. Johann in Müstair und Churrätien
Tagung 13.–16. Juni 2012 in Müstair
vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
VERÖFFENTLICHUNGEN DER STIFTUNG FÜR FORSCHUNG
IN SPÄTANTIKE UND MITTELALTER – HR. SENNHAUSER
Dank
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur
Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Herausgeber und Redaktion danken weiteren Institutionen und Personen für finanzielle Unterstützung, Entgegenkommen und Förderung
von Tagung und Drucklegung der Acta:
– Druckerei Ilg Wimmis
– Kantonalbank Graubünden
– Nägeli-Stiftung
– Stiftung Jacques Bischofberger
– Stiftung Pro Kloster St. Johann in Müstair
– Vorarlbergisches Landesarchiv
– sowie private Spender
Frontispiz: Der churrätische Raum im Frühmittelalter (Zeichnung E. Kühne, Stiftung FSMA; Hintergrund Bundesamt für Landestopographie, Pixelkarte 1000)
Druck: ILG AG Wimmis
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ISBN 978-3-7281-3583-4
verlag@vdf.ethz.ch – www.vdf.ethz.ch
© 2013, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
5
Inhalt
Vorspann
HANS RUDOLF SENNHAUSER
Vorwort ..............................................................................................
7
JÜRG L. MURARO
Anmerkungen zur Erforschung der frühmittelalterlichen
Geschichte Rätiens ............................................................................
9
Raetia prima und Raetia secunda ...................................................
13
HANS LIEB
Frühgeschichte und Archäologie
PAUL GLEIRSCHER
Der Vinschgau im Frühmittelalter – Archäologisches ..................
19
JOSEF NÖSSING
In comitatu Recie in vallibus Venuste et Ignadine –
Vinschgau und Nachbargebiete im Frühmittelalter ......................
43
Drusental und Rankweil – Karolingerzeit in der Vallis Drusiana
– Bemerkungen zur archäologischen Evidenz .................................
57
Origines Variae – Zu den Anfängen der frühen churrätischen
Klöster ................................................................................................
71
Bemerkungen zur Gründung und zur Frühgeschichte
des Klosters St. Johann in Müstair ..................................................
83
ANDREAS PICKER
JOSEF SEMMLER †
HANS RUDOLF SENNHAUSER
Geschichte und Recht
DIETER GEUENICH
Pippin, König von Italien (781 – 810) ............................................... 111
SEBASTIAN GRÜNINGER
Pfarrorganisation und Kirchenwesen in den frühmittelalterlichen
Bistümern Chur und Konstanz ....................................................... 125
IRMTRAUT HEITMEIER
Per Alpes Curiam – der rätische Straßenraum in der frühen
Karolingerzeit – Annäherung an die Gründungsumstände
des Klosters Müstair ......................................................................... 143
WALTER KETTEMANN
Remedius und Victor – Kurzbericht zu einer laufenden
Forschungsarbeit ............................................................................... 177
HELMUT MAURER
Das Bistum Konstanz zur Zeit Karls des Großen im Vorfeld
von Churrätien und Oberitalien ...................................................... 179
ALOIS NIEDERSTÄTTER
Herrschaftliche Raumorganisation südlich des Bodensees
in der Karolingerzeit ......................................................................... 187
HANS RUDOLF SENNHAUSER
Zur Frage nach den fünf Klöstern Bischof Viktors III. ................. 193
HARALD SIEMS
Recht in Rätien zur Zeit Karls des Großen – Ein Beitrag
zu den Capitula Remedii .................................................................. 199
6
JÜRGEN STROTHMANN
Der Münzfund von Ilanz, die Funktion des Geldes
und die Herrschaft Karls des Großen über Churrätien ................ 239
HERWIG WOLFRAM
Expansion und Integration – Rätien und andere Randgebiete
des Karolingerreichs im Vergleich ................................................... 251
ALFONS ZETTLER
Probleme der frühmittelalterlichen Geschichte Churrätiens
im Spiegel von Memorialbüchern .................................................... 261
Schrift und Sprache
FLAVIA DE RUBEIS
Il corpus epigrafico dell’abbazia di San Giovanni di Müstair ....... 285
PETER ERHART
BERNHARD ZELLER
Rätien und Alemannien – Schriftformen im Vergleich ................. 299
MARTIN HANNES GRAF
Beobachtungen zum churrätischen Personennamenbestand
der Karolingerzeit ............................................................................. 319
Kunst und Kirche
MARESE GIRARD SENNHAUSER
Der Liber Viventium Fabariensis, das Memorialbuch von Pfäfers
in neuer Sicht – Eine Skizze ............................................................. 331
SAVERIO LOMARTIRE
Architettura e decorazione dell’altomedioevo in Italia
settentrionale – Una svolta sotto Carlo Magno? ........................... 345
JOHN MITCHELL
St. Johann at Müstair – The Painted Decoration in Context ........ 373
GISELA MUSCHIOL
Liturgie in Churrätien im Zeitalter Karls des Großen –
Ein kurzer Forschungsbericht ......................................................... 397
K ATRIN ROTH-RUBI
Zum Motivschatz der churrätischen Marmorskulptur
im Frühmittelalter ............................................................................. 403
EGON WAMERS
Tassilo III. von Baiern oder Karl der Große? – Zur Ikonographie
und Programmatik des sogenannten Tassilokelch-Stils ................ 427
Epilog
K ATRIN ROTH-RUBI
Zur Gründung des Klosters St. Johann in Müstair –
Recapitulatio von Argumenten, mit einem Beitrag von Hans
Rudolf Sennhauser und Bemerkungen von Heinz Dopsch .......... 451
IRMTRAUT HEITMEIER
Annäherung an die Gründungsumstände des Klosters Müstair –
Arbeitshypothese .............................................................................. 458
143
IRMTRAUT HEITMEIER
Per Alpes Curiam – der rätische Straßenraum
in der frühen Karolingerzeit
Annäherung an die Gründungsumstände des Klosters Müstair
Abb. 1: Passsysteme in den Alpen.
MGH Capitularia Regum Francorum I
(ed. Alfred Boretius, 1883), Nr. 45, 126-130,
Zitat 127.
2
Dazu allg.: Ernst Oehlmann, Die Alpenpässe im Mittelalter I u. II, in: Jb. f. schweizerische
Geschichte 3 (1878), 165-289, und 4 (1879),
163-324. Heinrich Büttner, Alpenpässe, in:
RGA 1 (1973), 191-198. René Wyss, Handel
und Verkehr über die Alpenpässe, in: Unters.
zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Westeuropa
Teil IV (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen,
phil.-hist. Kl., 3. Folge 180), 1989, 155-173,
bes. 163-165. Katharina Winckler, Die Alpen
im Frühmittelalter, Wien u. a. 2012, bes. Kap. 4.
Gerold Walser, Summus Poeninus, Beiträge zur
Geschichte des Großen St.-Bernhard-Passes
in römischer Zeit (Historia Einzelschriften 46),
Wiesbaden 1984.
3
Armon Planta, Verkehrswege im alten
Rätien, 4 Bde, Chur 1985-1990. Stephanie
Martin-Kilcher / Andrea Schaer, Graubünden
in römischer Zeit, in: Handbuch der Bündner
Geschichte 1, Frühzeit bis Mittelalter, Chur
2000, 61-97, 76-79. Jürg Rageth, Römische
Verkehrswege und ländliche Siedlungen
in Graubünden, in: Beiträge zur Raetia
Romana, hg. v. d. Historisch-antiquarischen
Gesellschaft von Graubünden, 1987, 45-108.
Ders., Römische Straßen- und Wegereste im
bündnerischen Alpenraum, in: Über die Alpen,
Menschen - Wege - Waren, hg. v. Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg,
Stuttgart 2002, 59-65. Heinrich Büttner, Die
Bündner Alpenpässe im frühen Mittelalter,
in: Hermann Aubin u. a. (Hg.), Beiträge zur
Wirtschafts- und Stadtgeschichte, FS f. Hektor
Ammann, Wiesbaden 1965, 242-252. Reinhold
Kaiser, Churrätien im frühen Mittelalter, 2. Aufl.
Basel 2008, 173-180. Ingrid H. Ringel, Kontinuität und Wandel, Die Bündner Pässe Julier und
Septimer von der Antike bis ins Mittelalter, in:
Friedhelm Burgard / Alfred Haverkamp (Hg.),
Auf den Römerstraßen ins Mittelalter (Trierer
1
Selten beleuchtet eine Quelle in ähnlich eindringlicher Weise eine historische Situation wie die Divisio regnorum Karls des Großen von
806: Schlaglichtartig zeigen die Bestimmungen die Bedeutung des
Alpentransits für die karolingische Politik auf, indem den Söhnen
Karls des Großen neben ihren jeweiligen Teilreichen ausdrücklich
auch die Übergänge über bestimmte Alpenpässe zugesichert werden.
Pippin, der als alpenübergreifendes Herrschaftgebiet Italien mit Baiern, Alemannien südlich der Donau und Churrätien erhielt, sollte
exitum et ingressum per Alpes Noricas atque Curiam besitzen; seine
Brüder Karl und Ludwig sollten über den Großen St. Bernhard bzw.
den Mont Cenis viam habere (...) ad Italiam, um ihm im Notfall zu
Hilfe eilen zu können.1 (Abb. 1)
In den Westalpen sind mit Mont Cenis und Großem St. Bernhard die
Hauptpässe direkt angesprochen, letzterer unter dem Namen Summus
Poeninus einer der Hauptübergänge in römischer Zeit, über den der
kürzeste Weg von Italien an den Oberrhein und nach Nordostgallien führte.2 Unter den Übergängen über die bairischen und Churer
Alpen wird man im wesentlichen an die Salzburger Tauernübergänge, an Brenner und Reschen, an Julier / Septimer und Splügen, an San
Bernardino und Lukmanier denken. Dass alle diese Wege begangen
wurden, haben archäologische Funde und Untersuchungen in den
letzten Jahrzehnten gezeigt.3 Die Wahl der Route hing, soweit nicht
durch andere Umstände bestimmt, primär von Ausgangsort und Ziel
ab: Während die Salzburger Pässe nach Aquileia und Venedig führten,
zielte der Verkehr über Brenner und Reschen durch das Etschtal nach
144
IRMTRAUT HEITMEIER
Trient und Verona. Die Bündner Pässe verbanden den Bodenseeraum
mit der Lombardei und insbesondere Mailand, wobei die Routen über
Julier / Septimer und Splügen nach Chiavenna und Como führten, die
Wege über den San Bernardino und Lukmanier nach Bellinzona und
von dort entweder an den Lago Maggiore oder über Lugano ebenfalls
nach Como. 4
Mit den 806 genannten Wegen per Alpes ... Curiam sind zweifellos die
Bündner Pässe gemeint mit ihrem Zugang durch das Alpenrheintal und
ihrer südlichen Fortsetzung durch das Bergell oder Misox. Doch wird
hier nicht weniger die Reschenstraße zu subsumieren sein, da mindestens der Vinschgau, im 8. Jh. aber wohl noch das ganze oberste Tiroler Inntal zum Bistum Chur gehörten.5 In jedem Fall ist der Raum des
Oberen Weges, sobald in den Quellen zu fassen, nach Westen in den
churrätischen und schwäbischen Raum orientiert und nicht nach Osten.
Mag die Reschenroute für die frühen Karolinger zu weit östlich gelegen und zudem durch das bairische Vorfeld problematisch gewesen
sein, steht hingegen außer Frage, dass rein geographisch gesehen die
Bündner Pässe die schnellste Verbindung zwischen dem Bodenseeraum und Oberitalien herstellten. Sie lagen überdies auf einer geraden Achse zum nördlichen Schwerpunkt des Karolingerreiches an
Maas, Rhein und Main und hätten damit schon in der Zeit Pippins des
Jüngeren und in den früheren Jahren Karls des Großen prädestiniert
sein können für Züge nach Italien, die ins Herz des Langobardenreiches zielten, nach Mailand und Pavia. Dies umso mehr, als weitere
praktische Gunstfaktoren hinzukamen: Die Vielzahl der möglichen
Übergänge garantierte, dass man im Alpenrheintal nie fest saß, wenn
eine Route durch natürliche oder andere Gewalten blockiert wurde.
Darüber hinaus bot im Norden wie im Süden der Anschluss an große
Gewässer – im Norden an Walensee und Bodensee, im Süden an Silser / Silvaplaner und Comer See wie auch an den Lago Maggiore – die
Möglichkeit des Schiffsverkehrs mit gewaltigen Transportvorteilen.6
Ungeachtet dieser Vorteile ist jedoch unverkennbar, dass die Bündner
Pässe in der früheren Karolingerzeit nicht die Routen der ersten Wahl
darstellten. Pippin ging 754 und 756 über den Mont Cenis, Karl der
Große zog 773 mit einem Heeresteil über denselben Pass, sein Onkel
mit einem anderen über den Großen St. Bernhard. Letzteren wählte
auch Papst Stephan II., als er 753 ins Frankenreich reiste.7 Sicherlich ist
zu berücksichtigen, dass die Quellen häufig keine Auskunft über die
benutzten Pässe geben. So sind etwa die Übergänge Karls des Großen
in den Jahren 780, 781, 786 (Winter!), 787 und 800 unbekannt. Doch
bleibt der Befund bestehen, dass es sich dort, wo sie genannt werden,
nicht um die Bündner Pässe handelt.
Als Erklärung ist einmal an eine unzureichende Infrastruktur entlang der Straßen zu denken. Von der Walliser Route über den Großen
St. Bernhard zeigt ein Bericht aus dem frühen 9. Jh., dass es an dieser Strecke eine dem cursus publicus der römischen Zeit vergleichbare
Organisation gab, wohl weitgehend aus der Spätantike fortgeführt.8
Gab es in Churrätien Entsprechendes? Wenn die Infrastruktur für
Heereszüge nicht ausreichend war, musste dies noch keine Einschränkung für den übrigen Verkehr bedeuten. Dieser scheint in den Quellen
historische Forschungen 30), Mainz 1997, 211295, 220. Ingrid H. Ringel, Der Septimer, Wahrnehmung und Darstellung eines Alpenpasses
im Mittelalter (QBG 24), Chur 2011, v. a. Kap.
1-3. Zum Reschen s. den Sammelband: Rainer
Loose (Hg.), Von der Via Claudia Augusta zum
oberen Weg (Schlern-Schriften 334), Innsbruck
2006. Brenner: Irmtraut Heitmeier, Das Inntal,
Siedlungs- und Raumentwicklung eines Alpentales im Schnittpunkt der politischen Interessen
von der römischen Okkupation bis in die Zeit
Karls des Großen (Schlern-Schriften 324),
Innsbruck 2005. Zur jüngeren Forschung in den
Tauern: Andreas Lippert, Neue Forschungen zu
den antiken Passstraßen über den Mallnitzer
Tauern und den Korntauern, in: Wissenschaftliche Mitteilungen aus dem Nationalpark Hohe
Tauern 5 (1999), 205-227.
4
Zu den Routen jetzt Winckler, Alpen (wie
Anm. 2), 129-153.
5
Zur Zugehörigkeit des Vinschgaus zu den
Alpes Curiae bereits Büttner, Bündner Alpenpässe (wie Anm. 3), 249. Irmtraut Heitmeier,
Wie weit reichte das „Engadin“?, in: Loose
(Hg.), Von der Via Claudia (wie Anm. 3),
87-104. Es zeichnet sich ab, dass das oberste
Tiroler Inntal ab der Finstermünz erst im Hochmittelalter nach Osten umorientiert wurde.
S. dazu auch unten Anm. 27.
6
Gudrun Schneider-Schnekenburger, Churrätien im Frühmittelalter (MBV 26), München
1980, 111 f. Fritz Glauser, Handel und Verkehr
zwischen Schwaben und Italien vom 10. bis
13. Jahrhundert, in: Helmut Maurer u. a. (Hg.),
Schwaben und Italien im Hochmittelalter (VuF
52), 2001, 229-293, 232-235. Gerda LeipoldSchneider, Schiffahrt auf dem Alpenrhein
zwischen Chur und der Bodenseemündung, in:
Die Erschließung des Alpenraums für den Verkehr im Mittelalter und in der frühen Neuzeit
(Schriftenreihe der ARGE Alpenländer, hg. v. d.
Kommission III Kultur, Berichte der Historikertagungen NF 7), Bozen 1996, 219-243.
Reinhard Schneider, Das Königsrecht an schiffbaren Flüssen, in: Rainer Ch. Schwinges (Hg.),
Straßen und Verkehrswesen im hohen und
späten Mittelalter (VuF 66), 2007, 185-200.
7
Konrad Schrod, Reichsstraßen und Reichsverwaltung im Königreich Italien (754-1197),
Stuttgart 1931, 7 u. 10. Vgl. auch: Adolf
Gauert, Zum Itinerar Karls des Großen, in:
Wolfgang Braunfels (Hg.), Karl der Große.
Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1: Persönlichkeit und Geschichte, hg. v. Helmut Beumann,
1965, 307-321. Georgine Tangl, Karls des
Großen Weg über die Alpen im Jahr 773, in:
QFIAB 37 (1957), 1-15. BM2, Nr. 73 e.
8
Translatio et miracula sanctorum Marcellini
et Petri auctore Einhardo (ed. G. Waitz, MGH
SS 15,1, 1887, 239-264). Besonders hervorgehoben von Wilhelm Störmer, Alpenübergänge
von Bayern nach Italien, Transitprobleme
zwischen Spätantike und Hochmittelalter, in:
Heinz Dopsch u. a. (Hg.), Bayern und Italien,
FS f. Kurt Reindel (ZBLG Beih. 18, Reihe B),
München 2001, 37-54, 41-43.
PER ALPES CURIAM
145
des 8. Jh. aber noch weniger auf als die großen Herrscherunternehmungen. Für militärische wie politische Missionen war schließlich die
Zuverlässigkeit des politischen Umfeldes von entscheidender Bedeutung, da man auf die Loyalität der lokalen Herrschaftsträger unterwegs unbedingt angewiesen war. Hier mögen bei den frühen Zügen
Pippins noch Befürchtungen gegenüber dem alemannischen Vorfeld
eine Rolle gespielt haben, unter Karl dem Großen sollte das nicht
mehr entscheidend gewesen sein.
Im Folgenden ist für die Alpenrheintalstraße und die Bündnerpässe
sowie für die Reschenstraße also zum einen zu prüfen, ob es im 8. Jh.
eine erkennbare Organisationsstruktur verbunden mit leistungsfähigen Einrichtungen für den Fernverkehr gegeben hat. Zum anderen
müssen die politischen Konstellationen noch einmal rekapituliert und
hinterfragt werden. Welche überregionalen und regionalen Kräfte
waren an der Kontrolle der jeweiligen Pässe interessiert? Auf welcher
Seite standen die lokalen Gewalten? Wie versuchten sich die Karolinger des rätischen Raumes zu versichern bis hin zu Karls des Großen
Plänen von 806? Sowie als abschließenden Fokus: Gibt es vor dem so
gewonnenen Hintergrund ein Szenario für die Gründung des Klosters Müstair?
Werner Zanier, Das Alpenrheintal in den
Jahrzehnten um Christi Geburt (MBV 59),
2006, 52-65 u. 236-238.
10
Werner Zanier, Eine römische Katapultpfeilspitze der 19. Legion aus Oberammergau, in:
Germania 72/2 (1994), 587-596.
11
Peter W. Haider, Antike und frühestes
Mittelalter, in: Josef Fontana u. a (Hg.),
Geschichte des Landes Tirol Bd. 1, 2. Aufl.
1990, 133-290, 166-167. Die intensive Via
Claudia-Forschung der vergangenen 20 Jahre
zusammenfassend: Elisabeth Walde / Gerald
Grabherr (Hg.), Via Claudia Augusta und
Römerstraßenforschung im östlichen Alpenraum (IKARUS 1), Innsbruck 2006, darin bes.
der Beitrag von Johannes Pöll, Der römische
Meilenstein von Nauders, 338-360, mit umfassender Diskussion der Meilensteinfrage an der
Reschenstraße.
12
Gerold Walser, Die römischen Straßen und
Meilensteine in Raetien (Kleine Schriften zur
Kenntnis der römischen Besetzungsgeschichte
Südwestdeutschlands 29), Stuttgart 1983,
33 u. 37, sowie die Überblicksgraphiken im
Anhang. Rageth, Römische Verkehrswege (wie
Anm. 3), passim; ders., Römische Straßen (wie
Anm. 3), 59; Martin-Kilcher / Schaer, Graubünden in römischer Zeit (wie Anm. 3), 64, 76-79.
Die Splügenroute ist insofern von besonderem
Interesse, als sie die Erschließung der Via Mala
voraussetzt.
9
Voraussetzungen
Ebenso wie Karl der Große hatten bereits die Römer erkannt, dass
das Gebiet nördlich und südlich der Alpen nur beherrschen konnte,
wer die Kontrolle über die Alpenpässe besaß. Dies führte zum Alpenfeldzug des Jahres 15 v. Chr. Während die historische Überlieferung
keine gesicherten Aussagen zu den Routen der römischen Heere
zulässt, lassen archäologische Funde in jüngerer Zeit erkennen, dass
Eroberungstruppen über den Septimer ins Oberhalbstein und wohl
auch über den Splügen ins Hinterrheintal zogen.9 Dass eine weitere
Abteilung über den Fernpass nach Norden gelangte, belegen Funde
vom Döttenbichl bei Oberammergau, die eine militärische Auseinandersetzung mit der einheimischen Bevölkerung dokumentieren.10 Wie
immer der Alpenfeldzug strategisch geplant war, die hier interessierenden Hauptrouten über die Bündner Pässe ins Alpenrheintal und
über Reschen und Fernpass ins nördliche Voralpenland gehörten auch
damals zu den wichtigsten in diesem Alpenabschnitt. Entsprechend
erfolgte schon unter Kaiser Claudius der Ausbau der Via Claudia
Augusta vom Po über das Etschtal und über Reschen und Fernpass
bis nach Augsburg, wie einem Meilenstein bei Rabland oberhalb von
Meran zu entnehmen ist.11 Doch blieb dies die einzige Nachricht im
nördlichen Abschnitt der Straße, deren weitere Geschichte in antiker
Zeit nur aus archäologischen Befunden zu erhellen ist. Anders verhält
es sich mit dem Weg durch das Alpenrheintal und über die Bündner
Pässe. Hier gibt kein Meilenstein Auskunft über Bau oder Erneuerung, doch verzeichnet sowohl die Tabula Peutingeriana wie das Itinerarium Antonini Routen von Bregenz bzw. Arbon über Chur nach
Como, wobei das Itinerarium die Benützung zweier Passwege über
den Splügen und über Julier / Septimer ausweist, während die spät
bearbeitete Tabula die Splügenpassroute erwähnt sowie eine westlichere, bei der es sich um die San Bernardino- oder die Lukmanierroute handeln könnte.12 So unklar die Regeln sind, nach welchen in
146
IRMTRAUT HEITMEIER
römischer Zeit Meilensteine aufgestellt wurden oder nicht, so wenig
eindeutig lässt sich auch die Frage beantworten, welche Routen
Eingang in die erwähnten Straßenverzeichnisse fanden und welche
nicht.13 Denn zumindest in spätrömischer Zeit waren die Brenner-,
die Reschen- und die Alpenrheintalstraße in gleicher Weise in die
Nachschuborganisation für die rätische Nordgrenze eingebunden.
Unter Kaiser Valentinian entstand nicht nur in Wilten / Innsbruck ein
befestigtes Nachschublager, sondern ein fast baugleiches wurde auch
im Rheintal in Schaan (Liechtenstein) errichtet.14 Nach Ausweis der
Notitia dignitatum saßen im frühen 5. Jh. in Teriolis / Zirl im Inntal
wie auch in Foetes / Füssen am Alpenaustritt der Reschenstraße ein
Nachschuboffizier mit derselben Funktion.15 Warum hingegen Schaan
bzw. das Rheintal keine Erwähnung findet, bleibt wieder unklar. Hier
scheinen sich die spätrömischen Funktionen in Bregenz konzentriert
zu haben, das mit seinem Militärhafen noch in der Spätantike eine
Schlüsselposition einnahm.16
Waren die Alpen mit ihren Passübergängen bis ins 5. Jh. das Bindeglied zwischen Italien und dem nördlichen Voralpenland, so wird
bereits in ostgotischer Zeit ein Orientierungswechsel erkennbar.
Flachlandrätien, de iure Bestandteil des italischen Ostgotenreiches,
wurde seit dem 3. Jh. immer wieder durch barbarische Einfälle in Mitleidenschaft gezogen, so dass ein Rückzug der Verwaltung in inneralpine Gebiete nahelag. Nimmt man frühchristliche Kirchen als Indikatoren für staatlich-administrative Präsenz, zeichnet sich im Inntal
und über den Arlberg hinweg im Walgau eine Ost-West-Linie ab, die
vermutlich eine wichtige Aktionsachse des ostgotischen dux Raetiarum, des Militärbefehlshabers beider rätischer Provinzen, spiegelt:
Frühchristliche Kirchen gibt es konzentriert im Innsbrucker Becken,
in Zirl und Pfaffenhofen im Oberinntal, jeweils am Aufstieg Richtung Scharnitz, in Imst an der Fernpassstraße, eine neu aufgefundene
in Landeck sowie in Nenzing in Vorarlberg.17
Mit dem Übergang der rätischen Provinzen an die Merowinger um
536/37 – sie wurden den Franken von den Ostgoten abgetreten 18 –
gerieten die ehemaligen Provinzgebiete erstmals unter die Oberhoheit
einer Macht, die langfristig nicht zugleich in Italien Herrschaft ausübte. Spätestens am Ende des 6. Jh., nach dem byzantinisch-fränkischlangobardischen Friedensschluss von 591, hatte sich das Langobardenreich in Italien konsolidiert und die Franken wurden im Süden
auf den Alpenraum beschränkt. Aus der ehemaligen Verbindungsregion wurde ein Grenzriegel, der das Merowingerreich gegen Langobarden wie Byzantiner abschirmen sollte, wobei archäologische,
13
Walser, Die römischen Straßen (wie Anm.
12), 39. Es zeichnet sich zum einen ab, dass
den fehlenden Straßen in der Zeit der Anlage
der Verzeichnisse tatsächlich weniger Bedeutung im überregionalen Verkehr zukam, doch
fehlen andererseits auch Trassen, deren Bedeutung durch Meilensteinfunde belegt ist. Michael
Rathmann, Untersuchungen zu den Reichsstraßen in den westlichen Provinzen des Imperium
Romanum (Bonner Jahrbücher Beih. 55), Mainz
2003, 18. Ders., Die Städte und die Verwaltung
der Reichsstraßen, in: Regula Frei-Stolba (Hg.),
Siedlung und Verkehr im Römischen Reich,
Akten des Kolloquiums zu Ehren von Prof.
H. E. Herzig, Bern 2004, 163-206, 187.
14
Osmund Menghin, Das Kastell von Veldidena, in: Veldidena, Römisches Militärlage und
Zivilsiedlung, Ausstellungskatalog des Tiroler
Landesmuseums Ferdinandeum, Innsbruck
1985, 23-34. Martin Hartmann, Militär und
militärische Anlagen, in: Ur- und frühgeschichtliche Archäologie der Schweiz, Bd. V: Die
römische Epoche, Basel 1975, 15-30, 21 u. 27.
15
Notitia dignitatum oc. XXXV Dux Raetiae:
21 Praefectus legionis tertiae Italicae transuectioni specierum deputatae, Foetibus. 22
Praefectus legionis tertiae Italicae transuectioni
specierum deputatae, Teriolis. Zu Füssen s.
Wolfgang Czysz, Füssen, in: Ders. u. a. (Hg.),
Die Römer in Bayern, Stuttgart 1975, 447. Zur
Situation: Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 87-90.
Den spätrömischen Nachschubverkehr belegen
auch die jüngst in Zusammenhang mit einer
namentlich unbekannten Straßenstation auf der
Malser Haide gefundenen Gruppe von Bleiettiketten und einer Bleibulle, die zum Verschluss
und zur Kontrolle von Waren dienten und
ähnlich auf dem Martinsbühel bei Zirl gefunden
wurden. Hubert Steiner, Neue archäologische
Entdeckungen im Oberen Vinschgau: Römerzeit
und Frühmittelalter, Vorbericht, in: Hans Rudolf
Sennhauser (Hg.), Pfalz - Kloster - Klosterpfalz,
St. Johann in Müstair, Historische und archäologische Fragen (Acta Müstair, Kloster St.
Johann 2), Zürich 2010, passim, bes. 39-48.
16
Notitia dignitatum oc. XXXV, 32. Vgl. dazu:
Michaela Konrad, Das römische Gräberfeld von
Bregenz-Brigantium 1: Die Körpergräber des
3.-5. Jahrhunderts (MBV 51, 1) München 1997,
16 u. 186-190.
17
Wilhelm Sydow, Früher Kirchenbau in Tirol
und Vorarlberg, in: HR. Sennhauser (Hg.),
Frühe Kirchen im östlichen Alpengebiet, Bd. 1
(Abh. d. Bayer. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Klasse
NF 123), München 2003, 223-231 mit Katalog
233-271; für Auskunft zu der 2012 entdeckten
frühchristlichen Kirche von Landeck danke ich
herzlich Johannes Pöll, BDA Innsbruck. Ein
Kurzbericht erscheint in den Fundberichten
aus Österreich 2013. Zur Bedeutung der OstWest-Achse: Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3),
180-184, 358.
18
In der älteren Literatur wird noch die Frage
diskutiert, ob es sich um Eroberung oder vertraglichen Übergang handelte: U. a. Heinrich
Büttner, Die Alpenpolitik der Franken im 6.
und. 7. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch
79 (1960) 64-66; Otto P. Clavadetscher,
Churrätien im Übergang von der Spätantike
zum Mittealter nach den Schriftquellen, wieder
in: Ders., Rätien im Mittelalter, Ausgewählte
Aufsätze, Disentis 1994, 1-20, 8; Reinhard
Schneider, Fränkische Alpenpolitik, in: Helmut
Beumann / Werner Schröder (Hg.), Die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen
und Franken bis zum 10. Jahrhundert (Nationes 5), Sigmaringen 1987, 23-49, 27. Für
Abtretung in Analogie zur Provence: Joachim
Jahn, Ducatus Baiuvariorum (Monographien
zur Geschichte des Mittelalters 35), Stuttgart
1991, 7; Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 31.
19
Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 248-254;
Otto P. Clavadetscher, Zur Verfassungsgeschichte des merowingischen Rätien, wieder
in: Ders., Rätien im Mittelalter (wie Anm. 17),
39. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 40.
PER ALPES CURIAM
147
Abb. 2: Der churrätische Raum im
Frühmittelalter (mit den vom Bistum
Chur abweichenden Grenzen der
Raetia prima).
Vgl. dazu auch die grundsätzlichen Überlegungen von Jürgen Strothmann in diesem
Band, dem ich für intensive Gespräche zu
diesen Fragen herzlich danke.
21
Das betont mehrfach Kaiser, Churrätien
(wie Anm. 3), 58; Reinhold Kaiser, Autonomie,
Integration, Bilateraler Vertrag - Rätien und das
Frankenreich im frühen Mittelalter, in: Francia
29/1 (2002), 1-27, 25.
22
Nach spätrömischer, von den Merowingern
fortgeführter Gepflogenheit der Übereinstimmung von weltlicher und kirchlicher Administration, hätte Chur nach dem Übergang
der rätischen Provinzen an die Franken einem
fränkischen Metropoliten unterstellt werden
müssen. Ein solcher Anschluss wäre aber allenfalls in Richtung Burgund denkbar gewesen, da
Mainz noch nicht existierte. Obwohl 599 ein
Bischof Theodor (wohl von Chur) ins Frankenreich floh, 614 ein Bischof Victor (wohl von
Chur) an der Synode von Paris teilnahm und
Bischof Tello 762 am Gebetsbund von Attigny
beteiligt war, besteht die Möglichkeit, dass die
Zugehörigkeit Churs zu Mailand davon unbehelligt blieb. Kaiser, Autonomie (wie Anm. 21),
25, geht hingegen von einer Rückkehr Churs
zu Mailand unter Karl d. Gr. aus, was jedoch
ebenso eine Annahme bleibt. Vgl. dazu Kaiser,
Autonomie, 7-9, sowie mit ausführlicher Darlegung der verschiedenen Standpunkte: Ders.,
Churrätien (wie Anm. 3), 98-103.
23
Während architektonische Zeugnisse
Rätiens ihre Vorbilder eher im Süden und
Südosten finden (Sennhauser, Frühe Kirchen,
wie Anm. 17), wurden zuletzt in der Lex
Romana Curiensis neben den rätischen Eigenständigkeiten vor allem die sich verbindenden
kulturellen Strömungen aus Gallien und Italien
hervorgehoben. Harald Siems, Zur Lex Romana
Curiensis, in: Heidi Eisenhut u.a. (Hg.), Schrift,
Schriftgebrauch und Textsorten im frühmittelalterlichen Churrätien, Basel 2008, 109-136.
24
Vgl. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 228;
Hans-Ulrich Geiger, Der Münzschatz von
Ilanz und die Entstehung des mittelalterlichen
Münzsystems, in: Schweizerische Zeitschrift für
Geschichte 36 (1986), 395-412, 408: „Trotzdem Rätien seit dem 7. Jahrhundert fest ins
fränkische Reich eingegliedert war, richtete es
sich handels- und währungsmäßig ganz nach
Oberitalien aus.“ Sowie Strothmann in diesem
Band. Zusammenfassend zu den kulturellen
Beziehungen: Sebastian Grüninger, Churrätien
im Frühmittelalter aus historischer Sicht (4.-8.
Jahrhundert), in: Margarita Primas u.a. (Hg.),
Wartau - Ur- und frühgeschichtliche Siedlung
und Brandopferplatz im Alpenrheintal, Bd. 1:
Frühmittelalter und römische Epoche (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 75), Bonn 2001, 105-133, 116.
20
namenkundliche sowie vereinzelte schriftliche Nachrichten darauf
hindeuten, dass fränkische Militärs zusammen mit der einheimischen
Oberschicht die Kontrolle des alpinen Raumes, und das heißt insbesondere der Passstraßen, übernahmen.19 Die voralpinen Provinzteile
im Norden wurden merowingischen duces unterstellt, woraus längerfristig das bairische wie das alemannische Herzogtum resultierten.
Problematisch an dieser Konstellation war, dass der alpine ‚Riegel‘, der
das fränkische Reich nach Süden absichern sollte, aufgrund jahrhundertelanger und nie aufgehobener antiker Tradition administrativ nach
Italien ausgerichtet war.20 Dass diese Tradition weiterlebte, zeigt noch
200 Jahre später der eingangs zitierte Reichsteilungsplan von 806, mit
dem Karl der Große nichts anderes tat, als im regnum Pippins das spätantike Italien der Notitia dignitatum wiederherzustellen, mit der Nordgrenze an der Donau.21 Sie spiegelt sich aber auch in der trotz formaler
Eingliederung ins Frankenreich beibehaltenen oder wiederhergestellten
Zugehörigkeit Churs zum Metropolitansprengel von Mailand,22 die erst
843 endgültig zugunsten von Mainz wechselte, und findet neben starken kulturellen Einflüssen von Süden23 u. a. einen Widerhall in der sich
abzeichnenden Teilnahme Churrätiens am italisch-langobardischen
Münzsystem.24 Die Frage, wie sich civitas und Bistum Chur zwischen
Franken und Langobarden positionierten, verdient folglich mehr Aufmerksamkeit, als ihr bisher aufgrund der rechtlichen Zugehörigkeit
zum Frankenreich zuteil wurde. In dem Raum, der aus der Antike
die Voraussetzungen für einen funktionierenden Passverkehr auf den
bezeichneten Routen mitbrachte, waren die lokalen Herrschaftsträger
148
IRMTRAUT HEITMEIER
zwischen Vinschgau und Alpenrheintal für die Merowinger und frühen Karolinger keineswegs eine ‚sichere Bank‘, sondern konnten ihre
Loyalität durchaus verschiedenen Seiten zuwenden und daraus einen
Gutteil ihrer Autonomie ziehen. Nicht grundlos beschwor Karl der
Große 772/774 in seinem Privileg für den Churer rector Constantius
und das rätische Volk deren Treue als Voraussetzung für den gewährten
Schutz.25 Die Franken mussten sich ständig der lokalen Kräfte versichern, da diese nicht nur die Organisation des Passverkehrs gewährleisteten, sondern den Verkehr auch kontrollieren und die Passzugänge im
Süden wie im Norden sperren konnten.
Es waren daher wohl nicht nur Gründe der Verbreitung des spätantiken Christentums und der alemannischen Siedlung, die Dagobert I.,
folgt man der späten Tradition,26 veranlassten, die Grenzen zwischen
den Bistümern Konstanz und Chur südlich des Bodensees und damit
auch südlich der spätantiken rätischen Provinzgrenze zu ziehen. Da
im Falle Churs die Ausdehnung des Bistums mit der weltlichen Herrschaft des praeses zusammenfiel, hieß das, dass Chur weder den untersten Teil der Rheintalstraße mit Bregenz, noch den Zugang zum Bodensee von Süden her kontrollierte. Dafür blieb der Walensee als östliche
Verlängerung des Zürichsees wie auch der Walgau und das Montafon
bei Chur, was wiederum den Einfluss des alemannischen Herzogs
nach Süden beschränkte, aber auch die Verbindung zwischen Rheintal
und Oberinntal aufrecht erhielt. Letzteres war von besonderer Bedeutung, da das oberste Tiroler Inntal nach allem, was erkennbar ist, in
der Frühzeit auch dem Bistum Chur unterstand wie der Vinschgau.27
Südlich der Pässe fällt auf, dass das Bistum und damit der Einfluss
Churs die Südseite des San Bernardino bis wenig oberhalb von Bellinzona einschloss, ebenso wie das Bergell mit der Straßensperre bei
Castelmur / Müraia (Bondo). Hingegen gehörte der Schlüsselort Chiavenna und die Südabdachung des Splügenpasses zum Bistum Como,
was auf langobardische Kontrolle dieser Strecke hinweist.28 Gleiches
gilt für die Südseite des Lukmanier. Auch hier verläuft die Bistumsgrenze über die Passhöhe. Da seit der Antike das Prinzip verfolgt wurde, beide Seiten eines Passes zu kontrollieren, wie beispielhaft auch die
Gründung des Klosters Novalese auf der Südseite des Mont Cenis vor
Augen führt,29 heißt das nicht nur, dass der Lukmanier eine untergeordnete Rolle spielte – wie vor der Gründung von Disentis ohnehin
angenommen –, es heißt auch, dass von Churer Seite die wichtigen
Verbindungen nach Süden über Julier oder Septimer ins Bergell und
über den San Bernardino ins Misox verliefen, während der Splügenpass offenbar von geringerer Bedeutung war.30
Festzuhalten ist, dass die Bündner Passrouten damit vom Ende des
Zürichsees bzw. Montlingen (St. Gallen) bis ins Bergell oder Misox im Bereich des Churer Bistums verliefen und damit auch unter
der weltlichen Herrschaft des rätischen praeses oder Bischof-rectors
25
BUB I, Nr. 19, S. 23 f.: Si autem illis, qui
parentibus nostris fidem visi sunt conservasse
inlaesam et usque nunc in id permanere non
cessant ... Statuentes ergo iubemus, ut tam
ipse vir venerabilis praefatus Constantius ...
dum nobis in omnibus palatique nostri sicut
rectum est, cum omni populo Retiarum fideles
apparuerint...
Siehe dazu BUB I, Nr. 333 und *8 mit
Kommentar; Heinrich Büttner, Die Entstehung
der Konstanzer Diözesangrenzen, wieder in:
Ders., Frühmittelalterliches Christentum und
fränkischer Staat zwischen Hochrhein und
Alpen, Darmstadt 1961, 55-106, 57 f; Kaiser,
Churrätien (wie Anm. 3), 36 f.
27
Eine Umorientierung des späteren Oberen
Gerichtes fand wohl erst im 10. Jh. statt. Zu
den Indizien: Heitmeier, Wie weit reichte das
„Engadin“? (wie Anm. 5). Die Westorientierung von Vinschgau und oberstem Inntal
dürfte bereits eine Folge der innerrätischen
Grenzziehung gewesen sein, die im Gegensatz
zu bisherigen Annahmen von Meran über die
Kaunertaler Gipfel zur Kronburg im Inntal
(östlich Zams) und von dort Richtung Kempten
rekonstruiert wurde. (s. Abb. 2) Ein wesentlicher Grund Heubergers, die Grenze zwischen
der Raetia I u. II westlich des Vinschgaus
zu ziehen, lag darin, dass die Via Claudia
damit von Meran bis Augsburg innerhalb der
Raetia II verlaufen wäre. Außerdem habe es in
römischer Zeit keinen Weg durch das Engadin
gegeben (Richard Heuberger, Rätien in
Altertum und Frühmittelalter [Schlern-Schriften
20] Innsbruck 1932 / Aalen 1981, 79 f.,115118). Letzteres ist überholt (s. unten Anm. 53),
außerdem der Blickwinkel ausschließlich auf
die Nord-Süd-Verbindung zu eng, da zwischen
dem oberen Vinschgau und Landeck alle
Abzweigungen nach Westen gerichtet sind
(Münsteral, Engadin, Paznaun, Stanzertal).
Diese hätten durchwegs die Provinzgrenze
überqueren müssen, während andernfalls der
ganze natürliche Verkehrsraum einer Provinzverwaltung unterstand. Zu berücksichtigen
ist dabei zudem, dass ungewiss ist, wann in
Rätien die Provinzteilung vorgenommen wurde
(s. den Beitrag von Hans Lieb in diesem Band).
Setzt man diese spät an, dann war der Verkehr
vielleicht schon mehr nach Westen als nach
Norden ausgerichtet. S. a. Günther Kaufmann,
Römische Grenzen im Raum Meran, in: Tiroler
Heimat 73 (2009), 5-44, 35-40 mit ausführlicher Diskussion der finis-Namen.
28
Como hatte sich im Rahmen des DreiKapitel-Streits auch von Mailand losgesagt und
Aquileia angeschlossen.
29
Giuseppe Sergi, Novalesa, in: LexMA 6
(1999), 1299 f.; Winckler, Alpen im Frühmittelalter (wie Anm. 2), 83 f. u. 89 f.
30
Die Begehung des San Bernardino wird
durch eine spätrömische Talsperre bei Mesocco
belegt. Grüninger, Churrätien im Frühmittelalter
(wie Anm. 24), 126. Vgl. auch die Karte bei
Rageth, Römische Straßen (wie Anm. 3), 64. Zur
dagegen untergeordneten Bedeutung des Splügenpasses im frühen Mittelalter auch SchneiderSchnekenburger, Churrätien (wie Anm. 6), 113.
Zur Südgrenze des Bistums Chur: Heinrich
Büttner, Die Entstehung der Churer Bistumsgrenzen. Ein Beitrag zur fränkischen Alpenpolitik des
6.-8. Jahrhunderts, wieder in: Ders. Frühmittelalterliches Christentum (wie Anm. 26), 129-143.
Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 36 f.
26
PER ALPES CURIAM
Abb. 3: Das frühmittelalterliche
Churrätien in der schriftlichen
Überlieferung.
31
Hier befand sich nicht nur die Grenze
zwischen der italischen Regio X und Rätien,
sondern auch zwischen den großen römischen
Zollbezirken des illyrischen und gallischen
Zolls. Wenn nicht schon diese antike Situation,
so führte spätestens die langobardisch-fränkische Frontstellung am Ende des 6. Jh. dazu,
dass sich hier die Grenzen zwischen den Bistümern Trient und Chur verfestigten. Ausführlich
dazu Kaufmann, Römische Grenzen (wie Anm.
27), passim.
32
In ihm liegt 763 Imst. Theodor Bitterauf,
Die Traditionen des Hochstifts Freising (QuE
NF 4), 1905 / 1967, Nr. 19, S. 47: imprimis
Uallenensium ex pago ... in opido Humiste.
33
Zur Zugehörigkeit des Gebietes zwischen
Iller und Lech zum bairischen Herzogtum
wohl bis Ende der 730 er Jahre siehe unten zu
Anm. 169.
34
Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini
(ed. F. Leo, MGH AA 4, 1881, 293-370), 368.
35
Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), Karte 20,
174/175.
149
standen. Ganz anders die Reschenroute: diese überquerte bereits im
Etschtal bei Meran eine alte Raumgrenze,31 die sich im Frühmittelalter
als Bistumsgrenze zwischen Chur und Trient verfestigte, aber auch
zeitweise die Grenze zwischen langobardisch und bairisch dominiertem Gebiet bildete. Von Meran bis Landeck verlief die Straße wohl
durch Churer Bistumsgebiet, das aber nicht bzw. nicht immer auch
Churer Herrschaftsgebiet gewesen sein muss, um am Inn östlich der
Kronburg den pagus Uallenensium zu berühren.32 Außerhalb des
Fernpasses schließlich führte sie durch bairisches, später wesentlich
vom Augsburger Bischof kontrolliertes Gebiet bis nach Augsburg.33
Man benötigt kaum die Befürchtung des Venantius Fortunatus, der
bei der Wegbeschreibung von Augsburg in die Alpen um 575 anmerkt:
si vacat ire viam neque te Baiovarius obstat,34 um zu erkennen, dass
diese Strecke von verschiedensten Kräften kontrolliert, aber auch blockiert werden konnte, und somit als Fernstraße von vornherein größeren Einschränkungen unterlag. (Abb. 2)
Die rätischen Straßenlandschaften im Vergleich
Abbildung 3, eine Karte, die Reinhold Kaisers Handbuch „Churrätien im frühen Mittelalter“ entnommen ist,35 zeigt eindrücklich
das Netz der Wege im rätischen Alpenraum. Den großen nord-südgerichteten römischen Fernstraßen, der Via Claudia über den Reschen
im Osten und der Alpenrheinstraße im Westen, vom Bodensee bzw.
vom Zürichsee über Chur, das Oberhalbstein und Julier oder Septimer ins Bergell, steht eine Vielzahl von Nebenrouten gegenüber, die
vor allem für den Saumverkehr des frühen Mittelalters interessant
150
IRMTRAUT HEITMEIER
waren, der höhere Pässe zugunsten kürzerer Strecken gerne in Kauf
nahm. Die Karte zeigt aber auch die Siedlungslandschaft, wie sie die
Schriftquellen bis zum 10. Jh. erkennen lassen, und hier ergibt sich ein
erstaunliches Bild: Während sich die Bündner Täler und Vorarlberg
dicht besetzt mit Siedlungen und Kirchen präsentieren, erscheint das
Engadin wie auch das Oberinntal geradezu siedlungsleer, der Vinschgau dünn besiedelt mit vereinzelten Siedlungen entlang der Etsch.
Allein mit dieser Karte konfrontiert, würde man dem Urteil Heinrich
Büttners ohne weiteres zustimmen, dass „die älteste große römische
Straßenverbindung in den rätischen Alpenlandschaften, die Via Claudia, völlig bedeutungslos wurde“.36 Dass dieses Kartenbild jedoch
nicht der Realität entsprechen kann, macht ein Blick auf die Ortsnamen deutlich. Denn die Siedlungen im Vinschgau tragen überwiegend
bereits vorrömische Namen, die sicher, und römisch-romanische, die
zum größten Teil im Frühmittelalter existierten. Ähnliches ist im
Oberinntal zu konstatieren für Nauders, Pfunds, Serfaus, Fiss, Ladis,
Prutz und Fließ sowie Angedair und Perjenn im Bereich Landeck,
gefolgt von Stanz, Zams, Mils und Imst.37 Die siedlungsgenetischen
Studien, die Rainer Loose für zahlreiche Dörfer im Vinschgau und
Münstertal durchführte,38 erschlossen für die frühe Zeit ein System
von curtes mit verschiedenen Pertinenzen und abhängigen coloniae,
das sich von dem Bild der Bündner Täler, wie es aus Tello-‚Testament‘
und Churrätischem Reichsurbar hervorgeht, nicht wesentlich unterscheidet.39 Nicht zuletzt die zahlreichen frühchristlichen bis frühmittelalterlichen Kirchen im Vinschgau mit einem überwiegend frühen
Patrozinienbild bestätigen diesen Eindruck 40 und die von der archäologischen Forschung in jüngerer Zeit als castra angesprochenen Plätze
in Juval und Lichtenberg 41 belegen weitere spätantik-frühmittelalterliche Siedlungselemente. Die Kartierung der Schriftquellen zeigt also
lediglich ein Abbild der Überlieferung und nicht der historischen Verhältnisse. Wären die entsprechenden Teile des Churrätischen Reichsgutsurbars aus der Mitte des 9. Jh. nicht verloren, würde sich entlang
der Via Claudia und im Engadin wohl ein nur unwesentlich anderes
Bild darbieten als in den Bündner Tälern, denn die Existenz räumlich
entsprechender ministeria ist bezeugt. 42 Im Norden ist es der gänzliche
Verlust der frühen Augsburger Quellen, der für Informationsausfälle
sorgt. Doch stellt sich die Frage, ob neben den erkennbaren Verlusten
nicht die oben geschilderten räumlichen Bedingungen und strukturelle Gegebenheiten für die Überlieferungslage mitverantwortlich sind.
Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegung ist also zu
fragen, was über die jeweiligen Fernstraßen bekannt ist.
36
Heinrich Büttner, Vom Bodensee und
Genfer See zum Gotthardpaß, in: Die Alpen in
der europäischen Geschichte des Mittelalters,
Reichenau-Vorträge 1961-1962 (VuF 10),
Sigmaringen 1976, 77-110, 80.
37
Vgl. hierzu im Tirol-Atlas des Instituts für
Landeskunde der Universität Innsbruck die von
Karl Finsterwalder bearbeitete Karte G 5: Die
Sprachschichten in den Ortsnamen Tirols, auch
als Beilage in: Ders., Tiroler Ortsnamenkunde 1
(Schlern-Schriften 85), Innsbruck 1990. S. auch
die einschlägigen Beiträge Finsterwalders zu
Oberinntal und Vinschgau in: Ders., Tiroler
Ortsnamenkunde 2 u. 3 (Schlern-Schriften 286
u. 287), Innsbruck 1990 u. 1995. Nicht immer
zuverlässig: Egon Kühebacher, Die Ortsnamen
Südtirols und ihre Geschichte Bd. 1 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 1),
Bozen 1995.
38
Aus der langen Publikationsliste sei
genannt: Rainer Loose, Siedlungsgenese
des oberen Vintschgaus (Forschungen zur
deutschen Landeskunde 208), 1976; ders.,
Historische Topographie von Mals, in: Tiroler
Heimat 48/49 (1984/85), 35-53; ders.,
Siedlungsgenetische Studien im Vinschgau.
Die Beispiele Goldrain, Vezzan, Göflan und
Reschen, in: Rainer Loose (Hg.), Der Vinschgau und seine Nachbarräume, Bozen 1993,
217-244; ders., Der Vintschgau im frühen und
hohen Mittelalter (bis ca. 1250), in: Rainer
Loose u. Sönke Lorenz (Hg.), König - Kirche Adel, Herrschaftsstrukturen im mittleren
Alpenraum und angrenzenden Gebieten (6.13. Jh.), Lana 1999, 9-34; ders., Grundzüge
der Siedlungsgenese der Val Müstair bis etwa
1500, in: Calven 1499-1999, hg. v. Südtiroler
Kulturinstitut, red. Josef Riedmann, Bozen
2001, 23-43.
39
BUB I, Nr. 17*, S. 13-23 (Tello-‚Testament‘),
BUB I, S. 375-396 (RU). Loose, Siedlungsgenetische Studien (wie Anm. 38). Sebastian
Grüninger, Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Churrätien, Ländliche Herrschaftsformen, Personenverbände und Wirtschaftsstrukturen zwischen Forschungsmodellen und
regionaler Quellenbasis (QBG15), Chur 2006,
Kap. IV.
40
Vgl. den Beitrag von Paul Gleirscher
in diesem Band sowie Hans Nothdurfter,
Frühchristliche und frühmittelalterliche Kirchenbauten in Südtirol, in: Sennhauser (Hg.),
Frühe Kirchen (wie Anm. 17), Bd. 1, 273-355.
Zu den Patrozinien: Reinhold Kaiser, Churrätien und der Vinschgau im frühen Mittelalter,
in: Der Schlern 73 (1999), 675-690, 675
u. 677 f; Ulrich Köpf, Christliche Kultorte
als Zeugen der älteren Kirchengeschichte
des Vinschgaus, in: Rainer Loose (Hg.),
König - Kirche - Adel, Herrschaftsstrukturen
im mittleren Alpenraum und angrenzenden
Gebieten, 53-95.
41
S. dazu den Beitrag von Paul Gleirscher in
diesem Band.
42
Edition des Reichsgutsurbars in: BUB I,
S. 375-396, 394: De ministerio Richperti,
id est Endena ...; De ministerio Remedii ...
Aufgrund der Verteilung der Ämter entspricht
letzteres wohl dem Vinschgau, der außerdem
im Pfäferser Rodel genannt ist: In Venustis
in villa Mortario (S. 388). Zur Quelle zuletzt
insbesondere Grüninger, Grundherrschaft (wie
Anm. 39), 162-189, sowie ders., Stratigraphie,
Struktur und Textur des Churrätischen Reichsgutsurbars: Streifzüge durch die „Geologie“
eines frühmittelalterlichen Güterverzeichnisses,
in: Eisenhut u. a. (Hg.), Schrift (wie Anm. 23),
222-249. Aber auch: Julia Kleindinst, Das
churrätische Reichsgutsurbar - eine Quelle zur
frühmittelalterlichen Geschichte Vorarlbergs,
in: Montfort 47 (1995), 89-130.
43
BUB I, Nr. 21, S. 25 f. Der Brief liest sich wie
die direkte Befolgung eines Capitulars Karls d.
Gr. von 787, wo es heißt: Sicut consuetudo fuit
sigillum et epistola prendere et vias vel portas
custodire, ita nunc sit factum. MGH Capitularia
regum Francorum I, (ed. A. Boretius, 1883),
201, Nr. 95 c. 17.
PER ALPES CURIAM
Muro, erwähnt im Itinerarium Antonini, s. Walser, Römische Straßen (wie Anm. 12), 37. Rageth,
Römische Verkehrswege (wie Anm. 3), 79 f.
45
BUB I, S. 383 u. 394.
46
Fredegar, Chronicarum Continuationes 37 u.
38 (ed. B. Krusch, MGH SS rer. Merov. 2, 1888,
184). Zu den Franken in den beiden DoraTälern und im Maurienne: Georgine Tangl,
Die Passvorschrift des Königs Ratchis und ihre
Beziehungen zu dem Verhältnis zwischen Franken und Langobarden vom 6.-8. Jahrhundert,
in: QFIAB 38 (1958), 1-65, 9, sowie Eduard
Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und
Burgunder in Oberitalien (774-962) (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 8),
Freiburg 1960, 20, Anm. 16.
47
Schneider, Fränkische Alpenpolitik (wie
Anm. 18), 35-37. S. auch unten zu Anm. 110.
48
Clavadetscher, Verkehrsorganisation in
Rätien zur Karolingerzeit, wieder in ders.,
Rätien im Mittelalter (wie Anm. 18), 270-299.
Ringel, Kontinuität und Wandel (wie Anm. 3).
Während einerseits der Stationsname Bivio
auf eine Weggabelung hinweist, die nur die
Abzweigung zum Julier oder Septimer meinen
kann, kann Ringel zeigen, dass der Septimer in
karolingischer Zeit noch keine Bedeutung hatte. Ringel, Der Septimer (wie Anm. 3), 58-72.
49
BUB I, S. 396. Zur römischen mutatio s. Jürg
Rageth, Riom-Cadra, eine römische Mutatio,
in: Archäologie in Graubünden, FS z. 25-jährigen Bestehen des Archäologischen Dienstes
Graubünden, o. J., 150-154, sowie ders., Die
römische Mutatio von Riom (Graubünden) an
der römischen Julier-Route, in: Gerald Grabherr / Barbara Kainrath (Hg.), conquiescamus!
longum iter fecimus, Römische Raststationen
und Straßeninfrastruktur im Ostalpenraum
(IKARUS 6), Innsbruck 2010, 275-285.
50
Büttner, Bündner Alpenpässe (wie Anm. 3),
245.
51
Stefan Esders, „Öffentliche“ Abgaben und
Leistungen im Übergang von der Spätantike
zum Frühmittelalter: Konzeptionen und Befunde, in: Theo Kölzer, Rudolf Schieffer (Hg.), Von
der Spätantike zum frühen Mittelalter, Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde
(VuF 70), 2009, 189-244, mit Darlegung des
Übergangs vom römischen munus zum mittelalterlichen servitium am Beispiel des paraveredus
(191-205). Zum Fortleben dieser öffentlichen
Leistungen secundum antiquam consuetudinem
in den frühen karolingischen Kapitularien:
Thomas Szabo, Antikes Erbe und karolingischottonische Verkehrspolitik, in: Lutz Fenske u. a.
(Hg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im
Mittelalter, FS f. Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1984, 125-145, bes. 126-128 u. 131-134,
sowie deren Modifikation ab dem 9. Jh. Zur
Straßenbeschaffenheit im Hochgebirge:
Rageth, Römische Straßen (wie Anm. 3), 64.
52
BUB I, S. 394.
53
Zur Engadin-Straße in römischer Zeit s.
Ringel, Kontinuität und Wandel (wie Anm. 3),
226 f: Rageth, Römische Verkehrswege (wie
Anm. 3), 75-77.
44
151
Als Alkuin in den Jahren vor 800 einen Geschäftsträger (negotiator)
über die Alpen schickte, bat er Bischof Remedius von Chur für diesen
um Schutz, Zollfreiheit und sicheres Geleit, ut per vias vestrae patriae
tutus eat et redeat; et in montium claustris a vestris non teneatus tolneariis constrictus, sed per latitudinem caritatis latam habeat eundi et
redeundi semitam. 43 Die Hoheit über die Bündner Straßen lag vor der
Einführung der Grafschaftsverfassung 806 also beim Bischof-rector
von Chur, der einerseits für Sicherheit sorgte, andererseits auch die
Zolleinnahmen erhielt. Diese wurden bevorzugt an den Klausen der
Täler eingezogen, wie beispielhaft an der Engstelle am Ausgang des
Bergell, der so genannten Porta Bergalliae. Hier, wo sich bereits die
römische Straßenstation Murus befand, 44 war die Topographie auch
prädestiniert für die Kontrolle des Verkehrs, eine Aufgabe, die zum
Bau einer frühen Befestigungsanlage führte, dem im RU genannten
castellum ad Bergalliam. 45 Dieses bildet mit einer Reihe ähnlicher
Anlagen, die von Süden her an allen Passzugängen lagen, ein Klausensystem, das eine Kontrolle des Verkehrs, aber auch vollständige
Grenzsperren ermöglichte, auch wenn diese nicht immer erfolgreich
waren, wie die Umgehung der langobardischen Klausen oberhalb von
Susa durch die Franken 754, 756 und 773 zeigen. 46 Aufgrund seiner
großen herrschaftspolitischen Bedeutung wurde dieses System seit
spätrömischer Zeit lückenlos aufrecht erhalten. 47
Das gilt auch für einige verkehrstechnische Einrichtungen entlang der
Bündner Passstraßen. Wie Otto P. Clavadetscher zeigen und Ingrid
H. Ringel für die Julier- (Septimer-)route weiter ausführen konnte, 48
deuten die im RU aufgeführten tabernae und stabula auf ein System
von Raststätten und Wechselstationen hin, die wohl noch in römischer
Tradition standen, eine Tradition, die rechtlich vermutlich eine Fiskalsukzession war – an eine solche möchte man z. B. in Riom denken, wo
einer römischen mutatio ein karolingischer Königshof folgte49 –, die
praktisch aber schon allein dadurch befördert wurde, dass Rastorte in
bestimmten Abständen notwendig waren und das Gelände im Hochgebirge dafür nicht beliebig viele Möglichkeiten bot. Dabei wurden offenbar die höher gelegenen Einrichtungen als stabula bezeichnet, während
die genannten tabernae alle unterhalb 1500 m liegen.50 Zu bedenken ist,
dass diese Stationen keine isolierten Objekte darstellten, sondern für
ein ausgedehntes System an Dienstleistungen stehen, zur Erhaltung
von Straßen und Brücken, zur Abwicklung von Transporten, zur Stellung und Versorgung von Tieren, zur Beherbergung von Reisenden,
wie es aus der Antike weiterentwickelt wurde.51 Folgt man den Angaben des Reichsgutsurbars, dann war der Verkehr durch das Rheintal
wie auch die Strecken über Lenzerheide und Oberhalbstein über Julier
und Maloja nach Chiavenna so organisiert. Das RU nennt tabernae in
Schaan und Chur, in Lantsch / Lenz und Marmorera, stabula in Bivio
und Sils.52 Auch zeigen entsprechende Einrichtungen in Zuoz und Ardez
im Engadin, dass nicht nur die großen Nord-Süd-Routen auf diese Weise funktionierten, sondern dass auch scheinbar weniger wichtige Querverbindungen oder Diagonalen in dieses System einbezogen waren.53
Allerdings werden keine solchen Orte an den Wegen zum Splügen oder
San Bernardino aufgeführt, was weniger auf eine Nicht-Benützung der
Strecken als auf eine andere Organisationsform des Verkehrs schließen
lässt, bei der das öffentliche System aus der Spätantike nicht oder nicht
in öffentlicher Hand weitergeführt wurde.
152
IRMTRAUT HEITMEIER
Wie oben bereits bemerkt, wurde im Norden und Süden der Passlandschaften der Verkehr durch Gewässer begünstigt, die Transporte zu
Schiff oder auf Flößen ermöglichten, was sehr zur Attraktivität der
Bündner Straßen beitrug.54 Denn allein die Schifffahrt auf dem Silser und Silvaplaner See verkürzte die Strecke durch das Engadin um
12 km und konnte auf dem Comer See auf weiteren 60 km fortgesetzt
werden. Entsprechendes gilt für den Lago Maggiore, wo HR. Sennhauser jüngst einen römisch-frühmittelalterlichen Hafen in Ascona
erschloss.55 Im Norden war Schifffahrt auf dem Rhein ab Chur möglich, doch waren die Bedingungen nicht immer günstig, so dass häufiger zwischen Maienfeld und Balzers umgeladen werden musste.56
Ideal war der Schiffsverkehr jedoch auf dem Zürich- und Walensee.
Laut RU waren auf letzterem 10 Schiffe unterwegs, die dem König
Abgaben leisteten.57 Ähnliche Verhältnisse sind auf dem Comer See
zu beobachten.58
Wie bei den Straßenstationen ist auch in Zusammenhang mit diesem
Schiffsverkehr die Überführung einer spätantiken in eine frühmittelalterliche Organisation zu erkennen. Sie spiegelt sich in der Umbenennung des Walensees und des Hafenortes Walenstadt, vorher lacus
Riuanus und portus Riuanus. Die Bezeichnung Walen / Walchen für
die Romanisch sprechende Bevölkerung ist ein Merkmal von Sprachgrenzräumen, das sich vom Rheinland bis Oberösterreich findet.
Dass es zu dieser Benennung kommt, bedarf aber neben der bilingualen Nachbarschaft offensichtlich zusätzlicher Kriterien. So hat sich
gezeigt, dass Walchennamen regelmäßig in Zusammenhang mit fiskalischer Raumorganisation stehen und es zeichnet sich ab, dass es sich
um Gruppen von alteingesessener Bevölkerung handelt, deren Rechtsoder Organisationsstatus in frühmittelalterliche Administrationsstrukturen überführt wurde.59 Der Walensee mit seiner organisierten
Schifffahrt und Fischerei und dem Hafen Walenstadt (ahd. stad ‚Ufer,
Gestade‘) bietet dafür ein eindrückliches Beispiel. Es ist vermutlich
kein Zufall, dass der älteste Beleg für die Umbenennung im Reichsgutsurbar steht: De Ripa Vualahastad, und vermutlich ebenso wenig,
dass dort, wo der funktionale Kontext der Verkehrsorganisation fehlte, der alte Name weiterlebte: Ecclesia in Riua.60 Eine Einschätzung
der Bedeutung dieses Schiffsverkehrs erlaubt die Beobachtung, dass
das Privileg eines zollfreien Schiffes auf dem Walensee, das Otto I.
der Churer Kirche 955 gewährte, für so wichtig erachtet wurde, dass
es nachträglich in eine Urkunde Lothars I. von 843 und eine weitere
Ludwigs des Deutschen von 849 inseriert wurde.61
Ist also zu Wasser wie zu Land die Fortführung eines alteingeführten Verkehrssystems nicht zu verkennen, so zeichnet sich daneben
dessen frühmittelalterliche Ausgestaltung insbesondere durch Klöster ab. Sämtliche frühen Klöster Churrätiens weisen geradezu klassisch funktionale Straßenlagen auf. Die beiden Frauenklöster Cazis
bei Thusis und Impitinis / Mistail nahe Tiefencastel liegen im unteren Abschnitt der Splügen-/ Bernardinoroute bzw. an der Septimerund Julierroute, aber auch an der Querverbindung zwischen Domleschg und Oberhalbstein durch das Albulatal. Gerade bei Mistail,
wo mit guten Gründen das von Ludwig dem Frommen um 831 dem
Bischof rückerstattete xenodochium scti Petri lokalisiert wird,62 verweist die Lage beim Hof Prada überdies wieder auf die unmittelbare
Die Möglichkeit des Schiffsverkehrs auf
dem Walensee und auf dem Comer See, der
im Mittelalter noch fast bis Chiavenna reichte,
machte sich nachweislich Otto III. zunutze.
Hierzu Hagen Keller, Zusammenfassung, in:
Helmut Maurer u.a. (Hg.), Schwaben und
Italien im Hochmittelalter (VuF 52), 2001, 295310, 300 f. Aus überwiegend spätmittelalterlich / neuzeitlicher Perspektive: Peter Eitel, Die
historische Verkehrsfunktion des Bodenseeraumes, in: Die Erschließung des Alpenraums für
den Verkehr (wie Anm. 6), 85-98; Giancarlo
Frigerio, L’Antica Strada Regina, ebenda 245260, weist allerdings auch auf die schwierigen
Wetterverhältnisse auf dem Comer See hin,
die zumindest in der Neuzeit keinen Vorteil des
Schiffsverkehrs zuließen (bes. 256 f).
55
Hans Rudolf Sennhauser, Überlegungen zur
Frühzeit von Ascona, in: Zs f. Schweizerische
Archäologie und Kunstgeschichte 68 (2011),
285-299.
56
Martin-Kilcher / Schaer, Graubünden in
römischer Zeit (wie Anm. 3), 79-81; LeipoldSchneider, Schiffahrt auf dem Alpenrhein (wie
Anm. 6).
57
BUB I, S. 383. Hierzu passen die archäologischen Befunde im Sarganser Becken, aufgrund
derer Gudrun Schneider-Schnekenburger zu
dem Urteil gelangte, die Walenseeroute müsse
in frühmittelalterlicher Zeit „als wichtigste
Verbindung zum fränkischen Reich angesehen
werden“. Dies., Churrätien im Frühmittelalter
(wie Anm. 6), 111 f. S. a. Otto P. Clavadetscher,
Das Schicksal von Reichsgut und Reichsrechten
in Rätien, wieder in: Ders., Rätien im Mittelalter
(wie Anm. 18), 197-225, 218 f.
58
Clavadetscher, Churrätien im Übergang
(wie Anm. 18), 18.
59
Christa Jochum-Godglück, Walchensiedlungsnamen und ihre historische Aussagekraft,
in: Hubert Fehr, Irmtraut Heitmeier (Hg.), Die
Anfänge Bayerns, Von Raetien und Noricum
zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien 2012, 1197-217; Heitmeier, Inntal (wie
Anm. 3), 236-238.
60
BUB I, S. 382 sowie ebenda S. 387.
61
BUB I, Nr. 113, S. 92-94; Nr. 63*, S. 55 f. u.
Nr. 67*, S. 57-59. Aufschlussreich ist auch ein
Tauschgeschäft Ottos I. mit Kloster Säckingen
von 965, bei dem das Kloster Besitz in Ufenau,
Pfäffikon und Uerikon sowie die Kirche von
Meilen gibt gegen die curtis Schaan mit Kirche,
Rechte am Hafen Walenstadt und ein Schiff
mit Fährgeld auf dem Walensee. MG DD Otto I
276 = BUB I, Nr. 131, S. 105 f: ...in eodem
comitatu portum Riuanum navigium cum
naulo...
62
BUB I, 53*, Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3),
132. Ringel, Kontinuität und Wandel (wie Anm.
3), 271-283; Ringel, Septimer (wie Anm. 3),
32-36. Das Hospiz auf der Septimer-Passhöhe
entsteht erst im Hochmittelalter.
54
PER ALPES CURIAM
63
Zu Prad: Irmtraut Heitmeier, Funktion
erhalten - Struktur gewandelt? Zur nachantiken Entwicklung verkehrsrelevanter Siedlungen
im Alpen- und Voralpenraum, Vortrag gehalten
beim Internationalen ÖGUF-Symposium „ZEITENwandel, Siedlungs- und Sozialstrukturen
zwischen Spätantike und Hochmittelalter“
2009 in Mauterndorf, erscheint in: Archäologie Österreichs Spezial (im Druck).
64
Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 128-134.
65
Zur Divisio s. Kaiser, Churrätien (wie
Anm.3), 53. Zur Differenzierung des Bischofsbesitzes vor 806 s. jedoch Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 208-249.
66
Vgl. den Beschwerdebrief Victors III.,
wonach dem Bischof nur zwei Frauenklöster
geblieben waren, BUB I, Nr. 46, S. 39. Die
These, dass nur die ursprünglich bischöflichen
Klöster nach der Divisio dem Bischof verblieben, vertrat im Umkehrschluss E. Meyer-Marthaler, Müstair, Helvetia sacra III, 1, 3. Grüninger,
Grundherrschaft (wie Anm. 39), 236. Zu den
Anfängen von Cazis: Hans Lieb, Die Gründer
von Cazis, in: Helmut Maurer (Hg.), Churrätisches und st. gallisches Mittelalter, FS f. Otto
P. Clavadetscher, Sigmaringen 1984, 37-51.
67
Zur Abfolge der beiden Pässe Julier / Septimer s. Ringel, Septimer (wie Anm. 3), 58-72.
Für die erst nach-karolingische Bedeutung des
Septimer spricht nicht zuletzt die späte Erbauung des Passhospizes durch Bischof Wido
(1096-1122). Wie die im frühen Mittelalter
grundgelegten Verhältnisse sich auf die jeweilige Herrschaftsbildung entlang der Passstraßen
auswirkten, spiegelt sich auch im Burgenbau
des Oberhalbstein und des Domleschg. Ringel,
Septimer, 40.
68
Frdl. Hinweis von Jürg Goll. Eine Lanze des
6. Jh. von der Passhöhe des Lukmanier belegt
dessen Begehung bereits in vorklösterlicher
Zeit. Schneider-Schnekenburger, Churrätien
(wie Anm. 6), 113.
69
Iso Müller, Die Frühzeit des Klosters
Disentis, in: Bündner Monatsblatt 1986,
1-45; Elsanne Gilomen-Schenkel / Iso Müller,
Disentis, in: Helvetia sacra III/1, 1 (1986),
474-512, 474 f.; Kaiser, Churrätien (wie Anm.
3), 134-138; zum Tello-‚Testament‘: Grüninger,
Grundherrschaft (wie Anm. 39), Kap. II, 3.
70
So Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 135.
71
Zur Geschichte von Pfäfers s. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 140-142; Werner Vogler
(Hg.), Die Abtei Pfäfers, Geschichte und Kultur,
St. Gallen 1983. Franz Perret / Werner Vogler,
Pfäfers, in: Helvetia sacra III/1, 2 (1986), 9801033, 980 f. Die Datierung aufgrund einer so
genannten Sammeldatierung mit Murbach und
Niederaltaich aus dem 11. Jh. erscheint auch
wegen der Rückrechnung der bekannten Abbatiate als realistisch. Vgl. Hans Schnyder, Das
Gründungsdatum von Pfäfers, in: Vogler, Die
Abtei Pfäfers, 26-31, 28 f. BUB I, Nr. 15, S. 10.
153
Funktionsabfolge zwischen einer römerzeitlichen und einer mittelalterlichen Einrichtung: Der Hof Prada trägt einen spätrömischen
Funktionsnamen, der an Straßen öffentliches Weideland für Reit- und
Transporttiere markiert, wie man es beispielsweise auch für Prad im
Vinschgau annehmen darf.63
Die beiden Frauenklöster Cazis und Mistail an den bereits römisch
organisierten Passrouten geben sich als bischöfliche Gründungen zu
erkennen. Cazis wurde nach der Hausüberlieferung um 700 von Esopeia und ihrem Sohn Bischof Victor gegründet, Mistail war wohl ein
nur wenig jüngeres Tochterkloster.64 Beide blieben auch nach der divisio inter episcopatum et comitatum 65 beim Bistum, vielleicht aufgrund
ihres bischöflichen Ursprungs,66 und trugen nicht unwesentlich dazu
bei, dass das Oberhalbstein und zunächst der Julier-, ab dem Hochmittelalter der Septimerpass noch in den folgenden Jahrhunderten von
den Bischöfen dominiert wurde.67
Bei Pfäfers und Disentis scheinen die Verhältnisse hingegen nicht so
einfach. Pfäfers liegt einerseits etwas oberhalb der Einmündung der
Walenseeroute ins Rheintal, aber auch am Nordende einer Nebenstrecke durch das Taminatal und über den Kunkelspass, die bei Bonaduz
das Vorderrheintal erreicht. Auf ihr konnte man den Rhein zwischen
Maienfeld und Bonaduz umgehen, was politische Aspekte besaß, nämlich die Vermeidung Churs, aber auch das Ausweichen bei Hochwasser
oder anderen Hindernissen ermöglichte. Disentis am Fuß des Lukmanier und gleichzeitig Etappenstation zum Oberalp- und Furkapass ins
Wallis gibt ebenfalls zu denken, da der Lukmanier üblicherweise erst
ab der Ottonenzeit als wichtiger Pass gilt und im frühen Mittelalter
von eher untergeordneter Bedeutung war. Gleiches wird für den Übergang ins Wallis angenommen. Dieser Einschätzung scheint die geistliche Niederlassung aber per se zu widersprechen, ebenso wie der Fund
langobardischer Goldmünzen in Disentis.68
Auch der Zeitpunkt der Gründung ist bei beiden Klöstern nicht genau
auszumachen. Die Legende berichtet bei Disentis von der Niederlassung des (fränkischen) Eremiten Sigisbert und dessen (einheimischem)
Förderer Placidus, den praeses Victor habe ermorden lassen. Letzterer,
Vater Bischof Tellos, war in den 720er-Jahren aktiv, was die Anfänge
von Disentis ebenfalls in das frühe 8. Jh. zurückdatiert. In seinem viel
diskutierten, da überlieferungstechnisch höchst komplizierten ‚Testament‘ vermachte Tello nach 765 dem zwischenzeitlich beim Grab
der beiden Eremiten gegründeten Kloster umfangreiche Besitzungen
vor allem im Vorderrheintal.69 Darunter befanden sich je nach diplomatischer Auffassung des Textes auch Güter, die der praeses Victor
bereits früher zur Wiedergutmachung des Mordes gestiftet hatte. Ist
schon der Rückzug eines fränkischen Eremiten in die rätische Desertina auffallend genug, so legt die Ermordung des Placidus jedenfalls
konkurrierende Interessen nahe, die mit der Kontrolle um herrenloses
Land,70 vor allem aber der genannten Übergänge über Lukmanier und
Oberalp-/ Furkapass erklärt werden können.
Für Pfäfers wird eine Gründung Anfang der 730 er-Jahre für möglich erachtet, der erste urkundliche Beleg betrifft jedoch erst den 762
am Gebetsbund von Attigny teilnehmenden Abt Adalbert.71 Pfäfers
154
IRMTRAUT HEITMEIER
ist somit in jedem Fall das jüngste der vier Klöster. Die Frage, ob der
Gründungskonvent durch Mönche von der Reichenau gebildet wurde und wie groß dementsprechend Einflüsse von außen gegenüber
rätisch-victoridischer Mitwirkung zu werten seien, sorgte in der Forschung für rege Diskussion. Einerseits stützt die Beobachtung, dass
sich der seltene Name Gibba /Geba des ersten(?) Abtes auch unter den
verstorbenen Brüdern der Reichenau findet, die überlieferten Beziehungen zur Reichenau,72 andererseits wies Franz Perret mit Nachdruck auf die Gemengelage von Disentiser und Pfäferser Besitz hin,
aus der zu schließen sei, dass „der materielle und ideelle Anteil der
Victoriden an der Entstehung von Pfäfers“ nicht unterschätzt werden dürfte.73 S. Grüninger hat diese angebliche Gemengelage für den
Frühbesitz kritisch revidiert und dagegen die strukturellen Unterschiede der beiden Besitzkomplexe wieder betont:74 Während Disentis
durch das Vermächtnis Tellos keine einzige Kirche erhielt, führt der
Pfäferser Rodel des RU deren 26 auf. Da in Churrätien bereits vor der
Divisio Niederkirchen in klösterlichem Besitz waren, ist dies weniger
als Quellenproblem, denn als Hinweis auf eine unterschiedliche Ausstattung der beiden Klöster zu verstehen, abhängig von ihren anders
gelagerten Anfängen.75
Die Tatsache, dass die Besitzkomplexe der Klöster jeweils eigene
Räume abdecken, zeigt zum einen ihre Bedeutung für Verkehrsorganisation und Raumerfassung, verweist zum anderen aber auch auf
die unterschiedliche Herkunft des Besitzes. Während Pfäfers seinen
Schwerpunkt in Unterrätien hat, entlang der Walenseeroute und im
Walgau sowie vor allem im Rheintal bis oberhalb Chur, liegt der Altbesitz von Disentis im Vorderrheintal. Das Kloster Cazis hat hingegen
Besitz im Domleschg, am Heinzenberg und Güter vom Albulatal über
das Oberhalbstein, Oberengadin bis in den Vinschgau (in GoldrainSchanzen und Mals-Milenz).76 Über Vinschgauer Güter verfügte auch
Pfäfers (in Morter und Nals im Etschtal),77 während Disentis dort
nicht aufscheint. Bei Pfäfers lassen sich überdies zwei ‚Außenstellen‘
an den Passstraßen nach Süden erkennen, die cella in Speluca (Splügen
auf der Nordseite des Passes, auch am Weg zum San Bernardino gelegen) sowie der Titulus sancti Gaudentii, das spätere Hospiz St. Gaudentius in Casaccia im Bergell. Wenn Pfäfers u. a. über Anteile am
Hafen von Wesen am Walensee und eine curtis Navalis verfügt,78 mit
der wohl die Rheinfähre bei Bad Ragaz verbunden war, oder Cazis im
Besitz einer taberna in Chur und in Tiefencastel ist,79 dann ist trotz
der zeitlichen Diskrepanz der Nachweise der Bezug beider Klöster
zur Straßenorganisation offensichtlich.80
Dank des Tello-‚Testaments‘ ist die Herkunft des Disentiser Besitzes
im Vorderrheintal aus dem väterlichen Erbe des Bischofs bekannt; bei
Cazis wird hingegen aus der Nachricht, dass das Kloster von Bischof
Victor und seiner Mutter Esopeia gegründet wurde, geschlossen, dass
ein größerer Teil der Ausstattung aus mütterlichem Erbe kam. Dies
erhellt zum einen, dass innerhalb des Victoriden-Besitzes Güterprovenienzen genau unterschieden wurden,81 zum anderen zeichnen sich
die lokalen Schwerpunkte von Familien der Oberschicht ab. Denn aus
der Beteiligung von Victors Mutter an der Klostergründung von Cazis
zog bereits Clavadetscher den Schluss, dass Esopeia vermutlich aus
einer wohlhabenden Domleschger Familie stammte, eine Annahme,
Dieter Geuenich, Die ältere Geschichte von
Pfäfers im Spiegel der Mönchslisten des Liber
Viventium Fabariensis, in: FMSt 9 (1975), 226252, 251 f.
73
Perret / Vogler, Pfäfers (wie Anm. 71), 981.
74
Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39),
239-242. Auf die zahlreichen Kirchen im Besitz
von Pfäfers wies schon E. Meyer-Marthaler hin.
75
MGH LL Formulae, Nr. 5, S. 331= BUB I,
Nr. 20, S. 25. Grüninger, Grundherrschaft (wie
Anm. 39), 242.
76
BUB I, Nr. 335, S. 245 f.
77
BUB I, S. 388.
78
BUB I, S. 383 u. 391.
79
BUB I, Nr. 335, S. 246.
80
Während der frühe Besitz von Pfäfers dem
RU zu entnehmen ist, ist derjenige des Klosters
Cazis erst durch eine päpstliche Bestätigung
von 1156 bekannt: s. Anm. 76 u. 77.
81
S. dazu Grüninger, Grundherrschaft (wie
Anm. 39), 214.
72
PER ALPES CURIAM
155
die sie bereits in der humanistischen Überlieferung zu einer „Gräfin
von Hohenrätien“ werden ließ.82 Zu dieser Oberschicht dürfen mindestens auch die Zeugen des Tello-‚Testaments‘ in der Funktion eines
iudex oder curialis gerechnet werden, wie auch aufgrund der archäologischen Befunde z. B. die Bewohner des Ochsenberges von Wartau.83
Als lokale Machthaber besetzten sie strategische Schlüsselstellen wie
das im RU genannte castellum Jörgenberg im Vorderrheintal und insbesondere das bereits erwähnte castellum Bergallium, die Straßensperre bei Bondo / Castelmur, die ein ebenfalls im RU mehrfach erwähnter
Constantius mit Besitzschwerpunkt um Sargans „versah“.84 Aus dessen Familie stammte vermutlich bereits der rector Constantius in den
770er-Jahren.
Zusammenfassend lässt sich für die Bündner Passstraßen festhalten,
dass sowohl bei den Gewässern (Walensee, Rhein, Comer See) wie
auch an der Rheintalstraße und ihrer Fortsetzung durch das Oberhalbstein zum Julier und Maloja-Pass sowie im Engadin die Fortführung einer spätantiken Verkehrsorganisation und ihrer funktionalen
Einrichtungen zu erkennen ist. Die frühen Klöster Cazis und Mistail,
Disentis und Pfäfers sind als verkehrsorientierte Gründungen anzusprechen und belegen damit allein durch ihre Existenz die Wichtigkeit
des Passraumes im 8. Jh., sogar in Hinblick auf in dieser Zeit noch
nicht intensiver genutzte Verbindungen, wie Disentis am Fuß von
Lukmanier und Oberalppass zeigt. Das Funktionieren dieser Strukturen oblag dabei nicht nur den Victoriden, sondern wurde von regional begüterten Familien der Oberschicht gewährleistet, die darüber
auch ihre eigene lokale Macht sicherten.
Otto P. Clavadetscher, Zur Führungsschicht
im frühmittelalterlichen Rätien, wieder in:
Ders., Rätien im Mittelalter (wie Anm. 18),
21-31, 28.
83
BUB I, Nr. 15, S. 18. Margarita Primas u. a.
(Hg.), Wartau I (wie Anm. 24), darin: Martin
Schindler, Kommentar zur frühmittelalterlichen Besiedlung des Ochsenbergs, 72-77, 73;
Grüninger, Churrätien, ebenda 115.
84
BUB I, S. 391 u. 383. Clavadetscher,
Schicksal von Reichsgut (wie Anm. 57), 212 f.
(Jörgenberg).
85
Arbeo, Vita Corb. (s. Abkürzungen).
86
Dazu ausführlich zuletzt Günther Kaufmann, Das castrum Maiensis auf Zenoburg
bei Meran, in: Tiroler Heimat 75 (2011), 5-90.
Ders., Von Burg Mais zur Zenoburg, in: Arx,
Burgen und Schlösser in Bayern, Österreich
und Südtirol 2 (2012), 43-51.
87
Arbeo, Vita Corb., 15 u. 23, S. 110 u. 128.
88
Arbeo, Vita Corb., 23-25, 30-33, 37,
42-44, S. 128-154. Zum Zeitpunkt der Translation: Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32),
Nr. 34, S. 62.
82
An dieser Stelle ist der Blick auf die Reschenstraße zu lenken, zu der
bereits am Ende von Abschnitt I festgestellt wurde, dass ihr Verlauf
über mehrere frühmittelalterliche Raumgrenzen hinweg dem Fernverkehr wenig dienlich gewesen sein kann. Dennoch bezieht sich gerade
auf sie ein Reisebericht Bischof Arbeos von Freising in seiner um 770
verfassten Vita Corbiniani.85 Darin berichtet er, wie der Hl. Corbinian um 720 von Freising nach Rom reiste und wie ihm dabei ministri
des bairischen Herzogs Grimoald bis an die Grenze Italiens Geleit
gaben. Diese Grenze lag im Etschtal bei Meran, wo mit dem castrum Maiense, der Zenoburg über Mais, eine entsprechende Kontrollfunktion verbunden war.86 Zum Zeitpunkt von Corbinians Romreise
unterstand das castrum dem Befehl Herzog Grimoalds, wie offenbar
der ganze Straßenverlauf durch das Oberinntal und den Vinschgau,
denn als Corbinian in Freising aufbrach, ließ der Herzog den a(u)ctoribus montanis tam Venusticae vallis quam Innetinis befehlen, darauf
zu achten, dass der Heilige auf seiner Rückreise das Gebiet der Baiern
nicht verließe, ohne den Herzog aufgesucht zu haben.87 Im weiteren
Verlauf berichtet Arbeo, wie diese Grenzstation zwischen Baiern und
Langobarden umkämpft war: Wie die bairische Besatzung gemäß
dem herzoglichen Befehl den aus Rom zurückkehrenden Corbinian
aufhielt und an den Herzogshof brachte, wie wenige Jahre später der
Sarg mit dem Leichnam des Heiligen von der nun langobardischen
Besatzung erst nach Rücksprache mit Pavia eingelassen wurde, weil
man eine Kriegslist der Baiern befürchtete, und wie schließlich 768/69
die Translation des Heiligen aus dem zwischenzeitlich wieder bairischen castrum nach Freising erfolgte.88
156
IRMTRAUT HEITMEIER
Sieht man von der umkämpften Grenzstation Mais zunächst ab, ist
diesem Bericht zu entnehmen, dass die Reschenstraße durch klar
ansprechbare, weil administrativ erfasste Räume führte. Dabei sorgte
die Erwähnung des Engadins in der älteren Forschung für Irritation,
da nach modernem Verständnis nur das Schweizer Inntal von Finstermünz aufwärts diesen Namen trägt, was nicht mit dem Streckenverlauf der Reschenstraße korreliert. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass es wohl bis ins 10. Jh. eine alte Raumeinheit ‚Engadin‘ gab,
die bis nördlich von Fließ reichte.89 Arbeos Raumangaben sind somit
stimmig.
Zum anderen sind die genannten actores aufschlussreich, denn sie
sind üblicherweise als Amtsträger zu verstehen, die der Fiskalgutverwaltung vorstanden und zugleich Gerichtshoheit und Geleitrechte
besaßen.90 Entlang der Reschenstraße, genauer im Vinschgau und im
obersten Inntal bestand also offenbar eine entsprechende Organisation, auf die der Herzog zurückgreifen konnte. Diese actores könnten
auch von außerhalb des Gebirges gekommen sein, doch legt die Fassung B der Vita aus dem 10. Jh. Wert darauf, sie mit den Bewohnern
der Alpen gleichzusetzen, indem der ursprüngliche Text abgewandelt
wird in actoribus vel habitatoribus Alpium.91 Kontrolle und Organisation der Reschenstraße lagen im frühen 8. Jh. demnach in Händen der
ansässigen Bevölkerung und einer lokalen Oberschicht.
Die Bedeutung der alteingesessenen Bevölkerung wird noch unterstrichen durch die Tradition des Venosten-Namens, der hier nicht nur
wie z. B. in den umliegenden Tälern Bergell, Val Camonica, Val Trompia oder am Nonsberg im Raumnamen erhalten blieb.92 Wie ein in
Chur in den 720 er-Jahren aufgestellter Gedenkstein, dessen Herkunft
mit de Venostes angegeben wird, belegt, konnte diese Talbevölkerung
als einzige neben den Breonen im Inntal ihre namentliche Identität
ins Frühmittelalter transportieren. Die Inschrift ist deshalb besonders
aussagekräftig, weil die Herkunft eines zweiten Marmorsteines als de
Triento, also räumlich angegeben wird, so dass die personale Nennung
der Venostes kaum zufällig war.93 Überträgt man die Ergebnisse zu den
Breonen,94 so war eine solche Tradition nicht ohne identitätsstiftende
kollektive Funktion und Aufgabe möglich. Sie könnte in Fortführung
spätantiker Strukturen in der cura der Straße und den damit verbundenen öffentlichen Aufgaben (munera) gelegen haben, also in Bau und
Erhaltung von Wegen und Brücken, in Transport-, Unterkunfts- und
Verpflegungsdienstleistungen. Doch fällt auf, dass die actores montani
vor allem eine Überwachungs- und Kontrollfunktion hatten.
Es ist demnach vielleicht kein Zufall, dass im weiteren Verlauf der
Reschenstraße nach Norden, jenseits der Raumgrenze im Bereich
der Kronburg östlich von Zams 95 als Nächstes gerade das oppidum
Imst am Aufstieg der Straße aus dem Inntal zum Fernpass in den
Quellen erscheint.96 Der Begriff oppidum beinhaltet nicht zwangsläufig eine Befestigung, doch belegen Ausdrücke wie oppida non
murata oder oppida quae non habeant muros, wie sie in der Vulgata erscheinen, dass die Befestigung zu den eigentlichen Merkmalen eines oppidum gehörte.97 Man darf also annehmen, dass Imst
damals nicht nur eine Straßenstation, sondern ein fester Platz war,
mit dem eine Straßen- und Raumkontrolle verbunden war. Wie aus
89
Heitmeier, Wie weit reichte das „Engadin“?
(wie Anm. 5), 94-97.
90
Wolfgang Metz, Zur Erforschung des
karolingischen Reichsgutes, Darmstadt 1971,
68-70, mit der Gleichung actor = iudex. Auch
in der Lex Romana Curiensis werden exactores
fisci bzw. publici genannt, in durchaus eigenständiger Weise, was ihre aktuelle Funktion in
Rätien wahrscheinlich macht. Vgl. Grüninger,
Grundherrschaft (wie Anm. 39), 230 f mit
genauen Zitaten. Ebenda 222 ff. zur Diskussion
um Fiskalbesitz in Churrätien überhaupt.
91
Heitmeier, Wie weit reichte das „Engadin“?
(wie Anm. 5), 89 f.
92
Enthalten sind die vorrömischen Alpenvölker der Bergalei, der Cammuni, der Trumpilini
und Anauni. Heuberger, Rätien (wie Anm. 27),
149.
93
BUB I, Nr. 11. u. 12.
94
Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), Kap. M.
95
Heitmeier, Wie weit reichte das „Engadin“?
(wie Anm. 5), 93-104.
96
Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32),
Nr. 19, S. 46-48.
97
Vulgata Est 9, 19 u. Dtn 3, 5. Gerhard
Köbler, Oppidum, in: LexMA VI (1999), 1418.
Vgl. auch Fritz Koller, Zur Terminologie präurbaner Siedlungen zwischen Inn und Enns, in:
Christian Rohr (Hg.), Vom Ursprung der Städte
in Mitteleuropa, Linz 1999, 205-224, bes. zum
Begriffspaar castrum-oppidum im frühmittelalterlichen Salzburg, 208-210.
PER ALPES CURIAM
Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32),
Nr. 19, S. 46-48; tradiert werden u.a.:
Uallenensium ex pago ... in villas nuncupantes
Pollinga et Flurininga et in opido Humiste.
99
Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), zusammenfassend 330-332.
100
Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32), Nr.
177, S. 170 f.
101
Fiskalische Qualität ließ sich auch für
Oberhofen, wo weiteres Gut des Tradenten
lag, aufzeigen. Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3),
307-310.
102
Z. B. wird das Wittum, das Konradin seiner
Mutter Elisabeth übergab, beschrieben als:
villa Imst cum omni districtu et iurisdictionibus
et possessionibus ... infra montem Vern, silvam
Scherntz et Chufstain. Hermann Wiesflecker,
Die Regesten der Grafen von Görz und Tirol I,
Innsbruck 1949, Nr. 762, S. 202. Otto Stolz,
Politisch-historische Landesbeschreibung von
Tirol I: Nordtirol (Archiv für österreichische
Geschichte 107) Wien / Leipzig 1926, 515 f.
103
Im Anschluss an die ältere Forschung noch
anders Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 265 f.
Die spätantik / frühmittelalterliche Raumgrenze an der Kronburg wurde erst durch die
‚Engadin‘-Untersuchung in der Weise deutlich.
Vgl. Anm. 95.
104
Zu den Namen s. Karl Finsterwalder, Die
Ortsnamen im Außerfern, in: Ders., Tiroler
Ortsnamenkunde 3 (Schlernschriften 287),
Innsbruck 1995, 1197-1210. Straßenstation
von Biberwier: Gerald Grabherr, Ad radices
transitus Alpium - Eine neu entdeckte römische
Siedlung in Biberwier, Tirol, in: Ludwig Wamser / Bernd Steidl (Hg.), Neue Forschungen zur
römischen Besiedlung zwischen Oberrhein
und Enns (Schriftenreihe der Archäologischen
Staatssammlung München 3), RemshaldenGrunbach 2002, 35-43.
105
1456 durch eine Lawine zerstört, seitdem
heißt die Stelle Lähn. Finsterwalder, Außerfern
(wie Anm. 104), 1209.
106
Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 313-323.
107
Hans-Uwe Rump, Füssen (Hist. Atlas von
Bayern, Teil Schwaben 9), München 1977,
29 ff.
98
157
der Gründungsurkunde für das 763 ausgestattete Kloster Scharnitz
am nördlichen Ast der Brennerstraße hervorgeht, befand sich Imst
damals in der Verfügungsgewalt einer mächtigen, auch im westlichen Bayern reich begüterten Adelsgruppe, die nach ihrer Klostergründung auch als Scharnitzer Gründersippe bezeichnet wird 98 und
deren Vorfahren im 7. Jh. als merowingische Amtsträger ins Inntal
gekommen waren, um dort die militärische Kontrolle der das Tal
querenden Fernstraßen – der Brenner- und der Reschenstraße –
sowie des dem Talverlauf folgenden pagus Uallenensium zu übernehmen.99 Konsequenterweise befand sich Zirl, das römische castellum Teriolis / Martinsbühel am Aufstieg der Brennerstraße aus dem
Inntal ebenfalls in ihrer Hand, wie aus einer jüngeren Tradition an
das inzwischen nach Schlehdorf verlegte Hauskloster hervorgeht.100
Dass solche Besitzungen auch nach bald 200-jähriger Adelsherrschaft
nicht zwangsläufig allodialisiert waren, wird gerade bei dieser Tradition deutlich, da der Tradent die Güter lediglich ob iure parentorum
meorum besitzt, was bei einem Ort wie Zirl deutlich für ererbtes
Fiskalgut spricht.101 Da in jüngeren Quellen wiederholt der Fernpass
als Raumgrenze aufscheint,102 ist anzunehmen, dass die Reichweite
des pagus Uallenensium und damit der inneralpine Einflussbereich
dieser Adelsgruppe im Westen bis zur Kronburg im Inntal und bis
zum Fernpass reichte.103 Dies erscheint auch deshalb plausibel, weil
sich im Lermooser Becken die Wege gabeln, nach Füssen einer- und
nach Garmisch andererseits. Außerhalb des Fern durchlief die Straße ein weites Waldgebiet, auf das im Frühmittelalter neu zugegriffen
wurde, denn die deutschen (!) Ortsnamen verweisen auf Wald und
Moos, wie auch auf Rodung, während z. B. der Name der römischen
Straßensiedlung von Biberwier verloren ist.104 Hierzu passt, dass es
nördlich des Fern ebenso einen Ort namens Mittenwald gab,105 wie
weiter östlich Mittenwald nördlich von Scharnitz. Sie korrespondieren von ‚außen‘ mit den Grenzangaben Fern und Scharnitz aus inneralpiner Perspektive und dürften die Südausdehnung des bairischen
Herzogtums anzeigen, wie sie nach 591 festgelegt wurde.106
Der westliche Ast der Straße traf am Alpenausgang schließlich auf
Füssen, den Ort eines spätrömischen Kastells, unmittelbar nördlich
der Lechschlucht, wo die Straße den Fluss überqueren musste. Die
Topographie bietet hier eine ideale Kontroll- und Sperrmöglichkeit,
die den im Süden genannten Klausen entspricht. Hier gründete laut
seiner Vita in den frühen 740 er-Jahren der Hl. Magnus, aus St. Gallen
kommend und auf Initiative Bischof Wikterps von Augsburg eine Zelle, aus der sich das Kloster St. Mang entwickelte.107 Unabhängig von
der Frage nach dem Zweck dieser Zellengründung macht sie zunächst
auf einen Befund aufmerksam: Es gibt an dem hier betrachteten alpinen Abschnitt der ehemaligen Via Claudia von Meran bis Füssen keine
geistliche Einrichtung, sieht man von dem erst ca. 770 – 75 gegründeten Kloster Müstair ab, das aber auch keinen unmittelbaren Bezug zur
Reschenstraße besitzt. Damit wird ein fundamentaler Unterschied
zum engeren Churrätien deutlich, wo die vier besprochenen Klöster
sichtlich in die Verkehrsorganisation eingebunden waren und gleichzeitig als Mittel der Raumerfassung aufschienen. Dass das andere Bild
an der Reschenstraße nicht nur einer anderen Organisationsform
bezüglich der Straße zu verdanken ist, lässt der Befund nördlich des
Fernpasses vermuten.
158
IRMTRAUT HEITMEIER
Tatsächlich fehlt zwischen dem Reisebericht des Venantius Fortunatus, der sein Buch um 575 auf dem Weg über die Reschenstraße zurück
in die Heimat schickte,108 und der Vita Corbiniani, die sich auf die Zeit
um 720/25 bezieht, ein Zeugnis für Fernverkehr auf der ehemaligen
Via Claudia, wobei Corbinian und seine Begleiter von Freising kommend sicher nicht über Füssen gingen, sondern den östlichen Ast der
Straße über Garmisch benützten. Archäologisch gibt es Einzelfunde
des 7./8. Jh. im Bereich der römischen Straßenstation auf der Malser
Haide, doch sind diese in Hinsicht auf den Fernverkehr wohl nur vorsichtig zu beurteilen.109 Man wird also fragen müssen, wie viel Verkehr
die Reschenroute ab dem 7. Jh. wirklich sah.
Dagegen tritt eine andere Beobachtung in den Vordergrund: Die
Reschenstraße durchlief nach 591 Grenzräume, im Norden den von
den Merowingern als Sperrriegel zwischen Langobarden und Baiern eingerichteten pagus Uallenensium, im Süden den Vinschgau als
Grenzgebiet zu den Langobarden. Die Langobarden hatten im Allgemeinen die römisch-byzantinische Einrichtung des Grenzschutzes
der clusae oder claustra Italiae übernommen und an die Stelle der
milites limitanei die arimanni im engeren Sinn gesetzt. Ihre Gemeinden bildeten eine konsequente Sperre südlich der Alpenpässe, vor den
Bündner Pässen in Locarno, Lugano, Mendrisio, Balerna, Bellaggio, Limonta, aber auch in dem dem Vinschgau unmittelbar vorgelagerten Veltlin.110 Es ist kein Zufall, dass zu den ersten Handlungen
Karls des Großen nach der Eroberung des Langobardenreiches die
Übertragung der Val Camonica an St. Martin in Tours und des Veltlin an St. Denis gehörte.111 Das war nicht nur ein symbolischer Akt,
die Herrschaft des langbardischen Königshauses abzulösen, sondern
hatte auch den sehr praktischen Sinn, die langobardische Grenzraumorganisation unter fränkische Kontrolle zu stellen.112 Diese bedurfte
aber eines fränkischen Pendants auf der Nordseite und hierbei kam
dem obersten Etschtal wegen seiner vielen Übergänge nach Süden eine
enorme strategische Bedeutung zu. Bereits Ernst Oehlmann hat in seiner frühen Untersuchung zu den Alpenpässen die militärische Bedeutung des Wormser Jochs (Umbrailpass) hervorgehoben, das nicht nur
den unmittelbaren Zugang ins Veltlin und von dort zum Comer See
ermöglichte, sondern auch eine Annäherung an die Val Camonica, von
Tirano nach Edolo über den nur 1234 m hohen Apricapass.113 Dasselbe
gilt für das wenig östlich gelegene Stilfser Joch. Von Meran aus konnte
man nicht nur dem Etschtal folgen, sondern erreichte über Lana und
den Gampenpass den Nons- und Sulzberg, von dort Judikarien oder
über den Tonalepass wieder die Val Camonica (Abb. 2). Hier ging es
nicht um Fernverbindungen, sondern um die Kontrolle des unmittelbaren Vorfelds und der Zugänge in den jeweiligen Herrschaftsraum,
die von langobardischer Seite als marcae bezeichnet wurden.114 Wenn
also nach einer identitätsstiftenden Funktion der Venosten gesucht
wird, dann wird man diese weniger in der Straßenorganisation als
vorwiegend in der militärischen Grenzsicherung sehen müssen. Vor
diesem Hintergrund gewinnt an Bedeutung, wenn noch 1286 unter
den landesfürstlichen Einnahmen auch Abgaben der vrien, die da sitzent von Malles untz da diu Etsch entspringet aufgeführt werden. Man
darf fragen, ob diese offensichtlich in einem eigenen Gerichtsbezirk
organisierten liberi homines im Vinschgau nicht eine ähnliche Funktion hatten wie die langobardischen Arimannen im Veltlin und den
108
Venantius Fortunatus, Vita s. Martini (wie
Anm. 34). Dazu Irmtraut Heitmeier, Reisen
in politisch unsteten Zeiten, Die Wege des
Venantius Fortunatus durch die Alpen, in: Über
die Alpen, Menschen - Wege - Waren, (hg. v.
Archäol. Landesmuseum Baden-Württemberg,
red. Gudrun Schnekenburger), Stuttgart 2002,
265-271.
109
Auf der Malser Haide oberhalb von Burgeis
wurde eine namentlich unbekannte römische
Straßenstation entdeckt, wo das jüngste Fundstück noch ins 7./8. Jh. datiert. Steiner, Neue
archäologische Entdeckungen (wie Anm. 15),
39-48.
110
Hlawitschka, Franken, Alemannen ... (wie
Anm. 46), 44. Winckler, Alpen im Frühmittelalter, 90-95. Zu den Arimannen, auch exercitales, als „liberi homines, die mit dem regnum
durch die Leistungen, die sie der öffentl.
Gewalt schuldeten und den dafür erhaltenen
Schutz verbunden waren“ s. Giuseppe Tabacco, Arimannia, Arimannen, in: LexMA I (1999)
932f. Zur langobabrdischen Grenzorganisation:
Tangl, Passvorschrift (wie Anm. 46); Walter
Pohl, Frontiers in Lombard Italy, The Laws of
Ratchis and Aistulf, in: Walter Pohl u.a. (Hg.),
The Transformation of Frontiers (Transformation of the Roman World 10), Leiden u. a.
2001, 117-141.
111
MGH DD Urkunden der Karolinger I (ed.
E. Mühlbacher, 1906), Nr. 81, S. 115-117,
Nr. 94, S. 135 f. Die Übertragung an St. Denis
ist indirekt durch eine Privilegienbestätigung
vom März 775 belegt.
112
Zuletzt: Janet L. Nelson, The settings of
gift in the reign of Charlemagne, in: Wendy
Davies / Paul Fouracre (ed.), The Languages
of Gift in the Early Middle Ages, Cambridge
2010, 116-148, 119-124.
113
Oehlmann, Alpenpässe (wie Anm. 2), 252 f.
114
Zur Bedeutung von marca im Kontext der
langobardischen Passvorschriften aus der Mitte des 8. Jh. s. Pohl, Frontiers (wie Anm. 110),
138 f: „The marcae were definite places, where
one could enter or leave the kingdom. They
were hardly envisaged as a line one could
cross, for the word occurs in the plural. Neither
were they perceived as a territory like the
iudicaria.“
PER ALPES CURIAM
159
Nachbartälern.115 In diesem Kontext lassen sich auch die herzoglichen
actores verorten, deren Überwachungs- und Polizeigewalt Arbeo so
deutlich herausstellt. Sie erscheinen funktionsgleich mit einem centenarius oder sculdhais, der im Langobardischen auch als Führer einer
Gruppe von arimanni belegt ist. Die actores dürften also auch Befehlshaber im Rahmen der Grenzverteidigung gewesen sein.116
115
Zitiert bei Stolz, Landesbeschreibung Nordtirol (wie Anm. 102), 730.
116
Zur Begriffsgeschichte: Maria Vòllono,
Methodik und Probleme bei der Erforschung
des Langobardischen am Beispiel einiger
juristischer Fachbegriffe: Mundoald, Launegild,
Sculdhais, in: Walter Pohl / Peter Erhart (Hg.),
Die Langobarden, Herrschaft und Identität
(Forschungen zur Geschichte des Mittelalters
9), Wien 2005, 477-502, 499 f. Zum möglichen
militärischen Kontext des exactor auch Esders,
„Öffentliche“ Abgaben (wie Anm. 51) 212.
117
Zuletzt thematisiert von Josef Riedmann,
War der Vinschgau einmal ein eigenes Land?
Eine nicht ganz ernst gemeinte Frage mit
vielleicht doch bemerkenswerten Antworten,
in: Georg Mühlberger / Mercedes Blaas (Hg.),
Grafschaft Tirol - Terra Venusta, FS f. Marjan
Cescutti (Schlern-Schriften 337), Innsbruck
2007, 17-26.
118
TUB I, 1, Nr. 264, S. 118 f u. Nr. 401, S. 202 f.
Zum Vergleich: Peter Erhart / Julia Kleindinst,
Urkundenlandschaft Rätien (Forschungen zur
Geschichte des Mittelalters 7), Wien 2004.
Hannes Obermair, Das Recht der tirolisch-tridentinischen „Regio“ zwischen Spätantike und
Mittelalter, in: Concilium mediiaevi 9 (2006),
141-158.
119
Zum territorialen Aspekt von marca, auch
in Bezug zu terra, s. Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern. Österreich (MIÖG Erg. Bd. 31),
Wien / München 1995, 176 f; ders., Conversio
Bagoariorum et Carantanorum, 2. gründlich überarb. Aufl. Ljubljana / Laibach 2012,
249-252.
120
Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), Kap. J und
K I, 1.
121
Dazu Peter Erhart, Die urkundliche
Überlieferung, in: Ders. (Hg.), Das Drusental,
Der Walgau und das Vorderland im frühen
Mittelalter (Elementa Walgau Schriftenreihe
7), Nenzing 2009, 23-82, 34-39.
122
Arbeo, Vita Corb., 23, S. 128, und Vita B
(ebenda), XX, S. 134. Vgl. die auf Klage
Bischof Wolframs von Freising erfolgte Restitution durch König Heinrich I.: MGH DD Urkunden der Karolinger I (ed. E. Mühlbacher, 1906)
Nr. 28, S. 63 f sowie TUB I, 1, Nr. 28, S. 19 f.
Ein territorialer Aspekt dieser Grenzorganisation mag darin sichtbar
werden, dass die vallis Venusta bis ins Hoch- und Spätmittelalter als
eigene terra bezeichnet wird, mit Hinweisen auf eigenes Recht und
Rechtsgewohnheiten.117 So wird z. B. 1158 in (Dorf) Tirol eine Besitzübertragung an St. Georgenberg beurkundet, in der mehrfach betont
wird, die Übergabe erfolge secundum ius et leges nostre terre bzw. provincie, in einer Urkunde des Jahres 1182 begegnet iuxta consuetudinem et iura terrae que Venusta vallis dicitur, Formeln, die in rätischen
Urkunden keineswegs selbstverständlich sind, wo üblicherweise der
Hinweis auf das legitimum ius genügte.118 Das legt ein Verständnis von
terra vel marca nahe, in der fränkischen Bedeutung eines organisierten Grenzraums.119
Im Unterschied zur Alpenrheintalstraße war der Reschenweg im frühesten Mittelalter also nicht als Fernstraße organisiert, sondern durchlief einen Grenzraum, dessen militärische Kontrolle im Oberinntal um
Imst durch Angehörige der Scharnitzer Gründersippe wahrgenommen, im obersten Tiroler Inntal und im Vinschgau aber durch eine
Grenzraumorganisation auf fiskalischer Basis sichergestellt wurde,
die sich nicht nur auf die ehemalige Via Claudia beschränkte, sondern
vor allem die Übergänge nach Süden erfasste. Damit erklärt sich das
Fehlen früher Klöster, die nicht als Straßenstationen gebraucht wurden und im Rahmen der Grenzorganisation auch keinen Platz hatten. Damit erklären sich aber auch Unterschiede im Siedlungsbild,
denn während im Oberinntal der merowingische Militäradel und seine Gefolgschaft den ihm zur Ansiedlung überlassenen Abschnitt des
Oberinntals mit dem personalen Epitheton Poapintal versah und seine
Niederlassungen mit patronymischen -ing-Namen benannte, die das
Herrschaftsbewusstsein und Repräsentationsbedürfnis dieser Adelsgruppe zum Ausdruck brachten, zusätzlich unterstrichen durch reiche
Waffengräber des späten 7. Jh. in der Kirche von Pfaffenhofen,120 fehlen
solche Siedlungs- und Namenmuster im Vinschgau und im obersten
Inntal völlig. Hier wurden keine neuen Siedlungen gegründet und kein
auswärtiger Adel angesiedelt, auch kam es nicht zur Umbenennung
von alten Orten nach dem Muster von Vinomna / Rankweil in Vorarlberg.121 Konsequenterweise gibt es aus diesem Gebiet auch keine frühe
Besitzübertragung und keine Nennung von höherrangigen Personen.
Lediglich der Erwerb von Kuens und wohl auch Kortsch für die Freisinger Kirche durch den Hl. Corbinian macht hier eine Ausnahme;
doch überrascht es wenig, dass Freising die Güter nicht halten konnte.122 In dem alt organisierten und wohl als Militärbezirk eingerichteten Raum des Vinschgaus und obersten Tiroler Inntals konnten Herrschaftsrechte lediglich delegiert oder okkupiert werden, wie im frühen
8. Jh. durch den Baiernherzog Grimoald. Die Oberhoheit lag seit der
Überlassung der rätischen Provinzen an die Franken bei den Merowingerkönigen, später wahrgenommen durch ihre Hausmeier. Wenn
angenommen wird, dass die Merowinger im frühen 7. Jh. mit Zacco
160
IRMTRAUT HEITMEIER
einen Militärbefehlshaber nach Chur schickten,123 wie um die gleiche
Zeit entsprechende Amtsträger ins Inntal, dann ist davon auszugehen,
dass dieser und seine Nachkommen, was heißt: die Victoriden, für das
ganze rätische Gebiet zuständig waren. Die Zugehörigkeit der fraglichen Täler zum rätischen Raum ist aber aufgrund der kirchlichen wie
der Rechts- und Urkundentradition nicht zu bezweifeln, so dass die
militärische und herrschaftliche Gewalt in diesem Grenzraum bei den
Victoriden in Chur gelegen haben muss. Doch sind gerade die Victoriden wie auch Angehörige einer ansässigen Oberschicht, wie sie in den
Bündner Tälern zu fassen ist, im Vinschgau kaum zu erkennen.
Das beginnt schon mit der Schwierigkeit, frühen Victoriden-Besitz
nachzuweisen. Dass der Fernbesitz von Cazis einen solchen belegen
würde, wie üblicherweise angenommen,124 erscheint angesichts seiner
späten Bezeugung nicht zwingend, doch fällt auf, dass mit Cazis und
Pfäfers nur die Klöster im Etschtal begütert sind, die mit den frühen
Victoriden in Verbindung stehen, während Disentis fehlt. Daneben
macht die Flurnachbarschaft des Cazner Besitzes zum Pfäferser Gut
in Morter125 eine Zuwendung noch im 8. Jh. nicht unwahrscheinlich.
Einen zusätzlichen Schluss erlauben die bereits erwähnten Gedenksteine aus der Gruft von St. Luzi in Chur für die Victoriden-Vorfahren.126 Auf ihnen finden sich die vielzitierten Inschriften: Hic svb ista
labide marmorea qvem Vector ver inluster preses ordinabit venire de
Venostes, hic requiescit Dominus ... auf dem einen sowie Hic sub ista
labidem marmorea quem Vector ver inlvster preses ordinabit venire
de Triento, Hic reqviescit claresimus ... proavus domni Vectoris epi.
et domni Iac...di auf dem anderen.127 Der erste Stein ist erhalten, von
dem zweiten lediglich die Inschrift überliefert. Abgesehen davon, dass
die zweite Inschrift einen Teil der Victoridengenealogie erhellt, wurde
die Bedeutung der Steine darin gesehen, dass sie wirtschaftliche Verbindungen Churs mit dem Vinschgau und dem Etschtal dokumentierten, die nicht zuletzt unter verkehrstechnischen Gesichtspunkten
bemerkenswert seien. Immerhin erforderte der Transport von solchen
Gewichten über mehrere Pässe eine gewisse Logistik.128 Offensichtlich erschien zudem ein territorialer Aspekt, da die Betonung der Herkunft auch den Zugriff auf Marmorsteinbrüche im Vinschgau und im
Trentino und somit fiskalische Rechte in diesen Regionen zum Ausdruck bringen konnte. Was hier für den Vinschgau plausibel wäre,
lässt sich aber im Trentino, das niemals zum Churer Einzugsbereich
gehörte, kaum begründen.
Der Verweis auf die Herkunft der Steine in den Inschriften ist ungewöhnlich genug, dass dieser aber auch noch der eigentlichen Widmung vorangestellt wird, zeigt, dass darin die eigentliche Mitteilungsabsicht liegt. Umso erstaunlicher ist darum die Feststellung, dass es
sich bei dem erhaltenen Victoridenstein um ein Palimpsest handelt.129
Damit wird seine aktuelle Bestellung im Vinschgau zweifelhaft; vielmehr könnte es sich auch um eine Spolie handeln, die wiederverwendet und neu beschriftet wurde.130 Ebenso wenig muss der zweite Stein
gerade aus Trient gekommen sein. Wichtig war die Herstellung einer
Beziehung der Victoriden-Ahnen zu den Räumen, in denen die Steine
angeblich geordert wurden, also zum obersten und mittleren Etschtal.
Auf den politischen Kontext wird unten zurückzukommen sein. Als
123
Clavadetscher, Führungsschicht (wie Anm.
82), 21. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 48.
124
So z. B. Gertrud Sandberger, Bistum Chur in
Südtirol, Untersuchungen zur Ostausdehnung
ursprünglicher Hochstiftsrechte im Vintschgau,
in: ZBLG 40 (1977), 705-828, 709; Loose,
Siedlungsgenetische Studien (wie Anm. 38),
225.
125
Loose, Siedlungsgenetische Studien (wie
Anm. 38), 225.
126
Hans Rudolf Sennhauser, Chur, St. Luzi,
in: Sennhauser, Frühe Kirchen (wie Anm. 17),
Bd. 2, 699-706.
127
BUB I, Nr. 11 u. 12, S. 8 u. 9. Dazu Hans
Lieb, Lexicon topographicum der römischen
und frühmittelalterlichen Schweiz 1, Bonn
1967, 73-74, 173-174, 178, 218-219 (Index
234); sowie ders., Die Gründer von Cazis (wie
Anm. 66), 47-49. Clavadetscher, Churrätien im
Übergang (wie Anm. 18), 13.
128
Kaiser, Churrätien und der Vinschgau (wie
Anm. 40), 680 f.; Büttner, Bündner Alpenpässe (wie Anm. 3), 244; Winckler, Alpen (wie
Anm. 2), 126.
129
Anlässlich einer Tagung im Rätischen
Museum Chur 2006 sind Katrin Roth-Rubi
Spuren einer älteren Beschriftung aufgefallen.
Die Beobachtung wurde anschliessend mit
Hans Lieb, HR. Sennhauser und der Verfasserin
diskutiert.
130
Die Spuren der Erstbeschriftung sind so
gering, dass sich keine Wörter erkennen
lassen. Für freundliche zusätzliche Auskunft zu
diesen Fragen danke ich Katrin Roth-Rubi und
Hans Lieb.
131
Zu Vigilius schon Heinrich Büttner / Iso
Müller, Das Kloster Müstair im Frühmittelalter,
in: Zs f. schweizerische Kirchengeschichte 50
(1956), 12-84, 17. Der erste bekannte Vigilius
in der Generationenfolge war der gleichnamige
praeses und tribunus um 630/45. Sowohl
der Bruder (episcopus) wie auch ein Sohn
Victors II. trugen den Namen. Vgl. Kaiser,
Churrätien (wie Anm. 3), Stammtafel S. 49.
Zum Namen Vespula: Lieb, Gründer von Cazis
(wie Anm. 66), 44, und Otto P. Clavadetscher,
Zur Führungsschicht im frühmittelalterlichen
Rätien, wieder in: Ders., Rätien im Mittelalter
(wie Anm. 18), 21-31, 24.
PER ALPES CURIAM
Arbeo, Vita Corb. 37, 146. Lediglich in der
im 10. Jh. überarbeiteten Fassung B der Vita
wird von einer vermögenden Witwe namens
Fausta berichtet, die ihren Besitz in Kortsch
Herzog Grimoald übergeben habe, den Corbinian gekauft und gemeinsam mit dem Herzog
der Freisinger Kirche übergeben habe. Vita
Corb. (B) XX, 134.
133
Jan-Andrea Bernhard, Geschichtliche
Einführung in das Wirken und die Wirkung des
heiligen Florinus, in: Der Schlern 81 (H.10),
2007, 10-47, 26-30.
134
So bestätigt 857 König Ludwig der
Deutsche einen Prekarievertrag Bischof Essos
von Chur mit einer femina Walderada über
verschiedene Güter in der Gegend von Meran.
Die Dame ist nicht sicher zu identifizieren,
ihr Name weist aber auch in die Familie des
St. Galler Förderers Waltram. BUB I, Nr. 69,
S. 59 f = TUB I, 1, Nr. 15, S. 11 f. Dazu: Hannes
Steiner, Die Waldram-Familie und ihre Rolle in
der Frühgeschichte St. Gallens, in: Schriften
des Vereins für die Geschichte des Bodensees
und seiner Umgebung 118 (2000), 1-15. 890
überträgt eine Himiltrud dem Kloster St. Gallen
das von ihrem Mann Plasius erhaltene Heiratsgut, das in Vorarlberg und im Vinschgau
liegt: BUB I, Nr. 82, S. 69 f = TUB I, 1, Nr. 21,
S. 15 f. Diesen Vorgang bezeugt an erster
Stelle ein Meroald, so wie wenig später die
Feststellung von St. Galler Besitz im Rheingau,
wo unter den Zeugen de Raetia sogar zwei
Merolde aufscheinen, desgleichen 920 unter
den iudices in einem öffentlichen Prozess zu
Rankweil gegen Bischof Esso von Chur. BUB
I, Nr. 96, S. 78 f. Ein Merolt tritt aber auch in
den 930er-Jahren als fidelis Herzog Bertholds
in Erscheinung, der offensichtlich im Besitz der
Güter in Mais und Kortsch war, die der Freisinger Kirche entfremdet worden waren. TUB I, 1,
Nr. 28, S. 19 f. Nimmt man den / die Merold(e)
des RU hinzu (BUB I, S. 376, 390 u. 391),
dann erweisen sich Träger dieses Namens von
der Mitte des 9. bis zur Mitte des 10. Jh. im
ganzen churrätischen Raum vom Misox bis in
den Rhein- und in den Vinschgau als Inhaber
von herzoglichem / königlichem Lehensbesitz
und gehobenen Ämtern.
135
PD Hist. Lang. VI, 17-21 (Zitat), 314-316.
Jörg Jarnut, Beiträge zu den fränkischlangobardischen Beziehungen im 7. und 8.
Jahrhundert (656-728), in: ZBLG 39 (1976),
331-352, 345 f.
136
Zu diesen Hintergründen ausführlich Irmtraut Heitmeier, Die spätantiken Wurzeln der
bairischen Noricum-Tradition, in: Hubert Fehr /
Irmtraut Heitmeier (Hg.), Von Raetien und
Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria
(Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 1), St. Ottilien 2012,
463-550.
132
161
weiteres Indiz für diesen räumlichen Zusammenhang der Victoriden
darf wohl der seit der 1. Hälfte des 7. Jh. in der Familie tradierte Name
Vigilius – nach dem Trienter Bistumsheiligen – aufgefasst werden wie
auch der Name von Victors Tante Vespula, der nur noch einmal in
Verona nachgewiesen ist und somit ebenfalls auf Süd- bzw. Südostverbindungen verweist.131 Der Cazner und Pfäferser Besitz in GoldrainSchanzen und Mals-Milenz sowie in Morter und Nals passt in dieses
Bild, wobei besonders hervorzuheben ist, dass Nals bereits in Italia
lag, also nicht mehr im rätischen Vinschgau, was zeigt, dass politische
und Besitzgrenzen nicht übereinstimmen müssen.
Abgesehen von diesen indirekten Hinweisen auf die Victoriden ist
es schwer, Spuren einer einheimischen (?) Oberschicht zu finden,
denn auch Arbeo, der bei den Breonen im Inntal immerhin den nobilis Romanus Dominicus erwähnt, schweigt hier.132 Vielleicht gehörte zu einer solchen Familie der Hl. Florinus, von dem die Legende
berichtet,133 sein Vater stammte aus dem churrätischen „Britannien“,
dem heutigen Prättigau. Florinus wurde im Vinschgau geboren und
seine Eltern gaben ihn dem Priester Alexander an der Peterskirche
in Ramosch im Unterengadin zur Erziehung, wo er zum Priester
geweiht und schließlich als Heiliger verehrt wurde. In der Legende
spiegelt sich ein weiter Umgriff im churrätischen Raum, der eine Verbindung zwischen dem Vinschgau und dem äußeren Alpenrheintal
herstellt, die auch im 9. und 10. Jh. mehrfach aufscheint.134 Wenn die
Legende in diesem Sinn verstanden werden darf, dann kam der Bezug
von unterrätischen und alemannischen Familien zum Vinschgau nicht
erst durch karolingische Maßnahmen zustande, sondern reicht mindestens ins 7. Jh. zurück. In jedem Fall muss der Name Florinus in
Grundherrenkreisen verbreitet gewesen sein, da nicht nur der Ortsname Flurlingen bei Schaffhausen, sondern auch Flaurling im Oberinntal mit diesem Personennamen gebildet wurde und dies lange vor der
weiträumigeren Verbreitung des Florinuskultes. Obwohl sich im späten 7. und frühen 8. Jh. also rätische Zusammenhänge für den Vinschgau und das oberste Inntal abzeichnen, war plötzlich ein bairischer
Herzog im Besitz der Herrschaftsgewalt. Um dies zu erklären und
die weitere Entwicklung zu verfolgen, müssen die Quellen nach dem
politischen Kontext befragt werden.
Politische Konstellationen
Im Zuge des langobardischen Thronkampfs Ende des 7. Jh. berichtet
Paulus Diaconus, dass König Cunincpert starb und sein noch nicht
erwachsener Sohn Liutpert im Kampf gegen den Kontrahenten Aripert II. getötet wurde, wonach sich dessen Vormund Ansprand auf der
Isola Comacina verschanzte und schließlich weiter nach Chiavenna
floh; deinde per Curiam, Raetorum civitatem, venit ad Theutpertum,
Baioariorum ducem, wo er neun Jahre im Exil lebte.135 Diese Passage ist
höchst aufschlussreich für die politische Parteibildung in den Jahren
unmittelbar nach 700. Ansprand, der die Ansprüche des regierenden
Königshauses vertrat, floh nicht einfach nach Baiern, sondern suchte noch zu Lebzeiten Herzog Theodos Asyl bei dessen Sohn Theodpert, der in Salzburg residierte. Jenseits des Inn, auf norischem Boden
befand er sich außerhalb der fränkischen Reichweite.136 Das bedeutet
umgekehrt, er wäre in Regensburg nicht in Sicherheit gewesen, weil
162
IRMTRAUT HEITMEIER
Pippins II. Arm tatsächlich bis ins westliche, in der Antike rätische
Baiern reichte. Dessen Position wird insofern deutlich, als später
Ansprands Gegner Aripert II. und dessen Familie Unterstützung im
Frankenreich fanden.137 Nun erscheint es naheliegend, von Como über
Chur nach Norden zu fliehen, doch nicht unbedingt, wenn das Ziel
Salzburg heißt. Die Art und Weise, wie Paulus Diaconus die civitas
Raetorum hervorhebt, legt nahe, dass Chur auf Ansprands und damit
auf Seiten des bis dahin regierenden langobardischen Königshauses
der Agilolfinger stand. Das mächtige Herzogtum Trient hingegen
hatte sich in der 2. Hälfte des 7. Jh. besonders unter Herzog Alachis
als Vertreter der antikatholischen Kräfte gegen die bairischen wie
langobardischen Agilolfinger positioniert.138 Alachis wurde 688 von
König Cunincpert besiegt, nicht ohne vorher den bairischen Grafen
aus Bozen vertrieben zu haben.139 Jörg Jarnut nimmt an, dass bereits
Cunincpert nach seinem Sieg den Dukat Trient in ein abhängiges
Gastaldat umwandelte, so wie es 20 Jahre später in der Vita Corbiniani
begegnet.140 In diesem Fall unterstand es der nun in Pavia regierenden
Partei Ariperts II., die damit das Etschtal kontrollierte. Es ist folglich
vorstellbar, dass um 700 lediglich in Chur Bischof Victor und praeses Jactatus zuverlässig auf der Seite der Agilolfinger standen, die im
bairischen und alemannischen Herzogtum herrschten und in Italien
um den langobardischen Thron kämpften; damit waren sie zugleich
Gegenspieler Pippins. Dass die Churer praesides in derselben Zeit den
vir illustris-Titel annahmen und sich damit auf dieselbe Stufe mit fränkischen duces stellten, zeugt von einer deutlich gesteigerten Unabhängigkeit ihrer Position.141 Andererseits könnte in diese Zeit auch die
Gründung von Cazis und Mistail fallen, was auf die Notwendigkeit
von Besitz- und Herrschaftssicherung an den Passstraßen hinweisen
würde. In der Folgegeneration war praeses Victor II. im Unterschied
zu seinen Vorgängern, die – soweit man dies aus den Namen schließen kann – Frauen aus rätischem oder italischem Umfeld hatten, mit
Teusinda verheiratet, die als Alemannin gilt.142 Damit zeigt sich eine
Orientierung nach Norden, die unterstrichen wird durch die Erziehung des jungen Otmar in Chur und die Verbindung zu dem tribunus
von Arbon, Waltram, auf dessen Bitten Otmar 719 Abt von St. Gallen
wurde.143 Das war die Ausgangssituation, bevor Chur in die erste von
drei Sukzessionskrisen des 8. Jh. hineingezogen wurde.
Im Jahr 709 starb der alemannische Herzog Gotfrid, was von 710 – 712
mehrere militärische Interventionen Pippins in Alemannien veranlasste. Gleichzeitig, nach neunjährigem Exil, gelang Ansprand mit Hilfe
bairischer Truppen die Rückeroberung des langobardischen Throns,
den nach seinem baldigen Tod sein Sohn Liutprand bis 744 innehatte.144 Während in Baiern Herzog Theodo das Herzogtum unter seinen
Söhnen aufteilte und nach Rom reiste, erkämpfte sich im Frankenreich Karl Martell nach dem Tod Pippins 714 gegen Pippins Witwe
Plectrud und ihre Nachkommen die Herrschaft.145 Baiern war damals
gespalten: Auf Seite der Langobarden und schließlich Karl Martells
standen in Salzburg Herzog Theodbert und sein Sohn Hugbert, auf
der Gegenseite Herzog Grimoald in Freising. Dieser war mit Pilitrud,
der Witwe seines Bruders Theodoald verheiratet, einer einflussreichen
Dame aus dem Frankenreich und höchst wahrscheinlich einer Verwandten Plektruds.146 Als nun der in den 690 er-Jahren erreichte Ausgleich zwischen dem bairischen Herzogshaus und den Pippiniden, der
137
10 Jahre später verlor Aripert auf der Flucht
ins Frankenreich das Leben, sein Bruder Gumpert
gelangte jedoch dorthin; dessen Sohn ‚regierte‘
später Orleans. PD Hist. Lang. VI 35, 324.
138
Jörg Jarnut, Das Herzogtum Trient in
langobardischer Zeit, in: Atti della Accademia
Roveretana degli Agiati 235 (1985), Serie VI,
vol. 25 f. A, 167-177, 173 f. Jarnut, Beiträge
(wie Anm. 135), 339 f.
139
PD Hist. Lang. V, 36 u. 41, S. 288 u. 296 f.
140
Jarnut, Herzogtum Trient (wie Anm. 138),
175 f.
141
Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 41. Ders.,
Autonomie (wie Anm. 21), 9. Erstmals belegt
auf den mehrfach erwähnten Gedenksteinen
(BUB I, Nr. 11 u. 12): Vector ver inluster preses.
Zur Bedeutung des Titels: Herwig Wolfram,
Intitulatio I. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des 8. Jahrhunderts (MIÖG
Erg. Bd. 21), Wien 1967, 143 ff.
142
Vgl. das Auftreten einer Teusinda =
Theotsinda in Zusammenhang mit einer Schenkung in Romanshorn. Hermann Wartmann
(Hg.),Urkundenbuch der Abtei St. Gallen I,
1863, Nr. 85, S. 81. Dabei handelt es sich um
eine Schenkungsurkunde von Waltrams Tochter Waldrata und ihrem Sohn Waldpertus.
143
U. a. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 48 f.
Vgl. auch Anm. 140.
144
PD Hist. Lang. VI, 35, S. 324.
145
Zuletzt: Andreas Fischer, Karl Martell, Der
Beginn der karolingischen Herrschaft, Stuttgart
2012, Kap. 4. Kurt Reindel, Das Zeitalter der
Agilolfinger, in: Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte I, 2. Aufl.
München 1981, 101-176, 156-162. Herwig
Wolfram, Grenzen und Räume (Österreichische
Geschichte 378-907), Wien 1995, 81-84.
146
Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 77-79, 91-93,
102. Zur Verwandtschaft Pilitruds: Jarnut,
Beiträge (wie Anm. 135), 350 f; Wilhelm
Störmer, Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern (Studien zur bayerischen
Verfassungs- und Sozialgeschichte 4), München 1972, 18-22; Kritisch: Matthias Werner,
Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger
(Vorträge u. Forschungen Sonderbd. 28),
Sigmaringen 1982, 225 ff.
PER ALPES CURIAM
163
zu solchen Eheschließungen geführt hatte,147 vielleicht durch die langobardische Parteinahme Theodberts ‚von Salzburg‘, zerbrach, scheint
Pilitrud wesentlich dazu beigetragen zu haben, die Nähe des westbairischen Teilherzogtums nicht nur zum Frankenreich, sondern vor
allem zur Partei Plektruds und ihrer Nachkommen zu festigen. Das
zweimalige militärische Eingreifen Karl Martells 725 und 728, das zur
Ermordung Herzog Grimoalds und zur Ausschaltung seiner Familie führte, wobei Pilitrud von Karl wieder ins Frankenreich gebracht
wurde,148 ist daher wohl nicht nur als Unterstützung für Hugbert,
den Sohn Herzog Theodberts, zu verstehen, sondern diente vor allem
auch seiner eigenen Anerkennung in Baiern. Vor diesem Hintergrund
scheint aber auf, was es bedeutete, wenn Grimoald die Reschenstraße
bzw. das oberste Inntal und den Vinschgau kontrollierte: Er schuf der
pippinidischen Partei einen Zugang nach Italien und dies auf Kosten
der Zacconen-Victoriden in Chur, die wohl auf der Seite Liutprands
standen, dessen Vater sie bereits unterstützt hatten.
Fischer, Karl Martell (wie Anm. 145), 95.
Arbeo, Vita Corb. 31, 140 f. Dazu Jahn,
Ducatus (wie Anm. 18), 104-107.
149
Fischer, Karl Martell (wie Anm. 145), 133,
164 f.
150
PD Hist. Lang. VI, 43, 328 f.
151
PD Hist. Lang. VI, 58, 342. Jahn, Ducatus
(wie Anm. 18), 104.
152
Arbeo, Vita Corb. 33, 142. Bei Corbinians
Romreise ca. 717/8 befanden sich die fines
Baiuvariorum bei Meran und blieben es auch
noch einige Jahre, da Corbinian nach seiner
Rückkehr sich zunächst in Kuens niederließ
und die Verwaltung des Vermögens des Hl.
Valentin in Mais übernahm, dann an den
Herzogshof zurückkehrte, von wo er jedoch
vor den Nachstellungen der Herzogin Pilitrud
erneut nach Mais fliehen musste.
153
Z. B. Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 104
(Zitat). Haider, Antike und frühestes Mittelalter (wie Anm. 11), 238-240. Diese Sicht wird
präjudiziert durch die bei Paulus Diaconus
überlieferte Liste von castra im Etschtal, die
die Franken 590 eroberten: PD Hist. Lang. III,
31, 214. Vorsichtig: Fischer, Karl Martell
(wie Anm. 145), 99: „einige Landstriche bei
Meran“. Kritisch: Kaufmann, Römische Grenzen (wie Anm. 27), 22 u. 26.
154
Arbeo, Vita Corb. 15 u. 23, 110, 128.
147
148
Mit dem Langobardenkönig Liutprand ging Karl Martell ein dauerhaftes Bündnis ein, das bis zu ihrem Tod 741 bzw. 744 hielt und sowohl
langobardische Waffenhilfe gegen die Sarazenen beinhaltete wie auch
die Adoption von Karls Sohn Pippin durch den Langobardenkönig.149
Liutprand war außerdem mit Guntrud, der Schwester Herzog Hugberts von Salzburg verheiratet.150 Es dürften sich also Hilfe für den
Schwager und Unterstützung Karls als Motive verbunden haben, als
Liutprand zu Beginn seiner Königsherrschaft (initio regni), „den Baiern“ – gemeint sein kann nur das Teilherzogtum Grimoalds – viele
feste Plätze wegnahm (Baioariorum plurima castra cepit), wie Paulus Diaconus noch im letzten Satz seiner Historia Langobardorum
festhält, die mit einem Herrscherlob Liutprands endet.151Aus diesem
Kontext heraus muss die zeitliche Einordnung initio regni wohl nicht
zu eng gesehen werden, denn in Verbindung mit den Nachrichten
der Vita Corbiniani wird deutlich, dass eine bairisch-langobardische
Auseinandersetzung erst nach Corbinians Romreise, also wohl in den
720 er-Jahren stattgefunden hatte, was nahelegt, dass Liutprand die
Aktionen Karl Martells in Baiern von Süden unterstützte. In Arbeos
Erzählabfolge wird zunächst der Untergang von Grimoald und seiner
Familie geschildert, dann Hugberts Regierungsantritt im ganzen Herzogtum und erst danach, als Corbinian seinen Tod nahen fühlte und
beim Langobardenkönig um Erhaltung seines Besitzes in Kuens sowie
um einen Begräbnisplatz beim Hl. Valentin ansucht, folgt die Information, quia eosdem castros dominabantur in tempore Longobardi.152
In der Literatur wird meist angenommen, diese von den Langobarden
eroberten castra seien „im Großraum Bozen – Meran“ gelegen, also von
Meran etschabwärts zu suchen.153 Dies ist aber keineswegs zwingend,
denn von einer bairischen Herrschaft im Etschtal ist nach der Vertreibung des bairischen Grafen aus Bozen um 680 und vor der Heirat
Herzog Tassilos mit der Langobardin Liutpirc nichts mehr bekannt,
im Gegenteil: Arbeo hält zum Zeitpunkt von Corbinians Romreise
fest, dass die fines Baiuvariorum bei Meran lagen und nicht weiter
etschabwärts.154 Der Vinschgau hingegen unterstand sicher dem bairischen Teilherzog Grimoald, der zur gegnerischen Partei Liutprands
und Karl Martells gehörte. Von daher gibt es kaum eine andere Möglichkeit als die, dass die eroberten castra im Vinschgau lagen. Zu ihnen
164
IRMTRAUT HEITMEIER
könnten neben dem ausführlich genannten castrum Mais (Zenoburg)
auch Plätze wie Juval oder Lichtenberg gehört haben.155 Bezeichnenderweise führte auch der Leichenzug Corbinians Richtung Süden
nicht mehr über die Reschenroute, die er zu Lebzeiten selbstverständlich benutzt hatte, sondern über das mittlere Inntal, wo Corbinian bei
den Breonen Wunder wirkte.156
Archäologische Funde, die langobardische Präsenz im Vinschgau
sicher belegen würden, sind nicht leicht beizubringen; doch sieht
Hans Nothdurfter den wohl noch in der 1. Hälfte des 8. Jh. entstandenen Neubau der Kirche St. Peter ob Gratsch, unmittelbar westlich der
hochmittelalterlichen Burg Tirol gelegen, hinsichtlich Grundriss und
Architekturmerkmalen gänzlich in italisch-langobardischer Tradition, einschließlich eines Sarkophags in langobardischem Stil,157 was zu
einem nahegelegenen langobardischen Herrschaftssitz passen würde.
Eine weitere Stütze bietet die Verbreitung des Zeno-Patroziniums, das
sich nicht nur im castrum Mais, und zudem offenbar erst in nachcorbinianischer Zeit,158 findet, sondern auch an zentralen Orten wie
Naturns im Unter- und Burgeis im Obervinschgau. In der Folge der
Ereignisse in den 720 er-Jahren ist also von einem langobardischen
Vinschgau auszugehen.
Die Frage ist, wie die Victoriden in Chur sich zu den Vorgängen im
Osten ihres Bistums- und Herrschaftsraumes stellten. Die Quellen
lassen nicht erkennen, wie lange Vinschgau und oberstes Inntal bereits
unter bairischer Kontrolle waren; es gibt jedoch ein Indiz dafür, dass
der bairische Vorstoß erst unter Grimoald erfolgte. Die Vita Otmari
berichtet nämlich, Bischof Victor von Chur, wo Otmar zur Ausbildung weilte, habe diesem den titulus sancti Florini übertragen,159 also
die damals wohl schon nicht unbedeutende Kirche mit castrum und
wirtschaftlichem Zubehör in Ramosch im Unterengadin.160 Zeitlich
muss sich das abgespielt haben, bevor Otmar 719 Abt von St. Gallen wurde, also während der Jahre der fränkischen Nachfolgekrise.
Wenn Grimoald in dieser Zeit die Herrschaft an der Reschenstraße
an sich riss, um sich selbst und der pippinidischen Partei, was heißt:
auch den Gegnern Liutprands eine Passstraße zwischen Baiern und
Italien zu sichern, dann wäre gut vorstellbar, dass mit Ramosch eine
Churer Position gegen die vordringenden Baiern und ihre fränkischen
Anhänger besetzt wurde. Man muss allerdings fragen, warum hierfür
gerade Otmar der richtige Mann war und nicht ein rätischer Geistlicher, den man am Churer Hof sicher auch hätte finden können. Das
spricht dafür, dass Otmar entweder bereits als Protagonist einer antipippinidischen alemannischen Fraktion aktiv wurde – einer solchen
wurde auch praeses Victor zugewiesen wegen des versuchten Raubs
der Gallus-Reliquien161 – oder vielleicht der Familie des Florinus
nahestand, was wiederum engere Verbindungen zum Oberinntaler
Adel einschließen könnte, der ebenfalls Verbindungen in den alemannischen Raum besaß, vermutlich sogar zum agilolfingischen Herzogshaus, wie in der Folgegeneration (Scharnitzer Gründer) die Namen
Odilo und Lantfrid nahelegen.162
Tatsächlich scheint Victor nicht nur an der östlichen, sondern auch an
der westlichen Peripherie seines Herrschaftsraumes gezwungen gewesen zu sein, sich gegen fremde bzw. gegnerische Einflüsse zu wehren.
Vgl. den Beitrag von Paul Gleirscher in diesem Band, sowie Steiner, Neue archäologische
Entdeckungen (wie Anm. 15), 36 f.
156
Arbeo, Vita Corb. 37, 146.
157
So mündlich am 18. 3. 2013 mit dieser
Datierung. Zur Kirche siehe Hans Nothdurfter,
Katalog der frühchristlichen und frühmittelalterlichen Kirchenbauten in Südtirol, in: Sennhauser (Hg.), Frühe Kirchen (wie Anm. 18),
Bd. 1, 291-355, 346-350.
158
In der Arbeo-Vita ist nur die Rede vom
Hl. Valentin, während Zeno erst in Glossen
hinzugefügt wurde. Vgl. Arbeo, Vita Corb. 25,
132.
159
Leben des heiligen Abtes Otmar, in: Camilla
Dirlmeier / Klaus Sprigade (Bearb.), Quellen zur
Geschichte der Alemannen III, Sigmaringen
1979, 68-73, 69.
160
Zur Diskussion, ob es sich dabei wirklich
um die Florinuskirche in Ramosch handelte,
s. Reinhold Kaiser, Das Bistum Chur und seine
Frauenklöster und Klerikergemeinschaften,
in: Frühformen von Stiftskirchen in Europa,
315-337, 330-336, sowie Vinzenz Muraro,
Bischof Hartbert von Chur (951-971/72) und
die Einbindung Churrätiens in die ottonische
Reichspolitik (QBG 21), Chur 2009, 53-55,
beide zustimmend.
161
Rolf Sprandel, Das Kloster St. Gallen in
der Verfassung des karolingischen Reiches,
Freiburg 1958, 12 u. 27.
162
Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 415, der
resümiert, dass „die Indizien für agilolfingisches Namenmilieu bei den Scharnitzern
eminent dicht sind“.
155
PER ALPES CURIAM
165
Nach der Legende um die Anfänge von Disentis wurde der (fränkische) Eremit Sigisbert von einem Einheimischen (?) namens Placidus
gefördert, der auf Betreiben Victors den Märtyrertod erlitten haben
soll.163 Angesichts der prominenten Straßenlage von Disentis am Fuß
des Lukmanier als Übergang nach Italien, aber auch als Station am
Weg zum Oberalp- und Furkapass ins Wallis liegt nahe, dass hier mit
der geistlichen Niederlassung Wege besetzt wurden, die nicht unter
der aktiven Herrschaft der Victoriden standen, aber für die Erfassung
des Alpenraumes höchst bedeutsam werden konnten. Dabei waren die
Kräfte, die hinter dem Franken Sigisbert standen für die Victoriden
vielleicht weniger gefährlich als die einheimischen, die durch die Person des Placidus verkörpert wurden. Wenn sich hier eine innerrätische
Opposition gegen die Victoriden abzeichnet, dann dürfte die Ermordung des Placidus eindrücklich beleuchten, wie man in solchen Fällen
vorging.
Zu den Quellen s. Elsanne Gilomen-Schenkel / Iso Müller, Disentis, in: Helvetia sacra
III/ 1, 1, 1986, 474-512, 475 f. Iso Müller (ed.),
Die Passio s. Placidi (ca. 1200), in: Zeitschrift
für schweizerische Kirchengeschichte 46
(1952), 164-180, 166-168. Kaiser, Churrätien
(wie Anm. 3), 46-48, 134 f.
164
Alfons Zettler, Geschichte des Herzogtums
Schwaben, Stuttgart 2003, 53. Jörg Jarnut,
Alemannien zur Zeit der Doppelherrschaft der
Hausmeier Karlmann und Pippin, in: Rudolf
Schieffer (Hg.), Beiträge zur Geschichte des
Regnum Francorum (Beihefte der Francia 22),
1990, 57-66, 58-60. Quellen zur Geschichte
der Alemannen III (wie Anm. 159), 17 mit
Anm. 42.
165
S. oben zu Anm. 75.
166
Dazu Wolfgang Hartung, Merowingisches
Königsgut in Alemannien und Rätien, in:
Montfort 42, H. 1 (1990), 36-62, 37 und
passim, der sich nachdrücklich dagegen
ausspricht, dass Reichsgut in Rätien erst durch
die Divisio entstanden sei. Gilomen-Schenkel,
in Helvetia sacra III/ 1, 1, S. 47.
167
Karlmann konnte sich trotz des ‚Tages von
Cannstatt‘ 746 in dem ihm zustehenden Regnum gegen den Bruder nicht durchsetzen. Ein
Jahr darauf resignierte er, ging nach Rom und
gründete auf dem Monte Soratte ein Kloster.
Zu den Umständen: Zettler, Herzogtum Schwaben (wie Anm. 164), 55 f.
168
Jarnut, Alemannien (wie Anm. 164), 59 f.
169
So auch Wilhelm Störmer, Augsburg
zwischen Antike und Mittelalter. Überlegungen
zur Frage eines herzoglichen Zentralortes im
6. Jahrhundert und eines vorbonifatianischen
Bistums, in: Andreas Bihrer u. a. (Hg.), Adel
und Königtum im mittelalterlichen Schwaben,
Stuttgart 2009, 71-85, 82. Die Frage, wann
die bairische Lechgrenze entstand, ist nicht
ausdiskutiert.
163
Karl Martell war in Alemannien zunächst nicht militärisch aktiv
geworden, sondern hatte über die Gründung der Reichenau 724
gewirkt und bei seinen Durchzügen nach Baiern 725 und 728 Präsenz gezeigt. Der unmittelbare Anlass für sein Vorgehen gegen Herzog Lantfrid 730 ist schwer zu ermitteln; nach dessen Tod kam es
zu Zusammenstößen mit seinem Bruder und Nachfolger Theudebald, der ins Exil gehen musste.164 In diese Jahre passt ein Vorgang,
der nahelegt, dass Karl Martell Rätien im Auge behielt, nämlich die
Gründung des Klosters Pfäfers. Das Kloster in der bereits beschriebenen strategisch wichtigen Straßenlage wurde mit Hilfe von Mönchen
von der Reichenau, aber wohl auch mit einheimischer Unterstützung
gegründet und erscheint in dieser Situation als Paradebeispiel für die
Instrumentalisierung von Klöstern zur Herrschafts- und Straßensicherung. Wie die Besitzausstattung vor der Mitte des 9. Jh., also vor
ihrer Aufzeichnung im RU, aussah, ist unbekannt. Man muss aber
davon ausgehen, dass das Kloster aufgrund seiner Position und seiner Besitzstruktur 165 einen wesentlichen Teil der im RU aufgeführten
verkehrswichtigen Besitzungen und Kirchen bereits als Gründungsausstattung erhielt, was bedeutete, dass ein nicht unbeträchtlicher
Teil von Fiskalgut bereits lange vor der Divisio zur Ausstattung eines
Klosters verwendet und damit der Verfügung des rätischen praeses
oder Bischofs entzogen wurde. Damit wäre Pfäfers als erster Versuch
zu werten, die Straßenhoheit Churs zu brechen.166
Als Karl Martell 741 starb, kam es trotz geregelter Erbteilung unter
seinen Söhnen Karlmann und Pippin zu einer mehrjährigen Rivalität, aus der schließlich Pippin erfolgreich hervorging.167 Zunächst
aber gehörten Alemannien wie auch Rätien zum regnum Karlmanns.
Bereits 742 war dieser mit einem Heer in Alemannien eingedrungen, wo Theudebald nach Karl Martells Tod aus dem Exil zurückgekehrt war und gegen die Karolinger im Elsass agierte; doch gelang es
Karlmann nicht, die Lage endgültig zu bereinigen.168 Ein Jahr später
gingen beide Brüder gegen Herzog Odilo von Baiern und das Heer
einer versammelten Fürstenopposition vor, bei der erneut Theudebald
mitwirkte. Die Folge war, dass das Gebiet zwischen Iller und Lech
dem bairischen Herzog entzogen wurde.169 Als Karlmann in einem
der folgenden Jahre in Sachsen Krieg führte, zog Pippin noch einmal
gegen Theudebald, vertrieb den Flüchtenden ab obsidione Alpium und
166
IRMTRAUT HEITMEIER
kehrte als Sieger nach Hause zurück. Zuvor aber hatte er den Dukat
„dieses Ortes“ an sich gezogen (revocatoque sibi eiusdem loci ducato).170 Das Problem an dieser Stelle ist, dass eine Lokalisierung fehlt.
Sicher ist jedoch, dass im ganzen Abschnitt nicht von Alemannien die
Rede ist. Pippin zog also kaum den alemannischen Dukat an sich,171
den wohl de facto Karl Martell bereits beendet hatte, sondern denjenigen des Alpenraums, in dem sich Theudebald verschanzt hatte.
Es ist zu überlegen, ob hier auch Rätien in Frage kommt, auch wenn
erst die Divisio regnorum 806 von einem ducatus Curiensis spricht.172
Doch fällt auf, dass in der Generation Bischof Tellos der rangmäßig
gleichwertige praeses-Titel, den sein Bruder Zacco noch trägt,173 verschwindet. In der um die Mitte des 8. Jh. bearbeiteten so genannten
Lex Romana Curiensis kommt er nicht mehr vor.174 Vor allem aber
lässt das Schutzprivileg Karls des Großen für den rector Constantius
klar erkennen, dass bereits unter Pippin ein Treueverhältnis der Räter
gegenüber dem Hausmeier begründet wurde, wenn nicht schon vorher
Verträge mit den Merowingerkönigen geschlossen worden waren.175
Schließlich könnten auch archäologische Indizien wie der Untergang
der Siedlung auf dem bereits genannten Ochsenberg bei Wartau auf
Kriegseinwirkung in diesem Zeitfenster passen.176 Pippin scheint sich
demnach bereits 745 Rätiens versichert zu haben, was das Ende des
praeses Zacco und den Beginn der Alleinherrschaft Tellos bedeutete, der im Reichenauer Verbrüderungsbuch bezeichnenderweise mit
dem weltlichen Titel eines comes geführt wird.177 Erst von diesem
Zeitpunkt an lässt sich von einer Bischofsherrschaft sprechen, denn
soweit die vorhergehenden Generationen der Victoriden-Zacconen
bekannt sind, wurde das weltliche und geistliche Amt immer geschieden, damit wohl auch die jeweilige Besitzausstattung. Die Zusammenführung in der Hand des Bischofs muss Pippin vorteilhaft erschienen
sein, vermutlich in Hinblick auf die Ausschaltung von Erbansprüchen
des Victoridenclans. Wenn das Amtsgut des praeses dem Kirchengut
eingegliedert wurde, kam dies bereits einer Einziehung von Fiskalgut
gleich.
Dabei ist auch die veränderte Situation im Süden zu berücksichtigen.
In Pavia hatte mit Liutprand die Partei regiert, die von Chur bereits
zu Beginn des Jahrhunderts unterstützt wurde. Es erscheint demnach
sehr gut möglich, dass in den 720 er-Jahren Liutprand die GrimoaldBaiern sogar im Konsens mit Chur wieder aus dem Vinschgau verdrängte und anschließend die Kontrolle über den Straßenraum unter
der Oberhoheit Churs ausübte. Denn dass das Verhältnis zum südlichen Nachbarn in dieser Phase entspannt war, zeigt nicht zuletzt
die Vernachlässigung der Grenzbefestigungen, was 746 König Ratchis veranlasste, deren Wiederaufrichtung zu befehlen.178 Auch lassen
Münzfunde, wie beispielsweise die langobardischen Goldmünzen aus
der Zeit Liutprands vom Ochsenberg bei Wartau,179 rege wirtschaftliche Verbindungen nach Süden erkennen. Dies hielt wohl an bis zum
Tod Liutprands 744, der vielleicht erst das Eingreifen Pippins in Rätien ermöglichte. Unter Liutprands Nachfolgern Ratchis und Aistulf,
die aus dem gegnerischen Lager kamen, wurden die Grenzen wieder
befestigt und scharf bewacht. Nicht zuletzt misstrauisch durch den
gesteigerten Briefverkehr zwischen dem Frankenreich und Rom, insbesondere auch zwischen Bonifatius und dem Papst, aber auch beunruhigt durch die Opposition im eigenen Land erließ Ratchis bereits
Fredegar, Chronicarum Continuationes 27
(ed. B. Krusch, MGH SS rer. Merov. 2, 1888,
181).
171
Davon geht aus: Jarnut, Alemannien (wie
Anm. 164), 62 f. Dieter Geuenich plädiert hingegen für den Ducatus Alsatiae und identifiziert
die Alpes mit den Vogesen. Ders., ... noluerunt
obtemperare ducibus Francorum, in: Matthias
Becher / Jörg Jarnut (Hg.), Der Dynastiewechsel
von 751, Münster 2004, 131-143, 142 f.
172
MGH Capitularia regum Francorum 1
(ed. A. Boretius, 1883, ND 1984), Nr. 45, c. 2,
S. 127. Zum ducatus als Bezeichnung für
halbautonome Gebiete in dieser Zeit vgl. den
Beitrag von H. Wolfram in diesem Band.
173
Lieb, Gründer von Cazis (wie Anm. 66), 39.
174
Datierung: Siems, Zur Lex Romana Curiensis (wie Anm. 23), 118. Iso Müller, Rätien im
8. Jahrhundert, in: Zeitschrift für schweizerische Geschichte 19 (1939), 337-395, 356.
175
BUB I, Nr. 78, S. 112: Si autem illis, qui
parentibus nostris fidem visi sunt conservasse
inlaesam ..., ut etiam legem vel consuetudinem, quae parentes eorum cum predecessoribus nostris habuerint ... Der Plural der Vorgänger muss sich auf die Merowingerkönige
beziehen, so Kaiser, Autonomie (wie Anm. 21),
22, doch weist das nicht zwingend auf weiter
zurückreichende Verträge hin, denn vor Pippins
eigenem Königtum wären solche immer im
Namen der Merowinger geschlossen worden.
176
Schindler, Kommentar zur frühmittelalterlichen Besiedlung des Ochsenberges (wie
Anm. 83), 72.
177
MGH Libri memoriales NS 1 (ed. J. Autenrieth u. a., 1979), Faks. 115 B4. Desgleichen
sein Vater Victor, was zeigt, wie man auf der
Reichenau um 824 das Herrschaftsamt in
Rätien einschätzte.
178
Ratchis 13 (MGH Leges 4, ed. F. Bluhme,
1868, 192 f): De clusas, qui disruptae sunt:
restaurentur et ponant ibi custodiam, Tangl,
Passvorschrift (wie Anm. 46), 29 f; Pohl, Frontiers (wie Anm. 110), 123.
179
Schindler, Kommentar zur frühmittelalterlichen Besiedlung des Ochsenberges (wie
Anm. 83), 73.
170
PER ALPES CURIAM
167
746 die erwähnten Passvorschriften, die eine genaue Kontrolle jeglichen Personenverkehrs verordneten.180 Bereits um diese Zeit muss eine
effektive Grenze zwischen Churrätien und dem Langobardenreich
entstanden sein, was ebenfalls stimmig wäre, wenn Pippin seinen
Herrschaftsanspruch nördlich der Pässe durchsetzen und die Macht
der Victoriden beschneiden konnte.
Tangl, Passvorschrift (wie Anm. 46), 29 ff.
Alfons Zettler, Karolingerzeit, in: Handbuch
der Baden-Württembergischen Geschichte I, 1,
Stuttgart 2001, 297-380, 319 f. Michael Borgolte, Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer Zeit (VuF Sonderbd. 31),
Sigmaringen 1984, 78 ff.
182
Dagegen spricht auch nicht die Translation
der Gebeine des Hl. Valentin von Mais nach
Trient, wohl vor der erneuten Übernahme des
castrum durch die Baiern, da die Grenzfunktion von Mais vom Passeier aus zu verstehen ist
(s. unten zu Anm. 185), während der entsprechende Platz für den Vinschgau wohl wenig
westlich bei der späteren Burg Tirol zu suchen
ist. Zu den Vorgängen ausführlich Kaufmann,
castrum Maiensis (wie Anm. 86), 68 ff, sowie
ders., Römische Grenzen (wie Anm. 27), 24-31.
183
Für diese Auskunft danke ich Hans Lieb,
Schaffhausen.
184
Rudolf Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart
3. Aufl. 2000, 61 f.
180
181
Unklar bleibt, was im Zuge dieser Entwicklungen mit dem Vinschgau geschah. Es gibt keine Nachricht über einen Rückzug der Langobarden, ebenso wenig einen Hinweis darauf, dass auch hier nach
Karlmanns Resignation 747 fränkische Grafen aktiv geworden wären,
wie Warin und Ruthard südlich des Bodensees.181 Wahrscheinlich
dürfte eher sein, dass die Langobarden im Rahmen der verschärften
Grenzkontrolle sich im Vinschgau erst recht festsetzten, um auch die
Nordseite der Übergänge zu kontrollieren.182 Dass Pippin für eine
Rückstellung an die Victoriden gesorgt hätte, ist angesichts seiner
Entmachtungsbestrebungen in Chur nicht anzunehmen, zumal er
in diesem Zusammenhang die Wiederbelebung alter Südverbindungen fürchten musste. Vor diesem Hintergrund ist noch einmal auf die
mehrfach besprochenen Gedenksteine aus der victoridischen Familiengruft in St. Luzi in Chur zurückzukommen. Die Nennung der
Ahnen wie auch die Berufung auf Victor II., den vir illuster praeses,
der in der 1. Hälfte des 8. Jh. die starke Figur in Chur war, trug den
Machtanspruch der Familie offen vor. Mit den Herkunftsangaben
der Steine aus Trient und de Venostes wurde die Reichweite des victoridischen Einflusses wie auch Besitzes abgesteckt und in Bezug auf
diese Räume eingefordert. Die Forschung ging bisher ausschließlich
davon aus, dass die Steine unter Victor II. hergestellt und in der Gruft
angebracht wurden. Doch erlaubt die Schrift keine engere Datierung
an den Anfang des 8. Jh.,183 ebenso wenig der Inhalt, denn die Berufung auf praeses Victor impliziert nicht automatisch, dass er die Steine
setzte, sie besagt lediglich, dass unter seiner Herrschaft der Vinschgau
Chur unterstand bzw. Kontakte in die Vallis Tridentina bestanden.
Die Inschriften wurden also zu einer Zeit hergestellt, als die Verfügung über den Vinschgau verloren gegangen war und ebenso die
Beziehung ins mittlere Etschtal. Das war erstmals nach der Okkupation durch die Grimoald-Baiern der Fall, die wohl bereits in die Regierungszeit Victors II. fiel. Berücksichtigt man jedoch das bis hierher
Erschlossene, dann war die Situation um die Jahrhundertmitte noch
viel ernster, als nach dem Tod Liutprands die Beziehungen zu den
Langobarden angespannt waren und die rätischen Herrschaftsrechte
von Pippin so beschnitten wurden, dass die Victoriden fürchten mussten, ihren Herrschaftsanspruch über den Vinschgau ganz zu verlieren.
Dies nötigte sie zu einer Selbstdarstellung und Machtdemonstration
in ihrer Familiengruft, wie man sie in späterer Zeit durch die Herstellung von Urkunden unternommen hätte.
Es ist gut möglich, dass Pippin die langobardische Nordgrenze auch
deshalb zunächst unangetastet ließ, weil es eine nicht unbeträchtliche
pro-langobardische Partei im fränkischen Adel gab, wie sich an ihrem
Widerstand gegen Pippins Kriegspläne ablesen lässt.184 Vielmehr verfolgte er nach seinen Siegen über Aistulf 754 und 756 offenbar eine
andere Politik im Alpenraum, denn der junge Tassilo, der Pippin 756
nach Italien begleitet und 757 seinem Onkel den Treueid geleistet hatte,
168
IRMTRAUT HEITMEIER
erhielt den Zugriff auf das dem bairischen Herzogtum unmittelbar
vorgelagerte alpine Inntal, d. h. den pagus Uallenensium und die südlich anschließenden Täler, zu denen auch das Passeier gehörte.185 Insofern verwundert es nicht, Tassilo 768/9 im Besitz des castrum Mais zu
finden, denn er gab damals die Erlaubnis zur Überführung des Hl.
Corbinian nach Freising. Die Translation erfolgte, wie 40 Jahre zuvor
in der Gegenrichtung bereits der Leichenzug Corbinians, wiederum
nicht über die Reschenstraße, sondern über das Inntal und folgte diesem flussabwärts sogar bis zum alten römischen Innübergang Pons
Aeni nördlich Rosenheim,186 womit Arbeo wohl andeuten will, dass
sich nun das ganze Inntal in der Hand Herzog Tassilos befand. Indem
er seinem Neffen die Tiroler Pässe überließ, beauftragte Pippin ihn
auch mit der Sicherung des Grenzraumes gegen die Langobarden.
Das castrum Mais dürfte also eine bairisch-fränkische Position gegen
einen nach wie vor langobardischen Vinschgau gewesen sein.
Die Translation Corbinians zu Beginn des Jahres 769 war eine Reaktion auf den Tod Pippins im September 768. Dass man den Heiligen noch im Winter von Südtirol nach Freising holte, wo bereits im
Februar eine Besitzübertragung ad sepulchrum sancti Corbiniani
stattfand,187 zeigt, dass man in Baiern den Verlust dieses Vorpostens
befürchtete. Wohl ebenfalls noch im Jahr 768 reiste Tassilo nach Rom
und gründete auf der Rückreise von Italien mit Zustimmung seiner
Optimaten das Kloster Innichen im östlichen Pustertal, das ebenfalls der Freisinger Kirche unterstellt wurde. Es lag laut Urkunde an
der Slawengrenze,188 daneben aber auch äußerst verkehrsgünstig an
der Abzweigung des Sextentales, das über den Kreuzbergpass einen
leichten Zugang ins Cadore ermöglichte. Das wirkt so, als habe man
nach Pippins Tod einen Zugriff auf das Gebiet der alpinen, zum Frankenreich gehörenden Raetia befürchtet, d. h. auf Churrätien inklusive
Vinschgau und Inntal. Die Befürchtungen waren umso begründeter,
als Tassilo inzwischen der Schwiegersohn des Langobardenkönigs
Desiderius war, damit seine Funktion als fränkischer ‚Grenzwächter‘
nicht mehr erfüllte, und unter Desiderius auch von einer wiederhergestellten Nähe zwischen Chur und Pavia auszugehen ist, wozu die
Respektierung der alten Churer Rechte im Vinschgau gehört haben
könnte. Tatsache ist, dass zumindest in Chur die Regierungsübernahme der Pippin-Söhne Karl und Karlmann mit dem Ende Bischof Tellos und der viktoridischen Herrschaft einherging.
Nach Pippins Tod im September 768 teilten seine Söhne das Reich.
Das Elsass, Alemannien und Churrätien gehörten zu Karlmanns
Reichsteil, womit er auch derjenige war, der die günstigere Ausgangsposition für die Italienpolitik hatte. Über seine politischen Absichten ist angesichts der Kürze seiner Regierung kaum etwas zu sagen.189
Allerdings war die Rivalität mit dem Bruder offenbar immens und
führte dazu, dass ihre Mutter Bertrada in einem beispiellosen Vermittlungsversuch zwischen ihren Söhnen, Herzog Tassilo von Baiern, dem Langobardenkönig Desiderius und Papst Stephan III. wohl
nicht nur Frieden sichern, sondern gerade durch das Heiratsprojekt
Karls mit einer Desiderius-Tochter Karlmann in der Italienpolitik
isolieren wollte. Dieser hatte sich dem Papst angenähert, der ihm die
Taufe seines kleinen Sohnes Pippin zusagte, zu diesem Zeitpunkt der
prädestinierte Erbe des Karolingerreiches und ein kaum hoch genug
185
Zum Anschluss des pagus Uallenensium:
Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 339-344.
Hierbei handelte es sich aber wohl erneut um
die alte Raumeinheit innerhalb des Fernpasses
und des Scharnitzwaldes, bei der das vallis
Passeyr cum omnibus adtinentibus ausdrücklich genannt wird. Vgl. Anm. 102.
186
Arbeo, Vita Corb. 44, 154: Amissa montana, ad amnem Eni portum...
187
Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32),
Nr. 31, S. 59.
188
Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32),
Nr. 34, S. 62.
189
Eine scharfe Analyse der Ereignisse von
769 bis 771 bei Jörg Jarnut, Ein Bruderkampf
und seine Folgen: Die Krise des Frankenreiches
(768-771), wieder in: Ders., Herrschaft und
Ethnogenese im Frühmittelalter, Gesammelte Aufsätze, Paderborn 2002, 235-246.
Zusätzliche Aspekte bei Zettler, Karolingerzeit
(wie Anm. 181), 324 f. Schieffer, Karolinger
(wie Anm. 183), 72 f. Michael Richter, Karl der
Große, die ersten Herrschaftsjahre, in: Uwe
Ludwig (Hg.), Nomen et fraternitas, FS f. Dieter
Geuenich (RGA Erg. Bd. 62), Berlin / New York
2008, 587-594.
PER ALPES CURIAM
169
einzuschätzender Machtfaktor für Karlmann. Da aber auf Veranlassung Bertradas und durch Aktivitäten von missi Karls sowohl König
Desiderius dem Heiligen Stuhl Gebiete zurückgab, wie auch Herzog
Arichis von Benevent entfremdete Patrimonien restituierte, zog der
Papst sein compaternitas-Angebot für den Karlmann-Sohn zurück.
Als im Frühjahr 771 Desiderius und seine römischen Bundesgenossen
gegen den von Karlmann zum Papst gesandten Dodo und seine Truppen vorgingen, fand in Rom ein Stellvertreterkrieg der karolingischen
Brüder statt, bei dem die Partei Karlmanns unterlag. Dass Karlmann
darauf nicht mehr reagierte, ist wohl nicht nur einer politischen Lähmung zuzuschreiben, sondern einer Krankheit, die sich in zwei Seelgerätsstiftungen des jungen Königs an St. Denis und Reims zu erkennen gibt.190 Karl hingegen begann noch vor dem Tod des Bruders eine
aktive Alemannienpolitik zu betreiben, indem er Waldo nach St. Gallen schickte und – nach Zettler bereits 771 – Hildegard, die Urenkelin Herzog Gotfrids heiratete.191 Ein oder zwei Jahre später begegnet
bereits Constantius als Bischof-rector in Rätien. Ob er noch von Karlmann oder bereits von Karl eingesetzt wurde, ist nicht zu erkennen.
Zettler, Karolingerzeit (wie Anm. 181), 324.
Zettler, Herzogtum Schwaben (wie Anm.
164), 63. Ders. Karolingerzeit (wie Anm. 181),
326.
192
Clavadetscher, Führungsschicht (wie Anm.
82), 25, unter Hinweis darauf, dass die Namen
am ehesten aus der Disentiser Memorialüberlieferung stammten, wo diese als defuncti eingetragen waren. Als Vermutung gekennzeichnet
bei Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 50.
193
Vgl. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 211216, mit Karte 28, 213.
194
Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39),
152 f, 213-214 (Zitate).
195
Zu diesem Problem s. den Beitrag von
A. Zettler in diesem Band.
196
Vita Galli auctore Walahfrido liber II, c. 17
(ed. B. Krusch, MGH SS rer. Merov. 4, 1902,
324).
190
191
Die hektischen Reaktionen der Baiern nach dem Tod Pippins lassen
vermuten, dass man von Karlmann als prädestiniertem Erben des
rätischen Raumes einen schnellen Zugriff erwartete, um den an das
Langobardenreich anschließenden Grenzraum sicher unter Kontrolle zu bringen. Möglicherweise traf dies auch schon Bischof Tello.
Da Tello bereits 765 sein ‚Testament‘ gemacht hatte, in dem er nach
seinem Tod sein väterliches Erbgut dem Kloster Disentis übertrug,
schloss man daraus, dass er keine Erben mehr hatte,192 – was auch
half, die Ämterkumulierung in seiner Hand zu erklären – und weiter, dass er vor der Einsetzung des Constantius gestorben war. Die
Vereinigung des weltlichen und geistlichen Amtes dürfte jedoch
eher das Werk Pippins gewesen sein und ein so ‚pünktlicher‘ Tod
wäre doch ein großer Zufall gewesen. Eine Absetzung oder Resignation ist also zu bedenken. Der an Disentis übertragene Besitz ist
groß, aber so konzentriert im Vorderrheintal gelegen,193 dass auch
Sebastian Grüninger in Hinblick auf seine Verhältnismäßigkeit
zur generationenlangen „Stellung der Victoriden in der weltlichen
und kirchlichen Hierarchie Churrätiens“ Zweifel äußerte, ob hier
„ein adäquates Bild der Besitzmasse dieser Familie“ wiedergegeben
werde. Die räumliche Konzentration, verbunden mit den Indizien,
die auf Victoridenbesitz im Vinschgau hinwiesen, spricht eher für
einen Ausschnitt aus demselben, wobei Grüninger die Ursache in
der problematischen Textgenese des ‚Testamentes‘ vermutet.194 Doch
könnten die Hintergründe auch andere sein. Nach einem späteren
Insert im ‚Testament‘ hatte Tello vier Geschwister sowie zwei Neffen und eine Nichte, die alle 765, als er sein ‚Testament‘ abfasste,
nicht mehr gelebt haben sollen; dies mag für die Geschwister Tellos
plausibel erscheinen, doch nicht unbedingt für die nächste Generation, von der wir vielleicht nicht einmal alle Mitglieder kennen.195
Immerhin berichtet die Vita Galli von einem Vermittlungsversuch
Tellos bei Bischof Sidonius von Konstanz für Sankt Galler Mönche,
quoniam eorundem fratrum aliqui consanguinetatis vinculo illi erant
coniuncti.196 Ob es sich dabei um Verwandte rätischer oder alemannischer Herkunft handelte, bleibt offen, doch ist die Familie von Tellos Mutter Teusinda jedenfalls mit zu bedenken. Gleiches gilt für
170
IRMTRAUT HEITMEIER
langobardische Verbindungen, die nicht greifbar, aber aufgrund der
politischen Nähe in der ersten Jahrhunderthälfte unbedingt anzunehmen sind. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, warum Personen
oder ganze Familienzweige aus den Quellen verschwinden. Wenn
die Annahme zutrifft, dass Pippin bereits in den 740 er-Jahren die
weltliche Macht der Victoriden drastisch beschnitt, dann würde nicht verwundern, wenn Angehörige in die Opposition gingen.
Der Eintritt ins Kloster mag nicht immer freiwillig erfolgt sein, für
andere führte der Weg vielleicht ins Exil. Es ist daran zu erinnern,
wie deutlich das Schutzprivileg Karls des Großen 772/73 197 erkennen
lässt, dass es in der patria Curiensis Leute gab, die von der Treue
gegenüber den Karolingern wenig hielten, und dass Constantius vor
allem Personen von außerhalb der Grenzen (extrinsecus homines)
fürchtete, womit nicht nur Langobarden oder Alemannen gemeint
sein konnten, sondern auch Exilräter.198 Diese Überlegungen machen
deutlich, dass keineswegs sicher davon auszugehen ist, dass Tello
der letzte Victoride war, er war lediglich der letzte an der Macht.
Gerade die Beobachtung, dass der von Karlmann oder Karl als
Nachfolger Tellos eingesetzte rector Constantius der einheimischen
Oberschicht entstammte und mit „erheblicher Wahrscheinlichkeit“
identisch ist mit dem curialis Constantius des Tello-‚Testaments‘,199
somit Bischof Tello zumindest nahestand, wenn nicht sogar, eventuell cognatisch, mit ihm verwandt war,200 spricht dafür, dass bei diesem Übergang noch Rücksichten zu nehmen waren. Nicht zuletzt
die Konzentration von Besitz verschiedener Qualität in der Hand
Bischof Tellos dürfte die Einsetzung eines Außenstehenden in dieses ‚Erbe‘ erschwert haben.201 Die Lage in Churrätien zu Beginn der
770 er-Jahre war demnach alles andere als übersichtlich und Tellos
Vermächtnis an Disentis stellte wohl nur einen Teil der zu bereinigenden Rechts- und Besitzverhältnisse dar.
In dieser Situation müssen auch die Gründungsmotive für das Kloster
Müstair gesucht werden. Denn wenn die Vollendung der Klosterkirche
durch die 775/76 gefällten Giebelhölzer angezeigt wird – unter der Prämisse ihrer fällfrischen Verbauung –, dann ist von einer Planungsphase
auszugehen, die vor das Jahr 774 zurückreicht. Als Pippin starb, war
der Vinschgau in langobardischer Hand. Die Kirchenhoheit scheint
nach wie vor bei Chur gelegen zu haben und zusätzlich ist davon auszugehen, dass die Victoriden alte Herrschaftsansprüche aus dem 7. Jh.
auf diesen Grenzraum besaßen. Kommt man zu dem Schluss, dass das
Tello-‚Testament‘ nur einen Teil des Victoridenbesitzes spiegelt, dann
wird man einen anderen im Engadin und im Vinschgau annehmen
müssen. Spätestens nach der Flucht von Karlmanns Witwe mit ihren
Kindern ins Langobardenreich und Desiderius’ Versuch, diese mit
Hilfe des Papstes als Druckmittel gegen Karl einzusetzen, war eine
Situation entstanden, in der Karl sich des südlichen Grenz- und Passraumes versichern musste, um den Rücken frei zu haben für Aktionen
in Italien. Dabei spielten nicht nur die Bündner Pässe eine Rolle, sondern besonders auch der Vinschgau wegen der ihm vorgelagerten Täler
einerseits, insbesondere aber, da von dort aus der Zugang zum mittleren Etschtal offen lag und damit der Weg nach Verona, der zweiten
‚Hauptstadt‘ des Langobardenreiches.202 Aus umgekehrter Perspektive erklärt dies auch das hohe Interesse der Langobarden am Vinschgau. Desiderius aber musste sich auf dessen Verlust einstellen, so wie
BUB I, Nr. 19, S. 23 f.
Verschiedene Ansichten referiert bei Kaiser,
Autonomie (wie Anm. 21), 12 f.
199
So Clavadetscher, Führungsschicht (wie
Anm. 82), 29.
200
Letzteres ist nicht beweisbar, aber als Möglichkeit auch nicht zu widerlegen: „Vermutlich
kein Victoride“: Grüninger, Grundherrschaft
(wie Anm. 39), 214. „Keine Hinweise auf Verwandtschaftsbeziehungen“: Kaiser, Churrätien
(wie Anm. 3), 50. Eine Verwandtschaft wurde
wohl auch deshalb meist ausgeschlossen,
weil man annahm, dass die Nachfolge eines
Verwandten nicht im karolingischen Interesse
sein konnte.
201
Der auf diese Weise mögliche Zugriff auf
diverse Besitzkategorien mag ein Grund für
die Beibehaltung der Ein-Personen-Herrschaft
in Gestalt des Bischofs auch nach Tello gewesen sein.
202
Die große Bedeutung Veronas im Langobardenreich betont Alfons Zettler, Die Ablösung
der langobardischen Herrschaft in Verona, in:
Nomen et fraternitas (wie Anm. 189), 595-623,
sowie ders., Die karolingischen Grafen von
Verona, Überlegungen und Annäherungsversuche, in: Bihrer u. a. (Hg.), Adel und Königtum
(wie Anm. 169), 89-114, 92-95.
197
198
PER ALPES CURIAM
171
Tello mit seiner Entmachtung – und der seiner denkbaren Verwandten
– rechnen musste, wozu der Verlust von Besitz und Rechten gehörte,
insbesondere, wenn diese aus Fiskalgut stammten.
Das Mittel, um gefährdeten Besitz und Herrschaftsrechte vor einer
direkten Einziehung durch den Frankenkönig zu sichern, war hier
wie anderswo die Gründung eines Klosters. Lagen im Churer Bistum
die letzten Klostergründungen mit Pfäfers und Disentis schon eine
Weile zurück, so ist die Zahl der Klöster, die im langobardischen Italien in den letzten Jahrzehnten des selbständigen Königreiches gegründet wurden, eindrucksvoll.203 Darunter befanden sich nicht wenige
Stiftungen der Königsfamilie selbst. Bereits vor der Thronbesteigung
des Desiderius gründete die spätere Königin Ansa im Jahr 753, als die
Spannungen zwischen König Aistulf, dem Papst und Pippin ihrem
Höhepunkt zustrebten, in Brescia das Kloster San Salvatore, später
Santa Giulia, dem weitere Gründungen unterstellt wurden. Auf diese
Weise wurden im ganzen Land große Königsgutkomplexe zu Klosterbesitz.204 Etwas Ähnliches darf man im Vinschgau vermuten zum
Zeitpunkt der unmittelbaren Bedrohung durch einen militärischen
Zugriff Karls, wohl 772. Es würde dem Muster der langobardischen
Klosterpolitik entsprechen, wenn Desiderius in diesem gefährdeten
Grenzgebiet ein Zeichen langobardischer Größe errichten und Fiskalgut der Kirche unterstellen wollte. Dies geschah allerdings kaum
ohne Churer Beteiligung, wobei zumindest für die Planung noch an
Bischof Tello zu denken ist. Aus einer kleinen Liste mit Namen von
verstorbenen Brüdern des monasterium Tuberis / Müstair im Reichenauer Verbrüderungsbuch, die sich in der Liste von Pfäfers ebenfalls
finden, wird geschlossen, dass Müstair zu Beginn von Pfäfers Unterstützung erfuhr.205 Der Eintrag wird angeführt von einem Vigilius
abbas, gefolgt von einem Victor. Diese Namen sind im Churer Umfeld
vertraut, sie könnten aber auch ein weiteres Indiz in Hinblick auf victoridische Beteiligung bei der Gründung von Müstair sein, denn dass
der Gründer selbst oder ein naher Verwandter als erster Abt fungiert,
ist nicht selten zu beobachten. Das Kloster, ausgestattet mit Fiskalgut
in langobardischer Hand wie mit Victoriden-Besitz, wurde vor dem
Sturz König Desiderius’ nicht mehr fertig, denn nach Ausweis eines
Dendrodatums wurde die Kirche erst 775 eingedeckt, also bereits
unter der Herrschaft Karls. Diesem dürfte das Kloster unmittelbar
zugefallen sein, wie es etwa für die Ansa-Gründung auf Sirmione zu
erkennen ist, die Karl noch 774 an St. Martin in Tours verleiht.206
Karl Schmid, Zur Ablösung der Langobardenherrschaft durch die Franken, wieder in:
Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter, Ausgewählte Beiträge,
Sigmaringen 1983, 268-304.
204
Schmid, Zur Ablösung (wie Anm. 203), 286 f.
205
MGH Libri memoriales NS 1 (ed. J. Autenrieth u. a., 1979), Faksimile Tafel 17 C2, abgebildet bei Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 146,
dazu 145-147. Zuerst: Büttner / Müller, Müstair
im Frühmittelalter (wie Anm. 131), 19 f.
206
Wie Anm. 111.
207
Entsprechend schon früh: Büttner / Müller,
Das Kloster Müstair im Frühmittelalter (wie
Anm. 131), 24 f.
203
Müstair war kein Straßenkloster. Hier führte keine Fernroute vorbei, denn als Italienweg spielten Umbrailpass und Veltlin erst unter
den Habsburgern eine größere Rolle, die von Innsbruck nach Mailand zogen. Vom Bodensee oder vom Oberrhein boten sich andere
Straßen an, aus dem Inntal zog man über den Brenner nach Süden.
Wie gezeigt werden konnte, war die Reschenstraße ab dem 7. Jh. keine
wichtige Fernstraße mehr, sondern durchlief einen Grenzraum, der
von verschiedenen Kräften kontrolliert wurde und militärisch organisiert war. Wenn das Kloster an einem Platz gegründet wurde, der
wie eine Spinne im Netz der kleinen Übergänge vom Engadin in den
Vinschgau und nach Süden ins Veltlin liegt, dann ging es hier um die
Kontrolle der Pässe, die in jeder Richtung Einfallsmöglichkeiten in
das jeweils andere Territorium ermöglichten.207 Das war gerade in
dieser zurückversetzten Position des Münstertales von Bedeutung,
172
IRMTRAUT HEITMEIER
da im obersten Inn- und im Etschtal eine Kontrolle an vielen Stellen
möglich war. Ob bereits bei der Gründung geplant war, das Kloster
zu einem Mittelpunkt auch für die Militärorganisation des Raumes
zu machen, wie das für Kloster Nonnberg in Salzburg aufscheint,
das von Heinz Dopsch als „militärisches und administratives Zentrum des Salzburggaus“ angesprochen wurde,208 weil ihm von Herzog Theodbert neben einer umfangreichen Ausstattung aus Fiskalgut
auch exercitales homines zugewiesen wurden, ist nicht zu fassen. Dass
es aber kurz darauf unter Karl dem Großen dazu wurde, dürfte die
Größe der Anlage zum Ausdruck bringen. Als Pfalzkomplex hätte sie
in den Anfängen der Karolingerherrschaft noch keinen Sinn gemacht,
als militärischer Stützpunkt hingegen umso mehr, da das Kloster im
Rücken der langobardischen Arimannien, insbesondere des Veltlin,
einen fränkischen Sicherungsposten darstellte. Das Misstrauen, das
Karl der Große den südlich vorgelagerten Tälern entgegenbrachte,
kommt in seinen schnellen Übertragungen dieser Täler an St. Martin in Tours und St. Denis unmissverständlich zum Ausdruck.209 Der
Hrodgaud-Aufstand im Friaul wenige Jahre später beweist, dass es
zu Recht bestand.210 Wenn Zettler annimmt, dass es erst im Zuge des
zweiten, durch diesen Aufstand veranlassten Italienzugs Karls im
Winter 775/76 gelang, in Verona die fränkische Herrschaft zu etablieren,211 dann wird es auch nötig gewesen sein, sich des weiter oben gelegenen Etschtals zu versichern und dort Präsenz zu zeigen. Will man
hier nicht einen gräflichen Auftrag annehmen, könnte Constantius in
Chur als zuverlässigem Mann Karls diese Aufgabe zugefallen sein, die
auch die Fertigstellung des Klosters beinhaltete.
Der Vinschgau war auch nach der Eroberung des Langobardenreiches
immer noch der Grenzraum gegenüber dem mächtigen regnum Tassilos von Baiern, der für militärische Konflikte gerüstet sein musste,
wie die Auseinandersetzung bei Bozen 784 zeigt, bei der der fränkische Graf unterlag.212 Als Karl der Große das Königtum des Desiderius 774 übernahm, ist zu bedenken, dass der Vinschgau vermutlich
bereits ein halbes Jahrhundert in langobardischer Hand war, so dass
eine grundlegende Refrankisierung und auch militärische Reorganisation der terra Venosta und des obersten Inntals notwendig war.
Das Ergebnis liegt wohl im ministerium Remedii des Reichgutsurbars
vor.213 Eindrücklichstes Zeugnis für die Wiedererrichtung der fränkischen Oberhoheit dürfte das so genannte weltliche Stifterbild aus St.
Benedikt in Mals sein.214 Solche, auch visuelle Demonstrationen von
Herrschaft waren in neu eroberten oder zurück gewonnenen Gebieten geboten. Es würde folglich nicht wundern, wenn hier auch bei
etwas späterer Entstehung der Porträts Karl der Große selbst dargestellt wurde.
Resümee
Blickt man auf die vorhergehenden Seiten zurück, wird unschwer
verständlich, warum die rätischen Straßen für die frühen Karolinger
keine Wege waren. Vinschgau und oberstes Inntal waren im 7. Jh. von
den Merowingern als militärischer Grenzbezirk eingerichtet worden
und besaßen keine Fernstraßenorganisation mehr. Eine solche lebte
jedoch aus römischer Zeit deutlich erkennbar an der Walenseeroute,
im Alpenrheintal und am Passweg durch das Oberhalbstein und über
Heinz Dopsch, Zum Anteil der Romanen
und ihrer Kultur an der Stammesbildung der
Bajuwaren, in: Hermann Dannheimer / Heinz
Dopsch (Hg.), Die Bajuwaren, Von Severin bis
Tassilo, 488-788, Ausstellungskatalog Rosenheim / Mattsee 1988, 47-54, 49. Jahn, Ducatus
(wie Anm. 18), 87 f.
209
Vgl. Anm. 111
210
Harald Krahwinkler, Friaul im Frühmittelalter (Veröffentlichungen des Instituts für
österreichische Geschichtsforschung 30),
Wien / Köln /Weimar 1992, 119-143.
211
Zettler, Ablösung (wie Anm. 202), 603
sowie ders., Die karolingischen Grafen (wie
Anm. 202), 97.
212
Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 531.
213
BUB I, S. 394.
214
Zu St. Benedikt: Elisabeth Rüber, St. Benedikt in Mals (Europäische Hochschulschriften,
Reihe XXVIII, Kunstgeschichte 130), Frankfurt / M. u. a. 1991, 243-256. Jean Wirth, Die
Bildnisse von St. Benedikt in Mals und St.
Johann in Müstair, in: Hans-Rudolf Meier u. a.
(Hg.), Für irdischen Ruhm und himmlischen
Lohn, Stifter und Auftraggeber in der mittelalterlichen Kunst, FS f. Beat Brenk, Berlin 1995,
76-90. Kaiser, Churrätien und der Vinschgau
(wie Anm. 40), 688 f.
208
PER ALPES CURIAM
173
Julier und Maloja fort, ebenso wie im Engadin, und wurde durch frühe straßenbezogene Klostergründungen wie Cazis und Mistail, etwas
später auch Pfäfers mit mittelalterlichen Einrichtungen fortgeführt.
Die Überführung des spätantiken in ein mittelalterliches Verkehrssystem wird dabei besonders auch hinsichtlich des Schiffsverkehrs auf
den Seen deutlich. An dieser ausgeprägten Infrastruktur zeigt sich,
dass im Bündner Raum und südlich des Bodensees kein geringes Verkehrsaufkommen herrschte, das aber eher dem Handel und dem Einzelreiseverkehr diente als der Politik.
Letzteres lag an den schwierigen Herrschaftsverhältnissen des Raumes, dessen Kontrolle als Passraum von Süden wie von Norden angestrebt wurde, der jedoch im Osten mit Vinschgau und oberstem Tiroler Inntal auch eine ‚offene Flanke‘ besaß, die zu Zugriffen einlud.
Ein solcher erfolgte bereits im 2. Jahrzehnt des 8. Jh. im Rahmen der
fränkischen Sukzessionskrise nach dem Tod Pippins des Mittleren
durch das westliche bairische Teilherzogtum, dessen Herrschaft im
Vinschgau durch die Langobarden unter Liutprand abgelöst und bis
zum Tod Karl Martells vermutlich einvernehmlich mit diesem wie mit
Chur bestand. Dieses Einvernehmen zerbrach, als Pippin sich auf die
Seite des Papstes stellte und gegenüber dem südlichen Nachbarreich
eine rigide Politik betrieb.
Chur, aus antiker Tradition nach Süden orientiert, seit der 1. Hälfte
des 6. Jh. aber zum Merowingerreich gehörig, stand zwischen beiden
Reichen, was nicht nur die Zuwendung zur einen oder anderen Seite
bedeutete, sondern auch durch die Notwendigkeit der Parteinahme
bei innerlangobardischen wie innerfränkischen Auseinandersetzungen zusätzlich die Gefahr barg, zwischen die Fronten zu geraten.
Eine solche Situation bestand zu Beginn des 8. Jh. im Rahmen des
langobardischen Thronstreits, wo beide Parteien ihre Sympathisanten im Frankenreich besaßen, aber auch während der fränkischen
Sukzessionskrise nach dem Tod Pippins des Mittleren 714. Während
der karolingischen Bruderkämpfe nach dem Tod Karl Martells in den
740 er-Jahren, verbunden mit dem Ende des alemannischen Herzogtums, und dem Tod Pippins von 768 bis 771 erfolgten die massivsten
politischen Eingriffe in Chur.
Entgegen der älteren Ansicht, dass erst Karl der Große die fränkische
Zentralgewalt in Churrätien wieder durchsetzte, zeichnete sich ab,
dass die Karolinger schon früh begannen, sich in Churrätien einzumischen. Das berichtet nicht nur die Legende über die Anfänge von
Disentis, sondern auch Karl Martell scheint indirekt über die Gründung von Pfäfers Einfluss ausgeübt zu haben, indem das Kloster bereits
als Gründungsausstattung, und nicht erst im Rahmen der Divisio verkehrswichtige Besitzungen und Güter erhielt, die vorher wohl in der
Verfügung des rätischen praeses oder Bischofs standen. Das Amt des
praeses wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit von Pippin ca. 745 eingezogen, der sich vor einem direkten Eingriff in Chur nicht mehr scheute. Wie aus der Schutzurkunde Karls des Großen für Constantius hervorgeht, bestand spätestens seit dieser Zeit eine vertragliche Bindung
und Treueverpflichtung der Victoriden. Mit dem Ende des weltlichen
Amtes wurde aber auch die Alleinherrschaft Bischof Tellos begründet, was bedeutete, dass sämtliches weltliche Amtsgut zu Kirchengut
174
IRMTRAUT HEITMEIER
wurde und damit unter anderem nicht mehr vererbbar war; dies ist als
erster Schritt zur Revindikation von Fiskalgut zu verstehen und die
Voraussetzung dafür, dass dieses später neu aufgeteilt werden konnte. Konsequenterweise wurde Tellos Nachfolger Constantius von den
Karolingern eingesetzt, wobei die Wahl eines Einheimischen auf notwendige Rücksichten gegenüber bestehenden Ansprüchen schließen
lässt. Man muss davon ausgehen, dass die Victoriden zwar entmachtet waren, aber nicht unbedingt ‚ausgestorben‘. Unmissverständlich
klingt in Karls des Großen Schutzprivileg das Vorhandensein einer
Opposition an, die zeigt, dass die Kontrolle der rätischen Täler durch
die Karolinger noch nicht gewährleistet war. Offensichtlich genügte
dazu auch nicht die Herrschaft eines den Karolingern nahestehenden,
von außen kommenden Bischof-rector wie Remedius, denn als die
geplante Reichsteilung 806 die Sicherheit der Passstraßen zwingend
voraussetzte, wurden mit der Neuaufteilung des Fiskalguts im Rahmen der Divisio völlig neue Bedingungen geschaffen. Erst mit diesem
Schritt und der darauf folgenden Kontrolle der Wege durch Grafen
wurden in Rätien für die Karolinger sichere Verhältnisse hergestellt,
wie sie im Maurienne schon 50 Jahre vorher bestanden, als der Halbbruder Pippins des Jüngeren und Karlmanns, Grifo, auf der Flucht zu
den Langobarden von fränkischen Grafen abgefangen wurde, die dort
die Grenze bewachten.215 Dementsprechend zogen die Karolinger im
8. Jh. bevorzugt über den Mont Cenis. Bereits im frühen 9. Jh. aber
war dann auch die Alpenrheintalstraße wichtig geworden: 829 wurde
Abt Erlebald von der Reichenau bei Ludwig dem Frommen vorstellig,
um zu erreichen, dass sein Kloster für den reisenden Kaiser und seine
Söhne allein bei deren Fahrt über Konstanz und Chur das Servitium
zu leisten habe.216
Die Gründung des Klosters Müstair erscheint im Kontext dieser
gesamträtischen Entwicklung als Maßnahme, die aus der spezifischen
Situation des Vinschgaus nach dem Tod Pippins des Jüngeren 768
bzw. Karlmanns 771 resultierte. Unter der Voraussetzung, dass dieser einerseits unter langobardischer Herrschaft stand, andererseits ein
Gebiet alter victoridischer Rechte und Besitzansprüche war, ist die
Annahme einer langobardisch-rätischen Klostergründung zu einem
Zeitpunkt, als ein fränkischer Zugriff auf dieses Grenzgebiet unmittelbar bevorzustehen schien, naheliegend. Konkret hieße das, dass die
Gründungsinitiative für das monasterium Tuberis auf König Desiderius und Ansa in Zusammenwirken mit Bischof Tello zurückgehen
dürfte, die jedoch bereits vor Fertigstellung der Kirche von Karl dem
Großen entmachtet waren.
Annales Mettenses priores 43 ad a. 751
(ed. B. v. Simson, MGH SS rer. Germ. in usum
Scholarum 10, 1905). Jahn, Ducatus (wie
Anm. 18), 281.
216
BUB I, Nr. 51, S. 43 (Gallus Oeheim, Chronik
von Reichenau).
215
PER ALPES CURIAM
175
Abbildungsnachweise
Abkürzungen
– 1: Entwurf I. Heitmeier, Zeichnung E. Kühne,
Stiftung FSMA.
– 2: Entwurf I. Heitmeier, Zeichnung E. Kühne,
Stiftung FSMA, Hintergrund Bundesamt für
Landestopographie.
– 3: aus Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3),
Karte 20, 174/175.
Arbeo, Vita Corb.: Franz Brunhölzl (Hg. u. Übers.), Bischof Arbeo von Freising,
Das Leben des heiligen Korbinian, in: Hubert Glaser, Franz Brunhölzl, Sigmund
Benker (Hg.), Vita Corbiniani (Sammelblatt des Hist. Vereins Freising 32), München 1983, 77–159.
BM²: Johann Friedrich Böhmer, Regesta imperii I (751 – 918), neu bearbeitet von
Engelbert Mühlbacher, vollendet von Johann Lechner, Innsbruck 1908; mit Vorwort, Konkordanztabellen und Ergänzungen von Carlrichard Brühl und Hans
H. Kaminsky, Hildesheim 1966.
BUB I: Elisabeth Meyer-Marthaler / Franz Perret (Bearb.), Bündner Urkundenbuch
Bd. 1: 390–1199, Chur 1955.
FMSt: Frühmittelalterliche Studien.
LexMA: Lexikon des Mittelalters.
MBV: Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte.
MGH AA: Monumenta Germaniae Historica, Auctores antiquissimi.
MGH DD: Monumenta Germaniae Historica, Diplomata.
MGH LL: Monumenta Germaniae Historica, Leges.
MGH SS: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores.
MIÖG: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung.
PD Hist. Lang.: Wolfgang F. Schwarz (Hg. u. Übers.), Paulus Diaconus, Geschichte
der Langobarden – Historia Langobardorum, Darmstadt 2009.
QBG: Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte.
QFIAB: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken.
QuE NF: Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte,
Neue Folge.
RGA: Reallexikon der germanischen Altertumskunde.
RU: Churrätisches Reichsgutsurbar, ediert in BUB I, 375–396.
TUB I, 1: Franz Huter (Bearb.), Tiroler Urkundenbuch 1. Abt.: Die Urkunden zur
Geschichte des deutschen Etschlandes und des Vintschgaus, Bd. 1: Bis zum Jahre
1200, Innsbruck 1937.
VuF: Vorträge und Forschungen.
ZBLG: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte.
458
EPILOG
Annäherung an die Gründungsumstände
des Klosters Müstair
Arbeitshypothese
Unter Berücksichtigung der räumlichen Funktion wie überregionaler
politischer Zusammenhänge ergaben sich teilweise neue Perspektiven
für Churrätien im 8. Jh.:
1. Churrätien gehörte definitiv seit Ende des 6. Jh. zum Reich der
Franken. Trotz der neuen Ausrichtung nach Norden wirkte die
spätantike Verbindung mit Italien aber nach und ist mindestens
in der Zugehörigkeit zum Metropolitansprengel von Mailand weiter offensichtlich. Das beförderte eine doppelseitige Orientierung
des rätischen Passraums. Die Mächtigen in Chur (Zacconen-Victoriden) pflegten Verbindungen nach Süden ins Langobardenreich
ebenso wie nach Norden in die Alemannia.
2. Die südlichen und südöstlichen Grenzen Churrätiens (inkl.
Vinschgau) waren Außengrenzen des fränkischen Reichs gegenüber dem byzantinisch-langobardisch-päpstlichen Italien. Aus diesem Grund besaß der rätische Raum im 8. Jh. nicht nur eine pass-,
sondern vor allem auch eine grenzpolitische Bedeutung. Das gilt
besonders für den Vinschgau, von dem aus der Zugang zum mittleren Etschtal Richtung Verona kontrolliert werden konnte, wie
auch der Übergang über die vielen kleinen Pässe nach Süden, Westen und Norden. Daher wurde – wohl zu Beginn des 7. Jh. – die
Straßenorganisation der Reschenstraße in eine militärische Grenzraumorganisation umgewandelt, die den Victoriden in Chur unterstellt wurde. Sie bildete ein Gegenstück zu den langobardischen
Arimannensiedlungen der südlich vorgelagerten Täler Veltlin und
Val Camonica. Dem Reschenweg kam von da an keine Fernverkehrsbedeutung mehr zu, wie auch der Untergang der alten Strukturen im Außerfern belegt.
3. Die strategisch wichtige Lage des Vinschgaus am Rande des churrätischen Machtbereichs führte dazu, dass dieser im Rahmen
überregionaler Konflikte (fränkische Sukzessionskrise nach 714)
okkupiert wurde, zuerst von den Baiern unter Herzog Grimoald,
danach von den Langobarden unter Liutprand (Arbeo, Vita Corbiniani / Paulus Diaconus, Hist. Langobardorum). Es gibt keinen
Hinweis darauf, dass die Langobarden den Vinschgau, der für
sie von höchstem passpolitischem Interesse war, bis 773/4 wieder
aufgegeben hätten, wie umgekehrt keinen für erneute bairische
Präsenz.
4. Wenn die Franken in Italien agieren wollten, musste die Sicherheit des rätischen Passraumes in ihrem Rücken gewährleistet sein.
Indizien weisen darauf hin, dass schon Pippin der Jüngere parallel zur Verschlechterung der Beziehungen zum Langobardenreich
nach dem Tod König Liutprands in Rätien eingriff, indem er das
Amt des praeses einzog und Chur mit einem Treuevertrag band.
Ähnlich war die Situation nach dem Tod Pippins 768 für seine
Söhne. Spätestens nachdem Karl die langobardische Königstochter zurückgewiesen und Desiderus die Witwe Karlmanns mit
IRMTRAUT HEITMEIER
ZUR GRÜNDUNG DES KLOSTERS
459
ihren Söhnen als gefährliches Unterpfand besaß, war eine Reaktion Karls zu erwarten und zwar erneut erst in Rätien und dann in
Italien.
5. Das bedeutete, dass Desiderius der Verlust des Vinschgaus drohte, während die Victoriden mit Bischof Tello als Exponenten – er
muss keineswegs der letzte seiner Sippe gewesen sein – mit ihrer
vollständigen Entmachtung, insbesondere auch im Vinschgau,
rechnen mussten. Entsprechend den zahlreichen Klostergründungen im Langobardenreich in den letzten Jahrzehnten seiner Unabhängigkeit war auch im Vinschgau eine solche das Mittel der Wahl,
um gefährdeten Besitz, insbesondere Königsgut, als Kirchengut
vor einem direkten Zugriff Karls zu sichern. Daraus ergibt sich die
These, dass die Gründungsinitiative für Müstair gemeinsam vom
langobardischen Königtum (Desiderius) und vom Bischof von
Chur (wohl noch Tello) ausging, die das Kloster mit Fiskalgut und
victoridischem Besitz und Herrschaftsrechten im Vinschgau und
Engadin ausstatteten und möglicherweise auch den Baubeginn
noch einleiteten. Die Kirche wurde aber erst unter der Herrschaft
Karls des Großen und Bischof Constantius’ von Chur fertiggestellt (Dendrodatum). Da auch für Karl die Position im Münstertal im Rücken der ehemaligen langobardischen Grenzorganisation
enorme strategisch-militärische Bedeutung zur Sicherung und
Refrankisierung des rückeroberten Raumes besaß, gibt das weiter
zu der Annahme Anlass, dass die Bedeutung Müstairs in seinen
Anfängen die eines militärischen Zentrums war.
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