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Acta Müstair, Kloster St. Johann, Band 3 Hans Rudolf Sennhauser (Herausgeber) unter Mitarbeit von Katrin Roth-Rubi und Eckart Kühne Wandel und Konstanz zwischen Bodensee und Lombardei zur Zeit Karls des Grossen Kloster St. Johann in Müstair und Churrätien Tagung 13.–16. Juni 2012 in Müstair vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich VERÖFFENTLICHUNGEN DER STIFTUNG FÜR FORSCHUNG IN SPÄTANTIKE UND MITTELALTER – HR. SENNHAUSER Dank Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Herausgeber und Redaktion danken weiteren Institutionen und Personen für finanzielle Unterstützung, Entgegenkommen und Förderung von Tagung und Drucklegung der Acta: – Druckerei Ilg Wimmis – Kantonalbank Graubünden – Nägeli-Stiftung – Stiftung Jacques Bischofberger – Stiftung Pro Kloster St. Johann in Müstair – Vorarlbergisches Landesarchiv – sowie private Spender Frontispiz: Der churrätische Raum im Frühmittelalter (Zeichnung E. Kühne, Stiftung FSMA; Hintergrund Bundesamt für Landestopographie, Pixelkarte 1000) Druck: ILG AG Wimmis Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN 978-3-7281-3583-4 verlag@vdf.ethz.ch – www.vdf.ethz.ch © 2013, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich 5 Inhalt Vorspann HANS RUDOLF SENNHAUSER Vorwort .............................................................................................. 7 JÜRG L. MURARO Anmerkungen zur Erforschung der frühmittelalterlichen Geschichte Rätiens ............................................................................ 9 Raetia prima und Raetia secunda ................................................... 13 HANS LIEB Frühgeschichte und Archäologie PAUL GLEIRSCHER Der Vinschgau im Frühmittelalter – Archäologisches .................. 19 JOSEF NÖSSING In comitatu Recie in vallibus Venuste et Ignadine – Vinschgau und Nachbargebiete im Frühmittelalter ...................... 43 Drusental und Rankweil – Karolingerzeit in der Vallis Drusiana – Bemerkungen zur archäologischen Evidenz ................................. 57 Origines Variae – Zu den Anfängen der frühen churrätischen Klöster ................................................................................................ 71 Bemerkungen zur Gründung und zur Frühgeschichte des Klosters St. Johann in Müstair .................................................. 83 ANDREAS PICKER JOSEF SEMMLER † HANS RUDOLF SENNHAUSER Geschichte und Recht DIETER GEUENICH Pippin, König von Italien (781 – 810) ............................................... 111 SEBASTIAN GRÜNINGER Pfarrorganisation und Kirchenwesen in den frühmittelalterlichen Bistümern Chur und Konstanz ....................................................... 125 IRMTRAUT HEITMEIER Per Alpes Curiam – der rätische Straßenraum in der frühen Karolingerzeit – Annäherung an die Gründungsumstände des Klosters Müstair ......................................................................... 143 WALTER KETTEMANN Remedius und Victor – Kurzbericht zu einer laufenden Forschungsarbeit ............................................................................... 177 HELMUT MAURER Das Bistum Konstanz zur Zeit Karls des Großen im Vorfeld von Churrätien und Oberitalien ...................................................... 179 ALOIS NIEDERSTÄTTER Herrschaftliche Raumorganisation südlich des Bodensees in der Karolingerzeit ......................................................................... 187 HANS RUDOLF SENNHAUSER Zur Frage nach den fünf Klöstern Bischof Viktors III. ................. 193 HARALD SIEMS Recht in Rätien zur Zeit Karls des Großen – Ein Beitrag zu den Capitula Remedii .................................................................. 199 6 JÜRGEN STROTHMANN Der Münzfund von Ilanz, die Funktion des Geldes und die Herrschaft Karls des Großen über Churrätien ................ 239 HERWIG WOLFRAM Expansion und Integration – Rätien und andere Randgebiete des Karolingerreichs im Vergleich ................................................... 251 ALFONS ZETTLER Probleme der frühmittelalterlichen Geschichte Churrätiens im Spiegel von Memorialbüchern .................................................... 261 Schrift und Sprache FLAVIA DE RUBEIS Il corpus epigrafico dell’abbazia di San Giovanni di Müstair ....... 285 PETER ERHART BERNHARD ZELLER Rätien und Alemannien – Schriftformen im Vergleich ................. 299 MARTIN HANNES GRAF Beobachtungen zum churrätischen Personennamenbestand der Karolingerzeit ............................................................................. 319 Kunst und Kirche MARESE GIRARD SENNHAUSER Der Liber Viventium Fabariensis, das Memorialbuch von Pfäfers in neuer Sicht – Eine Skizze ............................................................. 331 SAVERIO LOMARTIRE Architettura e decorazione dell’altomedioevo in Italia settentrionale – Una svolta sotto Carlo Magno? ........................... 345 JOHN MITCHELL St. Johann at Müstair – The Painted Decoration in Context ........ 373 GISELA MUSCHIOL Liturgie in Churrätien im Zeitalter Karls des Großen – Ein kurzer Forschungsbericht ......................................................... 397 K ATRIN ROTH-RUBI Zum Motivschatz der churrätischen Marmorskulptur im Frühmittelalter ............................................................................. 403 EGON WAMERS Tassilo III. von Baiern oder Karl der Große? – Zur Ikonographie und Programmatik des sogenannten Tassilokelch-Stils ................ 427 Epilog K ATRIN ROTH-RUBI Zur Gründung des Klosters St. Johann in Müstair – Recapitulatio von Argumenten, mit einem Beitrag von Hans Rudolf Sennhauser und Bemerkungen von Heinz Dopsch .......... 451 IRMTRAUT HEITMEIER Annäherung an die Gründungsumstände des Klosters Müstair – Arbeitshypothese .............................................................................. 458 143 IRMTRAUT HEITMEIER Per Alpes Curiam – der rätische Straßenraum in der frühen Karolingerzeit Annäherung an die Gründungsumstände des Klosters Müstair Abb. 1: Passsysteme in den Alpen. MGH Capitularia Regum Francorum I (ed. Alfred Boretius, 1883), Nr. 45, 126-130, Zitat 127. 2 Dazu allg.: Ernst Oehlmann, Die Alpenpässe im Mittelalter I u. II, in: Jb. f. schweizerische Geschichte 3 (1878), 165-289, und 4 (1879), 163-324. Heinrich Büttner, Alpenpässe, in: RGA 1 (1973), 191-198. René Wyss, Handel und Verkehr über die Alpenpässe, in: Unters. zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Westeuropa Teil IV (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge 180), 1989, 155-173, bes. 163-165. Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter, Wien u. a. 2012, bes. Kap. 4. Gerold Walser, Summus Poeninus, Beiträge zur Geschichte des Großen St.-Bernhard-Passes in römischer Zeit (Historia Einzelschriften 46), Wiesbaden 1984. 3 Armon Planta, Verkehrswege im alten Rätien, 4 Bde, Chur 1985-1990. Stephanie Martin-Kilcher / Andrea Schaer, Graubünden in römischer Zeit, in: Handbuch der Bündner Geschichte 1, Frühzeit bis Mittelalter, Chur 2000, 61-97, 76-79. Jürg Rageth, Römische Verkehrswege und ländliche Siedlungen in Graubünden, in: Beiträge zur Raetia Romana, hg. v. d. Historisch-antiquarischen Gesellschaft von Graubünden, 1987, 45-108. Ders., Römische Straßen- und Wegereste im bündnerischen Alpenraum, in: Über die Alpen, Menschen - Wege - Waren, hg. v. Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg, Stuttgart 2002, 59-65. Heinrich Büttner, Die Bündner Alpenpässe im frühen Mittelalter, in: Hermann Aubin u. a. (Hg.), Beiträge zur Wirtschafts- und Stadtgeschichte, FS f. Hektor Ammann, Wiesbaden 1965, 242-252. Reinhold Kaiser, Churrätien im frühen Mittelalter, 2. Aufl. Basel 2008, 173-180. Ingrid H. Ringel, Kontinuität und Wandel, Die Bündner Pässe Julier und Septimer von der Antike bis ins Mittelalter, in: Friedhelm Burgard / Alfred Haverkamp (Hg.), Auf den Römerstraßen ins Mittelalter (Trierer 1 Selten beleuchtet eine Quelle in ähnlich eindringlicher Weise eine historische Situation wie die Divisio regnorum Karls des Großen von 806: Schlaglichtartig zeigen die Bestimmungen die Bedeutung des Alpentransits für die karolingische Politik auf, indem den Söhnen Karls des Großen neben ihren jeweiligen Teilreichen ausdrücklich auch die Übergänge über bestimmte Alpenpässe zugesichert werden. Pippin, der als alpenübergreifendes Herrschaftgebiet Italien mit Baiern, Alemannien südlich der Donau und Churrätien erhielt, sollte exitum et ingressum per Alpes Noricas atque Curiam besitzen; seine Brüder Karl und Ludwig sollten über den Großen St. Bernhard bzw. den Mont Cenis viam habere (...) ad Italiam, um ihm im Notfall zu Hilfe eilen zu können.1 (Abb. 1) In den Westalpen sind mit Mont Cenis und Großem St. Bernhard die Hauptpässe direkt angesprochen, letzterer unter dem Namen Summus Poeninus einer der Hauptübergänge in römischer Zeit, über den der kürzeste Weg von Italien an den Oberrhein und nach Nordostgallien führte.2 Unter den Übergängen über die bairischen und Churer Alpen wird man im wesentlichen an die Salzburger Tauernübergänge, an Brenner und Reschen, an Julier / Septimer und Splügen, an San Bernardino und Lukmanier denken. Dass alle diese Wege begangen wurden, haben archäologische Funde und Untersuchungen in den letzten Jahrzehnten gezeigt.3 Die Wahl der Route hing, soweit nicht durch andere Umstände bestimmt, primär von Ausgangsort und Ziel ab: Während die Salzburger Pässe nach Aquileia und Venedig führten, zielte der Verkehr über Brenner und Reschen durch das Etschtal nach 144 IRMTRAUT HEITMEIER Trient und Verona. Die Bündner Pässe verbanden den Bodenseeraum mit der Lombardei und insbesondere Mailand, wobei die Routen über Julier / Septimer und Splügen nach Chiavenna und Como führten, die Wege über den San Bernardino und Lukmanier nach Bellinzona und von dort entweder an den Lago Maggiore oder über Lugano ebenfalls nach Como. 4 Mit den 806 genannten Wegen per Alpes ... Curiam sind zweifellos die Bündner Pässe gemeint mit ihrem Zugang durch das Alpenrheintal und ihrer südlichen Fortsetzung durch das Bergell oder Misox. Doch wird hier nicht weniger die Reschenstraße zu subsumieren sein, da mindestens der Vinschgau, im 8. Jh. aber wohl noch das ganze oberste Tiroler Inntal zum Bistum Chur gehörten.5 In jedem Fall ist der Raum des Oberen Weges, sobald in den Quellen zu fassen, nach Westen in den churrätischen und schwäbischen Raum orientiert und nicht nach Osten. Mag die Reschenroute für die frühen Karolinger zu weit östlich gelegen und zudem durch das bairische Vorfeld problematisch gewesen sein, steht hingegen außer Frage, dass rein geographisch gesehen die Bündner Pässe die schnellste Verbindung zwischen dem Bodenseeraum und Oberitalien herstellten. Sie lagen überdies auf einer geraden Achse zum nördlichen Schwerpunkt des Karolingerreiches an Maas, Rhein und Main und hätten damit schon in der Zeit Pippins des Jüngeren und in den früheren Jahren Karls des Großen prädestiniert sein können für Züge nach Italien, die ins Herz des Langobardenreiches zielten, nach Mailand und Pavia. Dies umso mehr, als weitere praktische Gunstfaktoren hinzukamen: Die Vielzahl der möglichen Übergänge garantierte, dass man im Alpenrheintal nie fest saß, wenn eine Route durch natürliche oder andere Gewalten blockiert wurde. Darüber hinaus bot im Norden wie im Süden der Anschluss an große Gewässer – im Norden an Walensee und Bodensee, im Süden an Silser / Silvaplaner und Comer See wie auch an den Lago Maggiore – die Möglichkeit des Schiffsverkehrs mit gewaltigen Transportvorteilen.6 Ungeachtet dieser Vorteile ist jedoch unverkennbar, dass die Bündner Pässe in der früheren Karolingerzeit nicht die Routen der ersten Wahl darstellten. Pippin ging 754 und 756 über den Mont Cenis, Karl der Große zog 773 mit einem Heeresteil über denselben Pass, sein Onkel mit einem anderen über den Großen St. Bernhard. Letzteren wählte auch Papst Stephan II., als er 753 ins Frankenreich reiste.7 Sicherlich ist zu berücksichtigen, dass die Quellen häufig keine Auskunft über die benutzten Pässe geben. So sind etwa die Übergänge Karls des Großen in den Jahren 780, 781, 786 (Winter!), 787 und 800 unbekannt. Doch bleibt der Befund bestehen, dass es sich dort, wo sie genannt werden, nicht um die Bündner Pässe handelt. Als Erklärung ist einmal an eine unzureichende Infrastruktur entlang der Straßen zu denken. Von der Walliser Route über den Großen St. Bernhard zeigt ein Bericht aus dem frühen 9. Jh., dass es an dieser Strecke eine dem cursus publicus der römischen Zeit vergleichbare Organisation gab, wohl weitgehend aus der Spätantike fortgeführt.8 Gab es in Churrätien Entsprechendes? Wenn die Infrastruktur für Heereszüge nicht ausreichend war, musste dies noch keine Einschränkung für den übrigen Verkehr bedeuten. Dieser scheint in den Quellen historische Forschungen 30), Mainz 1997, 211295, 220. Ingrid H. Ringel, Der Septimer, Wahrnehmung und Darstellung eines Alpenpasses im Mittelalter (QBG 24), Chur 2011, v. a. Kap. 1-3. Zum Reschen s. den Sammelband: Rainer Loose (Hg.), Von der Via Claudia Augusta zum oberen Weg (Schlern-Schriften 334), Innsbruck 2006. Brenner: Irmtraut Heitmeier, Das Inntal, Siedlungs- und Raumentwicklung eines Alpentales im Schnittpunkt der politischen Interessen von der römischen Okkupation bis in die Zeit Karls des Großen (Schlern-Schriften 324), Innsbruck 2005. Zur jüngeren Forschung in den Tauern: Andreas Lippert, Neue Forschungen zu den antiken Passstraßen über den Mallnitzer Tauern und den Korntauern, in: Wissenschaftliche Mitteilungen aus dem Nationalpark Hohe Tauern 5 (1999), 205-227. 4 Zu den Routen jetzt Winckler, Alpen (wie Anm. 2), 129-153. 5 Zur Zugehörigkeit des Vinschgaus zu den Alpes Curiae bereits Büttner, Bündner Alpenpässe (wie Anm. 3), 249. Irmtraut Heitmeier, Wie weit reichte das „Engadin“?, in: Loose (Hg.), Von der Via Claudia (wie Anm. 3), 87-104. Es zeichnet sich ab, dass das oberste Tiroler Inntal ab der Finstermünz erst im Hochmittelalter nach Osten umorientiert wurde. S. dazu auch unten Anm. 27. 6 Gudrun Schneider-Schnekenburger, Churrätien im Frühmittelalter (MBV 26), München 1980, 111 f. Fritz Glauser, Handel und Verkehr zwischen Schwaben und Italien vom 10. bis 13. Jahrhundert, in: Helmut Maurer u. a. (Hg.), Schwaben und Italien im Hochmittelalter (VuF 52), 2001, 229-293, 232-235. Gerda LeipoldSchneider, Schiffahrt auf dem Alpenrhein zwischen Chur und der Bodenseemündung, in: Die Erschließung des Alpenraums für den Verkehr im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Schriftenreihe der ARGE Alpenländer, hg. v. d. Kommission III Kultur, Berichte der Historikertagungen NF 7), Bozen 1996, 219-243. Reinhard Schneider, Das Königsrecht an schiffbaren Flüssen, in: Rainer Ch. Schwinges (Hg.), Straßen und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter (VuF 66), 2007, 185-200. 7 Konrad Schrod, Reichsstraßen und Reichsverwaltung im Königreich Italien (754-1197), Stuttgart 1931, 7 u. 10. Vgl. auch: Adolf Gauert, Zum Itinerar Karls des Großen, in: Wolfgang Braunfels (Hg.), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1: Persönlichkeit und Geschichte, hg. v. Helmut Beumann, 1965, 307-321. Georgine Tangl, Karls des Großen Weg über die Alpen im Jahr 773, in: QFIAB 37 (1957), 1-15. BM2, Nr. 73 e. 8 Translatio et miracula sanctorum Marcellini et Petri auctore Einhardo (ed. G. Waitz, MGH SS 15,1, 1887, 239-264). Besonders hervorgehoben von Wilhelm Störmer, Alpenübergänge von Bayern nach Italien, Transitprobleme zwischen Spätantike und Hochmittelalter, in: Heinz Dopsch u. a. (Hg.), Bayern und Italien, FS f. Kurt Reindel (ZBLG Beih. 18, Reihe B), München 2001, 37-54, 41-43. PER ALPES CURIAM 145 des 8. Jh. aber noch weniger auf als die großen Herrscherunternehmungen. Für militärische wie politische Missionen war schließlich die Zuverlässigkeit des politischen Umfeldes von entscheidender Bedeutung, da man auf die Loyalität der lokalen Herrschaftsträger unterwegs unbedingt angewiesen war. Hier mögen bei den frühen Zügen Pippins noch Befürchtungen gegenüber dem alemannischen Vorfeld eine Rolle gespielt haben, unter Karl dem Großen sollte das nicht mehr entscheidend gewesen sein. Im Folgenden ist für die Alpenrheintalstraße und die Bündnerpässe sowie für die Reschenstraße also zum einen zu prüfen, ob es im 8. Jh. eine erkennbare Organisationsstruktur verbunden mit leistungsfähigen Einrichtungen für den Fernverkehr gegeben hat. Zum anderen müssen die politischen Konstellationen noch einmal rekapituliert und hinterfragt werden. Welche überregionalen und regionalen Kräfte waren an der Kontrolle der jeweiligen Pässe interessiert? Auf welcher Seite standen die lokalen Gewalten? Wie versuchten sich die Karolinger des rätischen Raumes zu versichern bis hin zu Karls des Großen Plänen von 806? Sowie als abschließenden Fokus: Gibt es vor dem so gewonnenen Hintergrund ein Szenario für die Gründung des Klosters Müstair? Werner Zanier, Das Alpenrheintal in den Jahrzehnten um Christi Geburt (MBV 59), 2006, 52-65 u. 236-238. 10 Werner Zanier, Eine römische Katapultpfeilspitze der 19. Legion aus Oberammergau, in: Germania 72/2 (1994), 587-596. 11 Peter W. Haider, Antike und frühestes Mittelalter, in: Josef Fontana u. a (Hg.), Geschichte des Landes Tirol Bd. 1, 2. Aufl. 1990, 133-290, 166-167. Die intensive Via Claudia-Forschung der vergangenen 20 Jahre zusammenfassend: Elisabeth Walde / Gerald Grabherr (Hg.), Via Claudia Augusta und Römerstraßenforschung im östlichen Alpenraum (IKARUS 1), Innsbruck 2006, darin bes. der Beitrag von Johannes Pöll, Der römische Meilenstein von Nauders, 338-360, mit umfassender Diskussion der Meilensteinfrage an der Reschenstraße. 12 Gerold Walser, Die römischen Straßen und Meilensteine in Raetien (Kleine Schriften zur Kenntnis der römischen Besetzungsgeschichte Südwestdeutschlands 29), Stuttgart 1983, 33 u. 37, sowie die Überblicksgraphiken im Anhang. Rageth, Römische Verkehrswege (wie Anm. 3), passim; ders., Römische Straßen (wie Anm. 3), 59; Martin-Kilcher / Schaer, Graubünden in römischer Zeit (wie Anm. 3), 64, 76-79. Die Splügenroute ist insofern von besonderem Interesse, als sie die Erschließung der Via Mala voraussetzt. 9 Voraussetzungen Ebenso wie Karl der Große hatten bereits die Römer erkannt, dass das Gebiet nördlich und südlich der Alpen nur beherrschen konnte, wer die Kontrolle über die Alpenpässe besaß. Dies führte zum Alpenfeldzug des Jahres 15 v. Chr. Während die historische Überlieferung keine gesicherten Aussagen zu den Routen der römischen Heere zulässt, lassen archäologische Funde in jüngerer Zeit erkennen, dass Eroberungstruppen über den Septimer ins Oberhalbstein und wohl auch über den Splügen ins Hinterrheintal zogen.9 Dass eine weitere Abteilung über den Fernpass nach Norden gelangte, belegen Funde vom Döttenbichl bei Oberammergau, die eine militärische Auseinandersetzung mit der einheimischen Bevölkerung dokumentieren.10 Wie immer der Alpenfeldzug strategisch geplant war, die hier interessierenden Hauptrouten über die Bündner Pässe ins Alpenrheintal und über Reschen und Fernpass ins nördliche Voralpenland gehörten auch damals zu den wichtigsten in diesem Alpenabschnitt. Entsprechend erfolgte schon unter Kaiser Claudius der Ausbau der Via Claudia Augusta vom Po über das Etschtal und über Reschen und Fernpass bis nach Augsburg, wie einem Meilenstein bei Rabland oberhalb von Meran zu entnehmen ist.11 Doch blieb dies die einzige Nachricht im nördlichen Abschnitt der Straße, deren weitere Geschichte in antiker Zeit nur aus archäologischen Befunden zu erhellen ist. Anders verhält es sich mit dem Weg durch das Alpenrheintal und über die Bündner Pässe. Hier gibt kein Meilenstein Auskunft über Bau oder Erneuerung, doch verzeichnet sowohl die Tabula Peutingeriana wie das Itinerarium Antonini Routen von Bregenz bzw. Arbon über Chur nach Como, wobei das Itinerarium die Benützung zweier Passwege über den Splügen und über Julier / Septimer ausweist, während die spät bearbeitete Tabula die Splügenpassroute erwähnt sowie eine westlichere, bei der es sich um die San Bernardino- oder die Lukmanierroute handeln könnte.12 So unklar die Regeln sind, nach welchen in 146 IRMTRAUT HEITMEIER römischer Zeit Meilensteine aufgestellt wurden oder nicht, so wenig eindeutig lässt sich auch die Frage beantworten, welche Routen Eingang in die erwähnten Straßenverzeichnisse fanden und welche nicht.13 Denn zumindest in spätrömischer Zeit waren die Brenner-, die Reschen- und die Alpenrheintalstraße in gleicher Weise in die Nachschuborganisation für die rätische Nordgrenze eingebunden. Unter Kaiser Valentinian entstand nicht nur in Wilten / Innsbruck ein befestigtes Nachschublager, sondern ein fast baugleiches wurde auch im Rheintal in Schaan (Liechtenstein) errichtet.14 Nach Ausweis der Notitia dignitatum saßen im frühen 5. Jh. in Teriolis / Zirl im Inntal wie auch in Foetes / Füssen am Alpenaustritt der Reschenstraße ein Nachschuboffizier mit derselben Funktion.15 Warum hingegen Schaan bzw. das Rheintal keine Erwähnung findet, bleibt wieder unklar. Hier scheinen sich die spätrömischen Funktionen in Bregenz konzentriert zu haben, das mit seinem Militärhafen noch in der Spätantike eine Schlüsselposition einnahm.16 Waren die Alpen mit ihren Passübergängen bis ins 5. Jh. das Bindeglied zwischen Italien und dem nördlichen Voralpenland, so wird bereits in ostgotischer Zeit ein Orientierungswechsel erkennbar. Flachlandrätien, de iure Bestandteil des italischen Ostgotenreiches, wurde seit dem 3. Jh. immer wieder durch barbarische Einfälle in Mitleidenschaft gezogen, so dass ein Rückzug der Verwaltung in inneralpine Gebiete nahelag. Nimmt man frühchristliche Kirchen als Indikatoren für staatlich-administrative Präsenz, zeichnet sich im Inntal und über den Arlberg hinweg im Walgau eine Ost-West-Linie ab, die vermutlich eine wichtige Aktionsachse des ostgotischen dux Raetiarum, des Militärbefehlshabers beider rätischer Provinzen, spiegelt: Frühchristliche Kirchen gibt es konzentriert im Innsbrucker Becken, in Zirl und Pfaffenhofen im Oberinntal, jeweils am Aufstieg Richtung Scharnitz, in Imst an der Fernpassstraße, eine neu aufgefundene in Landeck sowie in Nenzing in Vorarlberg.17 Mit dem Übergang der rätischen Provinzen an die Merowinger um 536/37 – sie wurden den Franken von den Ostgoten abgetreten 18 – gerieten die ehemaligen Provinzgebiete erstmals unter die Oberhoheit einer Macht, die langfristig nicht zugleich in Italien Herrschaft ausübte. Spätestens am Ende des 6. Jh., nach dem byzantinisch-fränkischlangobardischen Friedensschluss von 591, hatte sich das Langobardenreich in Italien konsolidiert und die Franken wurden im Süden auf den Alpenraum beschränkt. Aus der ehemaligen Verbindungsregion wurde ein Grenzriegel, der das Merowingerreich gegen Langobarden wie Byzantiner abschirmen sollte, wobei archäologische, 13 Walser, Die römischen Straßen (wie Anm. 12), 39. Es zeichnet sich zum einen ab, dass den fehlenden Straßen in der Zeit der Anlage der Verzeichnisse tatsächlich weniger Bedeutung im überregionalen Verkehr zukam, doch fehlen andererseits auch Trassen, deren Bedeutung durch Meilensteinfunde belegt ist. Michael Rathmann, Untersuchungen zu den Reichsstraßen in den westlichen Provinzen des Imperium Romanum (Bonner Jahrbücher Beih. 55), Mainz 2003, 18. Ders., Die Städte und die Verwaltung der Reichsstraßen, in: Regula Frei-Stolba (Hg.), Siedlung und Verkehr im Römischen Reich, Akten des Kolloquiums zu Ehren von Prof. H. E. Herzig, Bern 2004, 163-206, 187. 14 Osmund Menghin, Das Kastell von Veldidena, in: Veldidena, Römisches Militärlage und Zivilsiedlung, Ausstellungskatalog des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum, Innsbruck 1985, 23-34. Martin Hartmann, Militär und militärische Anlagen, in: Ur- und frühgeschichtliche Archäologie der Schweiz, Bd. V: Die römische Epoche, Basel 1975, 15-30, 21 u. 27. 15 Notitia dignitatum oc. XXXV Dux Raetiae: 21 Praefectus legionis tertiae Italicae transuectioni specierum deputatae, Foetibus. 22 Praefectus legionis tertiae Italicae transuectioni specierum deputatae, Teriolis. Zu Füssen s. Wolfgang Czysz, Füssen, in: Ders. u. a. (Hg.), Die Römer in Bayern, Stuttgart 1975, 447. Zur Situation: Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 87-90. Den spätrömischen Nachschubverkehr belegen auch die jüngst in Zusammenhang mit einer namentlich unbekannten Straßenstation auf der Malser Haide gefundenen Gruppe von Bleiettiketten und einer Bleibulle, die zum Verschluss und zur Kontrolle von Waren dienten und ähnlich auf dem Martinsbühel bei Zirl gefunden wurden. Hubert Steiner, Neue archäologische Entdeckungen im Oberen Vinschgau: Römerzeit und Frühmittelalter, Vorbericht, in: Hans Rudolf Sennhauser (Hg.), Pfalz - Kloster - Klosterpfalz, St. Johann in Müstair, Historische und archäologische Fragen (Acta Müstair, Kloster St. Johann 2), Zürich 2010, passim, bes. 39-48. 16 Notitia dignitatum oc. XXXV, 32. Vgl. dazu: Michaela Konrad, Das römische Gräberfeld von Bregenz-Brigantium 1: Die Körpergräber des 3.-5. Jahrhunderts (MBV 51, 1) München 1997, 16 u. 186-190. 17 Wilhelm Sydow, Früher Kirchenbau in Tirol und Vorarlberg, in: HR. Sennhauser (Hg.), Frühe Kirchen im östlichen Alpengebiet, Bd. 1 (Abh. d. Bayer. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Klasse NF 123), München 2003, 223-231 mit Katalog 233-271; für Auskunft zu der 2012 entdeckten frühchristlichen Kirche von Landeck danke ich herzlich Johannes Pöll, BDA Innsbruck. Ein Kurzbericht erscheint in den Fundberichten aus Österreich 2013. Zur Bedeutung der OstWest-Achse: Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 180-184, 358. 18 In der älteren Literatur wird noch die Frage diskutiert, ob es sich um Eroberung oder vertraglichen Übergang handelte: U. a. Heinrich Büttner, Die Alpenpolitik der Franken im 6. und. 7. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 79 (1960) 64-66; Otto P. Clavadetscher, Churrätien im Übergang von der Spätantike zum Mittealter nach den Schriftquellen, wieder in: Ders., Rätien im Mittelalter, Ausgewählte Aufsätze, Disentis 1994, 1-20, 8; Reinhard Schneider, Fränkische Alpenpolitik, in: Helmut Beumann / Werner Schröder (Hg.), Die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen und Franken bis zum 10. Jahrhundert (Nationes 5), Sigmaringen 1987, 23-49, 27. Für Abtretung in Analogie zur Provence: Joachim Jahn, Ducatus Baiuvariorum (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35), Stuttgart 1991, 7; Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 31. 19 Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 248-254; Otto P. Clavadetscher, Zur Verfassungsgeschichte des merowingischen Rätien, wieder in: Ders., Rätien im Mittelalter (wie Anm. 17), 39. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 40. PER ALPES CURIAM 147 Abb. 2: Der churrätische Raum im Frühmittelalter (mit den vom Bistum Chur abweichenden Grenzen der Raetia prima). Vgl. dazu auch die grundsätzlichen Überlegungen von Jürgen Strothmann in diesem Band, dem ich für intensive Gespräche zu diesen Fragen herzlich danke. 21 Das betont mehrfach Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 58; Reinhold Kaiser, Autonomie, Integration, Bilateraler Vertrag - Rätien und das Frankenreich im frühen Mittelalter, in: Francia 29/1 (2002), 1-27, 25. 22 Nach spätrömischer, von den Merowingern fortgeführter Gepflogenheit der Übereinstimmung von weltlicher und kirchlicher Administration, hätte Chur nach dem Übergang der rätischen Provinzen an die Franken einem fränkischen Metropoliten unterstellt werden müssen. Ein solcher Anschluss wäre aber allenfalls in Richtung Burgund denkbar gewesen, da Mainz noch nicht existierte. Obwohl 599 ein Bischof Theodor (wohl von Chur) ins Frankenreich floh, 614 ein Bischof Victor (wohl von Chur) an der Synode von Paris teilnahm und Bischof Tello 762 am Gebetsbund von Attigny beteiligt war, besteht die Möglichkeit, dass die Zugehörigkeit Churs zu Mailand davon unbehelligt blieb. Kaiser, Autonomie (wie Anm. 21), 25, geht hingegen von einer Rückkehr Churs zu Mailand unter Karl d. Gr. aus, was jedoch ebenso eine Annahme bleibt. Vgl. dazu Kaiser, Autonomie, 7-9, sowie mit ausführlicher Darlegung der verschiedenen Standpunkte: Ders., Churrätien (wie Anm. 3), 98-103. 23 Während architektonische Zeugnisse Rätiens ihre Vorbilder eher im Süden und Südosten finden (Sennhauser, Frühe Kirchen, wie Anm. 17), wurden zuletzt in der Lex Romana Curiensis neben den rätischen Eigenständigkeiten vor allem die sich verbindenden kulturellen Strömungen aus Gallien und Italien hervorgehoben. Harald Siems, Zur Lex Romana Curiensis, in: Heidi Eisenhut u.a. (Hg.), Schrift, Schriftgebrauch und Textsorten im frühmittelalterlichen Churrätien, Basel 2008, 109-136. 24 Vgl. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 228; Hans-Ulrich Geiger, Der Münzschatz von Ilanz und die Entstehung des mittelalterlichen Münzsystems, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 36 (1986), 395-412, 408: „Trotzdem Rätien seit dem 7. Jahrhundert fest ins fränkische Reich eingegliedert war, richtete es sich handels- und währungsmäßig ganz nach Oberitalien aus.“ Sowie Strothmann in diesem Band. Zusammenfassend zu den kulturellen Beziehungen: Sebastian Grüninger, Churrätien im Frühmittelalter aus historischer Sicht (4.-8. Jahrhundert), in: Margarita Primas u.a. (Hg.), Wartau - Ur- und frühgeschichtliche Siedlung und Brandopferplatz im Alpenrheintal, Bd. 1: Frühmittelalter und römische Epoche (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 75), Bonn 2001, 105-133, 116. 20 namenkundliche sowie vereinzelte schriftliche Nachrichten darauf hindeuten, dass fränkische Militärs zusammen mit der einheimischen Oberschicht die Kontrolle des alpinen Raumes, und das heißt insbesondere der Passstraßen, übernahmen.19 Die voralpinen Provinzteile im Norden wurden merowingischen duces unterstellt, woraus längerfristig das bairische wie das alemannische Herzogtum resultierten. Problematisch an dieser Konstellation war, dass der alpine ‚Riegel‘, der das fränkische Reich nach Süden absichern sollte, aufgrund jahrhundertelanger und nie aufgehobener antiker Tradition administrativ nach Italien ausgerichtet war.20 Dass diese Tradition weiterlebte, zeigt noch 200 Jahre später der eingangs zitierte Reichsteilungsplan von 806, mit dem Karl der Große nichts anderes tat, als im regnum Pippins das spätantike Italien der Notitia dignitatum wiederherzustellen, mit der Nordgrenze an der Donau.21 Sie spiegelt sich aber auch in der trotz formaler Eingliederung ins Frankenreich beibehaltenen oder wiederhergestellten Zugehörigkeit Churs zum Metropolitansprengel von Mailand,22 die erst 843 endgültig zugunsten von Mainz wechselte, und findet neben starken kulturellen Einflüssen von Süden23 u. a. einen Widerhall in der sich abzeichnenden Teilnahme Churrätiens am italisch-langobardischen Münzsystem.24 Die Frage, wie sich civitas und Bistum Chur zwischen Franken und Langobarden positionierten, verdient folglich mehr Aufmerksamkeit, als ihr bisher aufgrund der rechtlichen Zugehörigkeit zum Frankenreich zuteil wurde. In dem Raum, der aus der Antike die Voraussetzungen für einen funktionierenden Passverkehr auf den bezeichneten Routen mitbrachte, waren die lokalen Herrschaftsträger 148 IRMTRAUT HEITMEIER zwischen Vinschgau und Alpenrheintal für die Merowinger und frühen Karolinger keineswegs eine ‚sichere Bank‘, sondern konnten ihre Loyalität durchaus verschiedenen Seiten zuwenden und daraus einen Gutteil ihrer Autonomie ziehen. Nicht grundlos beschwor Karl der Große 772/774 in seinem Privileg für den Churer rector Constantius und das rätische Volk deren Treue als Voraussetzung für den gewährten Schutz.25 Die Franken mussten sich ständig der lokalen Kräfte versichern, da diese nicht nur die Organisation des Passverkehrs gewährleisteten, sondern den Verkehr auch kontrollieren und die Passzugänge im Süden wie im Norden sperren konnten. Es waren daher wohl nicht nur Gründe der Verbreitung des spätantiken Christentums und der alemannischen Siedlung, die Dagobert I., folgt man der späten Tradition,26 veranlassten, die Grenzen zwischen den Bistümern Konstanz und Chur südlich des Bodensees und damit auch südlich der spätantiken rätischen Provinzgrenze zu ziehen. Da im Falle Churs die Ausdehnung des Bistums mit der weltlichen Herrschaft des praeses zusammenfiel, hieß das, dass Chur weder den untersten Teil der Rheintalstraße mit Bregenz, noch den Zugang zum Bodensee von Süden her kontrollierte. Dafür blieb der Walensee als östliche Verlängerung des Zürichsees wie auch der Walgau und das Montafon bei Chur, was wiederum den Einfluss des alemannischen Herzogs nach Süden beschränkte, aber auch die Verbindung zwischen Rheintal und Oberinntal aufrecht erhielt. Letzteres war von besonderer Bedeutung, da das oberste Tiroler Inntal nach allem, was erkennbar ist, in der Frühzeit auch dem Bistum Chur unterstand wie der Vinschgau.27 Südlich der Pässe fällt auf, dass das Bistum und damit der Einfluss Churs die Südseite des San Bernardino bis wenig oberhalb von Bellinzona einschloss, ebenso wie das Bergell mit der Straßensperre bei Castelmur / Müraia (Bondo). Hingegen gehörte der Schlüsselort Chiavenna und die Südabdachung des Splügenpasses zum Bistum Como, was auf langobardische Kontrolle dieser Strecke hinweist.28 Gleiches gilt für die Südseite des Lukmanier. Auch hier verläuft die Bistumsgrenze über die Passhöhe. Da seit der Antike das Prinzip verfolgt wurde, beide Seiten eines Passes zu kontrollieren, wie beispielhaft auch die Gründung des Klosters Novalese auf der Südseite des Mont Cenis vor Augen führt,29 heißt das nicht nur, dass der Lukmanier eine untergeordnete Rolle spielte – wie vor der Gründung von Disentis ohnehin angenommen –, es heißt auch, dass von Churer Seite die wichtigen Verbindungen nach Süden über Julier oder Septimer ins Bergell und über den San Bernardino ins Misox verliefen, während der Splügenpass offenbar von geringerer Bedeutung war.30 Festzuhalten ist, dass die Bündner Passrouten damit vom Ende des Zürichsees bzw. Montlingen (St. Gallen) bis ins Bergell oder Misox im Bereich des Churer Bistums verliefen und damit auch unter der weltlichen Herrschaft des rätischen praeses oder Bischof-rectors 25 BUB I, Nr. 19, S. 23 f.: Si autem illis, qui parentibus nostris fidem visi sunt conservasse inlaesam et usque nunc in id permanere non cessant ... Statuentes ergo iubemus, ut tam ipse vir venerabilis praefatus Constantius ... dum nobis in omnibus palatique nostri sicut rectum est, cum omni populo Retiarum fideles apparuerint... Siehe dazu BUB I, Nr. 333 und *8 mit Kommentar; Heinrich Büttner, Die Entstehung der Konstanzer Diözesangrenzen, wieder in: Ders., Frühmittelalterliches Christentum und fränkischer Staat zwischen Hochrhein und Alpen, Darmstadt 1961, 55-106, 57 f; Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 36 f. 27 Eine Umorientierung des späteren Oberen Gerichtes fand wohl erst im 10. Jh. statt. Zu den Indizien: Heitmeier, Wie weit reichte das „Engadin“? (wie Anm. 5). Die Westorientierung von Vinschgau und oberstem Inntal dürfte bereits eine Folge der innerrätischen Grenzziehung gewesen sein, die im Gegensatz zu bisherigen Annahmen von Meran über die Kaunertaler Gipfel zur Kronburg im Inntal (östlich Zams) und von dort Richtung Kempten rekonstruiert wurde. (s. Abb. 2) Ein wesentlicher Grund Heubergers, die Grenze zwischen der Raetia I u. II westlich des Vinschgaus zu ziehen, lag darin, dass die Via Claudia damit von Meran bis Augsburg innerhalb der Raetia II verlaufen wäre. Außerdem habe es in römischer Zeit keinen Weg durch das Engadin gegeben (Richard Heuberger, Rätien in Altertum und Frühmittelalter [Schlern-Schriften 20] Innsbruck 1932 / Aalen 1981, 79 f.,115118). Letzteres ist überholt (s. unten Anm. 53), außerdem der Blickwinkel ausschließlich auf die Nord-Süd-Verbindung zu eng, da zwischen dem oberen Vinschgau und Landeck alle Abzweigungen nach Westen gerichtet sind (Münsteral, Engadin, Paznaun, Stanzertal). Diese hätten durchwegs die Provinzgrenze überqueren müssen, während andernfalls der ganze natürliche Verkehrsraum einer Provinzverwaltung unterstand. Zu berücksichtigen ist dabei zudem, dass ungewiss ist, wann in Rätien die Provinzteilung vorgenommen wurde (s. den Beitrag von Hans Lieb in diesem Band). Setzt man diese spät an, dann war der Verkehr vielleicht schon mehr nach Westen als nach Norden ausgerichtet. S. a. Günther Kaufmann, Römische Grenzen im Raum Meran, in: Tiroler Heimat 73 (2009), 5-44, 35-40 mit ausführlicher Diskussion der finis-Namen. 28 Como hatte sich im Rahmen des DreiKapitel-Streits auch von Mailand losgesagt und Aquileia angeschlossen. 29 Giuseppe Sergi, Novalesa, in: LexMA 6 (1999), 1299 f.; Winckler, Alpen im Frühmittelalter (wie Anm. 2), 83 f. u. 89 f. 30 Die Begehung des San Bernardino wird durch eine spätrömische Talsperre bei Mesocco belegt. Grüninger, Churrätien im Frühmittelalter (wie Anm. 24), 126. Vgl. auch die Karte bei Rageth, Römische Straßen (wie Anm. 3), 64. Zur dagegen untergeordneten Bedeutung des Splügenpasses im frühen Mittelalter auch SchneiderSchnekenburger, Churrätien (wie Anm. 6), 113. Zur Südgrenze des Bistums Chur: Heinrich Büttner, Die Entstehung der Churer Bistumsgrenzen. Ein Beitrag zur fränkischen Alpenpolitik des 6.-8. Jahrhunderts, wieder in: Ders. Frühmittelalterliches Christentum (wie Anm. 26), 129-143. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 36 f. 26 PER ALPES CURIAM Abb. 3: Das frühmittelalterliche Churrätien in der schriftlichen Überlieferung. 31 Hier befand sich nicht nur die Grenze zwischen der italischen Regio X und Rätien, sondern auch zwischen den großen römischen Zollbezirken des illyrischen und gallischen Zolls. Wenn nicht schon diese antike Situation, so führte spätestens die langobardisch-fränkische Frontstellung am Ende des 6. Jh. dazu, dass sich hier die Grenzen zwischen den Bistümern Trient und Chur verfestigten. Ausführlich dazu Kaufmann, Römische Grenzen (wie Anm. 27), passim. 32 In ihm liegt 763 Imst. Theodor Bitterauf, Die Traditionen des Hochstifts Freising (QuE NF 4), 1905 / 1967, Nr. 19, S. 47: imprimis Uallenensium ex pago ... in opido Humiste. 33 Zur Zugehörigkeit des Gebietes zwischen Iller und Lech zum bairischen Herzogtum wohl bis Ende der 730 er Jahre siehe unten zu Anm. 169. 34 Venantius Fortunatus, Vita sancti Martini (ed. F. Leo, MGH AA 4, 1881, 293-370), 368. 35 Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), Karte 20, 174/175. 149 standen. Ganz anders die Reschenroute: diese überquerte bereits im Etschtal bei Meran eine alte Raumgrenze,31 die sich im Frühmittelalter als Bistumsgrenze zwischen Chur und Trient verfestigte, aber auch zeitweise die Grenze zwischen langobardisch und bairisch dominiertem Gebiet bildete. Von Meran bis Landeck verlief die Straße wohl durch Churer Bistumsgebiet, das aber nicht bzw. nicht immer auch Churer Herrschaftsgebiet gewesen sein muss, um am Inn östlich der Kronburg den pagus Uallenensium zu berühren.32 Außerhalb des Fernpasses schließlich führte sie durch bairisches, später wesentlich vom Augsburger Bischof kontrolliertes Gebiet bis nach Augsburg.33 Man benötigt kaum die Befürchtung des Venantius Fortunatus, der bei der Wegbeschreibung von Augsburg in die Alpen um 575 anmerkt: si vacat ire viam neque te Baiovarius obstat,34 um zu erkennen, dass diese Strecke von verschiedensten Kräften kontrolliert, aber auch blockiert werden konnte, und somit als Fernstraße von vornherein größeren Einschränkungen unterlag. (Abb. 2) Die rätischen Straßenlandschaften im Vergleich Abbildung 3, eine Karte, die Reinhold Kaisers Handbuch „Churrätien im frühen Mittelalter“ entnommen ist,35 zeigt eindrücklich das Netz der Wege im rätischen Alpenraum. Den großen nord-südgerichteten römischen Fernstraßen, der Via Claudia über den Reschen im Osten und der Alpenrheinstraße im Westen, vom Bodensee bzw. vom Zürichsee über Chur, das Oberhalbstein und Julier oder Septimer ins Bergell, steht eine Vielzahl von Nebenrouten gegenüber, die vor allem für den Saumverkehr des frühen Mittelalters interessant 150 IRMTRAUT HEITMEIER waren, der höhere Pässe zugunsten kürzerer Strecken gerne in Kauf nahm. Die Karte zeigt aber auch die Siedlungslandschaft, wie sie die Schriftquellen bis zum 10. Jh. erkennen lassen, und hier ergibt sich ein erstaunliches Bild: Während sich die Bündner Täler und Vorarlberg dicht besetzt mit Siedlungen und Kirchen präsentieren, erscheint das Engadin wie auch das Oberinntal geradezu siedlungsleer, der Vinschgau dünn besiedelt mit vereinzelten Siedlungen entlang der Etsch. Allein mit dieser Karte konfrontiert, würde man dem Urteil Heinrich Büttners ohne weiteres zustimmen, dass „die älteste große römische Straßenverbindung in den rätischen Alpenlandschaften, die Via Claudia, völlig bedeutungslos wurde“.36 Dass dieses Kartenbild jedoch nicht der Realität entsprechen kann, macht ein Blick auf die Ortsnamen deutlich. Denn die Siedlungen im Vinschgau tragen überwiegend bereits vorrömische Namen, die sicher, und römisch-romanische, die zum größten Teil im Frühmittelalter existierten. Ähnliches ist im Oberinntal zu konstatieren für Nauders, Pfunds, Serfaus, Fiss, Ladis, Prutz und Fließ sowie Angedair und Perjenn im Bereich Landeck, gefolgt von Stanz, Zams, Mils und Imst.37 Die siedlungsgenetischen Studien, die Rainer Loose für zahlreiche Dörfer im Vinschgau und Münstertal durchführte,38 erschlossen für die frühe Zeit ein System von curtes mit verschiedenen Pertinenzen und abhängigen coloniae, das sich von dem Bild der Bündner Täler, wie es aus Tello-‚Testament‘ und Churrätischem Reichsurbar hervorgeht, nicht wesentlich unterscheidet.39 Nicht zuletzt die zahlreichen frühchristlichen bis frühmittelalterlichen Kirchen im Vinschgau mit einem überwiegend frühen Patrozinienbild bestätigen diesen Eindruck 40 und die von der archäologischen Forschung in jüngerer Zeit als castra angesprochenen Plätze in Juval und Lichtenberg 41 belegen weitere spätantik-frühmittelalterliche Siedlungselemente. Die Kartierung der Schriftquellen zeigt also lediglich ein Abbild der Überlieferung und nicht der historischen Verhältnisse. Wären die entsprechenden Teile des Churrätischen Reichsgutsurbars aus der Mitte des 9. Jh. nicht verloren, würde sich entlang der Via Claudia und im Engadin wohl ein nur unwesentlich anderes Bild darbieten als in den Bündner Tälern, denn die Existenz räumlich entsprechender ministeria ist bezeugt. 42 Im Norden ist es der gänzliche Verlust der frühen Augsburger Quellen, der für Informationsausfälle sorgt. Doch stellt sich die Frage, ob neben den erkennbaren Verlusten nicht die oben geschilderten räumlichen Bedingungen und strukturelle Gegebenheiten für die Überlieferungslage mitverantwortlich sind. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegung ist also zu fragen, was über die jeweiligen Fernstraßen bekannt ist. 36 Heinrich Büttner, Vom Bodensee und Genfer See zum Gotthardpaß, in: Die Alpen in der europäischen Geschichte des Mittelalters, Reichenau-Vorträge 1961-1962 (VuF 10), Sigmaringen 1976, 77-110, 80. 37 Vgl. hierzu im Tirol-Atlas des Instituts für Landeskunde der Universität Innsbruck die von Karl Finsterwalder bearbeitete Karte G 5: Die Sprachschichten in den Ortsnamen Tirols, auch als Beilage in: Ders., Tiroler Ortsnamenkunde 1 (Schlern-Schriften 85), Innsbruck 1990. S. auch die einschlägigen Beiträge Finsterwalders zu Oberinntal und Vinschgau in: Ders., Tiroler Ortsnamenkunde 2 u. 3 (Schlern-Schriften 286 u. 287), Innsbruck 1990 u. 1995. Nicht immer zuverlässig: Egon Kühebacher, Die Ortsnamen Südtirols und ihre Geschichte Bd. 1 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 1), Bozen 1995. 38 Aus der langen Publikationsliste sei genannt: Rainer Loose, Siedlungsgenese des oberen Vintschgaus (Forschungen zur deutschen Landeskunde 208), 1976; ders., Historische Topographie von Mals, in: Tiroler Heimat 48/49 (1984/85), 35-53; ders., Siedlungsgenetische Studien im Vinschgau. Die Beispiele Goldrain, Vezzan, Göflan und Reschen, in: Rainer Loose (Hg.), Der Vinschgau und seine Nachbarräume, Bozen 1993, 217-244; ders., Der Vintschgau im frühen und hohen Mittelalter (bis ca. 1250), in: Rainer Loose u. Sönke Lorenz (Hg.), König - Kirche Adel, Herrschaftsstrukturen im mittleren Alpenraum und angrenzenden Gebieten (6.13. Jh.), Lana 1999, 9-34; ders., Grundzüge der Siedlungsgenese der Val Müstair bis etwa 1500, in: Calven 1499-1999, hg. v. Südtiroler Kulturinstitut, red. Josef Riedmann, Bozen 2001, 23-43. 39 BUB I, Nr. 17*, S. 13-23 (Tello-‚Testament‘), BUB I, S. 375-396 (RU). Loose, Siedlungsgenetische Studien (wie Anm. 38). Sebastian Grüninger, Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Churrätien, Ländliche Herrschaftsformen, Personenverbände und Wirtschaftsstrukturen zwischen Forschungsmodellen und regionaler Quellenbasis (QBG15), Chur 2006, Kap. IV. 40 Vgl. den Beitrag von Paul Gleirscher in diesem Band sowie Hans Nothdurfter, Frühchristliche und frühmittelalterliche Kirchenbauten in Südtirol, in: Sennhauser (Hg.), Frühe Kirchen (wie Anm. 17), Bd. 1, 273-355. Zu den Patrozinien: Reinhold Kaiser, Churrätien und der Vinschgau im frühen Mittelalter, in: Der Schlern 73 (1999), 675-690, 675 u. 677 f; Ulrich Köpf, Christliche Kultorte als Zeugen der älteren Kirchengeschichte des Vinschgaus, in: Rainer Loose (Hg.), König - Kirche - Adel, Herrschaftsstrukturen im mittleren Alpenraum und angrenzenden Gebieten, 53-95. 41 S. dazu den Beitrag von Paul Gleirscher in diesem Band. 42 Edition des Reichsgutsurbars in: BUB I, S. 375-396, 394: De ministerio Richperti, id est Endena ...; De ministerio Remedii ... Aufgrund der Verteilung der Ämter entspricht letzteres wohl dem Vinschgau, der außerdem im Pfäferser Rodel genannt ist: In Venustis in villa Mortario (S. 388). Zur Quelle zuletzt insbesondere Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 162-189, sowie ders., Stratigraphie, Struktur und Textur des Churrätischen Reichsgutsurbars: Streifzüge durch die „Geologie“ eines frühmittelalterlichen Güterverzeichnisses, in: Eisenhut u. a. (Hg.), Schrift (wie Anm. 23), 222-249. Aber auch: Julia Kleindinst, Das churrätische Reichsgutsurbar - eine Quelle zur frühmittelalterlichen Geschichte Vorarlbergs, in: Montfort 47 (1995), 89-130. 43 BUB I, Nr. 21, S. 25 f. Der Brief liest sich wie die direkte Befolgung eines Capitulars Karls d. Gr. von 787, wo es heißt: Sicut consuetudo fuit sigillum et epistola prendere et vias vel portas custodire, ita nunc sit factum. MGH Capitularia regum Francorum I, (ed. A. Boretius, 1883), 201, Nr. 95 c. 17. PER ALPES CURIAM Muro, erwähnt im Itinerarium Antonini, s. Walser, Römische Straßen (wie Anm. 12), 37. Rageth, Römische Verkehrswege (wie Anm. 3), 79 f. 45 BUB I, S. 383 u. 394. 46 Fredegar, Chronicarum Continuationes 37 u. 38 (ed. B. Krusch, MGH SS rer. Merov. 2, 1888, 184). Zu den Franken in den beiden DoraTälern und im Maurienne: Georgine Tangl, Die Passvorschrift des Königs Ratchis und ihre Beziehungen zu dem Verhältnis zwischen Franken und Langobarden vom 6.-8. Jahrhundert, in: QFIAB 38 (1958), 1-65, 9, sowie Eduard Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774-962) (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 8), Freiburg 1960, 20, Anm. 16. 47 Schneider, Fränkische Alpenpolitik (wie Anm. 18), 35-37. S. auch unten zu Anm. 110. 48 Clavadetscher, Verkehrsorganisation in Rätien zur Karolingerzeit, wieder in ders., Rätien im Mittelalter (wie Anm. 18), 270-299. Ringel, Kontinuität und Wandel (wie Anm. 3). Während einerseits der Stationsname Bivio auf eine Weggabelung hinweist, die nur die Abzweigung zum Julier oder Septimer meinen kann, kann Ringel zeigen, dass der Septimer in karolingischer Zeit noch keine Bedeutung hatte. Ringel, Der Septimer (wie Anm. 3), 58-72. 49 BUB I, S. 396. Zur römischen mutatio s. Jürg Rageth, Riom-Cadra, eine römische Mutatio, in: Archäologie in Graubünden, FS z. 25-jährigen Bestehen des Archäologischen Dienstes Graubünden, o. J., 150-154, sowie ders., Die römische Mutatio von Riom (Graubünden) an der römischen Julier-Route, in: Gerald Grabherr / Barbara Kainrath (Hg.), conquiescamus! longum iter fecimus, Römische Raststationen und Straßeninfrastruktur im Ostalpenraum (IKARUS 6), Innsbruck 2010, 275-285. 50 Büttner, Bündner Alpenpässe (wie Anm. 3), 245. 51 Stefan Esders, „Öffentliche“ Abgaben und Leistungen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter: Konzeptionen und Befunde, in: Theo Kölzer, Rudolf Schieffer (Hg.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter, Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde (VuF 70), 2009, 189-244, mit Darlegung des Übergangs vom römischen munus zum mittelalterlichen servitium am Beispiel des paraveredus (191-205). Zum Fortleben dieser öffentlichen Leistungen secundum antiquam consuetudinem in den frühen karolingischen Kapitularien: Thomas Szabo, Antikes Erbe und karolingischottonische Verkehrspolitik, in: Lutz Fenske u. a. (Hg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter, FS f. Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1984, 125-145, bes. 126-128 u. 131-134, sowie deren Modifikation ab dem 9. Jh. Zur Straßenbeschaffenheit im Hochgebirge: Rageth, Römische Straßen (wie Anm. 3), 64. 52 BUB I, S. 394. 53 Zur Engadin-Straße in römischer Zeit s. Ringel, Kontinuität und Wandel (wie Anm. 3), 226 f: Rageth, Römische Verkehrswege (wie Anm. 3), 75-77. 44 151 Als Alkuin in den Jahren vor 800 einen Geschäftsträger (negotiator) über die Alpen schickte, bat er Bischof Remedius von Chur für diesen um Schutz, Zollfreiheit und sicheres Geleit, ut per vias vestrae patriae tutus eat et redeat; et in montium claustris a vestris non teneatus tolneariis constrictus, sed per latitudinem caritatis latam habeat eundi et redeundi semitam. 43 Die Hoheit über die Bündner Straßen lag vor der Einführung der Grafschaftsverfassung 806 also beim Bischof-rector von Chur, der einerseits für Sicherheit sorgte, andererseits auch die Zolleinnahmen erhielt. Diese wurden bevorzugt an den Klausen der Täler eingezogen, wie beispielhaft an der Engstelle am Ausgang des Bergell, der so genannten Porta Bergalliae. Hier, wo sich bereits die römische Straßenstation Murus befand, 44 war die Topographie auch prädestiniert für die Kontrolle des Verkehrs, eine Aufgabe, die zum Bau einer frühen Befestigungsanlage führte, dem im RU genannten castellum ad Bergalliam. 45 Dieses bildet mit einer Reihe ähnlicher Anlagen, die von Süden her an allen Passzugängen lagen, ein Klausensystem, das eine Kontrolle des Verkehrs, aber auch vollständige Grenzsperren ermöglichte, auch wenn diese nicht immer erfolgreich waren, wie die Umgehung der langobardischen Klausen oberhalb von Susa durch die Franken 754, 756 und 773 zeigen. 46 Aufgrund seiner großen herrschaftspolitischen Bedeutung wurde dieses System seit spätrömischer Zeit lückenlos aufrecht erhalten. 47 Das gilt auch für einige verkehrstechnische Einrichtungen entlang der Bündner Passstraßen. Wie Otto P. Clavadetscher zeigen und Ingrid H. Ringel für die Julier- (Septimer-)route weiter ausführen konnte, 48 deuten die im RU aufgeführten tabernae und stabula auf ein System von Raststätten und Wechselstationen hin, die wohl noch in römischer Tradition standen, eine Tradition, die rechtlich vermutlich eine Fiskalsukzession war – an eine solche möchte man z. B. in Riom denken, wo einer römischen mutatio ein karolingischer Königshof folgte49 –, die praktisch aber schon allein dadurch befördert wurde, dass Rastorte in bestimmten Abständen notwendig waren und das Gelände im Hochgebirge dafür nicht beliebig viele Möglichkeiten bot. Dabei wurden offenbar die höher gelegenen Einrichtungen als stabula bezeichnet, während die genannten tabernae alle unterhalb 1500 m liegen.50 Zu bedenken ist, dass diese Stationen keine isolierten Objekte darstellten, sondern für ein ausgedehntes System an Dienstleistungen stehen, zur Erhaltung von Straßen und Brücken, zur Abwicklung von Transporten, zur Stellung und Versorgung von Tieren, zur Beherbergung von Reisenden, wie es aus der Antike weiterentwickelt wurde.51 Folgt man den Angaben des Reichsgutsurbars, dann war der Verkehr durch das Rheintal wie auch die Strecken über Lenzerheide und Oberhalbstein über Julier und Maloja nach Chiavenna so organisiert. Das RU nennt tabernae in Schaan und Chur, in Lantsch / Lenz und Marmorera, stabula in Bivio und Sils.52 Auch zeigen entsprechende Einrichtungen in Zuoz und Ardez im Engadin, dass nicht nur die großen Nord-Süd-Routen auf diese Weise funktionierten, sondern dass auch scheinbar weniger wichtige Querverbindungen oder Diagonalen in dieses System einbezogen waren.53 Allerdings werden keine solchen Orte an den Wegen zum Splügen oder San Bernardino aufgeführt, was weniger auf eine Nicht-Benützung der Strecken als auf eine andere Organisationsform des Verkehrs schließen lässt, bei der das öffentliche System aus der Spätantike nicht oder nicht in öffentlicher Hand weitergeführt wurde. 152 IRMTRAUT HEITMEIER Wie oben bereits bemerkt, wurde im Norden und Süden der Passlandschaften der Verkehr durch Gewässer begünstigt, die Transporte zu Schiff oder auf Flößen ermöglichten, was sehr zur Attraktivität der Bündner Straßen beitrug.54 Denn allein die Schifffahrt auf dem Silser und Silvaplaner See verkürzte die Strecke durch das Engadin um 12 km und konnte auf dem Comer See auf weiteren 60 km fortgesetzt werden. Entsprechendes gilt für den Lago Maggiore, wo HR. Sennhauser jüngst einen römisch-frühmittelalterlichen Hafen in Ascona erschloss.55 Im Norden war Schifffahrt auf dem Rhein ab Chur möglich, doch waren die Bedingungen nicht immer günstig, so dass häufiger zwischen Maienfeld und Balzers umgeladen werden musste.56 Ideal war der Schiffsverkehr jedoch auf dem Zürich- und Walensee. Laut RU waren auf letzterem 10 Schiffe unterwegs, die dem König Abgaben leisteten.57 Ähnliche Verhältnisse sind auf dem Comer See zu beobachten.58 Wie bei den Straßenstationen ist auch in Zusammenhang mit diesem Schiffsverkehr die Überführung einer spätantiken in eine frühmittelalterliche Organisation zu erkennen. Sie spiegelt sich in der Umbenennung des Walensees und des Hafenortes Walenstadt, vorher lacus Riuanus und portus Riuanus. Die Bezeichnung Walen / Walchen für die Romanisch sprechende Bevölkerung ist ein Merkmal von Sprachgrenzräumen, das sich vom Rheinland bis Oberösterreich findet. Dass es zu dieser Benennung kommt, bedarf aber neben der bilingualen Nachbarschaft offensichtlich zusätzlicher Kriterien. So hat sich gezeigt, dass Walchennamen regelmäßig in Zusammenhang mit fiskalischer Raumorganisation stehen und es zeichnet sich ab, dass es sich um Gruppen von alteingesessener Bevölkerung handelt, deren Rechtsoder Organisationsstatus in frühmittelalterliche Administrationsstrukturen überführt wurde.59 Der Walensee mit seiner organisierten Schifffahrt und Fischerei und dem Hafen Walenstadt (ahd. stad ‚Ufer, Gestade‘) bietet dafür ein eindrückliches Beispiel. Es ist vermutlich kein Zufall, dass der älteste Beleg für die Umbenennung im Reichsgutsurbar steht: De Ripa Vualahastad, und vermutlich ebenso wenig, dass dort, wo der funktionale Kontext der Verkehrsorganisation fehlte, der alte Name weiterlebte: Ecclesia in Riua.60 Eine Einschätzung der Bedeutung dieses Schiffsverkehrs erlaubt die Beobachtung, dass das Privileg eines zollfreien Schiffes auf dem Walensee, das Otto I. der Churer Kirche 955 gewährte, für so wichtig erachtet wurde, dass es nachträglich in eine Urkunde Lothars I. von 843 und eine weitere Ludwigs des Deutschen von 849 inseriert wurde.61 Ist also zu Wasser wie zu Land die Fortführung eines alteingeführten Verkehrssystems nicht zu verkennen, so zeichnet sich daneben dessen frühmittelalterliche Ausgestaltung insbesondere durch Klöster ab. Sämtliche frühen Klöster Churrätiens weisen geradezu klassisch funktionale Straßenlagen auf. Die beiden Frauenklöster Cazis bei Thusis und Impitinis / Mistail nahe Tiefencastel liegen im unteren Abschnitt der Splügen-/ Bernardinoroute bzw. an der Septimerund Julierroute, aber auch an der Querverbindung zwischen Domleschg und Oberhalbstein durch das Albulatal. Gerade bei Mistail, wo mit guten Gründen das von Ludwig dem Frommen um 831 dem Bischof rückerstattete xenodochium scti Petri lokalisiert wird,62 verweist die Lage beim Hof Prada überdies wieder auf die unmittelbare Die Möglichkeit des Schiffsverkehrs auf dem Walensee und auf dem Comer See, der im Mittelalter noch fast bis Chiavenna reichte, machte sich nachweislich Otto III. zunutze. Hierzu Hagen Keller, Zusammenfassung, in: Helmut Maurer u.a. (Hg.), Schwaben und Italien im Hochmittelalter (VuF 52), 2001, 295310, 300 f. Aus überwiegend spätmittelalterlich / neuzeitlicher Perspektive: Peter Eitel, Die historische Verkehrsfunktion des Bodenseeraumes, in: Die Erschließung des Alpenraums für den Verkehr (wie Anm. 6), 85-98; Giancarlo Frigerio, L’Antica Strada Regina, ebenda 245260, weist allerdings auch auf die schwierigen Wetterverhältnisse auf dem Comer See hin, die zumindest in der Neuzeit keinen Vorteil des Schiffsverkehrs zuließen (bes. 256 f). 55 Hans Rudolf Sennhauser, Überlegungen zur Frühzeit von Ascona, in: Zs f. Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 68 (2011), 285-299. 56 Martin-Kilcher / Schaer, Graubünden in römischer Zeit (wie Anm. 3), 79-81; LeipoldSchneider, Schiffahrt auf dem Alpenrhein (wie Anm. 6). 57 BUB I, S. 383. Hierzu passen die archäologischen Befunde im Sarganser Becken, aufgrund derer Gudrun Schneider-Schnekenburger zu dem Urteil gelangte, die Walenseeroute müsse in frühmittelalterlicher Zeit „als wichtigste Verbindung zum fränkischen Reich angesehen werden“. Dies., Churrätien im Frühmittelalter (wie Anm. 6), 111 f. S. a. Otto P. Clavadetscher, Das Schicksal von Reichsgut und Reichsrechten in Rätien, wieder in: Ders., Rätien im Mittelalter (wie Anm. 18), 197-225, 218 f. 58 Clavadetscher, Churrätien im Übergang (wie Anm. 18), 18. 59 Christa Jochum-Godglück, Walchensiedlungsnamen und ihre historische Aussagekraft, in: Hubert Fehr, Irmtraut Heitmeier (Hg.), Die Anfänge Bayerns, Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien 2012, 1197-217; Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 236-238. 60 BUB I, S. 382 sowie ebenda S. 387. 61 BUB I, Nr. 113, S. 92-94; Nr. 63*, S. 55 f. u. Nr. 67*, S. 57-59. Aufschlussreich ist auch ein Tauschgeschäft Ottos I. mit Kloster Säckingen von 965, bei dem das Kloster Besitz in Ufenau, Pfäffikon und Uerikon sowie die Kirche von Meilen gibt gegen die curtis Schaan mit Kirche, Rechte am Hafen Walenstadt und ein Schiff mit Fährgeld auf dem Walensee. MG DD Otto I 276 = BUB I, Nr. 131, S. 105 f: ...in eodem comitatu portum Riuanum navigium cum naulo... 62 BUB I, 53*, Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 132. Ringel, Kontinuität und Wandel (wie Anm. 3), 271-283; Ringel, Septimer (wie Anm. 3), 32-36. Das Hospiz auf der Septimer-Passhöhe entsteht erst im Hochmittelalter. 54 PER ALPES CURIAM 63 Zu Prad: Irmtraut Heitmeier, Funktion erhalten - Struktur gewandelt? Zur nachantiken Entwicklung verkehrsrelevanter Siedlungen im Alpen- und Voralpenraum, Vortrag gehalten beim Internationalen ÖGUF-Symposium „ZEITENwandel, Siedlungs- und Sozialstrukturen zwischen Spätantike und Hochmittelalter“ 2009 in Mauterndorf, erscheint in: Archäologie Österreichs Spezial (im Druck). 64 Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 128-134. 65 Zur Divisio s. Kaiser, Churrätien (wie Anm.3), 53. Zur Differenzierung des Bischofsbesitzes vor 806 s. jedoch Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 208-249. 66 Vgl. den Beschwerdebrief Victors III., wonach dem Bischof nur zwei Frauenklöster geblieben waren, BUB I, Nr. 46, S. 39. Die These, dass nur die ursprünglich bischöflichen Klöster nach der Divisio dem Bischof verblieben, vertrat im Umkehrschluss E. Meyer-Marthaler, Müstair, Helvetia sacra III, 1, 3. Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 236. Zu den Anfängen von Cazis: Hans Lieb, Die Gründer von Cazis, in: Helmut Maurer (Hg.), Churrätisches und st. gallisches Mittelalter, FS f. Otto P. Clavadetscher, Sigmaringen 1984, 37-51. 67 Zur Abfolge der beiden Pässe Julier / Septimer s. Ringel, Septimer (wie Anm. 3), 58-72. Für die erst nach-karolingische Bedeutung des Septimer spricht nicht zuletzt die späte Erbauung des Passhospizes durch Bischof Wido (1096-1122). Wie die im frühen Mittelalter grundgelegten Verhältnisse sich auf die jeweilige Herrschaftsbildung entlang der Passstraßen auswirkten, spiegelt sich auch im Burgenbau des Oberhalbstein und des Domleschg. Ringel, Septimer, 40. 68 Frdl. Hinweis von Jürg Goll. Eine Lanze des 6. Jh. von der Passhöhe des Lukmanier belegt dessen Begehung bereits in vorklösterlicher Zeit. Schneider-Schnekenburger, Churrätien (wie Anm. 6), 113. 69 Iso Müller, Die Frühzeit des Klosters Disentis, in: Bündner Monatsblatt 1986, 1-45; Elsanne Gilomen-Schenkel / Iso Müller, Disentis, in: Helvetia sacra III/1, 1 (1986), 474-512, 474 f.; Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 134-138; zum Tello-‚Testament‘: Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), Kap. II, 3. 70 So Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 135. 71 Zur Geschichte von Pfäfers s. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 140-142; Werner Vogler (Hg.), Die Abtei Pfäfers, Geschichte und Kultur, St. Gallen 1983. Franz Perret / Werner Vogler, Pfäfers, in: Helvetia sacra III/1, 2 (1986), 9801033, 980 f. Die Datierung aufgrund einer so genannten Sammeldatierung mit Murbach und Niederaltaich aus dem 11. Jh. erscheint auch wegen der Rückrechnung der bekannten Abbatiate als realistisch. Vgl. Hans Schnyder, Das Gründungsdatum von Pfäfers, in: Vogler, Die Abtei Pfäfers, 26-31, 28 f. BUB I, Nr. 15, S. 10. 153 Funktionsabfolge zwischen einer römerzeitlichen und einer mittelalterlichen Einrichtung: Der Hof Prada trägt einen spätrömischen Funktionsnamen, der an Straßen öffentliches Weideland für Reit- und Transporttiere markiert, wie man es beispielsweise auch für Prad im Vinschgau annehmen darf.63 Die beiden Frauenklöster Cazis und Mistail an den bereits römisch organisierten Passrouten geben sich als bischöfliche Gründungen zu erkennen. Cazis wurde nach der Hausüberlieferung um 700 von Esopeia und ihrem Sohn Bischof Victor gegründet, Mistail war wohl ein nur wenig jüngeres Tochterkloster.64 Beide blieben auch nach der divisio inter episcopatum et comitatum 65 beim Bistum, vielleicht aufgrund ihres bischöflichen Ursprungs,66 und trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass das Oberhalbstein und zunächst der Julier-, ab dem Hochmittelalter der Septimerpass noch in den folgenden Jahrhunderten von den Bischöfen dominiert wurde.67 Bei Pfäfers und Disentis scheinen die Verhältnisse hingegen nicht so einfach. Pfäfers liegt einerseits etwas oberhalb der Einmündung der Walenseeroute ins Rheintal, aber auch am Nordende einer Nebenstrecke durch das Taminatal und über den Kunkelspass, die bei Bonaduz das Vorderrheintal erreicht. Auf ihr konnte man den Rhein zwischen Maienfeld und Bonaduz umgehen, was politische Aspekte besaß, nämlich die Vermeidung Churs, aber auch das Ausweichen bei Hochwasser oder anderen Hindernissen ermöglichte. Disentis am Fuß des Lukmanier und gleichzeitig Etappenstation zum Oberalp- und Furkapass ins Wallis gibt ebenfalls zu denken, da der Lukmanier üblicherweise erst ab der Ottonenzeit als wichtiger Pass gilt und im frühen Mittelalter von eher untergeordneter Bedeutung war. Gleiches wird für den Übergang ins Wallis angenommen. Dieser Einschätzung scheint die geistliche Niederlassung aber per se zu widersprechen, ebenso wie der Fund langobardischer Goldmünzen in Disentis.68 Auch der Zeitpunkt der Gründung ist bei beiden Klöstern nicht genau auszumachen. Die Legende berichtet bei Disentis von der Niederlassung des (fränkischen) Eremiten Sigisbert und dessen (einheimischem) Förderer Placidus, den praeses Victor habe ermorden lassen. Letzterer, Vater Bischof Tellos, war in den 720er-Jahren aktiv, was die Anfänge von Disentis ebenfalls in das frühe 8. Jh. zurückdatiert. In seinem viel diskutierten, da überlieferungstechnisch höchst komplizierten ‚Testament‘ vermachte Tello nach 765 dem zwischenzeitlich beim Grab der beiden Eremiten gegründeten Kloster umfangreiche Besitzungen vor allem im Vorderrheintal.69 Darunter befanden sich je nach diplomatischer Auffassung des Textes auch Güter, die der praeses Victor bereits früher zur Wiedergutmachung des Mordes gestiftet hatte. Ist schon der Rückzug eines fränkischen Eremiten in die rätische Desertina auffallend genug, so legt die Ermordung des Placidus jedenfalls konkurrierende Interessen nahe, die mit der Kontrolle um herrenloses Land,70 vor allem aber der genannten Übergänge über Lukmanier und Oberalp-/ Furkapass erklärt werden können. Für Pfäfers wird eine Gründung Anfang der 730 er-Jahre für möglich erachtet, der erste urkundliche Beleg betrifft jedoch erst den 762 am Gebetsbund von Attigny teilnehmenden Abt Adalbert.71 Pfäfers 154 IRMTRAUT HEITMEIER ist somit in jedem Fall das jüngste der vier Klöster. Die Frage, ob der Gründungskonvent durch Mönche von der Reichenau gebildet wurde und wie groß dementsprechend Einflüsse von außen gegenüber rätisch-victoridischer Mitwirkung zu werten seien, sorgte in der Forschung für rege Diskussion. Einerseits stützt die Beobachtung, dass sich der seltene Name Gibba /Geba des ersten(?) Abtes auch unter den verstorbenen Brüdern der Reichenau findet, die überlieferten Beziehungen zur Reichenau,72 andererseits wies Franz Perret mit Nachdruck auf die Gemengelage von Disentiser und Pfäferser Besitz hin, aus der zu schließen sei, dass „der materielle und ideelle Anteil der Victoriden an der Entstehung von Pfäfers“ nicht unterschätzt werden dürfte.73 S. Grüninger hat diese angebliche Gemengelage für den Frühbesitz kritisch revidiert und dagegen die strukturellen Unterschiede der beiden Besitzkomplexe wieder betont:74 Während Disentis durch das Vermächtnis Tellos keine einzige Kirche erhielt, führt der Pfäferser Rodel des RU deren 26 auf. Da in Churrätien bereits vor der Divisio Niederkirchen in klösterlichem Besitz waren, ist dies weniger als Quellenproblem, denn als Hinweis auf eine unterschiedliche Ausstattung der beiden Klöster zu verstehen, abhängig von ihren anders gelagerten Anfängen.75 Die Tatsache, dass die Besitzkomplexe der Klöster jeweils eigene Räume abdecken, zeigt zum einen ihre Bedeutung für Verkehrsorganisation und Raumerfassung, verweist zum anderen aber auch auf die unterschiedliche Herkunft des Besitzes. Während Pfäfers seinen Schwerpunkt in Unterrätien hat, entlang der Walenseeroute und im Walgau sowie vor allem im Rheintal bis oberhalb Chur, liegt der Altbesitz von Disentis im Vorderrheintal. Das Kloster Cazis hat hingegen Besitz im Domleschg, am Heinzenberg und Güter vom Albulatal über das Oberhalbstein, Oberengadin bis in den Vinschgau (in GoldrainSchanzen und Mals-Milenz).76 Über Vinschgauer Güter verfügte auch Pfäfers (in Morter und Nals im Etschtal),77 während Disentis dort nicht aufscheint. Bei Pfäfers lassen sich überdies zwei ‚Außenstellen‘ an den Passstraßen nach Süden erkennen, die cella in Speluca (Splügen auf der Nordseite des Passes, auch am Weg zum San Bernardino gelegen) sowie der Titulus sancti Gaudentii, das spätere Hospiz St. Gaudentius in Casaccia im Bergell. Wenn Pfäfers u. a. über Anteile am Hafen von Wesen am Walensee und eine curtis Navalis verfügt,78 mit der wohl die Rheinfähre bei Bad Ragaz verbunden war, oder Cazis im Besitz einer taberna in Chur und in Tiefencastel ist,79 dann ist trotz der zeitlichen Diskrepanz der Nachweise der Bezug beider Klöster zur Straßenorganisation offensichtlich.80 Dank des Tello-‚Testaments‘ ist die Herkunft des Disentiser Besitzes im Vorderrheintal aus dem väterlichen Erbe des Bischofs bekannt; bei Cazis wird hingegen aus der Nachricht, dass das Kloster von Bischof Victor und seiner Mutter Esopeia gegründet wurde, geschlossen, dass ein größerer Teil der Ausstattung aus mütterlichem Erbe kam. Dies erhellt zum einen, dass innerhalb des Victoriden-Besitzes Güterprovenienzen genau unterschieden wurden,81 zum anderen zeichnen sich die lokalen Schwerpunkte von Familien der Oberschicht ab. Denn aus der Beteiligung von Victors Mutter an der Klostergründung von Cazis zog bereits Clavadetscher den Schluss, dass Esopeia vermutlich aus einer wohlhabenden Domleschger Familie stammte, eine Annahme, Dieter Geuenich, Die ältere Geschichte von Pfäfers im Spiegel der Mönchslisten des Liber Viventium Fabariensis, in: FMSt 9 (1975), 226252, 251 f. 73 Perret / Vogler, Pfäfers (wie Anm. 71), 981. 74 Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 239-242. Auf die zahlreichen Kirchen im Besitz von Pfäfers wies schon E. Meyer-Marthaler hin. 75 MGH LL Formulae, Nr. 5, S. 331= BUB I, Nr. 20, S. 25. Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 242. 76 BUB I, Nr. 335, S. 245 f. 77 BUB I, S. 388. 78 BUB I, S. 383 u. 391. 79 BUB I, Nr. 335, S. 246. 80 Während der frühe Besitz von Pfäfers dem RU zu entnehmen ist, ist derjenige des Klosters Cazis erst durch eine päpstliche Bestätigung von 1156 bekannt: s. Anm. 76 u. 77. 81 S. dazu Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 214. 72 PER ALPES CURIAM 155 die sie bereits in der humanistischen Überlieferung zu einer „Gräfin von Hohenrätien“ werden ließ.82 Zu dieser Oberschicht dürfen mindestens auch die Zeugen des Tello-‚Testaments‘ in der Funktion eines iudex oder curialis gerechnet werden, wie auch aufgrund der archäologischen Befunde z. B. die Bewohner des Ochsenberges von Wartau.83 Als lokale Machthaber besetzten sie strategische Schlüsselstellen wie das im RU genannte castellum Jörgenberg im Vorderrheintal und insbesondere das bereits erwähnte castellum Bergallium, die Straßensperre bei Bondo / Castelmur, die ein ebenfalls im RU mehrfach erwähnter Constantius mit Besitzschwerpunkt um Sargans „versah“.84 Aus dessen Familie stammte vermutlich bereits der rector Constantius in den 770er-Jahren. Zusammenfassend lässt sich für die Bündner Passstraßen festhalten, dass sowohl bei den Gewässern (Walensee, Rhein, Comer See) wie auch an der Rheintalstraße und ihrer Fortsetzung durch das Oberhalbstein zum Julier und Maloja-Pass sowie im Engadin die Fortführung einer spätantiken Verkehrsorganisation und ihrer funktionalen Einrichtungen zu erkennen ist. Die frühen Klöster Cazis und Mistail, Disentis und Pfäfers sind als verkehrsorientierte Gründungen anzusprechen und belegen damit allein durch ihre Existenz die Wichtigkeit des Passraumes im 8. Jh., sogar in Hinblick auf in dieser Zeit noch nicht intensiver genutzte Verbindungen, wie Disentis am Fuß von Lukmanier und Oberalppass zeigt. Das Funktionieren dieser Strukturen oblag dabei nicht nur den Victoriden, sondern wurde von regional begüterten Familien der Oberschicht gewährleistet, die darüber auch ihre eigene lokale Macht sicherten. Otto P. Clavadetscher, Zur Führungsschicht im frühmittelalterlichen Rätien, wieder in: Ders., Rätien im Mittelalter (wie Anm. 18), 21-31, 28. 83 BUB I, Nr. 15, S. 18. Margarita Primas u. a. (Hg.), Wartau I (wie Anm. 24), darin: Martin Schindler, Kommentar zur frühmittelalterlichen Besiedlung des Ochsenbergs, 72-77, 73; Grüninger, Churrätien, ebenda 115. 84 BUB I, S. 391 u. 383. Clavadetscher, Schicksal von Reichsgut (wie Anm. 57), 212 f. (Jörgenberg). 85 Arbeo, Vita Corb. (s. Abkürzungen). 86 Dazu ausführlich zuletzt Günther Kaufmann, Das castrum Maiensis auf Zenoburg bei Meran, in: Tiroler Heimat 75 (2011), 5-90. Ders., Von Burg Mais zur Zenoburg, in: Arx, Burgen und Schlösser in Bayern, Österreich und Südtirol 2 (2012), 43-51. 87 Arbeo, Vita Corb., 15 u. 23, S. 110 u. 128. 88 Arbeo, Vita Corb., 23-25, 30-33, 37, 42-44, S. 128-154. Zum Zeitpunkt der Translation: Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32), Nr. 34, S. 62. 82 An dieser Stelle ist der Blick auf die Reschenstraße zu lenken, zu der bereits am Ende von Abschnitt I festgestellt wurde, dass ihr Verlauf über mehrere frühmittelalterliche Raumgrenzen hinweg dem Fernverkehr wenig dienlich gewesen sein kann. Dennoch bezieht sich gerade auf sie ein Reisebericht Bischof Arbeos von Freising in seiner um 770 verfassten Vita Corbiniani.85 Darin berichtet er, wie der Hl. Corbinian um 720 von Freising nach Rom reiste und wie ihm dabei ministri des bairischen Herzogs Grimoald bis an die Grenze Italiens Geleit gaben. Diese Grenze lag im Etschtal bei Meran, wo mit dem castrum Maiense, der Zenoburg über Mais, eine entsprechende Kontrollfunktion verbunden war.86 Zum Zeitpunkt von Corbinians Romreise unterstand das castrum dem Befehl Herzog Grimoalds, wie offenbar der ganze Straßenverlauf durch das Oberinntal und den Vinschgau, denn als Corbinian in Freising aufbrach, ließ der Herzog den a(u)ctoribus montanis tam Venusticae vallis quam Innetinis befehlen, darauf zu achten, dass der Heilige auf seiner Rückreise das Gebiet der Baiern nicht verließe, ohne den Herzog aufgesucht zu haben.87 Im weiteren Verlauf berichtet Arbeo, wie diese Grenzstation zwischen Baiern und Langobarden umkämpft war: Wie die bairische Besatzung gemäß dem herzoglichen Befehl den aus Rom zurückkehrenden Corbinian aufhielt und an den Herzogshof brachte, wie wenige Jahre später der Sarg mit dem Leichnam des Heiligen von der nun langobardischen Besatzung erst nach Rücksprache mit Pavia eingelassen wurde, weil man eine Kriegslist der Baiern befürchtete, und wie schließlich 768/69 die Translation des Heiligen aus dem zwischenzeitlich wieder bairischen castrum nach Freising erfolgte.88 156 IRMTRAUT HEITMEIER Sieht man von der umkämpften Grenzstation Mais zunächst ab, ist diesem Bericht zu entnehmen, dass die Reschenstraße durch klar ansprechbare, weil administrativ erfasste Räume führte. Dabei sorgte die Erwähnung des Engadins in der älteren Forschung für Irritation, da nach modernem Verständnis nur das Schweizer Inntal von Finstermünz aufwärts diesen Namen trägt, was nicht mit dem Streckenverlauf der Reschenstraße korreliert. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass es wohl bis ins 10. Jh. eine alte Raumeinheit ‚Engadin‘ gab, die bis nördlich von Fließ reichte.89 Arbeos Raumangaben sind somit stimmig. Zum anderen sind die genannten actores aufschlussreich, denn sie sind üblicherweise als Amtsträger zu verstehen, die der Fiskalgutverwaltung vorstanden und zugleich Gerichtshoheit und Geleitrechte besaßen.90 Entlang der Reschenstraße, genauer im Vinschgau und im obersten Inntal bestand also offenbar eine entsprechende Organisation, auf die der Herzog zurückgreifen konnte. Diese actores könnten auch von außerhalb des Gebirges gekommen sein, doch legt die Fassung B der Vita aus dem 10. Jh. Wert darauf, sie mit den Bewohnern der Alpen gleichzusetzen, indem der ursprüngliche Text abgewandelt wird in actoribus vel habitatoribus Alpium.91 Kontrolle und Organisation der Reschenstraße lagen im frühen 8. Jh. demnach in Händen der ansässigen Bevölkerung und einer lokalen Oberschicht. Die Bedeutung der alteingesessenen Bevölkerung wird noch unterstrichen durch die Tradition des Venosten-Namens, der hier nicht nur wie z. B. in den umliegenden Tälern Bergell, Val Camonica, Val Trompia oder am Nonsberg im Raumnamen erhalten blieb.92 Wie ein in Chur in den 720 er-Jahren aufgestellter Gedenkstein, dessen Herkunft mit de Venostes angegeben wird, belegt, konnte diese Talbevölkerung als einzige neben den Breonen im Inntal ihre namentliche Identität ins Frühmittelalter transportieren. Die Inschrift ist deshalb besonders aussagekräftig, weil die Herkunft eines zweiten Marmorsteines als de Triento, also räumlich angegeben wird, so dass die personale Nennung der Venostes kaum zufällig war.93 Überträgt man die Ergebnisse zu den Breonen,94 so war eine solche Tradition nicht ohne identitätsstiftende kollektive Funktion und Aufgabe möglich. Sie könnte in Fortführung spätantiker Strukturen in der cura der Straße und den damit verbundenen öffentlichen Aufgaben (munera) gelegen haben, also in Bau und Erhaltung von Wegen und Brücken, in Transport-, Unterkunfts- und Verpflegungsdienstleistungen. Doch fällt auf, dass die actores montani vor allem eine Überwachungs- und Kontrollfunktion hatten. Es ist demnach vielleicht kein Zufall, dass im weiteren Verlauf der Reschenstraße nach Norden, jenseits der Raumgrenze im Bereich der Kronburg östlich von Zams 95 als Nächstes gerade das oppidum Imst am Aufstieg der Straße aus dem Inntal zum Fernpass in den Quellen erscheint.96 Der Begriff oppidum beinhaltet nicht zwangsläufig eine Befestigung, doch belegen Ausdrücke wie oppida non murata oder oppida quae non habeant muros, wie sie in der Vulgata erscheinen, dass die Befestigung zu den eigentlichen Merkmalen eines oppidum gehörte.97 Man darf also annehmen, dass Imst damals nicht nur eine Straßenstation, sondern ein fester Platz war, mit dem eine Straßen- und Raumkontrolle verbunden war. Wie aus 89 Heitmeier, Wie weit reichte das „Engadin“? (wie Anm. 5), 94-97. 90 Wolfgang Metz, Zur Erforschung des karolingischen Reichsgutes, Darmstadt 1971, 68-70, mit der Gleichung actor = iudex. Auch in der Lex Romana Curiensis werden exactores fisci bzw. publici genannt, in durchaus eigenständiger Weise, was ihre aktuelle Funktion in Rätien wahrscheinlich macht. Vgl. Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 230 f mit genauen Zitaten. Ebenda 222 ff. zur Diskussion um Fiskalbesitz in Churrätien überhaupt. 91 Heitmeier, Wie weit reichte das „Engadin“? (wie Anm. 5), 89 f. 92 Enthalten sind die vorrömischen Alpenvölker der Bergalei, der Cammuni, der Trumpilini und Anauni. Heuberger, Rätien (wie Anm. 27), 149. 93 BUB I, Nr. 11. u. 12. 94 Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), Kap. M. 95 Heitmeier, Wie weit reichte das „Engadin“? (wie Anm. 5), 93-104. 96 Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32), Nr. 19, S. 46-48. 97 Vulgata Est 9, 19 u. Dtn 3, 5. Gerhard Köbler, Oppidum, in: LexMA VI (1999), 1418. Vgl. auch Fritz Koller, Zur Terminologie präurbaner Siedlungen zwischen Inn und Enns, in: Christian Rohr (Hg.), Vom Ursprung der Städte in Mitteleuropa, Linz 1999, 205-224, bes. zum Begriffspaar castrum-oppidum im frühmittelalterlichen Salzburg, 208-210. PER ALPES CURIAM Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32), Nr. 19, S. 46-48; tradiert werden u.a.: Uallenensium ex pago ... in villas nuncupantes Pollinga et Flurininga et in opido Humiste. 99 Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), zusammenfassend 330-332. 100 Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32), Nr. 177, S. 170 f. 101 Fiskalische Qualität ließ sich auch für Oberhofen, wo weiteres Gut des Tradenten lag, aufzeigen. Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 307-310. 102 Z. B. wird das Wittum, das Konradin seiner Mutter Elisabeth übergab, beschrieben als: villa Imst cum omni districtu et iurisdictionibus et possessionibus ... infra montem Vern, silvam Scherntz et Chufstain. Hermann Wiesflecker, Die Regesten der Grafen von Görz und Tirol I, Innsbruck 1949, Nr. 762, S. 202. Otto Stolz, Politisch-historische Landesbeschreibung von Tirol I: Nordtirol (Archiv für österreichische Geschichte 107) Wien / Leipzig 1926, 515 f. 103 Im Anschluss an die ältere Forschung noch anders Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 265 f. Die spätantik / frühmittelalterliche Raumgrenze an der Kronburg wurde erst durch die ‚Engadin‘-Untersuchung in der Weise deutlich. Vgl. Anm. 95. 104 Zu den Namen s. Karl Finsterwalder, Die Ortsnamen im Außerfern, in: Ders., Tiroler Ortsnamenkunde 3 (Schlernschriften 287), Innsbruck 1995, 1197-1210. Straßenstation von Biberwier: Gerald Grabherr, Ad radices transitus Alpium - Eine neu entdeckte römische Siedlung in Biberwier, Tirol, in: Ludwig Wamser / Bernd Steidl (Hg.), Neue Forschungen zur römischen Besiedlung zwischen Oberrhein und Enns (Schriftenreihe der Archäologischen Staatssammlung München 3), RemshaldenGrunbach 2002, 35-43. 105 1456 durch eine Lawine zerstört, seitdem heißt die Stelle Lähn. Finsterwalder, Außerfern (wie Anm. 104), 1209. 106 Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 313-323. 107 Hans-Uwe Rump, Füssen (Hist. Atlas von Bayern, Teil Schwaben 9), München 1977, 29 ff. 98 157 der Gründungsurkunde für das 763 ausgestattete Kloster Scharnitz am nördlichen Ast der Brennerstraße hervorgeht, befand sich Imst damals in der Verfügungsgewalt einer mächtigen, auch im westlichen Bayern reich begüterten Adelsgruppe, die nach ihrer Klostergründung auch als Scharnitzer Gründersippe bezeichnet wird 98 und deren Vorfahren im 7. Jh. als merowingische Amtsträger ins Inntal gekommen waren, um dort die militärische Kontrolle der das Tal querenden Fernstraßen – der Brenner- und der Reschenstraße – sowie des dem Talverlauf folgenden pagus Uallenensium zu übernehmen.99 Konsequenterweise befand sich Zirl, das römische castellum Teriolis / Martinsbühel am Aufstieg der Brennerstraße aus dem Inntal ebenfalls in ihrer Hand, wie aus einer jüngeren Tradition an das inzwischen nach Schlehdorf verlegte Hauskloster hervorgeht.100 Dass solche Besitzungen auch nach bald 200-jähriger Adelsherrschaft nicht zwangsläufig allodialisiert waren, wird gerade bei dieser Tradition deutlich, da der Tradent die Güter lediglich ob iure parentorum meorum besitzt, was bei einem Ort wie Zirl deutlich für ererbtes Fiskalgut spricht.101 Da in jüngeren Quellen wiederholt der Fernpass als Raumgrenze aufscheint,102 ist anzunehmen, dass die Reichweite des pagus Uallenensium und damit der inneralpine Einflussbereich dieser Adelsgruppe im Westen bis zur Kronburg im Inntal und bis zum Fernpass reichte.103 Dies erscheint auch deshalb plausibel, weil sich im Lermooser Becken die Wege gabeln, nach Füssen einer- und nach Garmisch andererseits. Außerhalb des Fern durchlief die Straße ein weites Waldgebiet, auf das im Frühmittelalter neu zugegriffen wurde, denn die deutschen (!) Ortsnamen verweisen auf Wald und Moos, wie auch auf Rodung, während z. B. der Name der römischen Straßensiedlung von Biberwier verloren ist.104 Hierzu passt, dass es nördlich des Fern ebenso einen Ort namens Mittenwald gab,105 wie weiter östlich Mittenwald nördlich von Scharnitz. Sie korrespondieren von ‚außen‘ mit den Grenzangaben Fern und Scharnitz aus inneralpiner Perspektive und dürften die Südausdehnung des bairischen Herzogtums anzeigen, wie sie nach 591 festgelegt wurde.106 Der westliche Ast der Straße traf am Alpenausgang schließlich auf Füssen, den Ort eines spätrömischen Kastells, unmittelbar nördlich der Lechschlucht, wo die Straße den Fluss überqueren musste. Die Topographie bietet hier eine ideale Kontroll- und Sperrmöglichkeit, die den im Süden genannten Klausen entspricht. Hier gründete laut seiner Vita in den frühen 740 er-Jahren der Hl. Magnus, aus St. Gallen kommend und auf Initiative Bischof Wikterps von Augsburg eine Zelle, aus der sich das Kloster St. Mang entwickelte.107 Unabhängig von der Frage nach dem Zweck dieser Zellengründung macht sie zunächst auf einen Befund aufmerksam: Es gibt an dem hier betrachteten alpinen Abschnitt der ehemaligen Via Claudia von Meran bis Füssen keine geistliche Einrichtung, sieht man von dem erst ca. 770 – 75 gegründeten Kloster Müstair ab, das aber auch keinen unmittelbaren Bezug zur Reschenstraße besitzt. Damit wird ein fundamentaler Unterschied zum engeren Churrätien deutlich, wo die vier besprochenen Klöster sichtlich in die Verkehrsorganisation eingebunden waren und gleichzeitig als Mittel der Raumerfassung aufschienen. Dass das andere Bild an der Reschenstraße nicht nur einer anderen Organisationsform bezüglich der Straße zu verdanken ist, lässt der Befund nördlich des Fernpasses vermuten. 158 IRMTRAUT HEITMEIER Tatsächlich fehlt zwischen dem Reisebericht des Venantius Fortunatus, der sein Buch um 575 auf dem Weg über die Reschenstraße zurück in die Heimat schickte,108 und der Vita Corbiniani, die sich auf die Zeit um 720/25 bezieht, ein Zeugnis für Fernverkehr auf der ehemaligen Via Claudia, wobei Corbinian und seine Begleiter von Freising kommend sicher nicht über Füssen gingen, sondern den östlichen Ast der Straße über Garmisch benützten. Archäologisch gibt es Einzelfunde des 7./8. Jh. im Bereich der römischen Straßenstation auf der Malser Haide, doch sind diese in Hinsicht auf den Fernverkehr wohl nur vorsichtig zu beurteilen.109 Man wird also fragen müssen, wie viel Verkehr die Reschenroute ab dem 7. Jh. wirklich sah. Dagegen tritt eine andere Beobachtung in den Vordergrund: Die Reschenstraße durchlief nach 591 Grenzräume, im Norden den von den Merowingern als Sperrriegel zwischen Langobarden und Baiern eingerichteten pagus Uallenensium, im Süden den Vinschgau als Grenzgebiet zu den Langobarden. Die Langobarden hatten im Allgemeinen die römisch-byzantinische Einrichtung des Grenzschutzes der clusae oder claustra Italiae übernommen und an die Stelle der milites limitanei die arimanni im engeren Sinn gesetzt. Ihre Gemeinden bildeten eine konsequente Sperre südlich der Alpenpässe, vor den Bündner Pässen in Locarno, Lugano, Mendrisio, Balerna, Bellaggio, Limonta, aber auch in dem dem Vinschgau unmittelbar vorgelagerten Veltlin.110 Es ist kein Zufall, dass zu den ersten Handlungen Karls des Großen nach der Eroberung des Langobardenreiches die Übertragung der Val Camonica an St. Martin in Tours und des Veltlin an St. Denis gehörte.111 Das war nicht nur ein symbolischer Akt, die Herrschaft des langbardischen Königshauses abzulösen, sondern hatte auch den sehr praktischen Sinn, die langobardische Grenzraumorganisation unter fränkische Kontrolle zu stellen.112 Diese bedurfte aber eines fränkischen Pendants auf der Nordseite und hierbei kam dem obersten Etschtal wegen seiner vielen Übergänge nach Süden eine enorme strategische Bedeutung zu. Bereits Ernst Oehlmann hat in seiner frühen Untersuchung zu den Alpenpässen die militärische Bedeutung des Wormser Jochs (Umbrailpass) hervorgehoben, das nicht nur den unmittelbaren Zugang ins Veltlin und von dort zum Comer See ermöglichte, sondern auch eine Annäherung an die Val Camonica, von Tirano nach Edolo über den nur 1234 m hohen Apricapass.113 Dasselbe gilt für das wenig östlich gelegene Stilfser Joch. Von Meran aus konnte man nicht nur dem Etschtal folgen, sondern erreichte über Lana und den Gampenpass den Nons- und Sulzberg, von dort Judikarien oder über den Tonalepass wieder die Val Camonica (Abb. 2). Hier ging es nicht um Fernverbindungen, sondern um die Kontrolle des unmittelbaren Vorfelds und der Zugänge in den jeweiligen Herrschaftsraum, die von langobardischer Seite als marcae bezeichnet wurden.114 Wenn also nach einer identitätsstiftenden Funktion der Venosten gesucht wird, dann wird man diese weniger in der Straßenorganisation als vorwiegend in der militärischen Grenzsicherung sehen müssen. Vor diesem Hintergrund gewinnt an Bedeutung, wenn noch 1286 unter den landesfürstlichen Einnahmen auch Abgaben der vrien, die da sitzent von Malles untz da diu Etsch entspringet aufgeführt werden. Man darf fragen, ob diese offensichtlich in einem eigenen Gerichtsbezirk organisierten liberi homines im Vinschgau nicht eine ähnliche Funktion hatten wie die langobardischen Arimannen im Veltlin und den 108 Venantius Fortunatus, Vita s. Martini (wie Anm. 34). Dazu Irmtraut Heitmeier, Reisen in politisch unsteten Zeiten, Die Wege des Venantius Fortunatus durch die Alpen, in: Über die Alpen, Menschen - Wege - Waren, (hg. v. Archäol. Landesmuseum Baden-Württemberg, red. Gudrun Schnekenburger), Stuttgart 2002, 265-271. 109 Auf der Malser Haide oberhalb von Burgeis wurde eine namentlich unbekannte römische Straßenstation entdeckt, wo das jüngste Fundstück noch ins 7./8. Jh. datiert. Steiner, Neue archäologische Entdeckungen (wie Anm. 15), 39-48. 110 Hlawitschka, Franken, Alemannen ... (wie Anm. 46), 44. Winckler, Alpen im Frühmittelalter, 90-95. Zu den Arimannen, auch exercitales, als „liberi homines, die mit dem regnum durch die Leistungen, die sie der öffentl. Gewalt schuldeten und den dafür erhaltenen Schutz verbunden waren“ s. Giuseppe Tabacco, Arimannia, Arimannen, in: LexMA I (1999) 932f. Zur langobabrdischen Grenzorganisation: Tangl, Passvorschrift (wie Anm. 46); Walter Pohl, Frontiers in Lombard Italy, The Laws of Ratchis and Aistulf, in: Walter Pohl u.a. (Hg.), The Transformation of Frontiers (Transformation of the Roman World 10), Leiden u. a. 2001, 117-141. 111 MGH DD Urkunden der Karolinger I (ed. E. Mühlbacher, 1906), Nr. 81, S. 115-117, Nr. 94, S. 135 f. Die Übertragung an St. Denis ist indirekt durch eine Privilegienbestätigung vom März 775 belegt. 112 Zuletzt: Janet L. Nelson, The settings of gift in the reign of Charlemagne, in: Wendy Davies / Paul Fouracre (ed.), The Languages of Gift in the Early Middle Ages, Cambridge 2010, 116-148, 119-124. 113 Oehlmann, Alpenpässe (wie Anm. 2), 252 f. 114 Zur Bedeutung von marca im Kontext der langobardischen Passvorschriften aus der Mitte des 8. Jh. s. Pohl, Frontiers (wie Anm. 110), 138 f: „The marcae were definite places, where one could enter or leave the kingdom. They were hardly envisaged as a line one could cross, for the word occurs in the plural. Neither were they perceived as a territory like the iudicaria.“ PER ALPES CURIAM 159 Nachbartälern.115 In diesem Kontext lassen sich auch die herzoglichen actores verorten, deren Überwachungs- und Polizeigewalt Arbeo so deutlich herausstellt. Sie erscheinen funktionsgleich mit einem centenarius oder sculdhais, der im Langobardischen auch als Führer einer Gruppe von arimanni belegt ist. Die actores dürften also auch Befehlshaber im Rahmen der Grenzverteidigung gewesen sein.116 115 Zitiert bei Stolz, Landesbeschreibung Nordtirol (wie Anm. 102), 730. 116 Zur Begriffsgeschichte: Maria Vòllono, Methodik und Probleme bei der Erforschung des Langobardischen am Beispiel einiger juristischer Fachbegriffe: Mundoald, Launegild, Sculdhais, in: Walter Pohl / Peter Erhart (Hg.), Die Langobarden, Herrschaft und Identität (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 9), Wien 2005, 477-502, 499 f. Zum möglichen militärischen Kontext des exactor auch Esders, „Öffentliche“ Abgaben (wie Anm. 51) 212. 117 Zuletzt thematisiert von Josef Riedmann, War der Vinschgau einmal ein eigenes Land? Eine nicht ganz ernst gemeinte Frage mit vielleicht doch bemerkenswerten Antworten, in: Georg Mühlberger / Mercedes Blaas (Hg.), Grafschaft Tirol - Terra Venusta, FS f. Marjan Cescutti (Schlern-Schriften 337), Innsbruck 2007, 17-26. 118 TUB I, 1, Nr. 264, S. 118 f u. Nr. 401, S. 202 f. Zum Vergleich: Peter Erhart / Julia Kleindinst, Urkundenlandschaft Rätien (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 7), Wien 2004. Hannes Obermair, Das Recht der tirolisch-tridentinischen „Regio“ zwischen Spätantike und Mittelalter, in: Concilium mediiaevi 9 (2006), 141-158. 119 Zum territorialen Aspekt von marca, auch in Bezug zu terra, s. Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern. Österreich (MIÖG Erg. Bd. 31), Wien / München 1995, 176 f; ders., Conversio Bagoariorum et Carantanorum, 2. gründlich überarb. Aufl. Ljubljana / Laibach 2012, 249-252. 120 Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), Kap. J und K I, 1. 121 Dazu Peter Erhart, Die urkundliche Überlieferung, in: Ders. (Hg.), Das Drusental, Der Walgau und das Vorderland im frühen Mittelalter (Elementa Walgau Schriftenreihe 7), Nenzing 2009, 23-82, 34-39. 122 Arbeo, Vita Corb., 23, S. 128, und Vita B (ebenda), XX, S. 134. Vgl. die auf Klage Bischof Wolframs von Freising erfolgte Restitution durch König Heinrich I.: MGH DD Urkunden der Karolinger I (ed. E. Mühlbacher, 1906) Nr. 28, S. 63 f sowie TUB I, 1, Nr. 28, S. 19 f. Ein territorialer Aspekt dieser Grenzorganisation mag darin sichtbar werden, dass die vallis Venusta bis ins Hoch- und Spätmittelalter als eigene terra bezeichnet wird, mit Hinweisen auf eigenes Recht und Rechtsgewohnheiten.117 So wird z. B. 1158 in (Dorf) Tirol eine Besitzübertragung an St. Georgenberg beurkundet, in der mehrfach betont wird, die Übergabe erfolge secundum ius et leges nostre terre bzw. provincie, in einer Urkunde des Jahres 1182 begegnet iuxta consuetudinem et iura terrae que Venusta vallis dicitur, Formeln, die in rätischen Urkunden keineswegs selbstverständlich sind, wo üblicherweise der Hinweis auf das legitimum ius genügte.118 Das legt ein Verständnis von terra vel marca nahe, in der fränkischen Bedeutung eines organisierten Grenzraums.119 Im Unterschied zur Alpenrheintalstraße war der Reschenweg im frühesten Mittelalter also nicht als Fernstraße organisiert, sondern durchlief einen Grenzraum, dessen militärische Kontrolle im Oberinntal um Imst durch Angehörige der Scharnitzer Gründersippe wahrgenommen, im obersten Tiroler Inntal und im Vinschgau aber durch eine Grenzraumorganisation auf fiskalischer Basis sichergestellt wurde, die sich nicht nur auf die ehemalige Via Claudia beschränkte, sondern vor allem die Übergänge nach Süden erfasste. Damit erklärt sich das Fehlen früher Klöster, die nicht als Straßenstationen gebraucht wurden und im Rahmen der Grenzorganisation auch keinen Platz hatten. Damit erklären sich aber auch Unterschiede im Siedlungsbild, denn während im Oberinntal der merowingische Militäradel und seine Gefolgschaft den ihm zur Ansiedlung überlassenen Abschnitt des Oberinntals mit dem personalen Epitheton Poapintal versah und seine Niederlassungen mit patronymischen -ing-Namen benannte, die das Herrschaftsbewusstsein und Repräsentationsbedürfnis dieser Adelsgruppe zum Ausdruck brachten, zusätzlich unterstrichen durch reiche Waffengräber des späten 7. Jh. in der Kirche von Pfaffenhofen,120 fehlen solche Siedlungs- und Namenmuster im Vinschgau und im obersten Inntal völlig. Hier wurden keine neuen Siedlungen gegründet und kein auswärtiger Adel angesiedelt, auch kam es nicht zur Umbenennung von alten Orten nach dem Muster von Vinomna / Rankweil in Vorarlberg.121 Konsequenterweise gibt es aus diesem Gebiet auch keine frühe Besitzübertragung und keine Nennung von höherrangigen Personen. Lediglich der Erwerb von Kuens und wohl auch Kortsch für die Freisinger Kirche durch den Hl. Corbinian macht hier eine Ausnahme; doch überrascht es wenig, dass Freising die Güter nicht halten konnte.122 In dem alt organisierten und wohl als Militärbezirk eingerichteten Raum des Vinschgaus und obersten Tiroler Inntals konnten Herrschaftsrechte lediglich delegiert oder okkupiert werden, wie im frühen 8. Jh. durch den Baiernherzog Grimoald. Die Oberhoheit lag seit der Überlassung der rätischen Provinzen an die Franken bei den Merowingerkönigen, später wahrgenommen durch ihre Hausmeier. Wenn angenommen wird, dass die Merowinger im frühen 7. Jh. mit Zacco 160 IRMTRAUT HEITMEIER einen Militärbefehlshaber nach Chur schickten,123 wie um die gleiche Zeit entsprechende Amtsträger ins Inntal, dann ist davon auszugehen, dass dieser und seine Nachkommen, was heißt: die Victoriden, für das ganze rätische Gebiet zuständig waren. Die Zugehörigkeit der fraglichen Täler zum rätischen Raum ist aber aufgrund der kirchlichen wie der Rechts- und Urkundentradition nicht zu bezweifeln, so dass die militärische und herrschaftliche Gewalt in diesem Grenzraum bei den Victoriden in Chur gelegen haben muss. Doch sind gerade die Victoriden wie auch Angehörige einer ansässigen Oberschicht, wie sie in den Bündner Tälern zu fassen ist, im Vinschgau kaum zu erkennen. Das beginnt schon mit der Schwierigkeit, frühen Victoriden-Besitz nachzuweisen. Dass der Fernbesitz von Cazis einen solchen belegen würde, wie üblicherweise angenommen,124 erscheint angesichts seiner späten Bezeugung nicht zwingend, doch fällt auf, dass mit Cazis und Pfäfers nur die Klöster im Etschtal begütert sind, die mit den frühen Victoriden in Verbindung stehen, während Disentis fehlt. Daneben macht die Flurnachbarschaft des Cazner Besitzes zum Pfäferser Gut in Morter125 eine Zuwendung noch im 8. Jh. nicht unwahrscheinlich. Einen zusätzlichen Schluss erlauben die bereits erwähnten Gedenksteine aus der Gruft von St. Luzi in Chur für die Victoriden-Vorfahren.126 Auf ihnen finden sich die vielzitierten Inschriften: Hic svb ista labide marmorea qvem Vector ver inluster preses ordinabit venire de Venostes, hic requiescit Dominus ... auf dem einen sowie Hic sub ista labidem marmorea quem Vector ver inlvster preses ordinabit venire de Triento, Hic reqviescit claresimus ... proavus domni Vectoris epi. et domni Iac...di auf dem anderen.127 Der erste Stein ist erhalten, von dem zweiten lediglich die Inschrift überliefert. Abgesehen davon, dass die zweite Inschrift einen Teil der Victoridengenealogie erhellt, wurde die Bedeutung der Steine darin gesehen, dass sie wirtschaftliche Verbindungen Churs mit dem Vinschgau und dem Etschtal dokumentierten, die nicht zuletzt unter verkehrstechnischen Gesichtspunkten bemerkenswert seien. Immerhin erforderte der Transport von solchen Gewichten über mehrere Pässe eine gewisse Logistik.128 Offensichtlich erschien zudem ein territorialer Aspekt, da die Betonung der Herkunft auch den Zugriff auf Marmorsteinbrüche im Vinschgau und im Trentino und somit fiskalische Rechte in diesen Regionen zum Ausdruck bringen konnte. Was hier für den Vinschgau plausibel wäre, lässt sich aber im Trentino, das niemals zum Churer Einzugsbereich gehörte, kaum begründen. Der Verweis auf die Herkunft der Steine in den Inschriften ist ungewöhnlich genug, dass dieser aber auch noch der eigentlichen Widmung vorangestellt wird, zeigt, dass darin die eigentliche Mitteilungsabsicht liegt. Umso erstaunlicher ist darum die Feststellung, dass es sich bei dem erhaltenen Victoridenstein um ein Palimpsest handelt.129 Damit wird seine aktuelle Bestellung im Vinschgau zweifelhaft; vielmehr könnte es sich auch um eine Spolie handeln, die wiederverwendet und neu beschriftet wurde.130 Ebenso wenig muss der zweite Stein gerade aus Trient gekommen sein. Wichtig war die Herstellung einer Beziehung der Victoriden-Ahnen zu den Räumen, in denen die Steine angeblich geordert wurden, also zum obersten und mittleren Etschtal. Auf den politischen Kontext wird unten zurückzukommen sein. Als 123 Clavadetscher, Führungsschicht (wie Anm. 82), 21. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 48. 124 So z. B. Gertrud Sandberger, Bistum Chur in Südtirol, Untersuchungen zur Ostausdehnung ursprünglicher Hochstiftsrechte im Vintschgau, in: ZBLG 40 (1977), 705-828, 709; Loose, Siedlungsgenetische Studien (wie Anm. 38), 225. 125 Loose, Siedlungsgenetische Studien (wie Anm. 38), 225. 126 Hans Rudolf Sennhauser, Chur, St. Luzi, in: Sennhauser, Frühe Kirchen (wie Anm. 17), Bd. 2, 699-706. 127 BUB I, Nr. 11 u. 12, S. 8 u. 9. Dazu Hans Lieb, Lexicon topographicum der römischen und frühmittelalterlichen Schweiz 1, Bonn 1967, 73-74, 173-174, 178, 218-219 (Index 234); sowie ders., Die Gründer von Cazis (wie Anm. 66), 47-49. Clavadetscher, Churrätien im Übergang (wie Anm. 18), 13. 128 Kaiser, Churrätien und der Vinschgau (wie Anm. 40), 680 f.; Büttner, Bündner Alpenpässe (wie Anm. 3), 244; Winckler, Alpen (wie Anm. 2), 126. 129 Anlässlich einer Tagung im Rätischen Museum Chur 2006 sind Katrin Roth-Rubi Spuren einer älteren Beschriftung aufgefallen. Die Beobachtung wurde anschliessend mit Hans Lieb, HR. Sennhauser und der Verfasserin diskutiert. 130 Die Spuren der Erstbeschriftung sind so gering, dass sich keine Wörter erkennen lassen. Für freundliche zusätzliche Auskunft zu diesen Fragen danke ich Katrin Roth-Rubi und Hans Lieb. 131 Zu Vigilius schon Heinrich Büttner / Iso Müller, Das Kloster Müstair im Frühmittelalter, in: Zs f. schweizerische Kirchengeschichte 50 (1956), 12-84, 17. Der erste bekannte Vigilius in der Generationenfolge war der gleichnamige praeses und tribunus um 630/45. Sowohl der Bruder (episcopus) wie auch ein Sohn Victors II. trugen den Namen. Vgl. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), Stammtafel S. 49. Zum Namen Vespula: Lieb, Gründer von Cazis (wie Anm. 66), 44, und Otto P. Clavadetscher, Zur Führungsschicht im frühmittelalterlichen Rätien, wieder in: Ders., Rätien im Mittelalter (wie Anm. 18), 21-31, 24. PER ALPES CURIAM Arbeo, Vita Corb. 37, 146. Lediglich in der im 10. Jh. überarbeiteten Fassung B der Vita wird von einer vermögenden Witwe namens Fausta berichtet, die ihren Besitz in Kortsch Herzog Grimoald übergeben habe, den Corbinian gekauft und gemeinsam mit dem Herzog der Freisinger Kirche übergeben habe. Vita Corb. (B) XX, 134. 133 Jan-Andrea Bernhard, Geschichtliche Einführung in das Wirken und die Wirkung des heiligen Florinus, in: Der Schlern 81 (H.10), 2007, 10-47, 26-30. 134 So bestätigt 857 König Ludwig der Deutsche einen Prekarievertrag Bischof Essos von Chur mit einer femina Walderada über verschiedene Güter in der Gegend von Meran. Die Dame ist nicht sicher zu identifizieren, ihr Name weist aber auch in die Familie des St. Galler Förderers Waltram. BUB I, Nr. 69, S. 59 f = TUB I, 1, Nr. 15, S. 11 f. Dazu: Hannes Steiner, Die Waldram-Familie und ihre Rolle in der Frühgeschichte St. Gallens, in: Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 118 (2000), 1-15. 890 überträgt eine Himiltrud dem Kloster St. Gallen das von ihrem Mann Plasius erhaltene Heiratsgut, das in Vorarlberg und im Vinschgau liegt: BUB I, Nr. 82, S. 69 f = TUB I, 1, Nr. 21, S. 15 f. Diesen Vorgang bezeugt an erster Stelle ein Meroald, so wie wenig später die Feststellung von St. Galler Besitz im Rheingau, wo unter den Zeugen de Raetia sogar zwei Merolde aufscheinen, desgleichen 920 unter den iudices in einem öffentlichen Prozess zu Rankweil gegen Bischof Esso von Chur. BUB I, Nr. 96, S. 78 f. Ein Merolt tritt aber auch in den 930er-Jahren als fidelis Herzog Bertholds in Erscheinung, der offensichtlich im Besitz der Güter in Mais und Kortsch war, die der Freisinger Kirche entfremdet worden waren. TUB I, 1, Nr. 28, S. 19 f. Nimmt man den / die Merold(e) des RU hinzu (BUB I, S. 376, 390 u. 391), dann erweisen sich Träger dieses Namens von der Mitte des 9. bis zur Mitte des 10. Jh. im ganzen churrätischen Raum vom Misox bis in den Rhein- und in den Vinschgau als Inhaber von herzoglichem / königlichem Lehensbesitz und gehobenen Ämtern. 135 PD Hist. Lang. VI, 17-21 (Zitat), 314-316. Jörg Jarnut, Beiträge zu den fränkischlangobardischen Beziehungen im 7. und 8. Jahrhundert (656-728), in: ZBLG 39 (1976), 331-352, 345 f. 136 Zu diesen Hintergründen ausführlich Irmtraut Heitmeier, Die spätantiken Wurzeln der bairischen Noricum-Tradition, in: Hubert Fehr / Irmtraut Heitmeier (Hg.), Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 1), St. Ottilien 2012, 463-550. 132 161 weiteres Indiz für diesen räumlichen Zusammenhang der Victoriden darf wohl der seit der 1. Hälfte des 7. Jh. in der Familie tradierte Name Vigilius – nach dem Trienter Bistumsheiligen – aufgefasst werden wie auch der Name von Victors Tante Vespula, der nur noch einmal in Verona nachgewiesen ist und somit ebenfalls auf Süd- bzw. Südostverbindungen verweist.131 Der Cazner und Pfäferser Besitz in GoldrainSchanzen und Mals-Milenz sowie in Morter und Nals passt in dieses Bild, wobei besonders hervorzuheben ist, dass Nals bereits in Italia lag, also nicht mehr im rätischen Vinschgau, was zeigt, dass politische und Besitzgrenzen nicht übereinstimmen müssen. Abgesehen von diesen indirekten Hinweisen auf die Victoriden ist es schwer, Spuren einer einheimischen (?) Oberschicht zu finden, denn auch Arbeo, der bei den Breonen im Inntal immerhin den nobilis Romanus Dominicus erwähnt, schweigt hier.132 Vielleicht gehörte zu einer solchen Familie der Hl. Florinus, von dem die Legende berichtet,133 sein Vater stammte aus dem churrätischen „Britannien“, dem heutigen Prättigau. Florinus wurde im Vinschgau geboren und seine Eltern gaben ihn dem Priester Alexander an der Peterskirche in Ramosch im Unterengadin zur Erziehung, wo er zum Priester geweiht und schließlich als Heiliger verehrt wurde. In der Legende spiegelt sich ein weiter Umgriff im churrätischen Raum, der eine Verbindung zwischen dem Vinschgau und dem äußeren Alpenrheintal herstellt, die auch im 9. und 10. Jh. mehrfach aufscheint.134 Wenn die Legende in diesem Sinn verstanden werden darf, dann kam der Bezug von unterrätischen und alemannischen Familien zum Vinschgau nicht erst durch karolingische Maßnahmen zustande, sondern reicht mindestens ins 7. Jh. zurück. In jedem Fall muss der Name Florinus in Grundherrenkreisen verbreitet gewesen sein, da nicht nur der Ortsname Flurlingen bei Schaffhausen, sondern auch Flaurling im Oberinntal mit diesem Personennamen gebildet wurde und dies lange vor der weiträumigeren Verbreitung des Florinuskultes. Obwohl sich im späten 7. und frühen 8. Jh. also rätische Zusammenhänge für den Vinschgau und das oberste Inntal abzeichnen, war plötzlich ein bairischer Herzog im Besitz der Herrschaftsgewalt. Um dies zu erklären und die weitere Entwicklung zu verfolgen, müssen die Quellen nach dem politischen Kontext befragt werden. Politische Konstellationen Im Zuge des langobardischen Thronkampfs Ende des 7. Jh. berichtet Paulus Diaconus, dass König Cunincpert starb und sein noch nicht erwachsener Sohn Liutpert im Kampf gegen den Kontrahenten Aripert II. getötet wurde, wonach sich dessen Vormund Ansprand auf der Isola Comacina verschanzte und schließlich weiter nach Chiavenna floh; deinde per Curiam, Raetorum civitatem, venit ad Theutpertum, Baioariorum ducem, wo er neun Jahre im Exil lebte.135 Diese Passage ist höchst aufschlussreich für die politische Parteibildung in den Jahren unmittelbar nach 700. Ansprand, der die Ansprüche des regierenden Königshauses vertrat, floh nicht einfach nach Baiern, sondern suchte noch zu Lebzeiten Herzog Theodos Asyl bei dessen Sohn Theodpert, der in Salzburg residierte. Jenseits des Inn, auf norischem Boden befand er sich außerhalb der fränkischen Reichweite.136 Das bedeutet umgekehrt, er wäre in Regensburg nicht in Sicherheit gewesen, weil 162 IRMTRAUT HEITMEIER Pippins II. Arm tatsächlich bis ins westliche, in der Antike rätische Baiern reichte. Dessen Position wird insofern deutlich, als später Ansprands Gegner Aripert II. und dessen Familie Unterstützung im Frankenreich fanden.137 Nun erscheint es naheliegend, von Como über Chur nach Norden zu fliehen, doch nicht unbedingt, wenn das Ziel Salzburg heißt. Die Art und Weise, wie Paulus Diaconus die civitas Raetorum hervorhebt, legt nahe, dass Chur auf Ansprands und damit auf Seiten des bis dahin regierenden langobardischen Königshauses der Agilolfinger stand. Das mächtige Herzogtum Trient hingegen hatte sich in der 2. Hälfte des 7. Jh. besonders unter Herzog Alachis als Vertreter der antikatholischen Kräfte gegen die bairischen wie langobardischen Agilolfinger positioniert.138 Alachis wurde 688 von König Cunincpert besiegt, nicht ohne vorher den bairischen Grafen aus Bozen vertrieben zu haben.139 Jörg Jarnut nimmt an, dass bereits Cunincpert nach seinem Sieg den Dukat Trient in ein abhängiges Gastaldat umwandelte, so wie es 20 Jahre später in der Vita Corbiniani begegnet.140 In diesem Fall unterstand es der nun in Pavia regierenden Partei Ariperts II., die damit das Etschtal kontrollierte. Es ist folglich vorstellbar, dass um 700 lediglich in Chur Bischof Victor und praeses Jactatus zuverlässig auf der Seite der Agilolfinger standen, die im bairischen und alemannischen Herzogtum herrschten und in Italien um den langobardischen Thron kämpften; damit waren sie zugleich Gegenspieler Pippins. Dass die Churer praesides in derselben Zeit den vir illustris-Titel annahmen und sich damit auf dieselbe Stufe mit fränkischen duces stellten, zeugt von einer deutlich gesteigerten Unabhängigkeit ihrer Position.141 Andererseits könnte in diese Zeit auch die Gründung von Cazis und Mistail fallen, was auf die Notwendigkeit von Besitz- und Herrschaftssicherung an den Passstraßen hinweisen würde. In der Folgegeneration war praeses Victor II. im Unterschied zu seinen Vorgängern, die – soweit man dies aus den Namen schließen kann – Frauen aus rätischem oder italischem Umfeld hatten, mit Teusinda verheiratet, die als Alemannin gilt.142 Damit zeigt sich eine Orientierung nach Norden, die unterstrichen wird durch die Erziehung des jungen Otmar in Chur und die Verbindung zu dem tribunus von Arbon, Waltram, auf dessen Bitten Otmar 719 Abt von St. Gallen wurde.143 Das war die Ausgangssituation, bevor Chur in die erste von drei Sukzessionskrisen des 8. Jh. hineingezogen wurde. Im Jahr 709 starb der alemannische Herzog Gotfrid, was von 710 – 712 mehrere militärische Interventionen Pippins in Alemannien veranlasste. Gleichzeitig, nach neunjährigem Exil, gelang Ansprand mit Hilfe bairischer Truppen die Rückeroberung des langobardischen Throns, den nach seinem baldigen Tod sein Sohn Liutprand bis 744 innehatte.144 Während in Baiern Herzog Theodo das Herzogtum unter seinen Söhnen aufteilte und nach Rom reiste, erkämpfte sich im Frankenreich Karl Martell nach dem Tod Pippins 714 gegen Pippins Witwe Plectrud und ihre Nachkommen die Herrschaft.145 Baiern war damals gespalten: Auf Seite der Langobarden und schließlich Karl Martells standen in Salzburg Herzog Theodbert und sein Sohn Hugbert, auf der Gegenseite Herzog Grimoald in Freising. Dieser war mit Pilitrud, der Witwe seines Bruders Theodoald verheiratet, einer einflussreichen Dame aus dem Frankenreich und höchst wahrscheinlich einer Verwandten Plektruds.146 Als nun der in den 690 er-Jahren erreichte Ausgleich zwischen dem bairischen Herzogshaus und den Pippiniden, der 137 10 Jahre später verlor Aripert auf der Flucht ins Frankenreich das Leben, sein Bruder Gumpert gelangte jedoch dorthin; dessen Sohn ‚regierte‘ später Orleans. PD Hist. Lang. VI 35, 324. 138 Jörg Jarnut, Das Herzogtum Trient in langobardischer Zeit, in: Atti della Accademia Roveretana degli Agiati 235 (1985), Serie VI, vol. 25 f. A, 167-177, 173 f. Jarnut, Beiträge (wie Anm. 135), 339 f. 139 PD Hist. Lang. V, 36 u. 41, S. 288 u. 296 f. 140 Jarnut, Herzogtum Trient (wie Anm. 138), 175 f. 141 Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 41. Ders., Autonomie (wie Anm. 21), 9. Erstmals belegt auf den mehrfach erwähnten Gedenksteinen (BUB I, Nr. 11 u. 12): Vector ver inluster preses. Zur Bedeutung des Titels: Herwig Wolfram, Intitulatio I. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des 8. Jahrhunderts (MIÖG Erg. Bd. 21), Wien 1967, 143 ff. 142 Vgl. das Auftreten einer Teusinda = Theotsinda in Zusammenhang mit einer Schenkung in Romanshorn. Hermann Wartmann (Hg.),Urkundenbuch der Abtei St. Gallen I, 1863, Nr. 85, S. 81. Dabei handelt es sich um eine Schenkungsurkunde von Waltrams Tochter Waldrata und ihrem Sohn Waldpertus. 143 U. a. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 48 f. Vgl. auch Anm. 140. 144 PD Hist. Lang. VI, 35, S. 324. 145 Zuletzt: Andreas Fischer, Karl Martell, Der Beginn der karolingischen Herrschaft, Stuttgart 2012, Kap. 4. Kurt Reindel, Das Zeitalter der Agilolfinger, in: Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte I, 2. Aufl. München 1981, 101-176, 156-162. Herwig Wolfram, Grenzen und Räume (Österreichische Geschichte 378-907), Wien 1995, 81-84. 146 Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 77-79, 91-93, 102. Zur Verwandtschaft Pilitruds: Jarnut, Beiträge (wie Anm. 135), 350 f; Wilhelm Störmer, Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 4), München 1972, 18-22; Kritisch: Matthias Werner, Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger (Vorträge u. Forschungen Sonderbd. 28), Sigmaringen 1982, 225 ff. PER ALPES CURIAM 163 zu solchen Eheschließungen geführt hatte,147 vielleicht durch die langobardische Parteinahme Theodberts ‚von Salzburg‘, zerbrach, scheint Pilitrud wesentlich dazu beigetragen zu haben, die Nähe des westbairischen Teilherzogtums nicht nur zum Frankenreich, sondern vor allem zur Partei Plektruds und ihrer Nachkommen zu festigen. Das zweimalige militärische Eingreifen Karl Martells 725 und 728, das zur Ermordung Herzog Grimoalds und zur Ausschaltung seiner Familie führte, wobei Pilitrud von Karl wieder ins Frankenreich gebracht wurde,148 ist daher wohl nicht nur als Unterstützung für Hugbert, den Sohn Herzog Theodberts, zu verstehen, sondern diente vor allem auch seiner eigenen Anerkennung in Baiern. Vor diesem Hintergrund scheint aber auf, was es bedeutete, wenn Grimoald die Reschenstraße bzw. das oberste Inntal und den Vinschgau kontrollierte: Er schuf der pippinidischen Partei einen Zugang nach Italien und dies auf Kosten der Zacconen-Victoriden in Chur, die wohl auf der Seite Liutprands standen, dessen Vater sie bereits unterstützt hatten. Fischer, Karl Martell (wie Anm. 145), 95. Arbeo, Vita Corb. 31, 140 f. Dazu Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 104-107. 149 Fischer, Karl Martell (wie Anm. 145), 133, 164 f. 150 PD Hist. Lang. VI, 43, 328 f. 151 PD Hist. Lang. VI, 58, 342. Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 104. 152 Arbeo, Vita Corb. 33, 142. Bei Corbinians Romreise ca. 717/8 befanden sich die fines Baiuvariorum bei Meran und blieben es auch noch einige Jahre, da Corbinian nach seiner Rückkehr sich zunächst in Kuens niederließ und die Verwaltung des Vermögens des Hl. Valentin in Mais übernahm, dann an den Herzogshof zurückkehrte, von wo er jedoch vor den Nachstellungen der Herzogin Pilitrud erneut nach Mais fliehen musste. 153 Z. B. Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 104 (Zitat). Haider, Antike und frühestes Mittelalter (wie Anm. 11), 238-240. Diese Sicht wird präjudiziert durch die bei Paulus Diaconus überlieferte Liste von castra im Etschtal, die die Franken 590 eroberten: PD Hist. Lang. III, 31, 214. Vorsichtig: Fischer, Karl Martell (wie Anm. 145), 99: „einige Landstriche bei Meran“. Kritisch: Kaufmann, Römische Grenzen (wie Anm. 27), 22 u. 26. 154 Arbeo, Vita Corb. 15 u. 23, 110, 128. 147 148 Mit dem Langobardenkönig Liutprand ging Karl Martell ein dauerhaftes Bündnis ein, das bis zu ihrem Tod 741 bzw. 744 hielt und sowohl langobardische Waffenhilfe gegen die Sarazenen beinhaltete wie auch die Adoption von Karls Sohn Pippin durch den Langobardenkönig.149 Liutprand war außerdem mit Guntrud, der Schwester Herzog Hugberts von Salzburg verheiratet.150 Es dürften sich also Hilfe für den Schwager und Unterstützung Karls als Motive verbunden haben, als Liutprand zu Beginn seiner Königsherrschaft (initio regni), „den Baiern“ – gemeint sein kann nur das Teilherzogtum Grimoalds – viele feste Plätze wegnahm (Baioariorum plurima castra cepit), wie Paulus Diaconus noch im letzten Satz seiner Historia Langobardorum festhält, die mit einem Herrscherlob Liutprands endet.151Aus diesem Kontext heraus muss die zeitliche Einordnung initio regni wohl nicht zu eng gesehen werden, denn in Verbindung mit den Nachrichten der Vita Corbiniani wird deutlich, dass eine bairisch-langobardische Auseinandersetzung erst nach Corbinians Romreise, also wohl in den 720 er-Jahren stattgefunden hatte, was nahelegt, dass Liutprand die Aktionen Karl Martells in Baiern von Süden unterstützte. In Arbeos Erzählabfolge wird zunächst der Untergang von Grimoald und seiner Familie geschildert, dann Hugberts Regierungsantritt im ganzen Herzogtum und erst danach, als Corbinian seinen Tod nahen fühlte und beim Langobardenkönig um Erhaltung seines Besitzes in Kuens sowie um einen Begräbnisplatz beim Hl. Valentin ansucht, folgt die Information, quia eosdem castros dominabantur in tempore Longobardi.152 In der Literatur wird meist angenommen, diese von den Langobarden eroberten castra seien „im Großraum Bozen – Meran“ gelegen, also von Meran etschabwärts zu suchen.153 Dies ist aber keineswegs zwingend, denn von einer bairischen Herrschaft im Etschtal ist nach der Vertreibung des bairischen Grafen aus Bozen um 680 und vor der Heirat Herzog Tassilos mit der Langobardin Liutpirc nichts mehr bekannt, im Gegenteil: Arbeo hält zum Zeitpunkt von Corbinians Romreise fest, dass die fines Baiuvariorum bei Meran lagen und nicht weiter etschabwärts.154 Der Vinschgau hingegen unterstand sicher dem bairischen Teilherzog Grimoald, der zur gegnerischen Partei Liutprands und Karl Martells gehörte. Von daher gibt es kaum eine andere Möglichkeit als die, dass die eroberten castra im Vinschgau lagen. Zu ihnen 164 IRMTRAUT HEITMEIER könnten neben dem ausführlich genannten castrum Mais (Zenoburg) auch Plätze wie Juval oder Lichtenberg gehört haben.155 Bezeichnenderweise führte auch der Leichenzug Corbinians Richtung Süden nicht mehr über die Reschenroute, die er zu Lebzeiten selbstverständlich benutzt hatte, sondern über das mittlere Inntal, wo Corbinian bei den Breonen Wunder wirkte.156 Archäologische Funde, die langobardische Präsenz im Vinschgau sicher belegen würden, sind nicht leicht beizubringen; doch sieht Hans Nothdurfter den wohl noch in der 1. Hälfte des 8. Jh. entstandenen Neubau der Kirche St. Peter ob Gratsch, unmittelbar westlich der hochmittelalterlichen Burg Tirol gelegen, hinsichtlich Grundriss und Architekturmerkmalen gänzlich in italisch-langobardischer Tradition, einschließlich eines Sarkophags in langobardischem Stil,157 was zu einem nahegelegenen langobardischen Herrschaftssitz passen würde. Eine weitere Stütze bietet die Verbreitung des Zeno-Patroziniums, das sich nicht nur im castrum Mais, und zudem offenbar erst in nachcorbinianischer Zeit,158 findet, sondern auch an zentralen Orten wie Naturns im Unter- und Burgeis im Obervinschgau. In der Folge der Ereignisse in den 720 er-Jahren ist also von einem langobardischen Vinschgau auszugehen. Die Frage ist, wie die Victoriden in Chur sich zu den Vorgängen im Osten ihres Bistums- und Herrschaftsraumes stellten. Die Quellen lassen nicht erkennen, wie lange Vinschgau und oberstes Inntal bereits unter bairischer Kontrolle waren; es gibt jedoch ein Indiz dafür, dass der bairische Vorstoß erst unter Grimoald erfolgte. Die Vita Otmari berichtet nämlich, Bischof Victor von Chur, wo Otmar zur Ausbildung weilte, habe diesem den titulus sancti Florini übertragen,159 also die damals wohl schon nicht unbedeutende Kirche mit castrum und wirtschaftlichem Zubehör in Ramosch im Unterengadin.160 Zeitlich muss sich das abgespielt haben, bevor Otmar 719 Abt von St. Gallen wurde, also während der Jahre der fränkischen Nachfolgekrise. Wenn Grimoald in dieser Zeit die Herrschaft an der Reschenstraße an sich riss, um sich selbst und der pippinidischen Partei, was heißt: auch den Gegnern Liutprands eine Passstraße zwischen Baiern und Italien zu sichern, dann wäre gut vorstellbar, dass mit Ramosch eine Churer Position gegen die vordringenden Baiern und ihre fränkischen Anhänger besetzt wurde. Man muss allerdings fragen, warum hierfür gerade Otmar der richtige Mann war und nicht ein rätischer Geistlicher, den man am Churer Hof sicher auch hätte finden können. Das spricht dafür, dass Otmar entweder bereits als Protagonist einer antipippinidischen alemannischen Fraktion aktiv wurde – einer solchen wurde auch praeses Victor zugewiesen wegen des versuchten Raubs der Gallus-Reliquien161 – oder vielleicht der Familie des Florinus nahestand, was wiederum engere Verbindungen zum Oberinntaler Adel einschließen könnte, der ebenfalls Verbindungen in den alemannischen Raum besaß, vermutlich sogar zum agilolfingischen Herzogshaus, wie in der Folgegeneration (Scharnitzer Gründer) die Namen Odilo und Lantfrid nahelegen.162 Tatsächlich scheint Victor nicht nur an der östlichen, sondern auch an der westlichen Peripherie seines Herrschaftsraumes gezwungen gewesen zu sein, sich gegen fremde bzw. gegnerische Einflüsse zu wehren. Vgl. den Beitrag von Paul Gleirscher in diesem Band, sowie Steiner, Neue archäologische Entdeckungen (wie Anm. 15), 36 f. 156 Arbeo, Vita Corb. 37, 146. 157 So mündlich am 18. 3. 2013 mit dieser Datierung. Zur Kirche siehe Hans Nothdurfter, Katalog der frühchristlichen und frühmittelalterlichen Kirchenbauten in Südtirol, in: Sennhauser (Hg.), Frühe Kirchen (wie Anm. 18), Bd. 1, 291-355, 346-350. 158 In der Arbeo-Vita ist nur die Rede vom Hl. Valentin, während Zeno erst in Glossen hinzugefügt wurde. Vgl. Arbeo, Vita Corb. 25, 132. 159 Leben des heiligen Abtes Otmar, in: Camilla Dirlmeier / Klaus Sprigade (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Alemannen III, Sigmaringen 1979, 68-73, 69. 160 Zur Diskussion, ob es sich dabei wirklich um die Florinuskirche in Ramosch handelte, s. Reinhold Kaiser, Das Bistum Chur und seine Frauenklöster und Klerikergemeinschaften, in: Frühformen von Stiftskirchen in Europa, 315-337, 330-336, sowie Vinzenz Muraro, Bischof Hartbert von Chur (951-971/72) und die Einbindung Churrätiens in die ottonische Reichspolitik (QBG 21), Chur 2009, 53-55, beide zustimmend. 161 Rolf Sprandel, Das Kloster St. Gallen in der Verfassung des karolingischen Reiches, Freiburg 1958, 12 u. 27. 162 Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 415, der resümiert, dass „die Indizien für agilolfingisches Namenmilieu bei den Scharnitzern eminent dicht sind“. 155 PER ALPES CURIAM 165 Nach der Legende um die Anfänge von Disentis wurde der (fränkische) Eremit Sigisbert von einem Einheimischen (?) namens Placidus gefördert, der auf Betreiben Victors den Märtyrertod erlitten haben soll.163 Angesichts der prominenten Straßenlage von Disentis am Fuß des Lukmanier als Übergang nach Italien, aber auch als Station am Weg zum Oberalp- und Furkapass ins Wallis liegt nahe, dass hier mit der geistlichen Niederlassung Wege besetzt wurden, die nicht unter der aktiven Herrschaft der Victoriden standen, aber für die Erfassung des Alpenraumes höchst bedeutsam werden konnten. Dabei waren die Kräfte, die hinter dem Franken Sigisbert standen für die Victoriden vielleicht weniger gefährlich als die einheimischen, die durch die Person des Placidus verkörpert wurden. Wenn sich hier eine innerrätische Opposition gegen die Victoriden abzeichnet, dann dürfte die Ermordung des Placidus eindrücklich beleuchten, wie man in solchen Fällen vorging. Zu den Quellen s. Elsanne Gilomen-Schenkel / Iso Müller, Disentis, in: Helvetia sacra III/ 1, 1, 1986, 474-512, 475 f. Iso Müller (ed.), Die Passio s. Placidi (ca. 1200), in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 46 (1952), 164-180, 166-168. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 46-48, 134 f. 164 Alfons Zettler, Geschichte des Herzogtums Schwaben, Stuttgart 2003, 53. Jörg Jarnut, Alemannien zur Zeit der Doppelherrschaft der Hausmeier Karlmann und Pippin, in: Rudolf Schieffer (Hg.), Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum (Beihefte der Francia 22), 1990, 57-66, 58-60. Quellen zur Geschichte der Alemannen III (wie Anm. 159), 17 mit Anm. 42. 165 S. oben zu Anm. 75. 166 Dazu Wolfgang Hartung, Merowingisches Königsgut in Alemannien und Rätien, in: Montfort 42, H. 1 (1990), 36-62, 37 und passim, der sich nachdrücklich dagegen ausspricht, dass Reichsgut in Rätien erst durch die Divisio entstanden sei. Gilomen-Schenkel, in Helvetia sacra III/ 1, 1, S. 47. 167 Karlmann konnte sich trotz des ‚Tages von Cannstatt‘ 746 in dem ihm zustehenden Regnum gegen den Bruder nicht durchsetzen. Ein Jahr darauf resignierte er, ging nach Rom und gründete auf dem Monte Soratte ein Kloster. Zu den Umständen: Zettler, Herzogtum Schwaben (wie Anm. 164), 55 f. 168 Jarnut, Alemannien (wie Anm. 164), 59 f. 169 So auch Wilhelm Störmer, Augsburg zwischen Antike und Mittelalter. Überlegungen zur Frage eines herzoglichen Zentralortes im 6. Jahrhundert und eines vorbonifatianischen Bistums, in: Andreas Bihrer u. a. (Hg.), Adel und Königtum im mittelalterlichen Schwaben, Stuttgart 2009, 71-85, 82. Die Frage, wann die bairische Lechgrenze entstand, ist nicht ausdiskutiert. 163 Karl Martell war in Alemannien zunächst nicht militärisch aktiv geworden, sondern hatte über die Gründung der Reichenau 724 gewirkt und bei seinen Durchzügen nach Baiern 725 und 728 Präsenz gezeigt. Der unmittelbare Anlass für sein Vorgehen gegen Herzog Lantfrid 730 ist schwer zu ermitteln; nach dessen Tod kam es zu Zusammenstößen mit seinem Bruder und Nachfolger Theudebald, der ins Exil gehen musste.164 In diese Jahre passt ein Vorgang, der nahelegt, dass Karl Martell Rätien im Auge behielt, nämlich die Gründung des Klosters Pfäfers. Das Kloster in der bereits beschriebenen strategisch wichtigen Straßenlage wurde mit Hilfe von Mönchen von der Reichenau, aber wohl auch mit einheimischer Unterstützung gegründet und erscheint in dieser Situation als Paradebeispiel für die Instrumentalisierung von Klöstern zur Herrschafts- und Straßensicherung. Wie die Besitzausstattung vor der Mitte des 9. Jh., also vor ihrer Aufzeichnung im RU, aussah, ist unbekannt. Man muss aber davon ausgehen, dass das Kloster aufgrund seiner Position und seiner Besitzstruktur 165 einen wesentlichen Teil der im RU aufgeführten verkehrswichtigen Besitzungen und Kirchen bereits als Gründungsausstattung erhielt, was bedeutete, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil von Fiskalgut bereits lange vor der Divisio zur Ausstattung eines Klosters verwendet und damit der Verfügung des rätischen praeses oder Bischofs entzogen wurde. Damit wäre Pfäfers als erster Versuch zu werten, die Straßenhoheit Churs zu brechen.166 Als Karl Martell 741 starb, kam es trotz geregelter Erbteilung unter seinen Söhnen Karlmann und Pippin zu einer mehrjährigen Rivalität, aus der schließlich Pippin erfolgreich hervorging.167 Zunächst aber gehörten Alemannien wie auch Rätien zum regnum Karlmanns. Bereits 742 war dieser mit einem Heer in Alemannien eingedrungen, wo Theudebald nach Karl Martells Tod aus dem Exil zurückgekehrt war und gegen die Karolinger im Elsass agierte; doch gelang es Karlmann nicht, die Lage endgültig zu bereinigen.168 Ein Jahr später gingen beide Brüder gegen Herzog Odilo von Baiern und das Heer einer versammelten Fürstenopposition vor, bei der erneut Theudebald mitwirkte. Die Folge war, dass das Gebiet zwischen Iller und Lech dem bairischen Herzog entzogen wurde.169 Als Karlmann in einem der folgenden Jahre in Sachsen Krieg führte, zog Pippin noch einmal gegen Theudebald, vertrieb den Flüchtenden ab obsidione Alpium und 166 IRMTRAUT HEITMEIER kehrte als Sieger nach Hause zurück. Zuvor aber hatte er den Dukat „dieses Ortes“ an sich gezogen (revocatoque sibi eiusdem loci ducato).170 Das Problem an dieser Stelle ist, dass eine Lokalisierung fehlt. Sicher ist jedoch, dass im ganzen Abschnitt nicht von Alemannien die Rede ist. Pippin zog also kaum den alemannischen Dukat an sich,171 den wohl de facto Karl Martell bereits beendet hatte, sondern denjenigen des Alpenraums, in dem sich Theudebald verschanzt hatte. Es ist zu überlegen, ob hier auch Rätien in Frage kommt, auch wenn erst die Divisio regnorum 806 von einem ducatus Curiensis spricht.172 Doch fällt auf, dass in der Generation Bischof Tellos der rangmäßig gleichwertige praeses-Titel, den sein Bruder Zacco noch trägt,173 verschwindet. In der um die Mitte des 8. Jh. bearbeiteten so genannten Lex Romana Curiensis kommt er nicht mehr vor.174 Vor allem aber lässt das Schutzprivileg Karls des Großen für den rector Constantius klar erkennen, dass bereits unter Pippin ein Treueverhältnis der Räter gegenüber dem Hausmeier begründet wurde, wenn nicht schon vorher Verträge mit den Merowingerkönigen geschlossen worden waren.175 Schließlich könnten auch archäologische Indizien wie der Untergang der Siedlung auf dem bereits genannten Ochsenberg bei Wartau auf Kriegseinwirkung in diesem Zeitfenster passen.176 Pippin scheint sich demnach bereits 745 Rätiens versichert zu haben, was das Ende des praeses Zacco und den Beginn der Alleinherrschaft Tellos bedeutete, der im Reichenauer Verbrüderungsbuch bezeichnenderweise mit dem weltlichen Titel eines comes geführt wird.177 Erst von diesem Zeitpunkt an lässt sich von einer Bischofsherrschaft sprechen, denn soweit die vorhergehenden Generationen der Victoriden-Zacconen bekannt sind, wurde das weltliche und geistliche Amt immer geschieden, damit wohl auch die jeweilige Besitzausstattung. Die Zusammenführung in der Hand des Bischofs muss Pippin vorteilhaft erschienen sein, vermutlich in Hinblick auf die Ausschaltung von Erbansprüchen des Victoridenclans. Wenn das Amtsgut des praeses dem Kirchengut eingegliedert wurde, kam dies bereits einer Einziehung von Fiskalgut gleich. Dabei ist auch die veränderte Situation im Süden zu berücksichtigen. In Pavia hatte mit Liutprand die Partei regiert, die von Chur bereits zu Beginn des Jahrhunderts unterstützt wurde. Es erscheint demnach sehr gut möglich, dass in den 720 er-Jahren Liutprand die GrimoaldBaiern sogar im Konsens mit Chur wieder aus dem Vinschgau verdrängte und anschließend die Kontrolle über den Straßenraum unter der Oberhoheit Churs ausübte. Denn dass das Verhältnis zum südlichen Nachbarn in dieser Phase entspannt war, zeigt nicht zuletzt die Vernachlässigung der Grenzbefestigungen, was 746 König Ratchis veranlasste, deren Wiederaufrichtung zu befehlen.178 Auch lassen Münzfunde, wie beispielsweise die langobardischen Goldmünzen aus der Zeit Liutprands vom Ochsenberg bei Wartau,179 rege wirtschaftliche Verbindungen nach Süden erkennen. Dies hielt wohl an bis zum Tod Liutprands 744, der vielleicht erst das Eingreifen Pippins in Rätien ermöglichte. Unter Liutprands Nachfolgern Ratchis und Aistulf, die aus dem gegnerischen Lager kamen, wurden die Grenzen wieder befestigt und scharf bewacht. Nicht zuletzt misstrauisch durch den gesteigerten Briefverkehr zwischen dem Frankenreich und Rom, insbesondere auch zwischen Bonifatius und dem Papst, aber auch beunruhigt durch die Opposition im eigenen Land erließ Ratchis bereits Fredegar, Chronicarum Continuationes 27 (ed. B. Krusch, MGH SS rer. Merov. 2, 1888, 181). 171 Davon geht aus: Jarnut, Alemannien (wie Anm. 164), 62 f. Dieter Geuenich plädiert hingegen für den Ducatus Alsatiae und identifiziert die Alpes mit den Vogesen. Ders., ... noluerunt obtemperare ducibus Francorum, in: Matthias Becher / Jörg Jarnut (Hg.), Der Dynastiewechsel von 751, Münster 2004, 131-143, 142 f. 172 MGH Capitularia regum Francorum 1 (ed. A. Boretius, 1883, ND 1984), Nr. 45, c. 2, S. 127. Zum ducatus als Bezeichnung für halbautonome Gebiete in dieser Zeit vgl. den Beitrag von H. Wolfram in diesem Band. 173 Lieb, Gründer von Cazis (wie Anm. 66), 39. 174 Datierung: Siems, Zur Lex Romana Curiensis (wie Anm. 23), 118. Iso Müller, Rätien im 8. Jahrhundert, in: Zeitschrift für schweizerische Geschichte 19 (1939), 337-395, 356. 175 BUB I, Nr. 78, S. 112: Si autem illis, qui parentibus nostris fidem visi sunt conservasse inlaesam ..., ut etiam legem vel consuetudinem, quae parentes eorum cum predecessoribus nostris habuerint ... Der Plural der Vorgänger muss sich auf die Merowingerkönige beziehen, so Kaiser, Autonomie (wie Anm. 21), 22, doch weist das nicht zwingend auf weiter zurückreichende Verträge hin, denn vor Pippins eigenem Königtum wären solche immer im Namen der Merowinger geschlossen worden. 176 Schindler, Kommentar zur frühmittelalterlichen Besiedlung des Ochsenberges (wie Anm. 83), 72. 177 MGH Libri memoriales NS 1 (ed. J. Autenrieth u. a., 1979), Faks. 115 B4. Desgleichen sein Vater Victor, was zeigt, wie man auf der Reichenau um 824 das Herrschaftsamt in Rätien einschätzte. 178 Ratchis 13 (MGH Leges 4, ed. F. Bluhme, 1868, 192 f): De clusas, qui disruptae sunt: restaurentur et ponant ibi custodiam, Tangl, Passvorschrift (wie Anm. 46), 29 f; Pohl, Frontiers (wie Anm. 110), 123. 179 Schindler, Kommentar zur frühmittelalterlichen Besiedlung des Ochsenberges (wie Anm. 83), 73. 170 PER ALPES CURIAM 167 746 die erwähnten Passvorschriften, die eine genaue Kontrolle jeglichen Personenverkehrs verordneten.180 Bereits um diese Zeit muss eine effektive Grenze zwischen Churrätien und dem Langobardenreich entstanden sein, was ebenfalls stimmig wäre, wenn Pippin seinen Herrschaftsanspruch nördlich der Pässe durchsetzen und die Macht der Victoriden beschneiden konnte. Tangl, Passvorschrift (wie Anm. 46), 29 ff. Alfons Zettler, Karolingerzeit, in: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte I, 1, Stuttgart 2001, 297-380, 319 f. Michael Borgolte, Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer Zeit (VuF Sonderbd. 31), Sigmaringen 1984, 78 ff. 182 Dagegen spricht auch nicht die Translation der Gebeine des Hl. Valentin von Mais nach Trient, wohl vor der erneuten Übernahme des castrum durch die Baiern, da die Grenzfunktion von Mais vom Passeier aus zu verstehen ist (s. unten zu Anm. 185), während der entsprechende Platz für den Vinschgau wohl wenig westlich bei der späteren Burg Tirol zu suchen ist. Zu den Vorgängen ausführlich Kaufmann, castrum Maiensis (wie Anm. 86), 68 ff, sowie ders., Römische Grenzen (wie Anm. 27), 24-31. 183 Für diese Auskunft danke ich Hans Lieb, Schaffhausen. 184 Rudolf Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart 3. Aufl. 2000, 61 f. 180 181 Unklar bleibt, was im Zuge dieser Entwicklungen mit dem Vinschgau geschah. Es gibt keine Nachricht über einen Rückzug der Langobarden, ebenso wenig einen Hinweis darauf, dass auch hier nach Karlmanns Resignation 747 fränkische Grafen aktiv geworden wären, wie Warin und Ruthard südlich des Bodensees.181 Wahrscheinlich dürfte eher sein, dass die Langobarden im Rahmen der verschärften Grenzkontrolle sich im Vinschgau erst recht festsetzten, um auch die Nordseite der Übergänge zu kontrollieren.182 Dass Pippin für eine Rückstellung an die Victoriden gesorgt hätte, ist angesichts seiner Entmachtungsbestrebungen in Chur nicht anzunehmen, zumal er in diesem Zusammenhang die Wiederbelebung alter Südverbindungen fürchten musste. Vor diesem Hintergrund ist noch einmal auf die mehrfach besprochenen Gedenksteine aus der victoridischen Familiengruft in St. Luzi in Chur zurückzukommen. Die Nennung der Ahnen wie auch die Berufung auf Victor II., den vir illuster praeses, der in der 1. Hälfte des 8. Jh. die starke Figur in Chur war, trug den Machtanspruch der Familie offen vor. Mit den Herkunftsangaben der Steine aus Trient und de Venostes wurde die Reichweite des victoridischen Einflusses wie auch Besitzes abgesteckt und in Bezug auf diese Räume eingefordert. Die Forschung ging bisher ausschließlich davon aus, dass die Steine unter Victor II. hergestellt und in der Gruft angebracht wurden. Doch erlaubt die Schrift keine engere Datierung an den Anfang des 8. Jh.,183 ebenso wenig der Inhalt, denn die Berufung auf praeses Victor impliziert nicht automatisch, dass er die Steine setzte, sie besagt lediglich, dass unter seiner Herrschaft der Vinschgau Chur unterstand bzw. Kontakte in die Vallis Tridentina bestanden. Die Inschriften wurden also zu einer Zeit hergestellt, als die Verfügung über den Vinschgau verloren gegangen war und ebenso die Beziehung ins mittlere Etschtal. Das war erstmals nach der Okkupation durch die Grimoald-Baiern der Fall, die wohl bereits in die Regierungszeit Victors II. fiel. Berücksichtigt man jedoch das bis hierher Erschlossene, dann war die Situation um die Jahrhundertmitte noch viel ernster, als nach dem Tod Liutprands die Beziehungen zu den Langobarden angespannt waren und die rätischen Herrschaftsrechte von Pippin so beschnitten wurden, dass die Victoriden fürchten mussten, ihren Herrschaftsanspruch über den Vinschgau ganz zu verlieren. Dies nötigte sie zu einer Selbstdarstellung und Machtdemonstration in ihrer Familiengruft, wie man sie in späterer Zeit durch die Herstellung von Urkunden unternommen hätte. Es ist gut möglich, dass Pippin die langobardische Nordgrenze auch deshalb zunächst unangetastet ließ, weil es eine nicht unbeträchtliche pro-langobardische Partei im fränkischen Adel gab, wie sich an ihrem Widerstand gegen Pippins Kriegspläne ablesen lässt.184 Vielmehr verfolgte er nach seinen Siegen über Aistulf 754 und 756 offenbar eine andere Politik im Alpenraum, denn der junge Tassilo, der Pippin 756 nach Italien begleitet und 757 seinem Onkel den Treueid geleistet hatte, 168 IRMTRAUT HEITMEIER erhielt den Zugriff auf das dem bairischen Herzogtum unmittelbar vorgelagerte alpine Inntal, d. h. den pagus Uallenensium und die südlich anschließenden Täler, zu denen auch das Passeier gehörte.185 Insofern verwundert es nicht, Tassilo 768/9 im Besitz des castrum Mais zu finden, denn er gab damals die Erlaubnis zur Überführung des Hl. Corbinian nach Freising. Die Translation erfolgte, wie 40 Jahre zuvor in der Gegenrichtung bereits der Leichenzug Corbinians, wiederum nicht über die Reschenstraße, sondern über das Inntal und folgte diesem flussabwärts sogar bis zum alten römischen Innübergang Pons Aeni nördlich Rosenheim,186 womit Arbeo wohl andeuten will, dass sich nun das ganze Inntal in der Hand Herzog Tassilos befand. Indem er seinem Neffen die Tiroler Pässe überließ, beauftragte Pippin ihn auch mit der Sicherung des Grenzraumes gegen die Langobarden. Das castrum Mais dürfte also eine bairisch-fränkische Position gegen einen nach wie vor langobardischen Vinschgau gewesen sein. Die Translation Corbinians zu Beginn des Jahres 769 war eine Reaktion auf den Tod Pippins im September 768. Dass man den Heiligen noch im Winter von Südtirol nach Freising holte, wo bereits im Februar eine Besitzübertragung ad sepulchrum sancti Corbiniani stattfand,187 zeigt, dass man in Baiern den Verlust dieses Vorpostens befürchtete. Wohl ebenfalls noch im Jahr 768 reiste Tassilo nach Rom und gründete auf der Rückreise von Italien mit Zustimmung seiner Optimaten das Kloster Innichen im östlichen Pustertal, das ebenfalls der Freisinger Kirche unterstellt wurde. Es lag laut Urkunde an der Slawengrenze,188 daneben aber auch äußerst verkehrsgünstig an der Abzweigung des Sextentales, das über den Kreuzbergpass einen leichten Zugang ins Cadore ermöglichte. Das wirkt so, als habe man nach Pippins Tod einen Zugriff auf das Gebiet der alpinen, zum Frankenreich gehörenden Raetia befürchtet, d. h. auf Churrätien inklusive Vinschgau und Inntal. Die Befürchtungen waren umso begründeter, als Tassilo inzwischen der Schwiegersohn des Langobardenkönigs Desiderius war, damit seine Funktion als fränkischer ‚Grenzwächter‘ nicht mehr erfüllte, und unter Desiderius auch von einer wiederhergestellten Nähe zwischen Chur und Pavia auszugehen ist, wozu die Respektierung der alten Churer Rechte im Vinschgau gehört haben könnte. Tatsache ist, dass zumindest in Chur die Regierungsübernahme der Pippin-Söhne Karl und Karlmann mit dem Ende Bischof Tellos und der viktoridischen Herrschaft einherging. Nach Pippins Tod im September 768 teilten seine Söhne das Reich. Das Elsass, Alemannien und Churrätien gehörten zu Karlmanns Reichsteil, womit er auch derjenige war, der die günstigere Ausgangsposition für die Italienpolitik hatte. Über seine politischen Absichten ist angesichts der Kürze seiner Regierung kaum etwas zu sagen.189 Allerdings war die Rivalität mit dem Bruder offenbar immens und führte dazu, dass ihre Mutter Bertrada in einem beispiellosen Vermittlungsversuch zwischen ihren Söhnen, Herzog Tassilo von Baiern, dem Langobardenkönig Desiderius und Papst Stephan III. wohl nicht nur Frieden sichern, sondern gerade durch das Heiratsprojekt Karls mit einer Desiderius-Tochter Karlmann in der Italienpolitik isolieren wollte. Dieser hatte sich dem Papst angenähert, der ihm die Taufe seines kleinen Sohnes Pippin zusagte, zu diesem Zeitpunkt der prädestinierte Erbe des Karolingerreiches und ein kaum hoch genug 185 Zum Anschluss des pagus Uallenensium: Heitmeier, Inntal (wie Anm. 3), 339-344. Hierbei handelte es sich aber wohl erneut um die alte Raumeinheit innerhalb des Fernpasses und des Scharnitzwaldes, bei der das vallis Passeyr cum omnibus adtinentibus ausdrücklich genannt wird. Vgl. Anm. 102. 186 Arbeo, Vita Corb. 44, 154: Amissa montana, ad amnem Eni portum... 187 Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32), Nr. 31, S. 59. 188 Bitterauf, Trad. Freising (wie Anm. 32), Nr. 34, S. 62. 189 Eine scharfe Analyse der Ereignisse von 769 bis 771 bei Jörg Jarnut, Ein Bruderkampf und seine Folgen: Die Krise des Frankenreiches (768-771), wieder in: Ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter, Gesammelte Aufsätze, Paderborn 2002, 235-246. Zusätzliche Aspekte bei Zettler, Karolingerzeit (wie Anm. 181), 324 f. Schieffer, Karolinger (wie Anm. 183), 72 f. Michael Richter, Karl der Große, die ersten Herrschaftsjahre, in: Uwe Ludwig (Hg.), Nomen et fraternitas, FS f. Dieter Geuenich (RGA Erg. Bd. 62), Berlin / New York 2008, 587-594. PER ALPES CURIAM 169 einzuschätzender Machtfaktor für Karlmann. Da aber auf Veranlassung Bertradas und durch Aktivitäten von missi Karls sowohl König Desiderius dem Heiligen Stuhl Gebiete zurückgab, wie auch Herzog Arichis von Benevent entfremdete Patrimonien restituierte, zog der Papst sein compaternitas-Angebot für den Karlmann-Sohn zurück. Als im Frühjahr 771 Desiderius und seine römischen Bundesgenossen gegen den von Karlmann zum Papst gesandten Dodo und seine Truppen vorgingen, fand in Rom ein Stellvertreterkrieg der karolingischen Brüder statt, bei dem die Partei Karlmanns unterlag. Dass Karlmann darauf nicht mehr reagierte, ist wohl nicht nur einer politischen Lähmung zuzuschreiben, sondern einer Krankheit, die sich in zwei Seelgerätsstiftungen des jungen Königs an St. Denis und Reims zu erkennen gibt.190 Karl hingegen begann noch vor dem Tod des Bruders eine aktive Alemannienpolitik zu betreiben, indem er Waldo nach St. Gallen schickte und – nach Zettler bereits 771 – Hildegard, die Urenkelin Herzog Gotfrids heiratete.191 Ein oder zwei Jahre später begegnet bereits Constantius als Bischof-rector in Rätien. Ob er noch von Karlmann oder bereits von Karl eingesetzt wurde, ist nicht zu erkennen. Zettler, Karolingerzeit (wie Anm. 181), 324. Zettler, Herzogtum Schwaben (wie Anm. 164), 63. Ders. Karolingerzeit (wie Anm. 181), 326. 192 Clavadetscher, Führungsschicht (wie Anm. 82), 25, unter Hinweis darauf, dass die Namen am ehesten aus der Disentiser Memorialüberlieferung stammten, wo diese als defuncti eingetragen waren. Als Vermutung gekennzeichnet bei Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 50. 193 Vgl. Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 211216, mit Karte 28, 213. 194 Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 152 f, 213-214 (Zitate). 195 Zu diesem Problem s. den Beitrag von A. Zettler in diesem Band. 196 Vita Galli auctore Walahfrido liber II, c. 17 (ed. B. Krusch, MGH SS rer. Merov. 4, 1902, 324). 190 191 Die hektischen Reaktionen der Baiern nach dem Tod Pippins lassen vermuten, dass man von Karlmann als prädestiniertem Erben des rätischen Raumes einen schnellen Zugriff erwartete, um den an das Langobardenreich anschließenden Grenzraum sicher unter Kontrolle zu bringen. Möglicherweise traf dies auch schon Bischof Tello. Da Tello bereits 765 sein ‚Testament‘ gemacht hatte, in dem er nach seinem Tod sein väterliches Erbgut dem Kloster Disentis übertrug, schloss man daraus, dass er keine Erben mehr hatte,192 – was auch half, die Ämterkumulierung in seiner Hand zu erklären – und weiter, dass er vor der Einsetzung des Constantius gestorben war. Die Vereinigung des weltlichen und geistlichen Amtes dürfte jedoch eher das Werk Pippins gewesen sein und ein so ‚pünktlicher‘ Tod wäre doch ein großer Zufall gewesen. Eine Absetzung oder Resignation ist also zu bedenken. Der an Disentis übertragene Besitz ist groß, aber so konzentriert im Vorderrheintal gelegen,193 dass auch Sebastian Grüninger in Hinblick auf seine Verhältnismäßigkeit zur generationenlangen „Stellung der Victoriden in der weltlichen und kirchlichen Hierarchie Churrätiens“ Zweifel äußerte, ob hier „ein adäquates Bild der Besitzmasse dieser Familie“ wiedergegeben werde. Die räumliche Konzentration, verbunden mit den Indizien, die auf Victoridenbesitz im Vinschgau hinwiesen, spricht eher für einen Ausschnitt aus demselben, wobei Grüninger die Ursache in der problematischen Textgenese des ‚Testamentes‘ vermutet.194 Doch könnten die Hintergründe auch andere sein. Nach einem späteren Insert im ‚Testament‘ hatte Tello vier Geschwister sowie zwei Neffen und eine Nichte, die alle 765, als er sein ‚Testament‘ abfasste, nicht mehr gelebt haben sollen; dies mag für die Geschwister Tellos plausibel erscheinen, doch nicht unbedingt für die nächste Generation, von der wir vielleicht nicht einmal alle Mitglieder kennen.195 Immerhin berichtet die Vita Galli von einem Vermittlungsversuch Tellos bei Bischof Sidonius von Konstanz für Sankt Galler Mönche, quoniam eorundem fratrum aliqui consanguinetatis vinculo illi erant coniuncti.196 Ob es sich dabei um Verwandte rätischer oder alemannischer Herkunft handelte, bleibt offen, doch ist die Familie von Tellos Mutter Teusinda jedenfalls mit zu bedenken. Gleiches gilt für 170 IRMTRAUT HEITMEIER langobardische Verbindungen, die nicht greifbar, aber aufgrund der politischen Nähe in der ersten Jahrhunderthälfte unbedingt anzunehmen sind. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, warum Personen oder ganze Familienzweige aus den Quellen verschwinden. Wenn die Annahme zutrifft, dass Pippin bereits in den 740 er-Jahren die weltliche Macht der Victoriden drastisch beschnitt, dann würde nicht verwundern, wenn Angehörige in die Opposition gingen. Der Eintritt ins Kloster mag nicht immer freiwillig erfolgt sein, für andere führte der Weg vielleicht ins Exil. Es ist daran zu erinnern, wie deutlich das Schutzprivileg Karls des Großen 772/73 197 erkennen lässt, dass es in der patria Curiensis Leute gab, die von der Treue gegenüber den Karolingern wenig hielten, und dass Constantius vor allem Personen von außerhalb der Grenzen (extrinsecus homines) fürchtete, womit nicht nur Langobarden oder Alemannen gemeint sein konnten, sondern auch Exilräter.198 Diese Überlegungen machen deutlich, dass keineswegs sicher davon auszugehen ist, dass Tello der letzte Victoride war, er war lediglich der letzte an der Macht. Gerade die Beobachtung, dass der von Karlmann oder Karl als Nachfolger Tellos eingesetzte rector Constantius der einheimischen Oberschicht entstammte und mit „erheblicher Wahrscheinlichkeit“ identisch ist mit dem curialis Constantius des Tello-‚Testaments‘,199 somit Bischof Tello zumindest nahestand, wenn nicht sogar, eventuell cognatisch, mit ihm verwandt war,200 spricht dafür, dass bei diesem Übergang noch Rücksichten zu nehmen waren. Nicht zuletzt die Konzentration von Besitz verschiedener Qualität in der Hand Bischof Tellos dürfte die Einsetzung eines Außenstehenden in dieses ‚Erbe‘ erschwert haben.201 Die Lage in Churrätien zu Beginn der 770 er-Jahre war demnach alles andere als übersichtlich und Tellos Vermächtnis an Disentis stellte wohl nur einen Teil der zu bereinigenden Rechts- und Besitzverhältnisse dar. In dieser Situation müssen auch die Gründungsmotive für das Kloster Müstair gesucht werden. Denn wenn die Vollendung der Klosterkirche durch die 775/76 gefällten Giebelhölzer angezeigt wird – unter der Prämisse ihrer fällfrischen Verbauung –, dann ist von einer Planungsphase auszugehen, die vor das Jahr 774 zurückreicht. Als Pippin starb, war der Vinschgau in langobardischer Hand. Die Kirchenhoheit scheint nach wie vor bei Chur gelegen zu haben und zusätzlich ist davon auszugehen, dass die Victoriden alte Herrschaftsansprüche aus dem 7. Jh. auf diesen Grenzraum besaßen. Kommt man zu dem Schluss, dass das Tello-‚Testament‘ nur einen Teil des Victoridenbesitzes spiegelt, dann wird man einen anderen im Engadin und im Vinschgau annehmen müssen. Spätestens nach der Flucht von Karlmanns Witwe mit ihren Kindern ins Langobardenreich und Desiderius’ Versuch, diese mit Hilfe des Papstes als Druckmittel gegen Karl einzusetzen, war eine Situation entstanden, in der Karl sich des südlichen Grenz- und Passraumes versichern musste, um den Rücken frei zu haben für Aktionen in Italien. Dabei spielten nicht nur die Bündner Pässe eine Rolle, sondern besonders auch der Vinschgau wegen der ihm vorgelagerten Täler einerseits, insbesondere aber, da von dort aus der Zugang zum mittleren Etschtal offen lag und damit der Weg nach Verona, der zweiten ‚Hauptstadt‘ des Langobardenreiches.202 Aus umgekehrter Perspektive erklärt dies auch das hohe Interesse der Langobarden am Vinschgau. Desiderius aber musste sich auf dessen Verlust einstellen, so wie BUB I, Nr. 19, S. 23 f. Verschiedene Ansichten referiert bei Kaiser, Autonomie (wie Anm. 21), 12 f. 199 So Clavadetscher, Führungsschicht (wie Anm. 82), 29. 200 Letzteres ist nicht beweisbar, aber als Möglichkeit auch nicht zu widerlegen: „Vermutlich kein Victoride“: Grüninger, Grundherrschaft (wie Anm. 39), 214. „Keine Hinweise auf Verwandtschaftsbeziehungen“: Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 50. Eine Verwandtschaft wurde wohl auch deshalb meist ausgeschlossen, weil man annahm, dass die Nachfolge eines Verwandten nicht im karolingischen Interesse sein konnte. 201 Der auf diese Weise mögliche Zugriff auf diverse Besitzkategorien mag ein Grund für die Beibehaltung der Ein-Personen-Herrschaft in Gestalt des Bischofs auch nach Tello gewesen sein. 202 Die große Bedeutung Veronas im Langobardenreich betont Alfons Zettler, Die Ablösung der langobardischen Herrschaft in Verona, in: Nomen et fraternitas (wie Anm. 189), 595-623, sowie ders., Die karolingischen Grafen von Verona, Überlegungen und Annäherungsversuche, in: Bihrer u. a. (Hg.), Adel und Königtum (wie Anm. 169), 89-114, 92-95. 197 198 PER ALPES CURIAM 171 Tello mit seiner Entmachtung – und der seiner denkbaren Verwandten – rechnen musste, wozu der Verlust von Besitz und Rechten gehörte, insbesondere, wenn diese aus Fiskalgut stammten. Das Mittel, um gefährdeten Besitz und Herrschaftsrechte vor einer direkten Einziehung durch den Frankenkönig zu sichern, war hier wie anderswo die Gründung eines Klosters. Lagen im Churer Bistum die letzten Klostergründungen mit Pfäfers und Disentis schon eine Weile zurück, so ist die Zahl der Klöster, die im langobardischen Italien in den letzten Jahrzehnten des selbständigen Königreiches gegründet wurden, eindrucksvoll.203 Darunter befanden sich nicht wenige Stiftungen der Königsfamilie selbst. Bereits vor der Thronbesteigung des Desiderius gründete die spätere Königin Ansa im Jahr 753, als die Spannungen zwischen König Aistulf, dem Papst und Pippin ihrem Höhepunkt zustrebten, in Brescia das Kloster San Salvatore, später Santa Giulia, dem weitere Gründungen unterstellt wurden. Auf diese Weise wurden im ganzen Land große Königsgutkomplexe zu Klosterbesitz.204 Etwas Ähnliches darf man im Vinschgau vermuten zum Zeitpunkt der unmittelbaren Bedrohung durch einen militärischen Zugriff Karls, wohl 772. Es würde dem Muster der langobardischen Klosterpolitik entsprechen, wenn Desiderius in diesem gefährdeten Grenzgebiet ein Zeichen langobardischer Größe errichten und Fiskalgut der Kirche unterstellen wollte. Dies geschah allerdings kaum ohne Churer Beteiligung, wobei zumindest für die Planung noch an Bischof Tello zu denken ist. Aus einer kleinen Liste mit Namen von verstorbenen Brüdern des monasterium Tuberis / Müstair im Reichenauer Verbrüderungsbuch, die sich in der Liste von Pfäfers ebenfalls finden, wird geschlossen, dass Müstair zu Beginn von Pfäfers Unterstützung erfuhr.205 Der Eintrag wird angeführt von einem Vigilius abbas, gefolgt von einem Victor. Diese Namen sind im Churer Umfeld vertraut, sie könnten aber auch ein weiteres Indiz in Hinblick auf victoridische Beteiligung bei der Gründung von Müstair sein, denn dass der Gründer selbst oder ein naher Verwandter als erster Abt fungiert, ist nicht selten zu beobachten. Das Kloster, ausgestattet mit Fiskalgut in langobardischer Hand wie mit Victoriden-Besitz, wurde vor dem Sturz König Desiderius’ nicht mehr fertig, denn nach Ausweis eines Dendrodatums wurde die Kirche erst 775 eingedeckt, also bereits unter der Herrschaft Karls. Diesem dürfte das Kloster unmittelbar zugefallen sein, wie es etwa für die Ansa-Gründung auf Sirmione zu erkennen ist, die Karl noch 774 an St. Martin in Tours verleiht.206 Karl Schmid, Zur Ablösung der Langobardenherrschaft durch die Franken, wieder in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter, Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, 268-304. 204 Schmid, Zur Ablösung (wie Anm. 203), 286 f. 205 MGH Libri memoriales NS 1 (ed. J. Autenrieth u. a., 1979), Faksimile Tafel 17 C2, abgebildet bei Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), 146, dazu 145-147. Zuerst: Büttner / Müller, Müstair im Frühmittelalter (wie Anm. 131), 19 f. 206 Wie Anm. 111. 207 Entsprechend schon früh: Büttner / Müller, Das Kloster Müstair im Frühmittelalter (wie Anm. 131), 24 f. 203 Müstair war kein Straßenkloster. Hier führte keine Fernroute vorbei, denn als Italienweg spielten Umbrailpass und Veltlin erst unter den Habsburgern eine größere Rolle, die von Innsbruck nach Mailand zogen. Vom Bodensee oder vom Oberrhein boten sich andere Straßen an, aus dem Inntal zog man über den Brenner nach Süden. Wie gezeigt werden konnte, war die Reschenstraße ab dem 7. Jh. keine wichtige Fernstraße mehr, sondern durchlief einen Grenzraum, der von verschiedenen Kräften kontrolliert wurde und militärisch organisiert war. Wenn das Kloster an einem Platz gegründet wurde, der wie eine Spinne im Netz der kleinen Übergänge vom Engadin in den Vinschgau und nach Süden ins Veltlin liegt, dann ging es hier um die Kontrolle der Pässe, die in jeder Richtung Einfallsmöglichkeiten in das jeweils andere Territorium ermöglichten.207 Das war gerade in dieser zurückversetzten Position des Münstertales von Bedeutung, 172 IRMTRAUT HEITMEIER da im obersten Inn- und im Etschtal eine Kontrolle an vielen Stellen möglich war. Ob bereits bei der Gründung geplant war, das Kloster zu einem Mittelpunkt auch für die Militärorganisation des Raumes zu machen, wie das für Kloster Nonnberg in Salzburg aufscheint, das von Heinz Dopsch als „militärisches und administratives Zentrum des Salzburggaus“ angesprochen wurde,208 weil ihm von Herzog Theodbert neben einer umfangreichen Ausstattung aus Fiskalgut auch exercitales homines zugewiesen wurden, ist nicht zu fassen. Dass es aber kurz darauf unter Karl dem Großen dazu wurde, dürfte die Größe der Anlage zum Ausdruck bringen. Als Pfalzkomplex hätte sie in den Anfängen der Karolingerherrschaft noch keinen Sinn gemacht, als militärischer Stützpunkt hingegen umso mehr, da das Kloster im Rücken der langobardischen Arimannien, insbesondere des Veltlin, einen fränkischen Sicherungsposten darstellte. Das Misstrauen, das Karl der Große den südlich vorgelagerten Tälern entgegenbrachte, kommt in seinen schnellen Übertragungen dieser Täler an St. Martin in Tours und St. Denis unmissverständlich zum Ausdruck.209 Der Hrodgaud-Aufstand im Friaul wenige Jahre später beweist, dass es zu Recht bestand.210 Wenn Zettler annimmt, dass es erst im Zuge des zweiten, durch diesen Aufstand veranlassten Italienzugs Karls im Winter 775/76 gelang, in Verona die fränkische Herrschaft zu etablieren,211 dann wird es auch nötig gewesen sein, sich des weiter oben gelegenen Etschtals zu versichern und dort Präsenz zu zeigen. Will man hier nicht einen gräflichen Auftrag annehmen, könnte Constantius in Chur als zuverlässigem Mann Karls diese Aufgabe zugefallen sein, die auch die Fertigstellung des Klosters beinhaltete. Der Vinschgau war auch nach der Eroberung des Langobardenreiches immer noch der Grenzraum gegenüber dem mächtigen regnum Tassilos von Baiern, der für militärische Konflikte gerüstet sein musste, wie die Auseinandersetzung bei Bozen 784 zeigt, bei der der fränkische Graf unterlag.212 Als Karl der Große das Königtum des Desiderius 774 übernahm, ist zu bedenken, dass der Vinschgau vermutlich bereits ein halbes Jahrhundert in langobardischer Hand war, so dass eine grundlegende Refrankisierung und auch militärische Reorganisation der terra Venosta und des obersten Inntals notwendig war. Das Ergebnis liegt wohl im ministerium Remedii des Reichgutsurbars vor.213 Eindrücklichstes Zeugnis für die Wiedererrichtung der fränkischen Oberhoheit dürfte das so genannte weltliche Stifterbild aus St. Benedikt in Mals sein.214 Solche, auch visuelle Demonstrationen von Herrschaft waren in neu eroberten oder zurück gewonnenen Gebieten geboten. Es würde folglich nicht wundern, wenn hier auch bei etwas späterer Entstehung der Porträts Karl der Große selbst dargestellt wurde. Resümee Blickt man auf die vorhergehenden Seiten zurück, wird unschwer verständlich, warum die rätischen Straßen für die frühen Karolinger keine Wege waren. Vinschgau und oberstes Inntal waren im 7. Jh. von den Merowingern als militärischer Grenzbezirk eingerichtet worden und besaßen keine Fernstraßenorganisation mehr. Eine solche lebte jedoch aus römischer Zeit deutlich erkennbar an der Walenseeroute, im Alpenrheintal und am Passweg durch das Oberhalbstein und über Heinz Dopsch, Zum Anteil der Romanen und ihrer Kultur an der Stammesbildung der Bajuwaren, in: Hermann Dannheimer / Heinz Dopsch (Hg.), Die Bajuwaren, Von Severin bis Tassilo, 488-788, Ausstellungskatalog Rosenheim / Mattsee 1988, 47-54, 49. Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 87 f. 209 Vgl. Anm. 111 210 Harald Krahwinkler, Friaul im Frühmittelalter (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 30), Wien / Köln /Weimar 1992, 119-143. 211 Zettler, Ablösung (wie Anm. 202), 603 sowie ders., Die karolingischen Grafen (wie Anm. 202), 97. 212 Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 531. 213 BUB I, S. 394. 214 Zu St. Benedikt: Elisabeth Rüber, St. Benedikt in Mals (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXVIII, Kunstgeschichte 130), Frankfurt / M. u. a. 1991, 243-256. Jean Wirth, Die Bildnisse von St. Benedikt in Mals und St. Johann in Müstair, in: Hans-Rudolf Meier u. a. (Hg.), Für irdischen Ruhm und himmlischen Lohn, Stifter und Auftraggeber in der mittelalterlichen Kunst, FS f. Beat Brenk, Berlin 1995, 76-90. Kaiser, Churrätien und der Vinschgau (wie Anm. 40), 688 f. 208 PER ALPES CURIAM 173 Julier und Maloja fort, ebenso wie im Engadin, und wurde durch frühe straßenbezogene Klostergründungen wie Cazis und Mistail, etwas später auch Pfäfers mit mittelalterlichen Einrichtungen fortgeführt. Die Überführung des spätantiken in ein mittelalterliches Verkehrssystem wird dabei besonders auch hinsichtlich des Schiffsverkehrs auf den Seen deutlich. An dieser ausgeprägten Infrastruktur zeigt sich, dass im Bündner Raum und südlich des Bodensees kein geringes Verkehrsaufkommen herrschte, das aber eher dem Handel und dem Einzelreiseverkehr diente als der Politik. Letzteres lag an den schwierigen Herrschaftsverhältnissen des Raumes, dessen Kontrolle als Passraum von Süden wie von Norden angestrebt wurde, der jedoch im Osten mit Vinschgau und oberstem Tiroler Inntal auch eine ‚offene Flanke‘ besaß, die zu Zugriffen einlud. Ein solcher erfolgte bereits im 2. Jahrzehnt des 8. Jh. im Rahmen der fränkischen Sukzessionskrise nach dem Tod Pippins des Mittleren durch das westliche bairische Teilherzogtum, dessen Herrschaft im Vinschgau durch die Langobarden unter Liutprand abgelöst und bis zum Tod Karl Martells vermutlich einvernehmlich mit diesem wie mit Chur bestand. Dieses Einvernehmen zerbrach, als Pippin sich auf die Seite des Papstes stellte und gegenüber dem südlichen Nachbarreich eine rigide Politik betrieb. Chur, aus antiker Tradition nach Süden orientiert, seit der 1. Hälfte des 6. Jh. aber zum Merowingerreich gehörig, stand zwischen beiden Reichen, was nicht nur die Zuwendung zur einen oder anderen Seite bedeutete, sondern auch durch die Notwendigkeit der Parteinahme bei innerlangobardischen wie innerfränkischen Auseinandersetzungen zusätzlich die Gefahr barg, zwischen die Fronten zu geraten. Eine solche Situation bestand zu Beginn des 8. Jh. im Rahmen des langobardischen Thronstreits, wo beide Parteien ihre Sympathisanten im Frankenreich besaßen, aber auch während der fränkischen Sukzessionskrise nach dem Tod Pippins des Mittleren 714. Während der karolingischen Bruderkämpfe nach dem Tod Karl Martells in den 740 er-Jahren, verbunden mit dem Ende des alemannischen Herzogtums, und dem Tod Pippins von 768 bis 771 erfolgten die massivsten politischen Eingriffe in Chur. Entgegen der älteren Ansicht, dass erst Karl der Große die fränkische Zentralgewalt in Churrätien wieder durchsetzte, zeichnete sich ab, dass die Karolinger schon früh begannen, sich in Churrätien einzumischen. Das berichtet nicht nur die Legende über die Anfänge von Disentis, sondern auch Karl Martell scheint indirekt über die Gründung von Pfäfers Einfluss ausgeübt zu haben, indem das Kloster bereits als Gründungsausstattung, und nicht erst im Rahmen der Divisio verkehrswichtige Besitzungen und Güter erhielt, die vorher wohl in der Verfügung des rätischen praeses oder Bischofs standen. Das Amt des praeses wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit von Pippin ca. 745 eingezogen, der sich vor einem direkten Eingriff in Chur nicht mehr scheute. Wie aus der Schutzurkunde Karls des Großen für Constantius hervorgeht, bestand spätestens seit dieser Zeit eine vertragliche Bindung und Treueverpflichtung der Victoriden. Mit dem Ende des weltlichen Amtes wurde aber auch die Alleinherrschaft Bischof Tellos begründet, was bedeutete, dass sämtliches weltliche Amtsgut zu Kirchengut 174 IRMTRAUT HEITMEIER wurde und damit unter anderem nicht mehr vererbbar war; dies ist als erster Schritt zur Revindikation von Fiskalgut zu verstehen und die Voraussetzung dafür, dass dieses später neu aufgeteilt werden konnte. Konsequenterweise wurde Tellos Nachfolger Constantius von den Karolingern eingesetzt, wobei die Wahl eines Einheimischen auf notwendige Rücksichten gegenüber bestehenden Ansprüchen schließen lässt. Man muss davon ausgehen, dass die Victoriden zwar entmachtet waren, aber nicht unbedingt ‚ausgestorben‘. Unmissverständlich klingt in Karls des Großen Schutzprivileg das Vorhandensein einer Opposition an, die zeigt, dass die Kontrolle der rätischen Täler durch die Karolinger noch nicht gewährleistet war. Offensichtlich genügte dazu auch nicht die Herrschaft eines den Karolingern nahestehenden, von außen kommenden Bischof-rector wie Remedius, denn als die geplante Reichsteilung 806 die Sicherheit der Passstraßen zwingend voraussetzte, wurden mit der Neuaufteilung des Fiskalguts im Rahmen der Divisio völlig neue Bedingungen geschaffen. Erst mit diesem Schritt und der darauf folgenden Kontrolle der Wege durch Grafen wurden in Rätien für die Karolinger sichere Verhältnisse hergestellt, wie sie im Maurienne schon 50 Jahre vorher bestanden, als der Halbbruder Pippins des Jüngeren und Karlmanns, Grifo, auf der Flucht zu den Langobarden von fränkischen Grafen abgefangen wurde, die dort die Grenze bewachten.215 Dementsprechend zogen die Karolinger im 8. Jh. bevorzugt über den Mont Cenis. Bereits im frühen 9. Jh. aber war dann auch die Alpenrheintalstraße wichtig geworden: 829 wurde Abt Erlebald von der Reichenau bei Ludwig dem Frommen vorstellig, um zu erreichen, dass sein Kloster für den reisenden Kaiser und seine Söhne allein bei deren Fahrt über Konstanz und Chur das Servitium zu leisten habe.216 Die Gründung des Klosters Müstair erscheint im Kontext dieser gesamträtischen Entwicklung als Maßnahme, die aus der spezifischen Situation des Vinschgaus nach dem Tod Pippins des Jüngeren 768 bzw. Karlmanns 771 resultierte. Unter der Voraussetzung, dass dieser einerseits unter langobardischer Herrschaft stand, andererseits ein Gebiet alter victoridischer Rechte und Besitzansprüche war, ist die Annahme einer langobardisch-rätischen Klostergründung zu einem Zeitpunkt, als ein fränkischer Zugriff auf dieses Grenzgebiet unmittelbar bevorzustehen schien, naheliegend. Konkret hieße das, dass die Gründungsinitiative für das monasterium Tuberis auf König Desiderius und Ansa in Zusammenwirken mit Bischof Tello zurückgehen dürfte, die jedoch bereits vor Fertigstellung der Kirche von Karl dem Großen entmachtet waren. Annales Mettenses priores 43 ad a. 751 (ed. B. v. Simson, MGH SS rer. Germ. in usum Scholarum 10, 1905). Jahn, Ducatus (wie Anm. 18), 281. 216 BUB I, Nr. 51, S. 43 (Gallus Oeheim, Chronik von Reichenau). 215 PER ALPES CURIAM 175 Abbildungsnachweise Abkürzungen – 1: Entwurf I. Heitmeier, Zeichnung E. Kühne, Stiftung FSMA. – 2: Entwurf I. Heitmeier, Zeichnung E. Kühne, Stiftung FSMA, Hintergrund Bundesamt für Landestopographie. – 3: aus Kaiser, Churrätien (wie Anm. 3), Karte 20, 174/175. Arbeo, Vita Corb.: Franz Brunhölzl (Hg. u. Übers.), Bischof Arbeo von Freising, Das Leben des heiligen Korbinian, in: Hubert Glaser, Franz Brunhölzl, Sigmund Benker (Hg.), Vita Corbiniani (Sammelblatt des Hist. Vereins Freising 32), München 1983, 77–159. BM²: Johann Friedrich Böhmer, Regesta imperii I (751 – 918), neu bearbeitet von Engelbert Mühlbacher, vollendet von Johann Lechner, Innsbruck 1908; mit Vorwort, Konkordanztabellen und Ergänzungen von Carlrichard Brühl und Hans H. Kaminsky, Hildesheim 1966. BUB I: Elisabeth Meyer-Marthaler / Franz Perret (Bearb.), Bündner Urkundenbuch Bd. 1: 390–1199, Chur 1955. FMSt: Frühmittelalterliche Studien. LexMA: Lexikon des Mittelalters. MBV: Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte. MGH AA: Monumenta Germaniae Historica, Auctores antiquissimi. MGH DD: Monumenta Germaniae Historica, Diplomata. MGH LL: Monumenta Germaniae Historica, Leges. MGH SS: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores. MIÖG: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung. PD Hist. Lang.: Wolfgang F. Schwarz (Hg. u. Übers.), Paulus Diaconus, Geschichte der Langobarden – Historia Langobardorum, Darmstadt 2009. QBG: Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte. QFIAB: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. QuE NF: Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, Neue Folge. RGA: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. RU: Churrätisches Reichsgutsurbar, ediert in BUB I, 375–396. TUB I, 1: Franz Huter (Bearb.), Tiroler Urkundenbuch 1. Abt.: Die Urkunden zur Geschichte des deutschen Etschlandes und des Vintschgaus, Bd. 1: Bis zum Jahre 1200, Innsbruck 1937. VuF: Vorträge und Forschungen. ZBLG: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. 458 EPILOG Annäherung an die Gründungsumstände des Klosters Müstair Arbeitshypothese Unter Berücksichtigung der räumlichen Funktion wie überregionaler politischer Zusammenhänge ergaben sich teilweise neue Perspektiven für Churrätien im 8. Jh.: 1. Churrätien gehörte definitiv seit Ende des 6. Jh. zum Reich der Franken. Trotz der neuen Ausrichtung nach Norden wirkte die spätantike Verbindung mit Italien aber nach und ist mindestens in der Zugehörigkeit zum Metropolitansprengel von Mailand weiter offensichtlich. Das beförderte eine doppelseitige Orientierung des rätischen Passraums. Die Mächtigen in Chur (Zacconen-Victoriden) pflegten Verbindungen nach Süden ins Langobardenreich ebenso wie nach Norden in die Alemannia. 2. Die südlichen und südöstlichen Grenzen Churrätiens (inkl. Vinschgau) waren Außengrenzen des fränkischen Reichs gegenüber dem byzantinisch-langobardisch-päpstlichen Italien. Aus diesem Grund besaß der rätische Raum im 8. Jh. nicht nur eine pass-, sondern vor allem auch eine grenzpolitische Bedeutung. Das gilt besonders für den Vinschgau, von dem aus der Zugang zum mittleren Etschtal Richtung Verona kontrolliert werden konnte, wie auch der Übergang über die vielen kleinen Pässe nach Süden, Westen und Norden. Daher wurde – wohl zu Beginn des 7. Jh. – die Straßenorganisation der Reschenstraße in eine militärische Grenzraumorganisation umgewandelt, die den Victoriden in Chur unterstellt wurde. Sie bildete ein Gegenstück zu den langobardischen Arimannensiedlungen der südlich vorgelagerten Täler Veltlin und Val Camonica. Dem Reschenweg kam von da an keine Fernverkehrsbedeutung mehr zu, wie auch der Untergang der alten Strukturen im Außerfern belegt. 3. Die strategisch wichtige Lage des Vinschgaus am Rande des churrätischen Machtbereichs führte dazu, dass dieser im Rahmen überregionaler Konflikte (fränkische Sukzessionskrise nach 714) okkupiert wurde, zuerst von den Baiern unter Herzog Grimoald, danach von den Langobarden unter Liutprand (Arbeo, Vita Corbiniani / Paulus Diaconus, Hist. Langobardorum). Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Langobarden den Vinschgau, der für sie von höchstem passpolitischem Interesse war, bis 773/4 wieder aufgegeben hätten, wie umgekehrt keinen für erneute bairische Präsenz. 4. Wenn die Franken in Italien agieren wollten, musste die Sicherheit des rätischen Passraumes in ihrem Rücken gewährleistet sein. Indizien weisen darauf hin, dass schon Pippin der Jüngere parallel zur Verschlechterung der Beziehungen zum Langobardenreich nach dem Tod König Liutprands in Rätien eingriff, indem er das Amt des praeses einzog und Chur mit einem Treuevertrag band. Ähnlich war die Situation nach dem Tod Pippins 768 für seine Söhne. Spätestens nachdem Karl die langobardische Königstochter zurückgewiesen und Desiderus die Witwe Karlmanns mit IRMTRAUT HEITMEIER ZUR GRÜNDUNG DES KLOSTERS 459 ihren Söhnen als gefährliches Unterpfand besaß, war eine Reaktion Karls zu erwarten und zwar erneut erst in Rätien und dann in Italien. 5. Das bedeutete, dass Desiderius der Verlust des Vinschgaus drohte, während die Victoriden mit Bischof Tello als Exponenten – er muss keineswegs der letzte seiner Sippe gewesen sein – mit ihrer vollständigen Entmachtung, insbesondere auch im Vinschgau, rechnen mussten. Entsprechend den zahlreichen Klostergründungen im Langobardenreich in den letzten Jahrzehnten seiner Unabhängigkeit war auch im Vinschgau eine solche das Mittel der Wahl, um gefährdeten Besitz, insbesondere Königsgut, als Kirchengut vor einem direkten Zugriff Karls zu sichern. Daraus ergibt sich die These, dass die Gründungsinitiative für Müstair gemeinsam vom langobardischen Königtum (Desiderius) und vom Bischof von Chur (wohl noch Tello) ausging, die das Kloster mit Fiskalgut und victoridischem Besitz und Herrschaftsrechten im Vinschgau und Engadin ausstatteten und möglicherweise auch den Baubeginn noch einleiteten. Die Kirche wurde aber erst unter der Herrschaft Karls des Großen und Bischof Constantius’ von Chur fertiggestellt (Dendrodatum). Da auch für Karl die Position im Münstertal im Rücken der ehemaligen langobardischen Grenzorganisation enorme strategisch-militärische Bedeutung zur Sicherung und Refrankisierung des rückeroberten Raumes besaß, gibt das weiter zu der Annahme Anlass, dass die Bedeutung Müstairs in seinen Anfängen die eines militärischen Zentrums war. 460