TRI ALOG 12 0 / 12 1
Zeitschrift für das
Planen und Bauen
im globalen Kontext
November/Dezember 2015
1-2 / 2015
RaumPlanung
Globaler Süden – Global South
Fachzeitschrift für räumliche Planung und Forschung
Titelfoto: © Daphne Frank
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e.V.
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RaumPlanung 182 / 6-2015
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Globaler Süden – Global South
1975 – 2015
Call for Papers
Themenschwerpunkt für RaumPlanung 3-2016
Freiraumqualität
Urbane Freiräume sind essentiell für die Wohn- und Lebensqualität in der Stadt. Vor allem die vielfältigen Beiträge von
Grünräumen werden durch zahlreiche Studien belegt. Trotz
eines grundlegenden Konsenses um die Bedeutung von Freiräumen und Stadtgrün fordern übergeordnete Fragen der
Stadtentwicklung immer wieder nach passenden, möglicherweise neuen Antworten in der (kommunalen) Praxis. Freiräume sollen heute mehr können denn je, sie sollen Quartiere in
schrumpfenden Städten stabilisieren, den Klimawandel abpuffern, Raum für unterschiedliche Aneignungspraktiken bieten,
das soziale Miteinander befördern, Stadtnatur beheimaten,
Ausdruck unserer Baukultur sein und in den dichter werdenden Städten all dies und noch mehr am besten an einem Ort.
Wie sehen praxistaugliche Antworten auf diese vielfältigen Anforderungen aus? Welche Qualitäten wollen wir, welche benötigen wir heute wo und warum und woran messen wir diese
Qualitäten? Gibt es auch darüber einen Konsens?
Für das Themenheft ‚Freiraumqualität‘ suchen wir Beiträge, die
diese grundlegenden Fragen kritisch beleuchten. Von Interesse
sind normative Überlegungen zu Freiraumqualitäten, methodische Ansätze zur Untersuchung bestehender Qualitäten und Berichte, wie angestrebte Qualitäten in der Praxis umgesetzt und
erhalten werden können.
Besonders willkommen sind Beiträge, die folgenden Fragen
nachgehen:
n Welche Bewertungsansätze von Freiraumqualität gibt
es? Was sind unsere Maßstäbe? Haben Richtwerte endgültig ausgedient oder gibt es neue Antworten darauf?
Wie finden aktuelle Forderungen, etwa die nach Umweltgerechtigkeit darin Ausdruck?
n Gibt es regional und sozialräumlich unterschiedliche
Definitionen von Freiraumqualität und Freiraumversorgung? Unter welchen stadträumlichen Voraussetzungen stellt man überhaupt Überlegungen zur Freiraumversorgung an? Wie gehen landschaftlich privilegierte
Regionen mit dem Thema um?
n Wie lassen sich erwünschte und möglicherweise hart
‚erkämpfte‘ Qualitäten mittel- bis langfristig erhalten?
Welche spezifischen Qualitäten lassen sich über klassische Ansätze kommunaler Freiraumversorgung, welche über Koproduktion erreichen? Wer sind die Nutznießer/innen dieser spezifischen Qualitäten?
n Was bringen Untersuchungen realisierter Freiraumprojekte jenseits generalisierender Umfragen, etwa im
Sinne von ‚post-occupancy‘ Evaluationen zutage und
welche Konsequenzen ziehen wir daraus?
n Erzeugen Mehrfachnutzung und Multifunktionalität
– neben der Flächenersparnis – einen Mehrwert bzw.
wie lässt sich ein solcher erreichen und wo zeigen sich
Grenzen der Funktionsüberlagerung?
n Welche Ansprüche haben wir an das Erscheinungsbild?
Wieviel von Fachleuten produzierte Baukultur und wieviel selbstgemachte Stadt wollen wir oder ist die neue
Baukultur die der selbstgemachten Stadt?
n Welche Rolle spielen Überlegungen zu Freiraumqualitäten und Freizeitmöglichkeiten in den derzeitigen
Debatten um die Suche nach geeigneten Flüchtlingsunterkünften?
Beiträge aus Forschung und Praxis sind gleichermaßen willkommen!
Peer Review Verfahren
In der RaumPlanung können als Zusatzangebot auch Beiträge
aufgenommen werden, die ein Peer Review-Verfahren nach internationalem Standard (Doppel-Blind-Verfahren) durchlaufen
haben. Nähere Informationen finden sich auf der IfR-Website
unter http://www.ifr-ev.de/index.php?id=1043. Beiträge, die
das Peer Review-Verfahren durchlaufen haben, werden jeweils
einzeln als „Wissenschaftlicher Beitrag. Peer Reviewed“ gekennzeichnet.
Die eingereichten Beiträge sollten die formalen Anforderungen
des Autorenleitfadens einhalten. Dazu gehören insbesondere
Zusammenfassung/Abstract (300 bis 400 Zeichen) und fachbezogene Schlüsselwörter/Keynotes (deutsch/englisch). Hinweise auf die Identität der Verfasser sind nicht zulässig.
Das Heft RaumPlanung 3-2016 erscheint zum 31. Mai 2016. Bitte reichen Sie Ihre Vorschläge für den Themenschwerpunkt als
Abstract bis zum 15. Dezember 2015 ein. Eine Benachrichtigung
über die Annahme wird bis zum 5. Januar 2016 erfolgen. Der
akzeptierte Beitrag muss bis spätestens 31. Januar 2016 über
die IfR-Geschäftsstelle (peer@ifr-ev.de) eingehen.
Informationskreis für Raumplanung (IfR) e. V. – Geschäftsstelle – Redaktion RaumPlanung
Gutenbergstraße 34 – 44139 Dortmund – peer@ifr-ev.de – www.ifr-ev.de
Editorial
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
liebe IfR-Mitglieder, liebe Mitglieder von TRIALOG
Mit diesem Heft zum Themenschwerpunkt „Globaler Süden. Leben in Städten“
halten Sie eine Gemeinschaftsproduktion zweier Fachzeitschriften in den Händen: RaumPlanung Heft 6-2015 ist zugleich TRIALOG Heft 1-2/2015. Themenschwerpunkt und Cover verweisen auf die „Third United Nations Conference
on Housing and Sustainable Urban Development“: Nach Habitat I in Vancouver
(1976) und Habitat II in Istanbul (1996) folgt im Oktober 2016 der dritte Weltsiedlungsgipfel in Quito (Ecuador).
With this thematic review focusing on “Global South. Living in Cities“ you look
at the outcome of a cooperation between two scientific journals. Issue 6-2015 of
RaumPlanung is at the same time issue 1-2/2015 of TRIALOG. All contributions are
in German, but you will find English summaries at the end of most articles. Cover
and topic refer to the “Third United Nations Conference on Housing and Sustainable
Urban Development“. Following the Habitat I summit in Vancouver (1976) and the
Habitat II summit in Istanbul (1996), the third global Habitat conference will take
place in Quito (Ecuador) in October 2016.
Als wir diesen Themenschwerpunkt vor etwa einem Jahr konzipiert hatten,
konnten wir nicht ahnen, dass sich manche der hier geschilderten Probleme
so schnell auf andere Weltgegenden ausbreiten würden. Inzwischen leben in
Europa unzählige Migranten in Massenunterkünften oder sogar in Zelten ohne
ein festes Dach über dem Kopf. Die Lebensverhältnisse von Süd und Nord gleichen sich auf unerwartete Weise an. Auch in Europa benötigen wir eine auf
wachsende Städte ausgerichtete nachhaltige Siedlungsentwicklung.
Dieser Versuch einer Kooperation zweier Vereine könnte für die RaumPlanung beispielhaft sein. Im Jahr 2011 wurde eine Fusion der beiden Planerverbände IfR und SRL bis zum Jahr 2016 beschlossen. Nun steht dieses Zieljahr
vor der Tür und der Weg in eine gemeinsame verbandspolitische Zukunft der
Stadt- und Raumplaner sollte zügig und offen angegangen werden. Dabei
wird auch Neuland betreten ... so wie mit dieser Gemeinschaftproduktion
vom RaumPlanung und TRIALOG.
Wir wünschen Ihnen schon jetzt einen erfolgreichen Jahresausklang 2015, auch
wenn in den nächsten Wochen noch viel Arbeit ansteht.
Dr. Ronald Kunze
Vorsitzender des IfR e.V.
Klaus Teschner
Vorstand TRIALOG
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Globaler Süden
Schwerpunkt
Rubriken
4 Daphne Frank, Wolfgang Scholz:
Facheditorial
6 Daphne Frank, Wolfgang Scholz:
Facheditorial Englisch
10 Michael Kolocek:
Das Menschenrecht auf Wohnen
16 Kathrin Golda-Pongratz:
Neue städtische Identitäten
der Selbstbaustadt
24 Gerhard Kienast:
Mandelas Versprechen
32 Antje Ilberg:
Umsetzung einer
integrativen Wohnpolitik
40 Raffael Beier,
Mariana A. Vilmondes Alves:
Die Dominanz des Quantitativen
54 Birgit Haupter, Peter Heiland,
Jakob Doetsch:
Die klimaangepasste Stadt in
Schwellenländern
60 Dirk Heinrichs, Aline Delatte:
Urbanisierung und
städtische Mobilität
66 Malve Jacobsen:
Schnellbusse auf
der Überholspur
RaumPlanung 182 / 6-2015
80 Notizen
81 Campus
Frankfurt University
of Applied Sciences
BMBF-Fördermaßnahme
Nachhaltiges Landmanagement
Perspektiven im Berufsfeld Stadt-,
Regional- und Landesplanung
86 Rezensionen
Weitere Themen
74 Constance Carr, Evan McDonough,
Rainer Telaar:
Integration als konzeptioneller
Baustein und Widerspruch der
nachhaltigen Raumplanung
46 Ariana Fürst, Christoph Woiwode:
Anpassung an Überschwemmungen in Chennai
4
3 Editorial
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87 IfR Intern
89 Kalender
90 Impressum
TRI ALOG
Global South
Special issue
4 Daphne Frank, Wolfgang Scholz:
Editorial
6 Daphne Frank, Wolfgang Scholz:
Editorial
Columns
54 Birgit Haupter, Peter Heiland,
Jakob Doetsch:
Climate Adaptation in Cities in
Emerging Countries
3 Editorial
80 Notes
10 Michael Kolocek:
The Human Right to Housing
60 Dirk Heinrichs, Aline Delatte:
Urbanisation and Urban Mobility
16 Kathrin Golda-Pongratz:
New Urban Identities in the
self-help City
66 Malve Jacobsen:
Bus Rapid Transportsystem on the
24 Gerhard Kienast:
Mandelas Promise
32 Antje Ilberg:
Implementation of an Integrative
Housing Policy
40 Raffael Beier,
Mariana A. Vilmondes Alves:
The Dominance of the Quantitative
Fast Track
81 Campus
Frankfurt University
of Applied Sciences
BMBF-Fördermaßnahme
Nachhaltiges Landmanagement
Perspektiven im Berufsfeld Stadt,
Regional- und Landesplanung
86 Reviews
Further Topics
74 Constance Carr, Evan McDonough,
Rainer Telaar:
Integration as Conceptual Component and Contradiction of a Sustainable Planning
87 IfR Intern
89 Calendar
90 Impressum
46 Ariana Fürst, Christoph Woiwode:
Adaptation to Flooding in Chennai
Hinweis: Aus Gründen der Lesegewohnheit und der sprachlichen Vereinfachung wird bei Personen die männliche
Substantivform verwendet, wenn keine geschlechtsneutrale Formulierung möglich ist. Gemeint sind immer beide Geschlechter.
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Globaler
Süden
F
ür Stadt- und Raumplaner klingt es wie ein alter Hut,
aber erst jetzt scheint es in der deutschen und internationalen Realität angekommen zu sein: Urbanisierung
ist eine DER großen internationalen Herausforderungen.
Das Phänomen ist nicht neu - es hält seit Jahrzehnten weltweit ungebrochen an, die Urbanisierung erreicht nun jedoch eine nie dagewesene Dynamik. Eine magische Grenze
ist Anfang des neuen Jahrtausends gefallen: Erstmals in der
Geschichte der Menschheit lebte mehr als die Hälfte der
Weltbevölkerung in Städten. Laut UN-Prognosen werden im
Jahr 2050 70 % der Menschheit in Städten leben. Gut 90 %
dieses Wachstums findet in afrikanischen und asiatischen
Entwicklungs- und Schwellenländern statt, insbesondere
in kleinen und mittleren Städten und nicht in den oft rezitierten Megastädten (UN 2014 http://esa.un.org/unpd/wup/
Highlights/WUP2014-Highlights.pdf).
Das enorme Bevölkerungswachstum bedeutet für die
meisten Städte wirtschaftlichen Aufbruch. Städte sind
Motoren für Wachstum, Entwicklung und Innovation. Der
Löwenanteil der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung erfolgt in den städtischen Ballungsräumen. Es besteht ein
positiver Zusammenhang zwischen Urbanisierung und
Pro-Kopf-Einkommen, sowie Armutsreduzierung. Das
Städtewachstum erfolgt in Entwicklungs- und Schwellenländern jedoch meist unkontrolliert und mit hoher Geschwindigkeit. Dabei entstehen u. a. dicht bebaute informelle Siedlungen. Für 2013 geht die Schätzung von UN
Habitat von 863 Millionen Menschen aus, die in Slums
leben. (http://unhabitat.org/wp-content/uploads/2014/07/
WHD-2014-Background-Paper.pdf). Slums und informelle
Siedlungen bieten jedoch auch Lebens- und Wohnraum
für die ärmere Bevölkerung und schaffen Einkommensquellen. In den meisten Fällen ist das Leben in einer informellen Siedlung in der Stadt noch immer besser als
auf dem Land, hinsichtlich der Versorgung mit Wasser,
Strom, Gesundheit und Telekommunikation.
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Urbanisierung bedeutet aber nicht nur physische Veränderung, sondern auch Veränderung von sozialen Gefügen
und politischen Kräfteverhältnissen. In den Städten entscheiden sich weltweit auch Fragen der sozialen Entwicklung, der Regierbarkeit, der Sicherheit, der Nachhaltigkeit
und der politischen Teilhabe. Der steigende Bedarf führt
zu Problemen, genügend adäquaten Wohnraum mit Infrastruktur und den Basisdienstleistungen zu schaffen und
zugleich die soziale Ungleichheit und räumliche Segregation zu reduzieren. Hinzu kommen die neuen Herausforderungen des Klimawandels. Städte und Stadtregionen
sind für über 70 % der weltweiten CO2-Emmissionen verantwortlich. Sie verbrauchen laut UNEP zwei Drittel der
natürlichen Ressourcen (UNEP 2011: http://www.unep.org/
greeneconomy/Portals/88/documents/ger/GER_12_Cities.
pdf). Sie müssen sich aber gleichzeitig auch an die Auswirkungen des Klimawandels anpassen. Wie können diesen Herausforderungen mit begrenzten Kapazitäten und
finanziellen Ressourcen begegnet werden? Wie können
der rapide wachsenden Bevölkerung adäquater Wohnraum, Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen unter Einhaltung der Menschenrechte und der nachhaltigen
Entwicklung bereitgestellt werden?
Die globalen Nachhaltigkeitsziele/Sustainable Development Goals (SDGs), die im September 2015 im Rahmen
des UN Gipfels verabschiedet wurden, thematisieren
bereits einen Teil dieser Fragen. In den Unterzielen und
Indikatoren ist die urbane Dimension als eigenständige
Zieldefinition prominent verankert: „Städte inklusiv, sicher, resilient und nachhhaltig gestalten“. Die Umsetzung
der SDGs auf der lokalen Ebene ist Kern des im Oktober
2016 in Quito (Ecuador) stattfindenden 3. Weltgipfels der
UN zum Siedlungswesen und nachhaltiger Stadtentwicklung (Habitat III). Die Konferenz wird eine nachhaltige urbane Entwicklung auf die globale Ebene setzen und eine
gemeinsam entwickelte universell gültige neue Städtea-
Facheditorial
Vor diesem Hintergrund setzt dieses Themenheft an und
zeigt beispielhaft Problemlagen und Lösungsansätze in
Städten in Lateinamerika, Asien, Afrika sowie Südosteuropa auf. Michael Kolocek beginnt das Heft mit einer kritischen Auseinandersetzung des Menschenrechts auf Wohnen und wie dieses in den letzten Dekaden unterschiedlich
diskutiert und bewertet wurde. Für ihn ist klar, dass es
„nicht die eine globale Strategie zur Gewährleitung des
Menschenrechts auf Wohnen gibt – und auch nicht geben
kann“. Kathrin Golda-Pongratz schließt sich mit einer Auseinandersetzung mit städtischer Identität in schnell wachsenden Städten Lateinamerikas auseinander und zeigt
über Beispiele auf, wie diese “Quartiersaufwertungsprozesse und eine nachhaltige Konsolidierung“ unterstützen
können. Gerhard Kienast untersucht mit Mandelas Versprechen „Land und Wohnungen für alle“ die südafrikanische Wohnungspolitik, die sich ambitionierte Ziele gesetzt
hatte und vollzieht die Schwierigkeiten in der Umsetzung.
Mobilität führen können“ und folgert, dass sie nur ein
Baustein von vielen sein können.
Alle Beiträge zeigen Verknüpfungen zu den Nachhaltigkeitszielen und deren Umsetzung auf sowie Ideen, wie eine
New Urban Agenda in Zukunft aussehen kann. Die Themen
Wohnraumversorgung, Anpassung an den Klimawandel und
Mobilität sind auch für Städte des Globalen Nordens von
Bedeutung und ermöglichen so einen Austausch von Ideen.
© Heiko Bogun, Buenos Aires
genda (New Urban Agenda) vorlegen. Es gilt in erster Linie, die weitreichende globale Urbanisierung als Chance
zu begreifen.
Antje Ilberg untersucht am Beispiel Ruanda dessen neue
Wohnpolitik, die ansprechende Ansätze aufweist aber
auch Hindernisse in der Förderpolitik beinhaltet. Raffael
Beier und Mariana Vilmondes schließen sich mit einem
Vergleich der drei Ländern Brasilien, Marokko und Südafrika an, die alle in ihrer Verfassung das Recht auf Wohnen
aufnahmen, in der konkreten Umsetzung jedoch scheiterten. Ariana Fürst und Christoph Woiwode zeigen anhand
der indischen Stadt Chennai die Schwierigkeiten und
Konfliktlinien auf, wenn ein technisch geplanter Hochwasserschutz die Umsiedlung ärmerer Bevölkerungsgruppen bedingt und Anpassungsstrategien der Bewohner
selbst nicht berücksichtigt werden. Birgit Haupter, Peter
Heiland, Jakob Doetsch beschäftigen sich in den Städten
Südosteuropas in Tirana, Podgorica und Belgrad mit der
Frage, wie die Folgen des Klimawandels wie z. B. Hitzewellen und Überschwemmungen „in allen städtischen
Entscheidungen ausreichend berücksichtigt“ werden. Für
sie ist „Klimaanpassung eine Querschnittsaufgabe“.
Die folgenden beiden Artikel widmen sich dem wichtigen Thema Transport und Mobilität. Dirk Heinrichs und
Aline Delatte zeigen anhand der Städte Sao Paolo und
Medellín konkrete Strategien und Lösungsansätze auf,
die allerdings nur mit dem „politische Willen und lokalen Engagement der Entscheidungsträger“ umsetzbar
sind, aber „fundamentale Einschränkungen der Bewohner informeller Siedlungen hinsichtlich des verfügbaren
Mobilitätsbudgets und der Bezahlbarkeit von Verkehrsangeboten nicht beseitigten können.“ Malve Jacobson
diskutiert anhand des Bus Rapid Transport System in Dar
es Salaam Chancen und Risiken des Projektes. Sie fragt
„ob BRT Systeme in wachsenden Städten des Globalen
Südens auch für arme Bevölkerungsschichten zu mehr
Daphne Frank, 1969, IfR, Trialog,
Dr. rer. pol., Architektin und Stadtplanerin,
Deutsche Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit - GIZ, Eschborn
Wolfgang Scholz, 1964, IfR, Trialog,
Dr.-Ing., Lehrstuhlvertretung
International Planning Studies,
Fakultät Raumplanung,
TU Dortmund
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Global
South
A
lthough it may sound old hat for urban and spatial
planners, it seems that the fact that urbanisation is
one of THE great international challenges is only now
being accepted as reality, both in Germany and internationally. The phenomenon is not new – it has been continuing
unabated for decades all over the world, but it has now
achieved an unprecedented dynamism. A magical threshold was surpassed at the beginning of the new millennium,
when for the first time in the history of humankind more
than half of the world's inhabitants lived in cities. The UN
forecasts that by 2050 70% of humankind will live in cities. A good 90% of this growth is occurring in African and
Asian developing and emerging countries, in particular in
small and medium-sized urban areas rather than in the often
citied megacities (UN 2014 http://esa.un.org/unpd/wup/Highlights/WUP2014-Highlights.pdf).
For most cities the enormous growth in population involves
an economic upswing. Cities are the engines of growth, development and innovation. The lion's share of added value in
the economy is created in the urban agglomerations. There is
a positive correlation between urbanisation and income per
capita, as well as between urbanisation and poverty reduction. However, in developing and emerging countries urban
growth is usually uncontrolled and occurs at high speed. This
involves the development of densely built informal settlements. UN Habitat estimates suggest that in 2013 there were
863 million people living in slums (http://unhabitat.org/wpcontent/uploads/2014/07/WHD-2014-Background-Paper.pdf).
Yet slums and informal settlements also provide living and
dwelling space for poor population groups and create sources
of income. In terms of supplies of water, electricity, health
services and telecommunications, life in an informal urban
settlement is still usually better than life in the countryside.
Urbanisation involves not only physical changes but also
changes in social structures and the political balance of po-
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wer. Throughout the world, cities are the places where questions of social development, governability, security, sustainability and political participation are decided. The increase
in demand leads to problems in providing enough adequate
housing with infrastructure and basic services, while also
ensuring that social inequalities and spatial segregation are
reduced. In addition there are the new challenges caused
by climate change. Cities and urban regions are responsible
for over 70% of worldwide CO2 emissions. According to the
UNEP, they consume two-thirds of natural resources (UNEP
2011:
http://www.unep.org/greeneconomy/Portals/88/documents/ger/GER_12_Cities.pdf). At the same time, however,
they still have to adapt to the effects of climate change. How
can these challenges be tackled with limited capacities and
financial resources? How can the rapidly growing population
be provided with adequate housing, infrastructure and public services while respecting human rights and complying
with the requirements of sustainable development?
The global Sustainable Development Goals (SDGs), which
were passed in the course of the UN summit of September
2015, discussed some part of these issues. The urban dimension is given prominence in the targets and indicators as
an independently defined objective: "Make cities inclusive,
safe, resilient and sustainable". The implementation of the
SDGs on the local scale is at the heart of the Third United
Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development (Habitat III) to be held in October 2016 in Quito
(Ecuador). The conference will place sustainable urban development on the global scale and present a jointly developed and universally valid New Urban Agenda. The priority
is to understand far-reaching global urbanisation as an opportunity, and to implement this understanding in practice.
This special issue has been compiled against this background and discusses, by way of example, problems and
solution approaches in cities of Latin America, Asia, Africa
Facheditorial
© Heiko Bogun, Frankfurt am Main
and South-East Europe. Michael Kolocek opens the issue
with a critical analysis of the human right to housing and
how this has been variously discussed and evaluated in recent decades. It is clear to Kolocek that there neither is nor
can be "the one global strategy to guarantee the human right
to housing". Kathrin Golda-Pongratz then examines urban
identity in fast-growing cities in Latin America and uses case
studies to illustrate how this can support "neighbourhood
upgrading processes and sustainable consolidation". Gerhard
Kienast investigates South African housing policy, which
with Mandela's promise of "land and housing for all" set itself ambitious goals that are proving difficult to implement.
Antje Ilberg investigates the new housing policy of Ruanda,
which is characterised by appealing approaches but is experiencing hindrances in funding policies. Raffael Beier and
Mariana Vilmondes follow with a comparison of the three
countries Brazil, Morocco and South Africa, all of which included the right to housing in their constitutions but are failing when it comes to the concrete implementation of that
right. Ariana Fürst and Christoph Woiwode use the example
of the Indian city of Chennai to demonstrate the difficulties
and conflicts that arise when a technically planned flooding
protection scheme requires the resettlement of poorer population groups and the adaptation strategies of the inhabitants themselves are not considered. Birgit Haupter, Peter
Heiland and Jakob Doetsch are concerned with how the consequences of climate change, such as heat waves and flooding, are "sufficiently considered in all urban decisions" in
the South-East European cities of Tirana, Podgorica and Belgrade. They see climate adaptation as a "cross-sectoral task".
The next two articles are dedicated to the important topics
of transport and mobility. Dirk Heinrichs and Aline Delatte
use the cities of Sao Paolo and Medellín to present concrete
strategies and solution approaches, which can only be implemented with the "political will and local engagement of
the decision makers" but which "cannot eradicate the fundamental restrictions experienced by residents of informal
settlements in terms of the available mobility budget and the
affordability of transport provision". Malve Jakobson discusses the opportunities and risks of the Bus Rapid Transport
System in Dar es Salaam. She asked "whether in the growing
cities of the Global South BRT systems can lead to increased
mobility also for poor sections of the population" and concludes that they can only be one element among many.
All the papers demonstrate links to the Sustainable Development Goals and their implementation, and explore ideas
about possibilities for a New Urban Agenda of the future.
The topics of housing provision, adaptation to climate
change and mobility are also of significance for the cities of
the Global North and thus allow an exchange of ideas.
Daphne Frank, 1969, IfR, Trialog,
Dr. rer. pol., Architektin und Stadtplanerin,
Deutsche Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit - GIZ, Eschborn
Wolfgang Scholz, 1964, IfR, Trialog,
Dr.-Ing., Lehrstuhlvertretung
International Planning Studies,
Fakultät Raumplanung,
TU Dortmund
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© Belfast; Michael Kolocek 2011
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Wissenschaftlicher Beitrag. Peer reviewed.
Michael Kolocek
Das Menschenrecht
auf Wohnen
Interpretationen im globalen Kontext
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
(AEMR) sowie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (kurz:
UN-Sozialpakt) schützen das Recht auf Wohnen.
Gleichwohl ist angemessenes Wohnen für viele
Menschen weltweit alles andere als selbstverständlich. Der Beitrag betrachtet Wohnen im globalen
Kontext und diskutiert die Fragen: Wie haben die
Mitgliedsstaaten des UN-Sozialpakts das Recht auf
Wohnen interpretiert und wie hat sich die globale
Wahrnehmung in den vergangenen Jahrzehnten
verändert? Welche Rolle spielt Bodenpolitik bei der
Verwirklichung des Menschenrechts auf Wohnen?
Michael Kolocek, 1984,
Dipl.-Ing. Raumplanung, Wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Lehrstuhl
Bodenpolitik, Bodenmanagement, kommunales
Vermessungswesen, Fakultät Raumplanung, TU
Dortmund. Mitarbeiter im
Forschungsprojekt FLOOR
(www.floorgroup.de)
W
eltweit leben über eine Milliarde Menschen in unangemessenen Wohnverhältnissen (Kothari 2005; Neuwirth 2006). Die Zahl mag beeindrucken, vielleicht
sogar frustrieren. Dabei ist keineswegs eindeutig, was unangemessenes Wohnen im globalen Kontext eigentlich bedeutet.
Zahllose globale, nationale und lokale Akteure sowie Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachdisziplinen haben in den
letzten Jahrzehnten über das Menschenrecht auf Wohnen kontrovers diskutiert. Konsens besteht zumindest darüber: Wohnen
ist ein global anerkanntes und gleichzeitig häufig verletztes
Menschenrecht (Artikel 25 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, kurz: AEMR). Die AEMR hat keinen rechtsverbindlichen
Charakter, sondern war der Ausgangpunkt für viele internationale und regionale Menschenrechtsverträge. Die beiden umfassendsten Verträge sind der Internationale Pakt über bürgerliche
und politische Rechte (kurz: UN-Zivilpakt) sowie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
(kurz: UN-Sozialpakt). Artikel 11 des UN-Sozialpakts behandelt
Unterbringung (mittlerweile ist der Begriff „[angemessenes]
Wohnen“ gebräuchlicher) als eine Säule des Menschenrechts
auf einen angemessenen Lebensstandard: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen
Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich
ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen“.
Für die Gewährleistung eines angemessenen Lebensstandards
ist der Zugang zu Boden unerlässlich (B. Davy 2009). Bodenpolitik und Wohnungspolitik sind eng miteinander verwoben,
schließlich ist die Verfügbarkeit von Boden unmittelbare Voraussetzung für einen funktionierenden Wohnungsmarkt (Angel 2000: 192). Einige Autoren sehen in der Legalisierung von
informellen Wohn- und Eigentumsformen (land titling) insbesondere für Staaten des globalen Südens einen Schlüssel zur
Gewährleistung eines angemessenen Lebensstandards (de Soto
2000; Deininger 2003). Andere wiederum kritisieren diese
Formalisierungspolitik scharf (Davis 2003; Payne et al. 2009;
Neuwirth 2011). Der vorliegende Beitrag untersucht, wie die
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Michael Kolocek
Das Menschenrecht auf Wohnen
Mitgliedsstaaten des UN-Sozialpakts sowie der Ausschuss
für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte
(kurz: UN-Fachausschuss) das Menschenrecht auf Wohnen in
den vergangenen vier Jahrzehnten interpretiert haben. Dabei
stellt er die Bedeutsamkeit von Bodeneigentum und Bodennutzungsrechten für das Menschenrecht auf Wohnen heraus.
Der UN-Sozialpakt als Ressource
für globale Diskursanalysen
Der UN-Sozialpakt ist einer der beiden zentralen Menschenrechtsverträge. Beide Verträge wurden nach zähen Verhandlungen (Buschmann 2013) 1966 beschlossen und sind
zehn Jahre später 1976 unabhängig voneinander in Kraft
getreten. Die im UN-Sozialpakt erklärten wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte (kurz: WSK-Rechte) umfassen Arbeiterrechte (Artikel 6 bis 8), das Recht auf
soziale Sicherheit und Versicherungsschutz (Artikel 9), Familienrechte (Artikel 10), das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Artikel 11), das Recht auf Gesundheit
(Artikel 12) sowie Bildungsrechte (Artikel 13 und 14) und
kulturelle Rechte (Artikel 15). Jahrelang hat der UN-Sozialpakt eine im Vergleich zu den bürgerlichen und politischen
Rechten untergeordnete Rolle in Menschenrechtsdiskursen
gespielt. WSK-Rechte wurden weniger als einforderbare
Rechte des Individuums als vielmehr als völkerrechtliche
Verpflichtungen der Vertragsstaaten angesehen (Henkin
1979; Schneider 2004) und waren bis 2013 auf UN Ebene
nicht einklagbar. Mittlerweile sind WSK-Rechte allgemein
anerkannt und von zunehmender Bedeutung in globalen
Sozialpolitikdiskursen (U. Davy 2014; Leisering et al. 2015)
sowie für das Leitbild „Global Social Citizenship“ (B. Davy
et al. 2013). Derzeit haben 164 Staaten (Stand: 22. Mai 2015)
den UN-Sozialpakt ratifiziert. Die Überwachung des UNSozialpakts erfolgt über ein Berichtsverfahren (Artikel 16 ff.
UN-Sozialpakt). Jeder Mitgliedsstaat hat sich verpflichtet,
alle fünf Jahre dem UN-Fachausschuss über den Fortschritt
bei der Verwirklichung dieser dem Vertag zugrunde liegenden Rechte Bericht zu erstatten. Nach einer gemeinsamen
Erörterung eines Staatenberichts (State Party Report) erarbeitet der UN-Fachausschuss abschließende Bemerkungen
(Concluding Observations) über den Fortschritt und die
Missstände bei der Verwirklichung der UN-Sozialpaktrechte
(Schneider 2004: 12). Auch Nichtregierungsorganisationen
können in sogenannten Schattenberichten (Shaddow Reports) Stellung nehmen. Des Weiteren verfasst der UN-Fachausschuss jährlich allgemeine Empfehlungen (General Comments) zu den Inhalten einzelner WSK-Rechte, bestimmten
Zielgruppen oder dem Berichtsverfahren. Im Rahmen des
Forschungsprojekts FLOOR (Financial Assistance, Land Policy, and Global Social Rights, www.floorgroup.de) hat Ulrike
Davy (Universität Bielefeld) alle Staatenberichte sowie die
abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschusses beschafft, digitalisiert und archiviert. Aufgrund der hohen Anzahl der zum Teil seit 1977 berichtenden Staaten ist eine einzigartige Datenbasis (FLOOR A) entstanden, die es erlaubt,
die globale Wahrnehmung der WSK-Rechte über einen Zeit-
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horizont von fast 40 Jahren zu analysieren. Diese Datenbasis war die Grundlage für Diskursanalysen der Interpretation des Menschenrechts auf Wohnen (Kolocek 2012; 2013).
Der vorliegende Beitrag diskutiert die Interpretation dieses
Menschenrechts in den vergangenen Jahrzehnten durch die
Mitgliedsstaaten des UN-Sozialpakts sowie den UN-Fachausschuss. Es wird deutlich: Die globale Wahrnehmung hat
sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Wohnen ist
ein komplexes Politikfeld und der ökonomische Druck auf
die Ressource Boden steigt.
1977–1989: Die große
Orientierungslosigkeit
Als die Mitgliedsstaaten Ende der 70er Jahre und in den
80er Jahren ihre ersten Berichte einreichten, herrschte noch
große Unsicherheit über den Inhalt des Menschenrechts
auf Wohnen. Die Staaten berichteten eher allgemein und
technokratisch über das Thema und präsentierten Statistiken über die Anzahl der durch staatliche Akteure erbauten
Wohnungen. Andere Akteure oder Themen wie Privatisierung, Zwangsvertreibungen oder informelle Wohnsiedlungen waren kaum präsent. Die Staaten berichteten über ihre
Bemühungen, Mängel auf Wohnungsmärkten durch Baumaßnahmen zu kompensieren. Nur wenige erwähnten Obdachlosigkeit, eher schon waren unangemessene Wohnverhältnisse in ländlichen Räumen im Fokus. Australien (1980:
Abs. 44) zum Beispiel beschrieb, wie der Staat durch konkrete eigene Baumaßnahmen und Fördermittel die Wohnsituation für Aborigines zu verbessern versuchte. Einige Staaten (Portugal 1983: Abs. 151; Polen 1980: Abs. 20) sprachen
über Urbanisierung im Kotext von Wohnen, die meisten anderen Staaten schenkten dem Thema urbanes Wohnen noch
wenig Beachtung. Bodenpolitische Maßnahmen, wie etwa
die Legalisierung von informellen Wohnsiedlungen oder anderweitige Änderungen der Eigentumsarrangements, spielten im Kontext Wohnen keine bedeutende Rolle. Insgesamt
wurden formelle Eigentumstitel häufiger im Zusammenhang mit dem Menschenrecht auf Nahrung im Agrarsektor
berichtet (Kolumbien 1988: Abs. 64-75).
1990–1999: Viele neue Sichtweisen
Erst seit den 90er Jahren wurden die Berichterstattung der
Staaten sowie die Empfehlungen des UN-Fachausschusses der
Komplexität des Themas Wohnen gerecht. Weltweit diskutierten die Staaten nun zahlreiche Formen von unangemessenem
Wohnen, wie etwa illegale oder informelle Wohnsiedlungen,
Slums und Obdachlosigkeit, nun häufiger im urbanen als im
ruralen Kontext. Hierbei wurde sichtbar, dass etwa Slums
oder informelle Wohnsiedlungen keineswegs ausschließlich
in Staaten des globalen Südens existierten. So berichtete
beispielsweise Spanien (1994: Abs. 101) über Slum-Distrikte
und Shantytowns und Portugal (1997: Abs. 44) über Slums.
Gleichzeitig wurde Obdachlosigkeit nicht nur in westlichen
Staaten als Wohnungsproblem wahrgenommen. Ein wesent-
Michael Kolocek
Das Menschenrecht auf Wohnen
ationen lebten, wurden zunehmend als Bürger mit individuellen Rechten, als citizens, wahrgenommen. Wohnen wurde
nun verstärkt unter dem Deckmantel der sozialen Ungleichheit diskutiert. Die Staaten betrachteten die Bekämpfung von
sozialer Exklusion von zum Beispiel obdachlosen Menschen
als ein neues wichtiges Handlungsfeld. Maßnahmenkataloge
für obdachlose Menschen zielten explizit auf eine Integration in die Gesellschaft durch Arbeit oder Bildungsmaßnahmen. Während Obdachlosigkeit folglich im Kontext anderer
sozialer Menschenrechte und Bedürfnisse (etwa Gesundheit,
Arbeit, Bildung) auf Ebene lokaler Wohnungspolitik diskutiert wurde, waren in den Maßnahmenbeschreibungen zur
Verbesserung der Wohnsituation in Slums und informellen
Wohnsiedlungen viel häufiger Developer, Banken sowie globale Akteure involviert. Die Integration der Bewohner von
Slums und informellen Wohnsiedlungen in die Gesellschaft
stand häufig unter dem Deckmantel ökonomischer Interessen. Der Boden wurde hier als ökonomische Ressource
betrachtet. Eigentumsformalisierungen und Mikrokredite
sollten die Integration in die formellen (Boden-)märkte und
© Michael Kolocek , 2010
licher Unterschied zwischen zum Beispiel afrikanischen und
europäischen Staatenberichten war jedoch, dass afrikanische
Länder viel häufiger obdachlose Kinder und Jugendliche ins
Zentrum ihrer Ausführungen nahmen (Sudan 1998: Abs. 61ff;
Libyen 1995: Abs.81). Des Weiteren waren nun private Wohnungsunternehmen, Developer, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und/oder Akteure auf lokaler Ebene viel häufiger involviert als noch in den 70er und 80er Jahren. 1991
veröffentlichte der UN-Fachausschuss seine erste allgemeine
Empfehlung (General Comment) mit dem Schwerpunkt Wohnen. Der Ausschuss beschrieb Wohnen im Kontext von sieben
Aspekten: Rechtssicherheit der Wohnverhältnisse, Verfügbarkeit von Infrastruktur, Finanzierbarkeit, Bewohnbarkeit,
Zugänglichkeit, Lage und kulturelle Angemessenheit (CESCR
1991: Abs. 8). Nach Ansicht von UN-Habitat (2009: 4) ist das
Menschenrecht auf Wohnen schon dann verletzt, wenn einer
der sieben Aspekte nicht erfüllt wird. Sowohl in den Staatenberichten als auch in den abschließenden Bemerkungen
und allgemeinen Empfehlungen des UN-Fachausschusses
(CESCR 1997) war die Rechtssicherheit der Wohnverhältnisse
ein dominantes Thema. Allen voran Lateinamerikanische Staaten wie etwa Argentinien
(1997: Abs. 193), Kolumbien (1994: Abs. 548)
oder Mexiko (1992: Abs. 201) propagierten
formelle Eigentumstitel am Boden (land titling) als geeignete Maßnahme zur Verbesserung der Wohnsituation in informellen/illegalen Wohnsiedlungen und Slums.
2000–2010: Angemessenes Wohnen
als Säule globaler Sozialpolitik
Um die Jahrtausendwende wandelte sich
die Wahrnehmung des Menschenrechts auf
Wohnen ein weiteres Mal. Wieder stieg die
Anzahl der erwähnten in Wohnungspolitik
involvierten Akteure. Neu war allerdings,
dass die Staaten zunehmend über Kooperationen verschiedenster Akteure sowohl auf
globaler als auch auf lokaler Ebene referierten. Das Politikfeld Wohnen wurde gleichzeitig lokaler und globaler. Immer mehr globale
Akteure wie zum Beispiel UN-Habitat oder
die Weltbank waren in die Maßnahmen zur
Verwirklichung von angemessenem Wohnen
involviert, insbesondere in Staaten Lateinamerikas. Ein weiteres Indiz für die globale
Orientierung ist die zunehmende Beachtung von Flüchtlingen und Asylsuchenden
im Kontext Wohnen. Wurden in der ersten
Periode (1977–1989) Flüchtlinge von 3 % der
berichtenden Staaten im Kontext Wohnen
diskutiert, so waren es im Zeitraum 2000 bis
2010 über 32 %. Auch die Aufmerksamkeit
gegenüber den Wohnbedürfnissen indigener
Völker oder Sinti und Roma stieg signifikant.
Menschen, die in ungemessenen Wohnsitu-
Abb. 1 und 2: Wohnen in Hamburg
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© Benjamin Davy 2011
Michael Kolocek
Das Menschenrecht auf Wohnen
Abb. 3: Township in Südafrika
folglich die Integration in die Gesellschaft ermöglichen. Ein
erster Blick in die Staatenberichte aus 2011 bis 2015 (eine
systematische Auswertung steht noch aus) zeigt, dass sich
die Entwicklungen aus der dritten Phase – neue Akteure und
Kooperationen auf lokaler und globaler Ebene, Wohnen im
Kontext weiterer Rechte und Bedürfnisse, wachsende Aufmerksamkeit für verschiedene Zielgruppen, Boden als ökonomische Ressource – fortgesetzt haben.
für andere Menschen selbstverständlich sind und üblicherweise in der eigenen Wohnung/Unterkunft befriedigt werden, wie etwa Schlafen, sich Erleichtern, Körperpflege, Essen
und Trinken, Sicherheit, Privatsphäre, Kommunikation. Wenn
nun aber aufgrund des ökonomischen Drucks auf den Boden
eine Eingliederung aller obdachlosen Menschen in formelle
Wohnungsmärkte unmöglich erscheint, dann sollten zumindest die Bedürfnisse anderswo befriedigt werden können.
Hierzu ist ein minimaler Zugang zum Boden unerlässlich:
„The scope and content of the right to minimal access to land
may vary and cannot be expressed in square meters or requirements for land rights formalization. Minimal access to
land comprises the individual right to all land uses which are
indispensable for a person to achieve an adequate standard
of living“ (Benjamin Davy 2011: 170). Es ist schlicht und ergreifend unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft alle von unangemessenem Wohnen betroffenen Menschen in formelle
Wohnungsmärkte integriert und so ihre Wohnungsprobleme
gelöst werden. Daher braucht es eine Politik, die nach Lösungen auch außerhalb formeller Wohnungs- und Bodenmärkte
sucht. Solch eine Politik stellt die Bedürfnisse der betroffenen Menschen in den Vordergrund und versucht diese durch
Bodennutzungsrechte zu befriedigen. Für eine obdachlose
Person könnten zum Beispiel Kleiderkammern, Essensausgabestellen, Einrichtungen zur kostenlosen Körperpflege,
der Verkauf von Straßenmagazinen, eine kostenlose medizinische Versorgung und/oder soziale Beratungsstellen erste wichtige Schritte auf dem Weg zur Gewährleistung eines
angemessenen Lebensstandards sein. Eine sozial-ökologische
Bodenpolitik im Sinne des Menschenrechts auf angemessenes Wohnen stellt den betroffenen Menschen einschließlich
seiner Rechte und Bedürfnisse in den Vordergrund. Sie formuliert realistische Minimalziele und ist daher trotz ihrer globalen Verankerung eine Politik der kleinen Schritte.
¢
Fazit: Sozial-ökologische Bodenpolitik
Das Staatenberichtsverfahren hat gezeigt, dass die globale Aufmerksamkeit für das Menschenrecht auf Wohnen
kontinuierlich gestiegen ist. Wohnen ist zu einer wichtigen
Säule globaler Sozialpolitik geworden. Indes, die Zahl derjenigen Menschen, die in unangemessenen Wohnverhältnissen leben, steigt schneller an, so scheint es, als die globale
Problemwahrnehmung. Derzeit gibt es keinerlei Anzeichen
für eine Umkehr dieses Trends und dies betrifft keineswegs
ausschließlich Staaten des globalen Südens, sondern ist ein
weltweites Phänomen. Wenn die beteiligten Akteure im Rahmen des Habitat III Prozesses nun weiter über nachhaltige
Stadtentwicklung diskutieren, dann sollten sie sich trotz aller
ambitionierten Ziele auch eingestehen, dass sie unangemessenes Wohnen nicht vollständig verhindern werden können.
Die Urbanisierung sowie der damit einhergehende Druck auf
urbane Wohnungsmärkte haben Wohnen noch enger mit
der ökonomischen Ressource Boden verknüpft. Eine auf das
Menschenrecht auf Wohnen reagierende Bodenpolitik sollte
den Boden jedoch nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten, sondern die vielen anderen Bodennutzungsmöglichkeiten in Erwägung ziehen. Ein Beispiel: Wer
obdachlos ist, kann vielen Bedürfnissen nicht nachgehen, die
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Council resolution 1988 (LX) by states parties to the Covenant
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parties under articles 16 and 17 of the Covenant. E/1994/104/
Add.20
> Spanien – Spain (1994) Third periodic reports submitted
by states parties under articles 16 and 17 of the Covenant.
E/1994/104/Add.5
> Sudan (1998) Initial reports submitted by states parties under
articles 16 and 17 of the Covenant in accordance with the programmes established by Economic and Social Council resolution 1998/4. E/1990/5/Add.41
Schlüsselwörter: Menschenrechte, Wohnen, Bodenpolitik, Globale Sozialpolitik, Urbanisierung
Keywords: Human rights, housing, land policy, global social policy, urbanisation
Zusammenfassung: In den vergangenen vier Jahrzehnten ist die
globale Aufmerksamkeit für das Menschenrecht auf Wohnen
kontinuierlich gestiegen. Gleichzeitig stieg allerdings auch die
Anzahl derjenigen Menschen, deren Menschenrecht auf Wohnen verletzt wird. Daher ist eine Bodenpolitik notwendig, die die
Bedürfnisse der betroffenen Menschen in den Vordergrund stellt
und durch Bodennutzungsrechte befriedigt.
Abstract: During the past four decades, the global attention
to the human right to housing has continuously increased.
However, the number of people affected by inadequate housing has increased as well. Hence, a land policy for people
affected by inadequate housing should consider the plural
meanings of land and respond to the needs of the affected
persons through a careful negotiation of land use rights.
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© unete a movistar, Kathrin Golda-Pongratz, 2009
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Kathrin Golda-Pongratz
Neue städtische Identitäten
der Selbstbaustadt
Urbane Erinnerung und partizipative Quartiersaufwertung in Lateinamerika
Die lateinamerikanische Stadt verkörpert soziale
Ungleichheit und Konflikte ebenso wie sich transformierende, hybride städtische Identitäten und
Architekturen (1) und einen informellen Städtebau. Die sogenannte Selbstbaustadt, ungeplant
durch Landnahmen und kollektive Bauprozesse
entstanden, nachträglich durch Landtitelvergaben
legalisiert und mit Infrastrukturen ausgestattet, ist
seit Mitte des 20. Jahrhunderts die prädominante
Form der Wohnungsproduktion in Lateinamerika.
Während sie als urbanes Laboratorium verstanden
wird, bleibt die ungeschriebene Geschichte dieses
Städtebaus von unten als ihr größtes Potential
unterschätzt. Techniken des kollektiven Erinnerns
und der Artikulation der gemeinschaftlichen
Stadtproduktion können zum wichtigsten Motor für
Quartiersaufwertung und nachhaltige Konsolidierung werden, so die Kernthese des Beitrags.
Kathrin Golda-Pongratz, 1971,
Prof. Dr.-Ing., Studium der
Architektur und Stadtplanung
in München, Barcelona und
Karlsruhe, Vertretungsprofessorin für Internationalen
Urbanismus an der Frankfurt
University of Applied Sciences
in Frankfurt am Main.
V
om globalen Süden zu lernen ist seit Jahrzehnten eine
Prämisse des auf Nachhaltigkeit ausgerichteten akademischen Diskurses sowie der Entwicklungszusammenarbeit (Nitschke/Marwede 2004). Während jedoch in Institutionen, Bildungseinrichtungen und Think Tanks des globalen
Nordens mit Interesse und Faszination die Überlebensstrategien der urban poor in den großen metropolitanen Agglomerationen beschrieben, kartiert und in Workshops diskutiert
werden, nehmen Verdrängungstendenzen und Polarisierungen in den rapide wachsenden Großstädten weiterhin zu (Portes/Roberts/Grimson, 2005).
Wie und aus welcher Perspektive lernen wir vom Süden?
Jüngste Debatten, wie die um die Eröffnung des Humboldtforums in Berlin im deutschen Kontext, zeigen, wie sehr zeitgenössische Institutionen mit postkolonialen Positionierungen
an kolonialen Hegemonieverhältnissen festhalten und dass
dieses Lernen vor allem den eigenen Interessen dient: „die
Weltneugier ist ohne Weltknechtung nicht zu denken“ (Rauterberg 2015). Auch in der Entwicklungszusammenarbeit besteht die Gefahr, dass in deren Koppelung an wirtschaftliche
Interessen und an Technologietransfer innerhalb eines stetig
wachsenden Exportmarktes für Waren und Wissen die Inwertsetzung lokalen Wissens zweitrangig bleibt.
Ein halbes Jahrhundert nachdem John F.C. Turner durch seinen
Beitrag „Dwelling resources in South America“ (Turner 1963) im
britischen Architectural Design das Potenzial der selbstgebauten Städte in Südamerika und im Besonderen der Barriadas von
Lima der europäischen Architekten- und Planerschaft vorgestellt hat und nachdem die Weltbank in einseitiger Anlehnung
an diese Erkenntnisse Site and Service-Programme für informelle Siedlungen weltweit propagiert hat, ist die ciudad informal aus dem urbanistischen Diskurs, den Biennalen, den Initiativen der Hochschulen, der Entwicklungszusammenarbeit und
selbst aus den Feuilletonberichten der Zeitungen nicht mehr
wegzudenken. Die Habitat I Konferenz in Vancouver (1976) war
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© Kathrin Golda-Pongratz, 2014
Kathrin Golda-Pongratz
Neue städtische Identitäten der Selbstbaustadt
Abb. 1: Expansives Stadtwachstum im Süden von Bogotá/ Kolumbien.
eine wegbereitende Plattform gewesen, um Initiativen des
globalen Südens des Selbstbaus und Städtebaus von unten
zu fördern; die dritte Konferenz in Quito (2016) will darauf
aufbauen und sich im besonderen der Frage der urban governance zuwenden (UN-Habitat 2013).
Im Zuge einer allgemeinen Faszination für die Mega-Städte
und im Trend des globalen Stadtmarketings richtet sich der
Blick zum einen auf die urbanen Akupunkturen in Medellín,
auf die Rolltreppen der Comuna 13, die Gentrifizierung und
Touristifizierung der Favela Vidigal in Río de Janeiro, die
Teleférico-Linien in La Paz El Alto oder die Bus- und Müllentsorgungssysteme von Curitiba. Zum anderen haben
sich sogenannte „Critical Practices“ (Hernández et al 2012)
und Do-Tanks (2) etabliert, die vom Improvisations-, Selbstorganisations- und Grassroots-Potenzial an den Rändern
der großen lateinamerikanischen Städte inspiriert sind und
auch dort tätig werden. Entwurfspraktiken und Interventionsstrategien machen sich dieses Potenzial zu eigen, redefinieren die Rolle des Architekten und Planers und lassen
Ideen wie die Schaffung „dem Unvorhersehbaren dienender
Strukturen“ Yona Friedmans (Friedman 1999) oder ein Verständnis des Architekten als „Ermöglicher“ oder „Werkzeugmacher“ (Turner/Lambert 1984) wieder aufleben. Globale
Projekte wie der Urban Age Award propagieren und fördern
Initiativen eines Handmade Urbanism (Rosa/Weiland 2013)
in Megastädten des Südens. Sie setzen auf Quartiersinitiativen und Bürgerbeteiligung als neuem urbanen Trend, wollen „die Fähigkeit zur Bildung neuer Allianzen“ und „eingebettete produktive Fähigkeiten“ in den Randgebieten der
Megastädte fördern, um Quartiere somit nachhaltig aufzuwerten und „partizipative Ansätze für zukünftige Szenarien“ zu identifizieren (Rosa/Weiland 2013: 19-20).
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Kritik an der Romantisierung der Selbstbaustadt (Davis
2006) steht auf der einen Seite; hierbei muss aus gegenwärtiger Sicht differenziert werden zwischen Initiativen der
identitätsbildenden Quartiersaufwertung durch komplexe
Beteiligungsprozesse und wirksame Kooperationen zwischen
Institutionen und der Bevölkerung und andererseits populistischen Vorzeigeprojekten, die über medienwirksame Gesten
in konfliktiven Nachbarschaften nicht hinausgehen und der
Fragmentation der Städte nicht entgegenwirken. Die Bedeutung und das Potenzial kollektiver Wissensbildung und einer
Kultur der Aufwertung von innen in der Selbstbaustadt wird
vielfach nicht entsprechend erkannt und gefördert.
Untopographisches Wachstum als
Fortschreibung der Kolonialisierung
Die physische Dimension des Wandels wachsender Agglomerationen Lateinamerikas ist zunächst schnell am Sichtbaren
zu fassen: Explosives Wachstum und eine Expansion in die
Fläche sind die äußeren Zeichen einer Entwicklung, die sich
innerhalb weniger Jahrzehnte vollzogen hat. Hierbei hat sich
die spanisch-koloniale Gründungsstruktur in den ungeplanten Randstadtsiedlungen fortgesetzt: das untopographische
Raster hat sich, ebenso wie es seit dem 16. Jahrhundert prähispanische Spuren verwischte, als Sinnbild von Identität eingeprägt und als suburbane Struktur reproduziert (Golda-Pongratz 2008: 46). Im Zuge von Zuwanderung und natürlichem
Bevölkerungswachstum haben sich die urbanisierten Flächen
der großen Metropolen seit Mitte des 20. Jahrhunderts mehr
als verzehnfacht, der Metropolisierungsgrad war in den
1990er Jahren mit knapp 45 Prozent der weltweit höchste
(Bähr/Mertins 1995: 27). In Bogotá, der Hauptstadt Kolumbi-
© Kathrin Golda-Pongratz, 2008
Kathrin Golda-Pongratz
Neue städtische Identitäten der Selbstbaustadt
Abb. 2: Zuwanderer aus der Andenregion Puno mischen ihre traditionellen Tänze in die Riten der Hauptstadt Lima.
ens, hat sich die Flächenausdehnung zwischen 1938 und 1999
von 2.500 Hektar auf 30.400 Hektar verzwölffacht, während
die Bevölkerung sich verneunzehnfachte (Red Bogotá). Limas
Einwohnerzahl stieg zwischen 1940 und 2000 von 645.000
auf 7,5 Millionen, die urbanisierte Fläche der peruanischen
Hauptstadt hat sich von 5.000 auf 78.000 Hektar fast versechzehnfacht (Ludeña 2012). Hierbei sind informelle Landnahmen und der Selbstbau die quantitativ bedeutendsten
Formen der Urbanisierung (Escalante 2003: 16).
Hybride Kulturformen im Kontext der
Globalisierung
Was wird aus Vorstellungen von Raum, Zeit und Territorium
ländlicher Zuwanderer im großstädtischen Kontext? Eine
traditionell starke Beziehung zur Erde ist Ausdruck sozialer
Organisationsformen und befindet sich im ständigen Konflikt
zwischen Strukturen des sozialen Selbsterhalts und den Regeln des Marktes (Malengreau 1992: 9-10). Im postmigratorischen städtischen Kontext wird dieser Konflikt noch größer,
angesichts zunehmender Investoreninteressen selbst an periurbanem Land einerseits und dem Druck zur Verdichtung
und Vertikalisierung (und damit abnehmender direkter Beziehung zum Boden) in den Selbstbauvierteln zum anderen.
Andererseits werden im Rhythmus des Großstadtlebens
bestimmte rurale Kulturformen gestärkt, beispielsweise
die Nutzung verwandtschaftlicher Netze zum Aufbau neuer wirtschaftlicher Zusammenhänge, innerhalb derer sich
Zuwanderer Wohnraum, Arbeit und Güter beschaffen und
nach deren Regeln sich auch Märkte und der informelle
Straßenhandel organisieren. In einem sozialen Gefüge aus
Selbstorganisation, Partizipation und geteilter Verantwortung halten sich auch die in eine dritte Migrantengeneration vermittelte andine Solidarität und die ursprünglich ländliche Herkunft als identitätsstiftende Merkmale aufrecht
(Golda-Pongratz 2004: 45).
Neue Formen und Fusionen kultureller Riten und hybrider
Kulturformen haben sich entwickelt. In einer Stadt wie Lima
verschmilzt das koloniale Erbe mit den andinen Traditionen
und den Errungenschaften einer globalisierten Welt. So ist
die peruanische Hauptstadt ein Ort wo Zuwanderer aus dem
Hochland an den Flanken der wüstenhaften Hügel Konstruktionstechniken ihres Herkunftsortes anwenden, zudem die
Methoden der Bewohner von La Paz El Alto in Bolivien genau
studiert haben und sich online darüber austauschen. In den
Diskotheken wird zu kolumbianischer cumbia getanzt und
Bier auf den dancefloor geschüttet, als Gabe an die Mutter
Erde. Ende August mischt sich im zentralen Viertel La Victoria
die Prozession für die Heilige Rosa von Lima mit der urbanen
Version einer Prozession der Hochlandregion Puno und die limenische Heilige wird von Tänzern und diabolischen Masken
begleitet. In den Call-Centern der transnationalen Mobilfunkgesellschaften wird, nach Jahrzehnten der Unterdrückung
der indigenen Sprachen Quechua und Aymará im Kontext der
Hauptstadt, nun diesen Sprachen eine neue Bedeutung zugemessen. Für Migranten der dritten Generation entstehen –im
Rahmen globaler Wirtschaftsinteressen– neue Arbeitsplätze,
gekoppelt an ein neues Selbstwertgefühl.
Zwischenzeitlich sind das Leben, die räumlichen Bezüge,
die Organisationsformen und “imaginarios” (Silva 2003) an
den Rändern der Städte von der Globalisierung nicht mehr
zu trennen. Eine Art Populismus des Konsums, aber auch der
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© Kathrin Golda-Pongratz, 2010
Kathrin Golda-Pongratz
Neue städtische Identitäten der Selbstbaustadt
Abb. 3: Die Mega Plaza Norte hat als größtes Einkaufszentrum des Landes die städtische Identität des Cono Norte verändert. Im Hintergrund erstreckt sich der Stadtteil Independencia und die Selbstbausiedlung Pampa de Cueva.
bessere Zugang zu Information und Bildung über das Internet
und Möglichkeiten des Teilnehmens am Weltmarkt prägen
die informelle Stadt des 21. Jahrhunderts. Der Distrikt Villa
El Salvador im Süden Limas beispielsweise hat sich als zentraler Ort industrieller Fertigung herausgebildet und verkauft
die dort hergestellten Produkte wie Möbel, Schuhe und Nahrungsmittel auch über die Grenzen Perus hinaus.
Die Fusion des Globalen und Lokalen löst auch das klassische
Modell von Zentrum und Peripherie ab. Die Randstadt, ciudad popular oder Selbstbaustadt ist längst mehr als das: sie
generiert ein neues plurizentrisches Modell. Die soziale Diversifizierung hat zugenommen und es bildet sich eine neue
Mittelschicht heraus, deren erhöhtes Einkommensniveau auf
verbesserte Arbeitsmöglichkeiten in Serviceindustrien, aber
auch auf den Erhalt von remesas, den monatlichen Zahlungen abgewanderter Familienmitglieder aus dem Ausland
basiert (Golda-Pongratz 2012: 420-422). Die ohnehin stetig
sich wandelnde und an die Lebensumstände und –bedürfnisse sich anpassende Architektur integriert neue Elemente,
kopiert internationale Stile und verdichtet sich vertikal, was
zu einer Art natürlicher Quartiersaufwertung führt. Allerdings entstehen in den sich konsolidierenden Wohnquartieren auch neue Formen der Segregation, die dem Modell der
gated communities und abgeschotteten Nachbarschaften der
Oberschichtsquartiere folgen und die mit informeller Aneignung öffentlichen Raumes auf zunehmende organisierte Gewalt und Unsicherheit reagieren (Plöger 2006).
Während sich die formelle und die informelle Stadt strukturell immer mehr verweben (Ludeña 2012: 4), sind die Grenzen
zwischen Legalität und Illegalität nur noch schwer zu ziehen.
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Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Landnahme innerhalb
der lateinamerikanischen Megacities (Gilbert 1996) und der
größeren Wirtschaftszentren längst nicht mehr nur eine Strategie der Armen: inzwischen parzellieren auch die Developer
der Gegenwart als sogenannte „Modernisierer“ wüstenhafte,
wasserarme oder schwer zugängliche Territorien. In diesen
Neuansiedlungen fallen die selbstgesteuerten Konsolidierungsprozesse, die früher dazugehörten, und der gesamte
soziale Aspekt der Gemeinschaftsbildung weg (Rush 2014:
72). Zudem führt, im Falle Perus, eine (noch) ungebremste
Flächenexpansionspolitik und staatliche Toleranz dieser periurbanen Bodenspekulation zum drastischen Verlust verbleibender Landschaftsreserven und Freiflächen, außerdem zu
Bodenerosion und einer zunehmenden Beeinträchtigung des
ökologischen Gleichgewichts (3).
Die Bedeutung lokalen Wissens
und urbaner Erinnerung
Unter dem Druck der Globalisierung, der fortschreitenden
Kommerzialisierung, der Ökonomie des Wachstums und der
Landspekulation treten in vielen neuen und auch in den konsolidierten peripheren Urbanisierungen die Kenntnis und
der Bezug zum Ort, vor allem aber die Fähigkeit zum placemaking in den Hintergrund. Um diese Kräfte und Kenntnisse, die urbane Erinnerung an die Ursprünge, die kollektive
Motivation der Anfänge und auch das lokale Wissen und das
damit verbundene Identifikationspotenzial wieder zu aktivieren, braucht es Anstoß und Vermittlung. Zwei Beispiele aus
Kolumbien und Peru sollen verdeutlichen, wie partizipative
Raumgestaltung, basierend auf der Erfahrung des informel-
© Kathrin Golda-Pongratz, 2014
Kathrin Golda-Pongratz
Neue städtische Identitäten der Selbstbaustadt
Abb. 4: Das Selbstbauprojekt Casa de la Lluvia (de Ideas) im Nordosten von Bogotá.
len Stadt-Machens, ermöglicht werden kann und wie periphere Orte an metropolitaner Bedeutung gewinnen.
Die Casa de la Lluvia (de Ideas) (dokumentiert unter http://arquitecturaexpandida.org/) in San Cristóbal Sur, an regenreichen Hügelausläufern im Nordosten Bogotás, ist ein kleines
Selbstbauprojekt, das im Zwischenraum zwischen Legalität
und Legitimität operiert und auf der Überzeugung basiert,
dass Landrecht allein keine Entwicklung bedeutet und dass
Bewohner einen entscheidenden Anspruch auf einen Ort der
Kultur und des Gesprächs in einer Nachbarschaft haben. Eigentlich darf in dieser informellen Siedlung aufgrund der kolumbianischen Gesetzeslage und aufgrund eines Dekrets zum
ökologischen Schutz der umliegenden Wälder keine weitere
Bautätigkeit erfolgen. Das Kollektiv Arquitectura Expandida
junger Architekten aus Bogotá hat den Wunsch der Bewohner
nach einem Versammlungsort aufgenommen und schließlich
den Bau eines kleinen Gemeinschaftshauses aus lokalen,
überwiegend nachwachsenden und recyclebaren Baumaterialien unter Anwendung traditioneller Techniken. Die Finanzierung erfolgte durch Sammelaktionen im Viertel, Spenden
seitens einer großen Baumaterialfirma und der spanischen
Botschaft. Jede Familie bezahlt einen kleinen monatlichen
Betrag und die Instandhaltung erfolgt gemeinschaftlich. Das
Gebäude wird regelmäßig genutzt, es finden BreakdanceUnterricht, Kunst-Workshops, Kurse zur Familienplanung,
Kurse für Geschäftsgründungen, Tauschmärkte und Anwohnerversammlungen statt (4). Das „Haus des (Ideen)Regens“
ist ein Kondensationsort für gelebte Ökologie, für den aktiven Schutz des Territoriums auch im Kontext eines größeren
Ganzen, für eine neue Kultur des Respekts für den eigenen
Lebensraum vor allem für die jugendliche Bevölkerung.
Im Projekt „Memoria urbana en Pampa de Cueva“ (GoldaPongratz 2014: 17 f.), das die Autorin im Kontext eines Workshops an der Universidad Nacional de Ingeniería in Lima
angestoßen hat, geht es darum, eine notwendige Bewusstseinsbildung, die Arbeit an den Schichten urbaner Erinnerung und die ungeschriebene Stadtgeschichte „von unten“
mit der Inwertsetzung der überregionalen Bedeutung des
Ortes zu verknüpfen. Genau dort ist in den frühen 1960er
Jahren ist die emblematische und prominent publizierte (Turner 1963) Selbstbausiedlung Pampa de Cueva entstanden.
Diese hat sich aus einem bedeutenden Kampf um das Land
und einer eindrucksvollen Geschichte der Konsolidierung
entwickelt. Heute ist sie Teil des ökonomisch hoch aktiven
Cono Norte, wo die größte Shopping Mall des Landes, Serviceindustrien und Vergnügungszentren neue Raummuster
hervorbringen. In gegenwärtigen Stadterneuerungsmaßnahmen zur Verbesserung der Erschliessung werden jedoch
die vielfältigen Erfahrungen und Kenntnisse der Bewohner
für die Selbstgestaltung öffentlicher Räume nicht miteinbezogen (5). Die Präsenz einer schrittweise abgetragenen und
mit Hochspannungsleitungen versehenen, über 3.000 Jahre
alten prähispanischen Verehrungsstätte, die dem Ort ihren
Namen gab, ist im Bewusstsein der Bevölkerung verankert,
wurde jedoch bisher –trotz aktiver Wissensbildung in der anliegenden Schule– nicht als Identifikationsort artikuliert bzw.
räumlich in den Stadtteil eingebunden. Ziel ist es, in einem
Langzeitprozess die reiche Geschichte der Selbstgestaltung
kollektiv zu dokumentieren und mit der archäologischen Bedeutung des Ortes zu verknüpfen. Urbane Erinnerung soll im
Stadtraum les- und sichtbar gemacht, und aus dem lokalen
Wissen soll ein Instrument der partizipativen Gestaltung fehlender öffentlicher Räume werden, die sich aus den Kräften
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Kathrin Golda-Pongratz
Neue städtische Identitäten der Selbstbaustadt
der Anfänge der Gründung, einer Art (noch) ungeschriebenen Autobiografie des Viertels und dem historischen Potenzial des Territoriums entwickeln.
Ausblick für eine „New Urban Agenda“
Die Bedeutung dieser ungeschriebenen Geschichte der Selbstbaustadt, also der Kenntnisse des Sich-zu-eigen-Machens eines Ortes, des Aufbaus sozialer Netzwerke, des Bauens und
der kollektiven Freiraumgestaltung sind fundamental, um
neue Entwicklungs- und Konsolidierungsschritte zu definieren.
Wie schreibt sich eine Quartiersautobiografie in den städtischen Raum der Gegenwart ein; das sollte eine zentrale Frage
einer „New Urban Agenda“ sein. Die Aufwertung der Selbstbauquartiere von innen und aus ihrer eigenen Geschichte heraus ist eine zentrale Aufgabe der Zukunft, um sowohl innere
als auch gesamtstädtische Konflikte zu bewältigen. Wie können die imaginarios erweitert und wie kann Respekt für die
Gemeinschaft und zugleich Identifikation mit dem Territorium
erzeugt werden, sodass öffentlicher Raum eine Erweiterung
des Wohnraums, Lebensqualität und auch Sicherheit bieten
kann und gemeinschaftlich gepflegt und gestaltet wird?
n (2) Im Gegensatz zu einem Think-Tank steht beim Do-Tank
die direkte Aktion und Umsetzung erworbener Erkenntnisse und die soziale Innovation im Zentrum. Wie beim chilenischen Do-Tank Elemental handelt es sich häufig um ein
an eine Hochschule gebundenes Geschäftsmodell.
n (3) Im Juni 2015 kündigte das peruanische Wohnungsbauministerium eine Kertwende und einen Gesetzentwurf zur
Einschränkung dieser Landnahmen an, die in den vergangenen fünf Jahren mehr als vier Millionen Quadratmeter
staatlichen Bodens betroffen haben. Pressemeldung vom
10.6.2015 unter http://www.vivienda.gob.pe/inicio/noticias.aspx (letzter Zugriff: 13.09.2015)
n (4) Email-Interview am 3./4. September 2015 mit Laura
Mantilla Carvajal, Architektin und Mitglied des Kollektivs
Arquitectura Expandida in Bogotá.
n (5) Interview am 20. März 2013 in Pampa de Cueva/ Lima
mit Segundo Vázquez Serio, aus Cajamarca stammender
Bewohner, Ladeninhaber und Mitglied der Gruppe der
ersten Landbesetzer im Dezember 1960. Er hat in andiner
Steintechnik einen halböffentlichen Raum vor seinem Laden angelegt, der nun einer “Modernisierungsmaßnahme” weichen soll.
© Kathrin Golda-Pongratz, 2013
Das Gespräch über die Definitionen des Städtischen und
seine Beziehungsgeflechte, aber auch über die Qualitäten
des urbanen und ruralen Lebens und seiner Mischformen
sollte fester Bestandteil jedes städtischen Kontexts sein. Die
Zukunft jeder Metropole hängt von ihrem Hinterland und
von ihrer Beziehung zu ihren Peripherien ab und nur eine
holistische Sicht auf die Makroregion Stadt als soziales, kulturelles, ökonomisches und ökologisches Gefüge kann zukunftsweisend sein.
¢
Anmerkungen
n (1) Im lateinamerikanischen Kontext wurde der Begriff
der “Culturas híbridas” vom mexikanischen Anthropologen Néstor García Canclini geprägt (García Canclini 1995).
Diese Formen kultureller Heterogenität werden auch als
“konfliktive und in Wettbewerb stehende kulturelle Konfigurationen” interpretiert. (Huffschmid 2012: 121)
Abb. 5: In einem Workshop mit Schülern des Colegio El Morro beginnt die Arbeit an der städtischen Erinnerung und der Bedeutung der
prähispanischen Prägung für das konsolidierte Selbstbauviertel Pampa de Cueva.
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Kathrin Golda-Pongratz
Neue städtische Identitäten der Selbstbaustadt
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it acquired legitimacy and infrastructure. While this urban development from below is recognized as a laboratory, its unwritten history
is still underestimated. Yet, collective remembrance and the enunciation of collective production have the power to drive neighbourhood renewal and sustainable consolidation.
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© Gerhard Kienast
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Wissenschaftlicher Beitrag. Peer reviewed.
Gerhard Kienast
Mandelas Versprechen
Das Ringen um die südafrikanische Wohnungspolitik
Mit dem Versprechen „Land und Wohnungen für
alle“ gewann der von Nelson Mandela geführte African National Congress (ANC) 1994 die ersten freien
Wahlen. Obwohl der Staat seitdem fast 3,4 Millionen
Wohneinheiten für Geringverdiener gefördert hat,
konnte er nicht mit der Nachfrage nach städtischem
Wohnraum Schritt halten. Wegen der Fixierung
auf frei stehende Einfamilienhäuser in einfachster
Bauweise wurde meist am Stadtrand gebaut, wo das
Bauland billig, Erschließung und Versorgung aber
teuer waren. Spätestens seit der Weltfinanzkrise, die
zu einem Einbruch der Steuereinnahmen geführt
hat, gilt das staatliche Versorgungsversprechen als
unhaltbar. Doch wie ließe sich das verfassungsmäßig
garantierte „Recht auf Zugang zu angemessener
Wohnung“ in einem der ungleichsten Länder der
Welt (UN-Habitat 2010:14) gewährleisten?
J
ahrzehntelang hat die Apartheidpolitik der schwarzen Bevölkerungsmehrheit nicht nur das Wahlrecht sondern auch
das Recht auf Freizügigkeit und ein städtisches Leben vorenthalten. In den Stadtkernen und Vororten, die der weißen Bevölkerung vorbehalten waren, wurden sie nur als Dienstboten
geduldet. In weit entfernt errichteten townshipserhielten sie
zwar passable Häuser von 40-50 m² Größe zur Miete, konnten
diese aber bei Missliebigkeit verlieren.Ende der 1980er Jahren
ließ sich die Zuwanderung in die Städte dann nicht mehr unterbinden und es kam zu tausenden von Landbesetzungen. Bis
1996 ist die Zahl der informellen Siedler auf 1,5 Mio. Haushalte
angewachsen (vgl. Tissington 2011:33).
Grundzüge der Wohnungspolitik
nach dem Ende der Apartheid
Die ersten freien Wahlen im Jahr 1994 gewann der ANC mit
dem Versprechen, Grundbedürfnisse zu befriedigen, menschliche Potentiale zu entwickeln, die Wirtschaft aufzubauen,
Staat und Gesellschaft zu demokratisieren. Dazu versprach
das erste Regierungsprogramm innerhalb von fünf Jahren
eine Million Häuser zu errichten und fünf Prozent des Staatshaushalts für den Wohnungsbau zu reservieren (vgl. ANC
1994). Ausgangspunkt für die neue Wohnungspolitik wurde
aber nicht, wie zunächst gefordert, die Selbstorganisation auf
Stadtteilebene, die eine intensive Beteiligung der Zielgruppen
an Entscheidungs- und Bauprozess ermöglicht hätte, sondern
ein bereits von der Vorgänger-Regierung vorgezeichneter
Kompromiss mit Banken und Bausektor (vgl. Bond 1995).
Gerhard Kienast, 1970,
Dipl.-Ing. Stadt- und
Regionalplanung, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Fachgebiet Stadterneuerung und Stadtumbau der Universität Kassel
Zum wichtigsten Instrument wurden dabei „projektbezogene Kapitalsubventionen“, die der Staat Bauunternehmen
gewährt, die auf öffentlichem Grund standardisierte Wohnungen zugunsten bereits vorher identifizierter, förderberechtigter Haushalte errichten.
Diese Politik stimmte zwar mit Grundzügen der WeltbankStrategie überein, die Regierungen dazu riet sich auf die Herstellung geeigneter Rahmenbedingungen für den Wohnungsmarkt zu konzentrieren (The World Bank 1993; Jones/Datta
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Mandelas Versprechen
© Gerhard Kienast
wohnungen, der sogenannte People‘s Housing
Process für Selbstbauinitiativen sowie Fördermittel für Umbau und Sanierung von Männerwohnheimen (hostels). Trotz der Vielfalt der
Instrumente machten projektgebundene Subventionen aber lange Zeit den Löwenanteil aus
(vgl. Huchzermeyer 2003:594 f.).
Die Standardisierung des Wohnungsprodukts und das Bauen auf der grünen Wiese ermöglichte der ANC-geführten Regierung die Erfüllung ihres Wahlversprechens.
Im siebten Amtsjahrwurde die millionste
Wohnung fertig gestellt (vgl. FFC 2013:14).
Trotz vielfältiger Kritik hielt die inzwischen
viermal bestätigte Regierungspartei am
Versprechen kostenloser Wohnungen für
die Armen fest. 2010 überschritt die südafrikanische Wohnungsbauförderung die
Abb. 1: Informelle Behausungen am Rande einer staatlich geförderten SchlichtDrei-Millionen-Grenze. Gleichzeitig wurde
haussiedlung in Ducats (Buffalo City)
auch der Zugang zu Versorgungsleistungen
2000). Einige Aspekte widersprachen dem Rat aus Washingausgeweitet, die als basic services definiert werden. 1994
ton aber deutlich. So wurden die Subventionen z. B. nicht an
musste noch über ein Drittel der Haushalte mehr als 200 m
private Sparanstrengungen gekoppelt. Statt von Chile und
zurücklegen, um an Trinkwasser zu gelangen. 2012waren
anderen lateinamerikanischen Schwellenländern zu lernen,
es nur noch 5 %. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der
die ihre Wohnungsnot mit ähnlichen Mitteln erfolgreich einBevölkerung, der ‚grundlegende Sanitätsstandards‘ erfülldämmten, entwickelte Südafrika eine eigentümliche Wohte und mindestens eine belüftete Latrine besaß, von etwa
nungsbaustrategie, die versucht auch die Ärmsten zu errei50 % auf über 80 %. Über 75 % sind inzwischen an das Elekchen (Gilbert 2002).
trizitätsnetz angeschlossen (vgl. The Presidency 2012:36 ff.).
© Gerhard Kienast
Dabei entstanden – und entstehen bis heute – überwiegend
frei stehende Einfamilienhäuser einfachster Bauweise, die in
das Eigentum der Haushalte übergehen.Zwar wurden auch
bald andere Fördermechanismen eingeführt: „individuelle“
Subventionen für den Kauf von Bestandswohnungen, „institutionelle“ Subventionen für Miet- und Genossenschafts-
Damit trägt die südafrikanische Regierung ihrer Verfassung
Rechnung, die – neben anderen sozioökonomischen Rechten
– auch das „Recht auf Zugang zu angemessener Wohnung“
garantiert, zu seiner schrittweisen Umsetzung „innerhalb der
vorhandenen Ressourcen“ verpflichtet und willkürliche Räumungen verbietet. Da die Verfassung aber zugleich auch die
in der Kolonial- und Apartheidzeit entstandenen Eigentumsverhältnisse schützt und für
Enteignungen im öffentlichen Interesse hohe
Hürden auftürmt, hat sich die südafrikanische Stadtplanung nach 1994 sehr schwer
getan, private Investitionen in die Nähe der
townshipszu lenken und geeignete Flächen
für den öffentlichen Wohnungsbau zu akquirieren. Dabei werden die Stadtverwaltungen
von zwei Seiten unter Druck gesetzt: einerseits von den Bewohnern unterversorgter
Siedlungen, andererseits von der nationalen
Regierung und den bis auf eine Ausnahme
ebenfalls vom ANC regierten Provinzen, die
darauf drängen,die Versorgungskennziffern
zu verbessern und so viele Wohnungen wie
möglich zu bauen. De facto wurde die Wohnungsbauförderungdamit zur nationalen
Stadtentwicklungspolitik, was sowohl räumlich als auch für die Gemeindehaushalte
verheerende Konsequenzen nach sich zieht.
Abb. 2: Staatlich finanzierte Einfamilienhäuser auf engstem Raum in Ndancama
Da nur am Stadtrand schnell und günstig Flä(Buffalo City)
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Scheitern des
„neuen Spatenstichs“
© Gerhard Kienast
chen mobilisiert werden konnten, hat
die Wohnungspolitik die Ausdehnung
der Städte gefördert. Millionen Geringverdiener erhielten kostenlose Häuser
an Orten, wo weder Arbeitsplätze noch
Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen vorhanden waren, und müssen
hohe Transportkosten aufbringen, um
diese zu erreichen. Zugleich führt die
Ausdehnung der Versorgungsnetze zu
einer ständig wachsenden Belastung
der kommunalen Haushalte, die weder
durch Zunahme der Steuerkraft noch
durch Fiskaltransfers ausgeglichen wird
(vgl. Pieterse 2009).
Abb. 3: 14 % der südafrikanischen Haushalte leben nach offiziellen Angaben in Shacks
Zehn Jahre nach ihrem Amtsantritt reagierte die Regierung auf die umfassende Kritik an ihrer Politik mit der Verkündung eines „neuen
Spatenstichs“. Das gleichnamige Programmpapier („Breaking
New Ground“; DoH 2004) versprach eine Berücksichtigung
des gesamten Wohnungsmarkts („vom Einheitsprodukt zur
Nachfrageorientierung“) und eine ganzheitliche Sichtweise („von Wohnungen zu nachhaltigen Siedlungen“).Zugleich
wurden neue Förderinstrumente zur Sanierung informeller
Siedlungen, zur Errichtung von Geschosswohnungen und
für den Wohnungsbau im ländlichen Raum eingeführt. Allerdings folgt das Papier keiner kohärenten Strategie sondern
reiht lediglich Businesspläne verschiedener Abteilungen des
Wohnungsbauministeriums aneinander (vgl. Charlton/Kihato
2006:259). Viele Förderlinien kamen aufgrund ungeeigneter
Programmstrukturen, mangelnden Zugriffs auf Grundstücke
und fehlenden Interesses privater Bauträger nur selten zum
Zuge. So blieb das frei stehende Einfamilienhaus einfachster
Bauart auch weiterhin dominierend (vgl. Tissington 2011:9).
Dazu konterkarierte Wohnungsbauministerin Sisulu die im
Programm skizzierte behutsame Erneuerung informeller Siedlungen durch die Ankündigung einen „Krieg gegen die Hütten“ („war againstshacks“) führen und informelle Siedlungen
in Südafrika bis 2014 „ausrotten“ zu wollen (vgl. Tissington
2011:64 ff.). Der für inkrementelle Verbesserungen vor Ort geschaffene Fördermechanismus wurde zur Unterstützung von
Umsiedlungen und Neubauvorhaben auf der grünen Wiese
zweckentfremdet (Topham 2013).
Die enorme Widersprüchlichkeit der südafrikanischen Wohnungspolitik erklärt sich aus der Spannung zwischen einer
progressiven Grundrechtscharta, die willkürliche Räumungen verbietet, und dem menschenverachtenden Diskurs
führender Regierungsmitglieder, die neuen Landbesetzungen mit ähnlicher Härte begegnen wie das frühere Regime
(Pithouse 2009). Dabei ist die Ausdifferenzierung der Grundrechte vor allem der Prinzipienfestigkeit südafrikanischer
Juristen zu verdanken, welche die seit 1998 auch gesetzlich
verankerte Unverletzlichkeit der Wohnung von Landbesetzern wiederholt gegen die Beschlüsse niedrigerer Kammern
und entgegengesetzte Gesetzesvorhaben verteidigt haben
(vgl. Tissington 2011:42 ff.). Wichtigstes Ergebnis dieser Prozesse, die von pro bono agierenden Anwälten informeller
Siedler bis zum Verfassungsgericht geführt wurden, war
die Verpflichtung des Staates zu einer „sinnvollen Auseinandersetzung“ mit den Besetzern, die darauf zielen muss,
Obdachlosigkeit zu verhindern und deshalb immer auch die
Möglichkeit einer Verbesserung der bestehenden Siedlung
(„in situ upgrading“) prüfen muss (vgl. Tissington 2011:55 f.).
Trotz des enormen Mitteleinsatzes ist es der Regierung
nicht gelungen, die Ausweitung prekärer Wohnverhältnisse zu verhindern. Nach einer von der staatlichen Housing
Development Agency (HDA) durchgeführten Auswertung
von Volkszählungsdaten lebten 2011 noch 14 % der Haushalte in Hütten oder Behelfsbauten (HDA 2013:13). Diese
Zahl liegt wesentlich höher als der Wert von 5,8 % „Slumbewohnern“, der im nationalen Bericht für die Habitat IIIKonferenz kommuniziert wird (DHS 2014a:82), was evtl.
auf die Verwendung der Variablen „Wohngebietstyp“ statt
der Variablen „Wohnungstyp“ zurückzuführen ist. Während die Zahl der Haushalte, die in frei stehenden shacks
leben, seit 2001 zurückgegangen ist, wurde dies durch die
Zunahme von Hütten in Hinterhöfen und staatlichen Siedlungenmehr als kompensiert (HDA 2013:15 f.). Dass diese
Bauten meist weiter vermietet werden, zeigt, dass viele
Stadtbewohner eine flexiblere Form der Wohnungsversorgung brauchen, als sie der Mainstream der südafrikanischen Wohnungspolitik bietet. Feldstudien belegen, dass
hier i.d.R. keine „Slumlords“ am Werk sind. Viele Vermieter
sind selbst arm und für Ausländer, die keinen Anspruch auf
Wohnungsbauförderung haben, ist das Leben im shack oft
ohne Alternative (Shapurjee/Charlton 2013).
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Mandelas Versprechen
Nicht nur bezogen auf die Armen blieb die südafrikanische
Wohnungspolitik hinter den Versprechungen zurück. Zwar
können sich Haushalte mit einem Monatseinkommenvon
unter R 3.500 (z. Z. ca. 270 €) noch Hoffnung machen, ein
voll subventioniertes Haus zu erhalten, so lange sie auf einer Warteliste stehen. Die Zahl der öffentlich geförderten
Wohnungsfertigstellungen ist im letzten Jahrzehnt aber von
über 250.000 Einheiten jährlich auf unter 150.000 gesunken (vgl. Mukorombindo 2014:2). Nach Einschätzung der
Finanzkommission des Parlaments sind auch Haushalte von
Wohnungsnot betroffen, deren Einkommen deutlich über R
3.500 liegt und dennoch zu niedrig ist, um auf dem privaten
Markt ein Haus zu erwerben. Südafrikanische Banken sind
zwar bereit, auch Kreditnehmern mit geringem Eigenkapital Geld zu leihen. Für die Summen, die sich Haushalte mit
einem Einkommen von unter R 15.000 (ca. 1.150 €) borgen
könnten, gibt es auf dem Markt aber kaum Angebote. Ursachen für diese Marktlücke sei einerseits die Risikoscheu
der Developer und Kreditinstitutionen, andererseits die Erwartung der Verbraucher, dass kreditfinanzierte Häuser eine
deutlich bessere Qualität aufweisen als das kostenlose Produkt für die untersten Einkommen (vgl. FFC 2011:11).
Ein Aufholen des „Rückstands“ von ca. 2,2 Mio. Wohneinheiten würde nach einer Schätzung von 2011 öffentliche Investitionen in Höhe von mindestens 300 Mrd. Rand (damals 30
Mrd. €) erfordern und liegt nach Ansicht der Kommission
weit jenseits der finanziellen Möglichkeiten des Staates (FFC
2011:15) – zumal die Weltfinanzkrise auch in Südafrika zu einem Einbruch des Wirtschaftswachstums und zu einer Reduzierung der Steuereinnahmen geführt hat. Daher hat das
Präsidialamt das inzwischen als Department of Human Settlements (DHS) firmierende Ministerium, Provinzregierungen und andere Fachressorts im Jahr 2010 auf quantitative
Vorgaben für die Aufwertung von informellen Siedlungen,
den Bau von Mietwohnungen, Kreditsubventionen sowie
die Bereitstellung öffentlichen Baulandsverpflichtet (The
Presidency 2010). Gleichzeitig wurden neue Institutionen
geschaffen, welche die Gemeinden, die bisher nur über sehr
eingeschränkte Kompetenzen in der Wohnungspolitik verfügen, bei der Durchführung der Programme unterstützen
sollen. Im Folgenden wird auf Grundlage von Regierungsdokumenten und Studien von Verbänden ein Zwischenfazit
dieser Reformansätze gezogen.
Informelle Siedlungen: Mit der o. g. Zielvereinbarung hat
sich die Regierung verpflichtet, die Situation von 400.000
Haushalten in „gut gelegenen“ informellen Siedlungen bis
2014 durch Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und
die Gewährung von Nutzungsrechten zu verbessern (The
© (1) The Presidency 2010; (2) DHS 2014b; (3) DHS 2013; eigene Zusammenstellung.
Langsame Neuorientierung
und Diversifizierung
Zielvorgabe
2010-2014(1)
Bilanz 2014(2)
Zielvorgabe
2014-2019(2)
400.000
447.780
750.000
k. A.
463.504
563.000
Öffentliche Wohnungsunternehmen
20.000
15.225
10.000
Gemeinnützige Wohnungsunternehmen
24.312
4.535 fertig gestellt
12.802 im Bau
27.000
Institutionelle Förderung (diverse Träger)
8.847
2.249
k. A.
Privatsektor
26.600
10.368(3)
35.000
162.800
k. A.
129.645
40.000
Fördertatbestände
Infrastrukturelle Aufwertung von Haushalten in
informellen Siedlungen
Voll subventionierter Wohnungsbau für Haushalte
mit sehr geringen Einkommen
Mietwohnungsbau
Kredite privater Banken
Wohnungsbaukredite für
die untere Mittelschicht
(sog. ‚Marktlücke‘)
Kredite staatlicher Entwicklungsbanken
600.000
‚finanzierungsgebundenes individuelles
Subventionsprogramm‘
(FLISP)
k. A.
7.070(3)
70.000
Vergabe von gut gelegenem Land für Wohnungsbau
für Geringverdiener und die untere Mittelschicht (in
ha)
6.250
11.308
10.000
Tabelle 1: Quantitative Zielvorgaben und Ergebnisse der südafrikanischen Wohnungsbauförderung
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Gerhard Kienast
Mandelas Versprechen
© Gerhard Kienast
Siedler kostenlos mit Häusern versorgt zu
werden (vgl. Topham 2013:15). Daher ist die
Angabe von 447.780 Haushalten, die bereits bis 2014 von Verbesserungen profitiert
habensollen (DHS 2014b:8), mit Vorsicht
zu genießen. Immerhin ist es aber gelungen, das Ziel der schrittweisen Konsolidierung informeller Siedlungen in der offiziellen Wohnungspolitik zu verankern. Dafür
spricht die Fortschreibung der Zielvereinbarung für die Regierungsperiode 2014-2019,
die konkrete Ausstattungsverbesserungen
für 750.000 Haushalte vorsieht.
Abb. 4: Bewohner von Zwischenumsetzwohnungen (Buffalo City)
© Gerhard Kienast
Presidency 2010: 14). Ein National Upgrading Support Programme (NUSP) wurde eingerichtet, um 49 Lokalverwaltungen zu unterstützen, die etwa drei Viertel aller informellen Siedlungen beherbergen (The Presidency 2010: 9).
Erstes Ziel des Programms war die Erstellung detaillierter
Pläne für über 1.700 Gebiete. Da es in Südafrika bisher nur
wenige Nichtregierungsorganisationen und Planungsbüros gibt, die sowohl das nötige Ingenieurswissen als auch
Kompetenzen in der Gemeinwesenarbeit mitbringen, bemüht sich NUSP um die Bildung interdisziplinärer Teams.
Das Haupthindernis für inkrementelle Strategien besteht
aber wohl in der, durch die bisherige Förderpolitik entstandene – und von Lokalpolitikern genährten – Erwartung der
Abb. 5: Integrierte Entwicklung von Mietwohnungsbau und
Einfamilienhäusern in Fleurhof ( Johannesburg)
Mietwohnungsbau: Verschiedene Fördermechanismen sollten in der Regierungsperiode
2010-2014 den Bau von insgesamt 80.000
gut gelegenen und erschwinglichen Mietwohnungen („affordable rental housing”) ermöglichen. Dieses Ziel wurde klar
verfehlt. So hat das Community Residential Unit Programme
bis Anfang 2014 Förderung für 15.225 Einheiten gewährt, die
Geringverdienern mit einem Einkommen von unter R 3.500
pro Monat zugutekommen (vgl. Tabelle 1). Verbindliche Zahlen über die Fertigstellungen liegen aber nicht vor. Gemeinnützige Wohnungsbauträger, die durch das Social Housing
Programme gefördert werden und an Haushalte mit einem
Einkommen von bis zu R 7.500 vermieten dürfen, hatten bis
dato lediglich 4.535 Einheiten fertiggestellt. Etwa 12.800
weitere Einheiten waren im Bau. Darüber hinaus haben im
genannten Zeitraum auch private Vermieter unterschiedlicher Größenordnung 10.368 Wohneinheiten errichtet. Diese Zahlen addieren sich nur auf etwas mehr als die Hälfte
der anvisierten 80.000 Wohnungen. Dies zeigt, wie schwer
sich Südafrika nach wie vor mit dem Mietwohnungsbau tut,
obwohl sich nationale und internationale Expertenseit Jahren für das Instrument einsetzen (vgl. Tissington 2011; Cross
2013). Immerhin wurden die für den sozialen Wohnungsbau
bereit gestellten Mittel stark erhöht und sollen auch weiterhin steigen (NASHO/HDA 2013:20).
Kreditsubventionen für mittlere Einkommensgruppen:
Schließlich versucht die Regierung auch die o.g. „Marktlücke“
durch ein ‚finanzierungsgebundenes individuelles Subventionsprogramm‘ (FLISP) zu schließen. FLISP unterstützt Haushalte, die über der Einkommensgrenze von R 3.500 liegen
und eine Hypothekenfinanzierung vereinbart haben, durch
degressive Zuschüsse bei der Rückzahlung ihrer Kredite. 2012
wurde das Programmauf Haushalte mit einem Einkommen
bis zu R 15.000 ausgeweitet. Zusammen mit der (inzwischen
gescheiterten) Einführung einer staatlich garantierten Hypothekenversicherung sollte FLISP die „Verbesserung der Finanzierung von 600.000 Wohnungsangeboten“auf dem freien
Markt sicherstellen (The Presidency 2010:38 f.). Obwohl auch
dieses Ziel klar verfehlt wurde, zeigt die Zusammenarbeit mit
dem Privatsektor langsam Wirkung. Bis zum September 2013
wurden 36 FLISP-Projekte mit insgesamt 7.070 Wohnungen
genehmigt und vier Absichtserklärungen zwischen der National Housing Finance Corporation und Privatbanken unter-
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Mandelas Versprechen
Alternativen zu einem uneinlösbaren Versprechen?
Diese Momentaufnahme zeigt, dass die südafrikanische Wohnungspolitik in den letzten Jahren in Bewegung geraten ist, auch wenn der
Bau von monoton gereihten Schlichthäusern
noch nicht der Vergangenheit angehört. Zwar
hat bereits der von 2009 bis 2013 amtierende
Siedlungsminister Tokyo Sexwale (2013) eingeräumt, dass die Subventionierung kostenloser
Häuser für die Ärmsten der Armen wenig nachhaltig ist, versprach aber deren Fortsetzung
„solange das Land unter dem dreifachen Übel
der Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit
leidet“. Seine Nachfolgerin Lindiwe Sisulu, die
das Amt bereits früher bekleidete, hat seitdem
einen „Stichtag“ ins Gespräch gebracht, nach
dem nur noch Südafrikaner von über 40 Jahren
einen Anspruch auf Wohnungsbausubventionen haben sollen. Eine solche Regelung würde
große Empörung unter den Hüttenbewohnern
Abb. 6: Sites and services – Staatliche Unterstützung für Selbstbau in Nellhervorrufen (vgl. Pithouse 2014). Ohnehin ist
mapius (Tshwane)
die Wohnungsnot eine der Hauptursachen der
zeichnet (DHS 2013). Dadurch entstehen Wohnsiedlungen,
städtischen Proteste, die im letzten Jahrzehnt stetig zugedie verschiedene Wohnungstypologien und Preiskategorien
nommen haben (DHS 2014a:30 f.).
kombinieren und neue Möglichkeiten für soziale Integration
schaffen. Ohne geeignete Planung kann die Kooperation mit
Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass die bei den letzten
privaten Bauträgern aber auch neue Formen räumlicher TrenWahlen gerade in den Großstädten in Bedrängnis geratene
nung hervorbringen, wenn unterschiedliche EinkommensRegierungspartei den staatlich gewährten Anspruch auf
gruppen innerhalb einer Siedlung durch Straßen und Landein individuelles Hausprodukt bald aufkündigt. Schließlich
schaftselemente getrennt werden (vgl. Haferburg 2013).
handelt es sich dabei um ein mächtiges Instrument soziopolitischer Kontrolle, wie Huchzermeyer (2003:600) beGut gelegenes Land: Alle vorgenannten Trägerformen sind
reits vor Jahren herausgearbeitet hat, denn der individuelle
auf gut gelegenes öffentliches Land angewiesen. Mit der
Anspruch wirkt der Selbstorganisation und Selbsthilfe der
Zielvereinbarung von 2010 verpflichtete sich die Regierung
Siedler entgegen und begünstigt stattdessen klientelistimindestens 6.250 ha für Wohnungsbau für untere Einkomsche Beziehungen zu lokalen Politikern.
men und Mietwohnungen bereit zu stellen (The Presidency 2010:36). Die 2008 geschaffene Housing Development
Da die Städte nun mehr Kompetenzen in der WohnungspoliAgency (HDA) wurde beauftragt, auf allen Regierungstik erhalten und die Mobilisierung öffentlicher Liegenschafebenen geeignete Liegenschaften zu identifizieren, ihre
ten in Gang gekommen ist, stellen sich für die südafrikaniÜbertragung zu erleichtern und den Bau von Siedlungen
sche Stadtplanung viele neue Aufgaben. Damit es endlich
vorzubereiten. Nach offiziellen Angaben konnte die HDA
zu einer kompakteren Weiterentwicklung der südafrikaihre Zielmarke für die Jahre 2010-2014 mit 11.308 ha sonischen Städte kommt, müssen neue Standorte besser erschlossen und von vorne herein mit einer höheren Dichte
gar übertreffen (DHS 2014b:9). Dennoch stellt der Transfer öffentlicher Liegenschaften nach wie vor eine riesige
geplant werden. Noch immer fließen die Subventionen vorwiegend in freistehende Einfamilienhäuser. Sie immer enger
Herausforderung dar. Eine im Auftrag der HDA und des
Städtenetzwerks SACN durchgeführte Untersuchung beaneinander zu rücken ist sicher keine Lösung (vgl. Abb.2).
richtet von zähen Verhandlungen zwischen Ministerien
Zwar gibt es erste Beispiele der Mischung von Wohnungstyund Kommunalverwaltungen, die sich über zehn Jahre und
pologien, Eigentumsformen und Einkommensgruppen (vgl.
Abb.5). Ob diese sich unter den Marktakteuren durchsetzen,
länger hinziehen können (SACN/HDA 2014:79 f.). Obwohl
die Verwaltungen der Großstädte als vergleichsweise leisist aber längst nicht gewiss.
tungsfähig gelten, fehlt es nach Ansicht der Gutachter an
Verhandlungsgeschick und am Mut Land in letzter KonseÄhnlich wie in Lateinamerika (vgl. Gilbert 2014) wurden
Mietwohnungen und andere Besitzformen von der Politik
quenz auch zu enteignen. Darüber hinaus bemängeln die
Autoren, dass Fragen der Bodenpolitik im Rahmen der intezu lange vernachlässigt und Wohnungseigentum galt als
grierten Entwicklungsplanung und bei der Aufstellung von
einzig mögliches Ergebnis der Aufwertung informeller Siedlungen (Payne 2008). Damit allmählich Alternativen zu dem
Raumentwicklungsplänen keine Rolle zu spielen scheinen.
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langfristig nicht tragfähigen Fördermodell entstehen, ist es
Südafrika zu wünschen, dass sich die Diversifizierung der
Wohnungspolitik fortsetzt und dass neben verdichtetem
Mietwohnungsbau in Innenstädten auch die vom National
Upgrading Support Programme propagierten inkrementellen Wohnkonzepte Verbreitung finden. Internationale Vergleichsstudien haben die Behauptung, dass die Bewohner
von Selbstbausiedlungen nur durch Eigentumstitel Sicherheit und Entwicklung erlangen können, längst widerlegt
(Payne 2008). Viele Länder mussten erfahren, dass kostenlose Wohnungen am Ende nicht den ärmsten Bevölkerungsgruppen zugutekommen (Gilbert 2014). Gleichzeitig zeigen
viele Beispiele, dass man durch die Gewährung kollektiver
Nutzungsrechte und Basisinfrastruktur eine schrittweise
Konsolidierung einleiten kann (Royston 2014).
¢
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Schlüsselwörter: Bodenpolitik – Wohnungspolitik – informelle Siedler – städtische Armut - Südafrika
Keywords: housing policy – informal settlers – land policy – South Africa – urban poverty
Zusammenfassung: Seit 1994 hat die südafrikanische Regierung
fast 3,4 Mio. Wohneinheiten für Geringverdiener gefördert und
konnte dennoch nicht mit der Nachfrage Schritt halten. Das
allgemeine Versorgungsversprechen erscheint uneinlösbar. Eine
auf Diversifizierung und schrittweise Verbesserung von Selbstbausiedlungen zielende Reform der Förderung wurde eingeleitet,
stößt aber auf gewaltige Schwierigkeiten.
Abstract: Since 1994, the South African Government has funded nearly 3.4 million housing units for low income households
and still could not keep up with demand. The general promise of housing delivery appears irredeemable. Reforms aiming
at the diversification of the housing subsidy system and the
gradual improvement of DIY settlements are underway, but
face tremendous difficulties.
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© Ruanda, Antje Ilberg
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Antje Ilberg
Umsetzung einer
integrativen Wohnpolitik
Von der Debatte zur politisch priorisierten Umsetzung am Beispiel Ruandas
Ruanda verfolgt eine Reihe von Reformen, die auf
eine Verbesserung der Lebensbedingungen und die
Erbringung von Serviceleistungen für die Bevölkerung abzielen. Die jüngste nationale Fünf-JahresEntwicklungsplanung unterstreicht die Entscheidung, den Herausforderungen aus aktuellen
Verstädterungsprozessen in einer aktiv lenkenden
Rolle zu begegnen. Ein Grundanliegen im Kontext
beschleunigten Stadtwachstums ist der Zugang
zu Wohnraum. Seit etwa 2005 wurde der Weg zu
einer beispielhaften Wohnpolitik geebnet. Eine der
Reformkomponenten, die mit der Regularisierung
von Grundstückseigentumsrechten den Weg in einen offenen Immobilienmarkt unterstützte und die
Bildung eines privaten Bau- und Immobiliensektors
anstieß, ist die schon umgesetzte Bodenreform.
Antje Ilberg, 1973, Dr.-Ing.,
Studium der Architektur
und Stadtplanung in Dresden und London. Beraterin
des Ministeriums für Infrastruktur in den Bereichen
Stadtentwicklung, Wohnungsbau und Governance
in Kigali/Ruanda
I
m Vordergrund der 2015 verabschiedeten Wohnpolitik steht
Zugang zu Wohnraum für Alle. Priorisiert wird neben der Thematik der Nachhaltigkeit von Zielen der Siedlungsentwickung
auch eine Vielschichtigkeit von Zugangsmodellen zu Wohnraum, die alle Bevölkerungsschichten in die Strategie integriert.
Strategiebildung seit 2005
Seit etwa 10 Jahren rückt die Gestaltung von Strategien zur
Lösung des Wohnraumproblems in Ruanda zunehmend in
den Vordergrund. Bahnbrechend war ein Pilotprojekt mit 250
kostengünstigen Wohnhäusern, das zum Umdenken in Grundsatzfragen beitrug. Bis dahin wurden ein Recht auf Leben in
der Stadt für Einkommensschwache in Frage gestellt und die
Verwendung lokal üblicher Baumaterialien als nicht legitim
betrachtet. Das partnerschaftliche Projekt führte 2006 zur
Legalisierung von lokalen Baumaterialien, indem der öffentliche Bauträger eine optimierte Lehmbauweise anwandte und
die beteiligte Immobilienbank Darlehen für den Erwerb der
bautechnisch optimierten aber einfachen Gebäude vergab.
Das zwischenzeitliche Baugesetz von 2009 und das 2015 verabschiedete, es ablösende und umfangreichere Gesetzeswerk
betrachten seitdem lokale Baumaterialien jeglicher Herstellungsart als legal, sofern sie baustrukturellen und umwelttechnischen Anforderungen gerecht werden.
Die Pilotsiedlung blieb die einzige bislang umgesetzte Siedlung, die in den formellen Markt eingebundene Wohnangebote an untere Einkommenschichten macht. Grund dafür mag
der kurz darauf aufgekommene Anspruch gewesen sein, sich
trotz der im Projekt erreichten Baudichte hin zu mehrgeschossigen Wohngebäuden zu orientieren und effizientere Bautechnologien zu suchen. Tatsächlich sind die eingeschränkte
Verfügbarkeit von erschließbaren Bodenflächen und der hohe
quantitative Bedarf zwei der größten Herausforderungen im
kleinen und dicht besiedelten Ruanda.
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© Antje Ilberg, 2013
Antje Ilberg
Umsetzung einer integrativen Wohnpolitik
Abb. 1: Batsinda, die erste städtische Low Cost Housing-Siedlung im ruandischen Wohnungsmarkt
Als Ergebnis der 2004 verabschiedeten Bodenreform wurden nach einer Testphase zwischen 2008 und 2010 die
Landeigentumsverhältnisse aller Grundstückseigner auf einer vereinheitlichten Grundlage registriert und die zuständigen Verwaltungsinstitutionen und -prozesse reformiert. Das
Thema Nachhaltige Stadtentwicklung wurde als Priorität in
der aktuellen Nationalen Entwicklungsstrategie 2013-2018
(Second Economic Development and Poverty Reduction
Strategy, abgekürzt: EDPRS2) verankert, die Ruandas Weg
zu ökonomischem Fortschritt und Wohlstand skizziert. Mit
der Registrierung aller Landeigentumsansprüche und der
Verwaltungsreform ist der Boden- und Immobilienmarkt als
legalisierter Teil der nationalen Ökonomie noch jung. Der
Rechtsrahmen ist abschließend zu harmonisieren, und die
Kapazitäten im Immobilien- und Ingenieurwesen und in der
Bauindustrie benötigen beständige Förderung mit dem Ziel,
Planungs- und Bauqualität zu erhöhen, Baupreise zu senken
und Wohnungsbau effizienter zu machen.
Mit der Entwicklungsstrategie EDPRS2 wurde auch speziell
die Unterstützung des Zugangs zu Wohnraum zu einem der
obersten Teilziele im neuen Urbanisierungssektor. Die eingehende Illustrierung des Wohnraumbedarfs im Kontext der finanziellen Möglichkeiten der Einwohner half, das Bewusstsein
durchzusetzen, dass bisherige Landvergabe- und Wohnungsbauprozesse nicht mehr nur einer Minderheit zugutekommen
dürfen, und in der Diskussion um sozial verträgliche Stadterneuerungsstrategien hat ein Umdenken stattgefunden.
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Neue Städtische Agenda und Sustainable Development Goals
Wir stehen vor dem Beginn der Neuen Urbanen Agenda
(New Urban Agenda) mit dem ausdrücklichen, international geteilten Ziel der Erzeugung von Nachhaltigkeit und von
Synergie zwischen Urbanisierung und sozialökonomischer
Entwicklung. 17 Nachfolgeziele der Millenniums-Entwicklungsziele, die sogenannten Nachhaltigkeits-Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals) werden im September 2015 beschlossen. Armutsbekämpfung sowie Schutz und
Management natürlicher Ressourcen als Basis ökonomischen und sozialen Fortschritts bleiben, neben der zusätzlich angestrebten Transformation in nachhaltiges Konsum–
und Produktionsverhalten leitbildend (UN, 2015).
Ruandas Entwicklungsstrategie EDPRS2 verkörpert bereits
die Leitgedanken der Neuen Städtischen Agenda. Ruanda
hat sich für eine aktive Unterstützung von Urbanisierungsprozessen entschieden, um planerisch begleitete Urbanisierung mit wirtschaftlichem Wachstum zu vereinen (MININFRA/MINALOC, 2013). Urbanisierung und Lndlicher
Siedlungsbau wird als Schlüsselsektor für die erfolgreiche
Umsetzung Ruandas Ziels, ein Schwellenland zu werden,
hervorgehoben, und die Produktion adäquaten Wohnraums
und nachhaltige Stadt- und Siedlungsentwicklung werden
auch nach Ende des EDPRS2 relevante Themen bleiben.
© Antje Ilberg, 2015
Antje Ilberg
Umsetzung einer integrativen Wohnpolitik
Abb. 2: Mit der Landreform boomt der Bausektor und höhere Baudichten setzen sich langsam durch. Noch werden die höchsten
Einkommensschichten adressiert
Herausforderungen
und neue Zielstellungen
Aktuell bestehen die Herausforderungen für eine nachhaltige Wohnpolitik in der Verfügbarkeit von Ressourcen auf
makroökonomischer Ebene und für die Einzelhaushalte,
in der notwendigen Förderung der Kapazitäten im jungen
Privatsektor sowie in den zu stärkenden institutionellen
Kapazitten für eine effektive Sektorkoordinierung.
Wegen äußerst geringer Einkommen mit einem durchschnittlichen Haushaltsjahreseinkommen von etwa 350
Euro (Republic of Rwanda, 2011) und unproportional hoher Baukosten von mindestens 25.000 Euro pro Einheit
mit einem deutlich höherem Durchschnittswert, sind
Wohnangebote aus dem wachsenden formellen Sektor für
die meisten Haushalte weiterhin unzugänglich. Die wenigsten Haushalte können sich für ein Eigenheimdarlehen
qualifizieren. Entsprechend Erhebungen durch eine sich
lokal etablierende gemeinnützige Baugesellschaft haben
Darlehensnehmer in Ruanda extreme Schwierigkeiten,
Darlehen von mehr als etwa 40.000 Euro zu tilgen. Hohe
Darlehenszinsen sind ein weiterer erschwerender Faktor
mit allerdings untergeordneterer Rolle; eine Zinssenkung
würde in erster Linie die Kaufkraft mittlerer und oberer
Einkommenschichten erhöhen.
Während die Beschäftigung ungelernter Arbeiter in der Versorgungskette im Bausektor die Ernährungsgrundlage für
viele städtische Familien bildet, halten solche Initialkosten
die Baukosten hoch. Ineffiziente Gebäudegrundrisse und
Bautechnologien sowie die Quantität und Qualität lokal produzierter Baumaterialien sind zu optimierende Aspekte im
technologischen Bereich.
Ein Schwierigkeit ist, dass die positive Wirkung der landesweiten Grundstücksregistrierungen dadurch eingeschränkt ist, dass die Entwicklungsvorgaben neuer
städtischer Bebauungspläne die Nutzung der privat registrierten Grundstücke für den Eigenbedarf erschweren.
Die Planungen schlagen sich damit indirekt auf die Eigentumssicherheit durchschnittlicher Grundstücksbesitzer in
Stadtbereichen nieder. Die neue Wohnpolitik antwortet
auf das erkannte Problem aus dem Reformprozess mit
klaren Lösungsvorschlägen.
Ruandas Wohnpolitik im internationalen Kontext und Lösungswege
Als Ergebnis einer Periode intensiver Konsultationen, wie
das Wohnungsproblem in Ruanda zu lösen ist, wurde eine
innovative und ganzheitliche Wohnpolitik erarbeitet und
im März 2015 vom Kabinett verabschiedet. Deren Umsetzung steht nun im Vordergrund. Das Politikpapier setzt auf
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© CDC/Info-Hub, 201
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Umsetzung einer integrativen Wohnpolitik
Abb. 3: Erschwinglicher Wohnraum ist bisher noch fast ausschließlich im informellen Bausektor zu finden. Informell bebautes Grundstück in Biryogo / Kigali (Nutzer: 7-köpfige Familie und 12 weitere Mieter, Sanitärbedigungen: Eine Latrine und eine Dusche, Grundstücksgröße: 240 m2)
intensive Zusammenarbeit mit dem Privatsektor und orientiert sich an drei Grundpfeilern – Öffentlicher Nutzen;
Ressourceneffizienz, Nachhaltige Technologien und Professionalität; sowie Regierungsführung und Partnerschaft. Die
Umsetzung unter Beachtung aller Komponenten, die zur
Reduzierung von Baukosten und zum Wachstum nachhaltiger Wohnviertel beitragen können, verspricht langfristigen
Erfolg. Im Mittelpunkt stehen Zugangsmodelle zu Wohnraum unter Berücksichtigung unterschiedlicher sozioökonomischer Bevölkerungsschichten und Lebenssituationen.
Um die rasante Urbanisierung in ein positives ökonomisches Wachtum transformieren zu können und vor dem
Hintergrund des immensen städtischen Wohnraumbedarfs
und eingeschränkter Bodenressourcen, konzentriert sich
Ruanda auf effiziente und ressourcenschonende Lösungen.
Geschichtlich bedingt ist der Boden in Form vieler kleiner,
kaum erschlossener Grundstücke jeweils in Familienpacht,
was im städtischen Kontext eine Schwierigkeit für die nachhaltige und ressourcenschonende Entwicklung darstellt,
denn gleichzeitig sind die Grundstücke sowohl in innerstädtischen Bereichen als auch in Randlagen einem neuen enormen Marktdruck ausgesetzt.
Die notwendige Versorgung mit Infrastruktur und die
zum Ziel gesetzte Fokussierung auf Nachbarschaftsqualität machen faire, partizipative Verwaltungskonzepte
im Interesse der Öffentlichkeit und der Privateigentümer
unumgänglich. Ruandas Wohnpolitik lenkt hin zu Methoden kollektiver Finanzierung und Landkonsolidierung, um
auch die Eigentümer kleiner Grundstücke an der nationalen ökonomischen Entwicklung teilnehmen lassen und
die Erfolge der landesweiten Grundstücksregistrierung
hinsichtlich einer effizienteren Bodennutzung unterstützen zu können. Da die geringe individuelle Kaufkraft und
die kleinen Flächenzahlen städtischer Einzelgrundstücke
wohl die größten Hindernisse für die Teilnahme privater
Haushalte an Wohnbauinvestitionen sind, propagiert das
Politikpapier intensiv Szenarien der organisierten Zusammenarbeit in Wohnungskooperativen, vegleichbar mit For-
Anzeige
Stadtentwicklung
Marketing
Regionalwirtschaft
Einzelhandel
Wirtschaftsförderung
Citymanagement
Immobilien
Organisationsberatung
www.cimadirekt.de
Kultur
36
Herausgeber CIMA Beratung + Management GmbH
CIMA Institut für Regionalwirtschaft GmbH
Tourismus
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Antje Ilberg
Umsetzung einer integrativen Wohnpolitik
men von Wohnungsbaugenossenschaften in Schottland,
Deutschland oder Österreich. Indem deren Etablierung unterstützt wird, sollen die Kaufkraft von Einzelhaushalten
erhöht, Investitionskosten in Bauleistungen und –materialien gesenkt, sowie Enteignungen ausdrücklich vermieden
werden. Ein vorgeschlagener Fond könnte Darlehensgaratien für Kooperativen oder auch für individuelle Darlehensnehmer anbieten. Während zum Beispiel für Zimbabwe argumentiert wird (Chirisa et al., 2015), dass fehlende
staatliche Kapazitäten zur Bildung von Wohnkooperativen
mit einer Klientelwirtschaft führen, wird in Ruanda die Bildung von Kooperativen in staatlicher Initiative mit meist
arbeitgeberbasierten Gruppierungen unterstützt. Der
Peoples Housing Process, ein Teilprogramm Südafrikas
Wohnpolitik (Republic of South Africa, 2009), ist ein regionales Beispiel für ein staatliches Programm, das selbstorganisierte Nachbarschaftsinitiativen zu unterstützen anbietet, indem es sie im Austausch mit der Bevölkerung in
einen Planungs- und Budgetierungsprozess einbindet. Die
Grundidee kollektiver Szenarien wird auch in einem neuen
Geschäftsplan der Ruandischen Entwicklungsbank (BRD)
aufgenommen. Die besondere Herausforderung für ruandische Entwicklungskooperativen, die im Wohnungsbau
aktiv werden wollen, ist es, stdtische Landkonsolidierungsprozesse als Bestandteil von Stadterneuerung anzugehen.
Solche komplexen Prozesse müssen sich erst sukzessive in
enger Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und den Lokalverwaltungen etablieren.
Das Politikpapier unterstreicht zusätzlich die Rolle eines
aktiven Mietwohnungsmarktes. Mehr als die Hälfte der
städtischen Haushalte sind Mieter (NISR, 2011). Es ist der
informelle Sektor, der bislang den Bedarf an bezahlbaren
Mieteinheiten deckt. Spezielle Programme, die Investitionen durch Privatpersonen, Unternehmen oder Formen von
Wohnkooperativen in qualitative, erschwingliche Mietwohnungen ermutigen, sind daher zentraler Teil der Strategie.
Die Wohnpolitik erkennt an, dass eine Reihe von Haushalten besonders intensive Unterstützung benötigt und keine
finanzielle Kapazität hat, selbst kostenoptimierte Wohneinheiten zu beziehen. Daher beinhaltet es Vorschläge für
die Schaffung eines Kontingentes an Sozialwohnungen mit
Hilfe des Nichtregierungssektors. Innovativ ist dabei ist die
Vision, zu subventionierende Sozialwohnungen langfristig
mit Hilfe vergünstigter Rückzahlungsmechanismen in den
offenen Wohnungsmarkt einfließen lassen zu können, denn
Verkäufe solcher Wohneinheiten wären ohnehin nicht zu
verhindern. Das bietet sozial schwachen Haushalten die
Chance zu sozialökonomischer Verbesserung und entstigmatisiert gleichzeitig sozialen Wohnungsbau.
Auf dem EDPRS2 gründend, unterstützt Ruanda aktiv die
Land-Stadt-Migration und positioniert sich aktiv in seiner Rolle, die Herausforderungen durch Urbanisierungsprozesse zu
meistern. Die Politik unterscheidet nicht zwischen ländlichen
und städtischen Bewohnern im Sozialsystem, wie z. B. in China (Stephens, 2010) und bietet Strategien, die städtische Zu-
zügler aktiv unterstützen können. Dazu zählen die angestrebten Verdichtungsmaßnahmen, die verstärkte Orientierung
auf die positiven sozioökonomischen Effekte von Mischgebieten, sowie die Ermöglichung schrittweiser Aufwertungen
individueller Wohnsituationen im Rahmen von Stadterneuerungsprogrammen. Die Notwendigkeit der Erhaltung und Integration des bestehenden informellen Wohnraumbestandes
wird deutlich hervorgehoben. In diesem Kontext bedurfte
es auch einer Regulierung von informellen Wohngebäuden
als Teil des neuen Planungs- und Baugesetzes, denn mit der
Grundstücksregularisierung wurden zwar Eigentumsansprüche auf die Grundstücke geklärt aber der Status informell
entstandener Wohngebäude auf den regularisierten Grundstücken war weiterhin unklar gewesen.
Die im Politikpapier beinhalteten Vorschläge für Steuerregulierungen zielen auf eine Halbierung der Profitsteuern für
Investoren im Bereich erschwinglicher Wohnaumschaffung,
sowie auf eine Revision der Systematik für Grundsteuern
und Mieteinkommenssteuern. Mieteinkommen aus kleinen,
erschwinglichen Wohneinheiten sollen auch bei insgesamt
hohem Mieteinkommen geringer versteuert werden.
Mit der neuen Wohnpolitik setzt Ruanda ähnlich wie auch
Osteuropa oder China Konzepte um, die auf Unterstützung des Immobilienmarktes entsprechend den Empfehlungen der Weltbank zielen, die 1993 zur Adressierung
von Immobiliennachfrage und –angebot gegeben wurden
(World Bank, 1993): Entwicklung von Eigentumsrechten
zur Ermöglichung eines freien Marktes und zur Eigentumssicherheit; Entwicklung von Darlehensfinanzierung
und anbietender Institutionen einschließlich innovativer
Finanzierungsangebote auch für Einkommenschwache,
und Rationalisierung von gezielten und transparenten
Subventionen unter Vermeidung von Verzerrungen im Immobilienmarkt. Drei weitere Aspekte zielen auf koordinierte Infrastruktur-Serviceleistungen; ein Gleichgewicht von
Regularien in Unterstützung von Wohnungsbau; und die
Stärkung der lokalen Bauindustrie durch Wettbewerb, verringerte Handelsbarrieren und lokale Baumaterialherstellung und –nutzung. Zustzlich sind institutionelle Funktionalität und die Einbeziehung öffentlicher, privater und
Nichtregierungsorganisationen oberste Priorität.
Erfolgreiche Wohnungsbauprogramme lassen sich auch in
Ländern mit begrenzt liberalisierter Wirtschaft beobachten.
Staatliche Bauprogramme dürfen dabei nicht so starr sein,
dass damit verbundene Regularien von den Leistungsempfängern umgangen werden und ein Nährboden für Korruption geschaffen wird.
Erste Umsetzungmaßnahmen
Aufgrund der Komplexität von städtischen Managementprozessen vor dem Hintergrund öffentlicher Verantwortung,
Nachhaltigkeit, und Gleichbehandlung verbleiben immer
noch Hürden, die Ruanda nach der konkreten Weichenstel-
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37
Antje Ilberg
Umsetzung einer integrativen Wohnpolitik
lung bei der Umsetzung seiner Wohnpolitik zu meistern
hat. Eine Reihe von Umsetzungsinitiativen werden gegenwärtig in Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor analysiert und geebnet. Erarbeitet werden
die Rahmenbedingungen für einen Fond, in dem öffentliche Ressourcen für Infrastruktur und soziale Einrichtungen
explizit für die Erschließung neuer Wohngebiete gebündelt
werden sollen. Es werden Subventionsmodelle diskutiert,
die Nachbarschafts- und Gebäudesanierung, individuelle
Sparprogramme, Darlehensgarantien für gering verdienende Haushalte, Unterstützung für Darlehensanzahlungen,
Mietsubventionen und andere Sozialprogramme etablieren
können. Eine Möglichkeit der Zusammenarbeit mit dem Privatsektor, die sich im Analyseprozess befindet, ist die Aufstellung von Subventionsprogrammen, die Finanzinstituten
und Nichtregierungsorganisationen Kapital für Wohnungsbauprogramme zugänglich machen könnte. Hier lohnt
sich ein Blick auf die Wohnungsbauförderprogramme aus
Südafrika, wo mit Hilfe der 1996 gegründeten Gesellschaft
National Housing Finance Corporation (NHFC) Bauträger
und soziale Wohnungsbauprogramme finanziell unterstützt
werden. In Südafrika bleibt entsprechend Eigenanalyse
des NHFC allerdings weiterhin die Hürde bestehen, wie
die ärmsten Bevölkerungsschichten, die aufgrund geringer
oder irregulärer ökonomischer Aktivitäten aus dem systemischen Rahmen fallen, erfolgreich in staatlich geförderte
Subventionsprogramme einzubeziehen sind. Gute Voraussetzungen für zukünftige Subventionsmodelle und den
Zugang zu Wohnraum für alle Bevölkerungsschichten in
Ruanda sind die effektive Zusammenarbeit mit den stark
dezentralisierten Verwaltungseinheiten und die kulturell
verankerten Beteiligungsprozesse.
Wegweisend ist auch eine schon verabschiedete Verordnung,
die die Bedingungen der Zusammenarbeit zwischen Staat
und Privatsektor zur Unterstützung von Bauprojekten von
Low-Cost Wohnimmobilien regelt und die Bedingungen klärt,
unter denen Subventionen zur Unterstützung wohngebietsinterner Infrastruktur beantragt werden können. Die Fördervoraussetzungen beziehen sich insbesondere auf die gezielte
Vergabe von Wohneinheiten in den geförderten Wohngebieten an bedürftige Empfänger, auf die Zugangsbedingungen, sowie auf Prinzipien der Ressourcen-Effizienz. Indem
ein transparenter Entscheidungsprozess in der Verwendung
öffentlicher Ressourcen und ein Entscheidungskomitee eingeführt werden, wird dem Risiko anderswo beobachteten
Machtmissbrauchs bei der Ressourcenallokation, wie zum
Beispiel durch Chirisa et al., 2015 beleuchtet, entgegnet.
Ausblick
Die Wohnpolitik Ruandas reagiert sensibel und ganzheitlich
auf die landesspezifische Situation, indem sie innovative
Lösungen unter konsequenter Beachtung der herausfordernden Ausgangsbedingungen aufzeigt, um insbesondere
die eingeschrnkte Verfügbarkeit von Ressourcen sowohl
auf der Haushaltsebene als auch auf der Makroebene über
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RaumPlanung 182 / 6-2015
TRI ALOG 12 0 / 12 1 1-2 / 2 0 15
deren Bündelung zu überwinden. Es gilt nun die volle Konzentration auf strategische, technische und institutionelle
Optimierungen. Die Voraussetzungen dafür, dass die Öffentlichkeit den Nutzen aus der hohen politischen Willenskraft
ziehen kann, sind gegeben.
Als globale Handlungsempfehlung ergibt sich, die Zusammenarbeit zwischen Staat, Finanzsektor und Zivilgesellschaft bei der Aufstellung von Wohnraumprogrammen zu
intensivieren, um Finanzierungsrisiken kollektiv tragen und
Bevölkerungsgruppen mit geringen und unregelmäßigen
Einkommen integrieren zu können. Transparente Verwaltungs- und Entscheidungsprozesse komplettieren die Programme im Hinblick auf das öffentliche Interesse. Während
globale oder regionale Unterstützungsangebote strategisch
ausbaubar sind, sind diese gezielt auf Leistungen zu orientieren, die lokal nicht angeboten werden können. Eine
länderübergreifende Organisation könnte sich darauf spezialisieren, für ihre Mitgliederländer spezielle Funktionen zu
übernehmen, die diese im Entwicklungskontext gewöhnlich
nicht tragen können; sie könnte insbesondere Investitionsgarantien unter klar festgelegten Bedingungen vergeben
und gegebenenfalls auch Darlehensgarantieprogramme für
Eigenheimsuchende anbieten. Bauplanung und Ausführung
bliebe Ländersache mit dem Anspruch, lokale Baukultur zu
bewahren und zu stärken. Im Fazit kommt es darauf an, zwischen verschiedenen Interventionsebenen strategisch und
gut koordiniert zu unterscheiden. ¢
Literatur
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Antje Ilberg
Umsetzung einer integrativen Wohnpolitik
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> The World Bank (1993): Housing: Enabling Markets to Work. A
World Bank Policy Paper
Ruanda is undertaking a number of reforms aiming at an improvement of the living conditions of the population and the provision
of services. The latest national five-year development plan addresses the challenges of the current urbanization by strengthening
the role of the state. A fundamental concern is access to housing.
Internetseiten
> Citiscope: What is the new urban agenda?,http://citiscope.
org/habitatIII/explainer/2015/03/what-new-urban-agenda,
letzterZugriff22.05.2015
> United Nations, Sustainable Development: Open Working
Group Proposal for Sustainable Development Goals, https://
sustainabledevelopment.un.org/sdgsproposal, letzterZugriff
22.05.2015
> Wikipedia: Housing Cooperative, http://en.wikipedia.org/wiki/
Housing_cooperative, letzterZugriff 25.05.2015
Since 2005, new housing policies started focusing on land reform,
the regularization of property rights, a free real estate market and
private construction firms. The article concludes with recommendations how to improve the programs and policies.
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Bielefeld 2013, 264 Seiten, 15,00 Euro
© Raffael Beier
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RaumPlanung 182 / 6-2015
TRI ALOG 12 0 / 12 1 1-2 / 2 0 15
Wissenschaftlicher Beitrag. Peer reviewed.
Raffael Beier, Mariana A. Vilmondes Alves
Die Dominanz des
Quantitativen
Das Dilemma des Rechts auf angemessenen Wohnraum in Brasilien,
Marokko und Südafrika
Zwanzig Jahre sind nun fast verstrichen, seitdem
das Recht auf angemessenen Wohnraum im
Rahmen der Habitat II Konferenz in Istanbul 1996
breite internationale Anerkennung fand. Während
das Recht auf angemessenen Wohnraum vielerorts
– so auch in Brasilien, Marokko und Südafrika –
in nationale Verfassungen aufgenommen wurde,
zeigt sich auf dem Niveau seiner Umsetzung, dass
vielfach unzureichende Interpretationen dominieren. Dieser vergleichende Beitrag zeigt, dass das
Recht auf angemessenen Wohnraum in nationalen
Wohnungsprogrammen weiterhin eher quantitativ
umgesetzt wird und qualitative Aspekte der Integration und Partizipation vernachlässigt werden.
Raffael Beier, 1989,
B.Sc. Geographie, wissenschaftlicher Mitarbeiter
und Doktorand am Institut
für Entwicklungsforschung
und Entwicklungspolitik,
Ruhr-Universität Bochum
Mariana A. Vilmondes
Alves, 1988, Advogada,
M.A., Doktorandin am Institut für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik Ruhr-Universität
Bochum
D
ie zentrale Positionierung des Rechts auf angemessenen
Wohnraum (RAW, right to adequate housing) innerhalb
der Habitat-Agenda, wird mitunter als größte Errungenschaft der Istanbul-Konferenz betrachtet. Als ihr größter Nachteil
– verdeutlicht während des Vorbereitungsprozesses zu Habitat
III – kann das Fehlen einer unabhängigen Evaluation der Umsetzung des RAW angesehen werden. Im Hinblick auf die von UNHabitat als Nachfolgeabkommen der Habitat-Agenda beworbene
New Urban Agenda fällt es so schwer, Verbesserungen oder Innovationen zu diskutieren, die über bestehende Inhalte hinausgehen. Denn das RAW verspricht mehr als ein Dach über dem
Kopf. Allerdings kommen ratifizierte Prinzipien wie BewohnerPartizipation, räumliche und soziale Integration, etc. in nationalen Wohnungsprogrammen tatsächlich häufig zu kurz. Stattdessen dominiert das Quantitative, Zahlen von fertiggestellten oder
geplanten Wohnungen, die den Fortschritt öffentlichkeitswirksam sichtbar machen sollen. Dieser Beitrag greift mit Hilfe dreier
nationaler Fallstudien aus unterschiedlichen Kulturkreisen dieses
Problem auf und argumentiert für die Einführung von Evaluationsmechanismen im Rahmen einer New Urban Agenda. Dabei
wird die Umsetzung des RAW aus Sicht eines Menschenrechtsbasierten Entwicklungsansatzes und unter Berücksichtigung der
drei rechtlichen Prinzipien Partizipation, räumliche sowie soziale
Integration in nationalen Wohnungsprogrammen in Brasilien,
Marokko und Südafrika verglichen. Während Brasilien durch eine
weitreichende Verfassung im Bereich Stadtentwicklung auf sich
aufmerksam gemacht hat, haben die Wohnungsprogramme in
Südafrika und Marokko aufgrund ihres Umfangs internationale
Aufmerksamkeit erfahren.
Worauf basiert und was beinhaltet das
Recht auf angemessenen Wohnraum?
Das RAW ist ein Menschenrecht, welches in diversen internationalen Abkommen ratifiziert wurde. Es fußt im Recht auf ei-
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Raffael Beier, Mariana A. Vilmondes Alves
Die Dominanz des Quantitativen
nen angemessenen Lebensstandard, welcher 1966 erstmals
in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) anerkannt wurde.
Der ICESCR stellt ein nach internationalem Recht bindendes
Abkommen dar, welches 1976 in Kraft trat und von Marokko
1979, von Brasilien 1992 und von Südafrika im Jahr 2015 unterzeichnet wurde. Erneut aufgegriffen wird das RAW 1996
im Zuge der Istanbul-Erklärung. Im Rahmen dieser Erklärung verschreiben sich 171 Unterzeichnerstaaten – darunter
Brasilien, Marokko und Südafrika – der Habitat Agenda und
damit der Umsetzung des RAW.
Welch prominente Stellung das RAW im Rahmen von Habitat II einnimmt, zeigt sich an seiner Positionierung innerhalb der Habitat Agenda (Chapter III, A). Dort verpflichten
sich die Unterzeichnerstaaten zu einer vollständigen Realisierung des RAW im Sinne der internationalen Abkommen.
In Übereinkunft mit allen Menschenrechtsstandards erkennen die Regierungen die eigene Verpflichtung an, allen
Menschen zu ermöglichen, Wohnraum zu erlangen (Paragraph 39, Habitat Agenda). Zum einen wird hier nationalen Regierungen eine Schlüsselrolle in der Verantwortung
des RAW übertragen. Zum anderen wird deutlich, dass sich
seine Umsetzung an den Prinzipien der Menschenrechte
orientieren muss. Was dies im Einzelnen bedeutet wird im
Weiteren (Habitat Agenda, Paragraph 60) deutlich:
Adequate shelter means more than a roof over one‘s head.
It also means adequate privacy; adequate space; physical
accessibility; adequate security; security of tenure; [...];
and adequate and accessible location with regard to work
and basic facilities: all of which should be available at an
affordable cost. Adequacy should be determined together
with the people concerned, bearing in mind the prospect
for gradual development.
Das RAW stellt ein umfassendes Menschenrecht dar. Es kann
nicht auf eine reine Wohnungsfrage reduziert werden, sondern umfasst unter anderem die Garantie stadtplanerischer
und sozialer Integration sowie Bürgerbeteiligung. Im Folgenden wird gefragt, inwieweit diese Aspekte im Rahmen
der Umsetzung des RAW in nationalen Wohnungsprogrammen von Brasilien, Marokko und Südafrika berücksichtigt
worden sind bzw. berücksichtigt werden.
Brasilien – Minha Casa, Minha Vida
Auf Ebene der Wohn- und Stadtentwicklungspolitik wird
Brasilien international als ein Vorreiter unter den Schwellen- und Entwicklungsländern genannt (Turok 2014: 28). Seit
1988 ist in der brasilianischen Verfassung unter Artikel 182
die Bedeutung der sozialen Funktion städtischen Eigentums
festgeschrieben und so das Recht auf Stadt als ein kollektives Recht anerkannt (Fernandes 2007: 211). Das 2001 verabschiedete Stadtstatut (Estatute da Cidade) regelt diesen
progressiven Verfassungstext gesetzlich. Darin wird die Gestaltungsmacht von Städten gestärkt, die Einführung demo-
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kratischer Stadtsteuerungsmechanismen festgeschrieben
sowie eine umfassende Regulierung und Integration informeller Siedlungen beschlossen (ebd.: 212). Durch die Wahl
des ehemaligen Gewerkschaftsführers Lula da Silva zum
Präsidenten und der Gründung des Städteministeriums im
Jahre 2003 sind die Hoffnungen auf eine weitreichende Umsetzung dieses Reformprozesses weiter gestärkt worden.
In dieser Phase rückt auch die Wohnraumpolitik stärker
in den Mittelpunkt nationaler Politik und der erhebliche
Wohnungsmangel wird als eines der dringendsten nationalen Probleme anerkannt. Zuletzt schätzten nationale Forschungsinstitute, dass landesweit mehr als fünf Millionen
Wohnungen fehlen (FJP 2014: 12; Correira Lima Neto et al.
2013: 7). Davon betroffen sind vor allem gering verdienende Haushalte, weswegen sich der soziale Wohnungsbau
zum zentralen Politikinstrument entwickelte. Das zeigt sich
spätestens im 2007 verabschiedeten Konjunkturprogramm
PAC, dessen Ziel es ist, auf Basis öffentlicher Investitionen
das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Das PAC beinhaltet
explizit auch die Felder Stadtentwicklung und Wohnungsbau. 2009 entsteht folgerichtig im Rahmen des PAC das
nationale Wohnungsbauprogramm Minha Casa, Minha Vida
(MCMV, Mein Haus, Mein Leben). Es ist das erste großformatige öffentliche Wohnungsprogramm in Brasilien in dessen Rahmen mehr als drei Millionen öffentlich geförderte
Wohnungen entstehen sollen. Haushalte mit einem monatlichen Einkommen von unter 5.000 BRL (ca. 1.200 €) können
im Rahmen von MCMV Wohnungen erhalten. Die staatliche
Bank Caixa leitet das operative Geschäft des Programms
und bietet Bewerbern günstige Kreditkonditionen und assistiert zumeist den Städten bei der Auswahl der Personen.
Präsidentin Dilma Rousseff betonte im Mai 2015 in einer
Rede die weitreichende Bedeutung des Programms, die,
dem Recht auf angemessenen Wohnraum folgend, über die
reine Bereitstellung von Wohnungen hinaus geht. Rousseff
gibt allerdings gleichzeitig zum Ziel ihrer Amtszeit aus, 27
Millionen Haushalte im Rahmen des Programms umzusiedeln (Palacio do Planalto 2015). Hier droht die Gefahr, dass
bei einer zu starken Fokussierung quantifizierbarer Ziele
und einer rein quantitativen Bewertung, qualitative Aspekte vernachlässigt werden. Kritiker haben wiederholt darauf
hingewiesen, dass integrative und partizipative Aspekte im
Rahmen von MCMV weiter ausgebaut werden sollten, um
den Prinzipien des RAW zu entsprechen. In seinem Prüfungsbericht des Programms MCMV hat der brasilianische
Rechnungshof (TCU) unter anderem die Bedeutung des
Standorts von Wohnungsprojekten für die Umsetzung des
RAW betont (TCU 2013: 42). Der Bericht schlussfolgert, dass
zahlreiche Wohnungsprojekte im Rahmen von MCMV erhebliche Missstände im Hinblick auf die städtebauliche Integration aufweisen. Viele neue Siedlungen entstanden und
entstehen losgelöst vom städtischen Erschließungsgebiet in
der Peripherie – ohne oder mit unzureichendem Anschluss
an öffentlichen Nahverkehr und öffentliche Infrastruktur
(ebd.: 31, 42; Abb. 1). Zum Teil wurden die MCMV-Programme für zwanghaft vollstreckte Umsiedlungsmaßnahmen im
Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft
2014 genutzt (Natterer 2014). Eigene
Gespräche mit künftigen Bewohnern
der Siedlung Parque do Riacho II nahe
Brasília (Abb. 1) bestätigen diese Einschätzung: „Die nächsten Geschäfte
hier sind 15 Minuten mit dem Auto entfernt. Hier ist nur eine Buslinie, die uns
anfährt. Die Häuser bekommen schon
Risse. Ich habe bislang von keinen Informationen zu Partizipationsmöglichkeiten erfahren.“ (1) Die TCU-Studie
gibt weiter an, dass Bewohner der neuen MCMV-Siedlungen besonders den
Zugang zu Bildungseinrichtungen, zu
Nahversorgungseinrichtungen sowie
zu lokalen Arbeitsmärkten als problematisch erachten (TCU 2013: 43).
© Raffael Beier 2015
Raffael Beier, Mariana A. Vilmondes Alves
Die Dominanz des Quantitativen
Abb. 1: Die neue Sozialwohnungssiedlung Parque do Riacho II am Rande von Brasília
durch das Projekt Morar Bem/Minha Casa, Minha Vida entstanden.
Marokko – Villes Sans Bidonvilles
In Marokko kommt es zum Ende des 20. Jahrhunderts zu
ersten sozialen Reformen, wobei insbesondere die Wohnraumfrage in den Vordergrund rückt. Von 1998 bis 2002,
im Rahmen des gouvernement d’alternance (Reformregierung), werden dabei zunächst vergangene Wohnungspolitiken evaluiert, soziale Faktoren verstärkt und vermehrt Bürgerbeteiligung initiiert (Navez-Bouchanine 2008: 361 ff.).
Die Reformphase dauerte jedoch nur kurz. Schon 2002 kam
wieder eine konservativere Regierung an die Macht, dessen
neuer Wohnungsminister Hjira alte Reformprojekte aufgab
und klassischen Sozialwohnungsbau sowie die Errichtung
von Satellitenstädten propagierte (Philifert 2014: 77 f.). Ein
ehemaliger Mitarbeiter des zuständigen Ministeriums schildert diesen Wechsel wie folgt:
Man fing an sich auf den sozialen Wohnungsbau als physisches Objekt zu konzentrieren; in einer quantitativen
Logik, die den Fokus auf die Produktion von Wohnungen
nicht aber auf die Wohnenden legte. […] Hjira sagte: ‚Ich
habe ein Mandat für vier Jahre, danach werde ich quantitativ bewertet und man wird fragen: ‚Wie viele Wohnungen
habe ich produziert?‘ Deswegen wurde der Fokus auf das
Quantitative gelegt. (2)
Ein bedeutendes Beispiel für die Umsetzung dieser quantitativen politischen Leitlinie stellt das Umsiedlungsprogramm Villes Sans Bidonvilles (VSB, Städte ohne Slums)
dar, welches 2003 in Reaktion auf ein von Slum-Bewohnern ausgeführtes Selbstmordattentat in Casablanca ins
Leben gerufen wurde (Bogaert 2011: 712 f). Bewohner von
bidonvilles (3) werden in neue Siedlungen und neu gegründete Satellitenstädte (villes nouvelles) umgesiedelt,
wo sie teilweise selbst für den Bau des Hauses aufkommen müssen. In Städten wie Casablanca entstehen in
großem Maße periphere Wohnanlagen, die großteils bereits nach wenigen Jahren aufgrund mangelnder Instand-
haltung und kostengünstiger Schnellbauweise einen
schlechten baulichen Zustand und teilweise bereits Risse aufweisen (ebd.: 725). Spätestens mit dem Arabischen
Frühling hat zudem die Geschwindigkeit der Umsetzung
des VSB-Programms in großen Städten wie Casablanca
weiter zugenommen. Viele Politiker sehen eine erhöhte
Dringlichkeit die als Unruheherde stigmatisierten SlumSiedlungen aufzulösen und durch sozialen Wohnungsbau
am Stadtrand zu ersetzen.
Der quantitative Dringlichkeits-Charakter des VSB-Programms wird bei einem Blick auf die einleitend erwähnten
weitergehenden Aspekte des RAW sichtbar. Die Integration
der neuen Viertel in den urbanen Kontext weist erhebliche
Schwierigkeiten auf. Neue Siedlungen entstehen auf öffentlichen Grundstücken, welche allerdings besonders im Umfeld von Großstädten erst weit in der Peripherie vorhanden
sind. Das Beispiel des neuen Viertels Lahraouyine bei Casablanca macht dies deutlich: Die umgesiedelten Bewohner eines ehemals zentral gelegenen Bidonvilles (Abb. 2) müssen
nun Überlandsammeltaxis benutzen, um ihr altes Viertel zu
erreichen, wo auch nach der Umsiedlung ihr (sozioökonomischer) Lebensmittelpunkt liegt. Normale Taxen steuern
die Siedlung nicht an und einen Anschluss an den öffentlichen Personennahverkehr gibt es nicht. Defizite existieren
auch im Rahmen der sozialen Integration. Unter anderem
Toutain & Rachmuhl (2014: 28) haben festgestellt, dass mitunter nur die Hälfte der neuen Grundstücke tatsächlich von
umgesiedelten Haushalten bewohnt ist. Größtenteils geht
dies darauf zurück, dass umgesiedelte Haushalte es nicht
schaffen den Bau eines Hauses zu finanzieren. Eine Studie
der Weltbank (2006: 38) zeigt, dass die untersten Einkommensschichten mit sehr geringen und variablen Einkommen
nicht vom VSB-Programm profitieren. Partizipation existiert
im VSB-Programm zwar offiziell, dient aber zumeist dazu
das operative Geschäft zu vereinfachen und die Abläufe der
Umsiedlung zu planen. Partizipation auf Entscheidungsebene ist nicht vorgesehen.
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Die Dominanz des Quantitativen
© Raffael Beier, März 2015
le ersetzen sollte. Demgegenüber stand allerdings spätestens
im Hinblick auf die Fußballweltmeisterschaft 2010 das quantitative Ziel der Regierung alle informellen Siedlungen bis
spätestens 2014 zu beseitigen (Huchzermeyer 2011: 116 ff).
Abb. 2: Die erste Hüttensiedlung Marokkos, Carrière Centrale
in Casablanca, wird abgerissen. Ihre Bewohner werden an den
Stadtrand umgesiedelt.
Südafrika – Breaking New Ground
In Südafrika ist es nach der Apartheid 1994 zu erheblichen
Umwälzungen in der Stadt- und Wohnungspolitik gekommen
– hauptsächlich mit dem Ziel, die Apartheid-bedingte Segregation zu lindern und informeller Stadtentwicklung entgegenzuwirken. Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Reformen wurde 1996 das RAW in die nationale Verfassung übernommen.
Bereits 2004 wurde zudem ein Weißpapier zur Wohnungsfrage verabschiedet, welches zum Ziel hatte, in möglichst kurzer
Zeit möglichst vielen, besonders armen Bevölkerungsschichten mithilfe von Wohnungszuschüssen zu einem Dach über
dem Kopf zu verhelfen (Tomlinson 2006: 87 f). In Folge dieser
quantitativen Ausrichtung wurde in zehn Jahren die beeindruckende Menge von 1,6 Millionen neuen Niedrigpreishäusern
vorwiegend auf der grünen Wiese errichtet. Das Ziel einer Reduzierung der Einwohnerzahl von informellen Siedlungen wurde allerdings aufgrund der nicht-nachfrageorientierten Umsetzung der Wohnbauprojekte und der weiter zunehmenden
Land-Stadt-Wanderung verfehlt (ebd.: 90 f).
Das Scheitern der quantitativ-ausgerichteten Wohnungsprogramme im Rahmen des Weißpapiers von 1994 führte zu
einem Umdenken, welches 2004 im neuen Politikleitfaden
Breaking New Ground (BNG) mündete. Demnach soll sich
die Umsetzung von Wohnungsprogrammen am BNG-Konzept
orientieren, welches sich im Wesentlichen an die Prinzipien des RAW hält (DHS 2004: 22). Ein zentraler Punkt ist die
Abkehr von peripheren Neubausiedlungen zugunsten einer
nachfrageorientierten, qualitativen Verbesserung bestehender Siedlungen (Tomlinson 2006: 98). 2007 wurde das National Upgrading Support Programme (NUSP) entwickelt, das
sich diesen ambitionierten Werten des BNG verschreibt und
informelle Siedlungen durch formelle Häuser an gleicher Stel-
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Es zeigt sich, dass auch nach Einführung der BNG-Prinzipien
neu entstandene Siedlungen für ihre unzureichende städtebauliche Integration sowie ihre einseitigen Beteiligungsverfahren kritisiert werden. Zwar existieren Beteiligungsverfahren,
jedoch geht deren Inhalt selten über die Informationsebene
heraus. Im Sinne von Penxa (i. E.) handelt es sich eher um
top-down-Partizipation zur reinen Erfüllung gesetzlich vorgeschriebener Partizipation. Weiterführende Partizipationsverfahren hingegen entstanden unter den Bewohnern selbst, um
Bedürfnisse an die Regierungsseite heranzutragen (bottomup participation). In Bezug auf die städtebauliche Integration
erklärte NUSP die in-situ Entwicklung zum eigenen Leitbild.
Eine Studie des Projektpartners Cities Alliance (o. J.: 15) stellt
aber fest, dass letztendlich die meisten Projekte als klassische
Neulandentwicklungen an der Peripherie umgesetzt wurden.
Teilweise spielt hier Landknappheit eine entscheidende Rolle
(ebd.: 25). Weiter wird die schlechte Erreichbarkeit der neuen
Siedlungen kritisiert. Anschluss an den öffentlichen Personennahverkehr existiert in den meisten Siedlungen nicht, weshalb
umgesiedelte Haushalte deutlich höhere Transportkosten zu
stemmen haben, was sich wiederum negativ auf das gesamte verfügbare Einkommen zu Konsum- und Investitionszwecken auswirkt (ebd.: 42). Die periphere Lage sowie das Auseinanderbrechen von Nachbarschaften hat zu einer geringen
Bewohner-Identifikation mit den neuen Siedlungen geführt
(ebd.: 30). In einigen Fällen werden Vandalismus, leer stehende Häuser sowie mangelnde Instandhaltung beobachtet.
Das Recht auf angemessen Wohnraum
und Habitat III
Das RAW ist nicht zuletzt dank der Habitat-Agenda in vielen Staaten neu in die Verfassung aufgenommen worden. In
den verglichenen Ländern hat dies zu einer Neubesinnung
auf die Wohnungsproblematik beigetragen; neue Wohnungsbauprogramme wurden entwickelt, um das RAW umzusetzen. Doch trotz fortschrittlicher Programmatiken und
Reformgedanken, die in allen drei Ländern zu finden sind,
dominiert oftmals eine zumeist machtpolitisch begründete
quantitative Umsetzung des RAW. Politische Entscheidungsträger in allen Beispielländern erzeugen durch die Ankündigung immer größerer Wohnungsneubau-Zahlen und immer
kürzeren Zeitvorgaben einen erhöhten Umsetzungsdruck.
Politische Wahlziele wie auch Großveranstaltungen verstärken diesen Druck. Nachhaltige, nachfrageorientierte Wohnentwicklungsprojekte inklusive sozialer und städtebaulicher
Integration sind so nur schwer umsetzbar.
Um diesem Dilemma entgegenzuwirken muss der Fokus verstärkt auf die qualitativen Bestandteile des RAW gelenkt werden. Im Hinblick auf Habitat III und die New Urban Agenda
ist es daher entscheidend, geeignete und objektive Evaluati-
Raffael Beier, Mariana A. Vilmondes Alves
Die Dominanz des Quantitativen
onsmethoden für die Umsetzung des RAW zu entwickeln und
zu integrieren. Dazu erscheinen Mechanismen nötig, die im
Rahmen einer Evaluation nicht nur die Zahl fertiggestellter
Wohnungen evaluieren, sondern ebenso qualitative Aspekte
berücksichtigen. Zwar sind diese Punkte während der Vorbereitung von Habitat III vermehrt zur Sprache gekommen,
es bleibt jedoch fraglich, ob eine New Urban Agenda neue
Anforderungen an eine Evaluation enthalten wird. Von Seiten der Forschung sind daher weitere Studien nötig, die der
Frage nach einer Dominanz des Quantitativen in Wohnungsbauprogrammen vergleichend nachgehen. Nur so kann auf
Dauer eine stärkere Sensibilisierung für die Nachhaltigkeit
von Wohnungsbauprogrammen erwirkt werden.
¢
>
>
>
>
Anmerkungen
>
n (1) Originalzitat: „As próximas lojas ficam a quinze minutas
daqui de carro. Aqui só tem uma linha de ônibus passando. Algumas casas já tem rachaduras nas paredes. Eu ainda não fiquei sabendo de nenhuma reuniao e por isso nao
participei.“
>
n (2) Originalzitat: „On va s’intéresser au logement comme logement physique-là – logique quantitative qui
met l’accent sur le produit de logement plus que sur
l’occupant. […] Hjira, il a dit : ‘Moi, j’ai un mandat de quatre ans. Je vais être évalué à la fin du mandat en matière
quantitative : Combien j’ai produit des logements ?’ C’est
pour ca qu’il a donné l’accent sur le quantitative.“
>
>
n (3) Der Begriff bidonville bezeichnet in Marokko informell
entstandene Siedlungen, die aus einfachen Baumaterialen in Eigenarbeit errichtet worden sind und fortlaufend
angepasst werden.
>
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Schlüsselwörter: Recht auf angemessenen Wohnraum, Habitat-Agenda, Habitat III, sozialer Wohnungsbau, Brasilien, Marokko, Südafrika
Keywords: Right to adequate housing, Habitat Agenda, Habitat III, social housing, Brazil, Morocco, South Africa
Zusammenfassung: Zahlreiche Staaten haben sich in der Habitat-Agenda zum umfassenden Recht auf angemessenen Wohnraum bekannt. Die vergleichende Analyse von nationalen Wohnungsprogrammen in Brasilien, Marokko und Südafrika zeigt
jedoch, dass nur Teile des Rechts in der Praxis umgesetzt werden.
Essentielle qualitative Komponenten wie die städtebauliche Integration der Quartiere fallen drängenden Zeitvorgaben und der
Erfüllung quantitativer Ziele zum Opfer.
Abstract: As a result of Habitat II, a majority of states committed themselves to the right to adequate housing. In practice, however, only parts of the right are implemented, as this
comparative analysis of national housing programmes in
Brazil, Morocco, and South Africa shows. Crucial qualitative
components such as the spatial integration of new housing
projects are lacking due to time pressure and the predominance of quantitative targets.
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© Christoph Woiwode
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Ariana Fürst, Christoph Woiwode
Anpassung an Überschwemmungen in Chennai
Möglichkeiten der Resilienzsteigerung durch kollaborative Präventionsund Anpassungsmaßnahmen bei Überschwemmungen in Chennai, Indien
Chennai ist eine der großen Metropolregionen
Südasiens und die viertgrößte Stadt Indiens. Im Zusammenspiel mit dem rasanten Wachstum ergeben
sich Herausforderungen in der Bereitstellung und
Instandhaltung von Infrastruktur und öffentlichen
Dienstleistungen. Dies führt zu vielfältigen Problemen insbesondere im Wassersektor, wie beispielsweise zu Überschwemmungen, Wasserknappheit
und eingeschränkter Trinkwasserqualität. Hinzu
kommt die langfristige Bedrohung durch den
Klimawandel, z. B. aufgrund des Meeresspiegelanstiegs oder zunehmend stark variierender Regenfälle während der Monsunzeit.
I
m Kontext einer städtischen Resilienzsteigerung werden
in diesem Beitrag unterschiedliche Anpassungsstrategien
hinsichtlich Überschwemmungen in Chennai dargestellt
und analysiert, wobei ein Fokus auf der Interaktion und Kooperation städtischer Akteure liegt. Zunächst wird die Entwicklung Chennais zur Metropole dargestellt, gefolgt von
einer Übersicht verfügbarer Daten und der antizipierten
Auswirkungen des Klimawandels in der Region. Darauffolgend werden nach einer kurzen Darstellung der Methodologie und theoretischen Einordnung des Themas, die Anpassungsmaßnahmen und die Rolle der Akteure aufgezeigt um
anschließend ein Fazit zu ziehen.
Chennai: die aufstrebende
Megacity Südindiens
Ariana Fürst, 1983,
Dipl.-Geogr., Beraterin im
GIZ-Projekt „Stärkung des
städtischen Landmanagements Serbiens“, AMBERO
Consulting GmbH
Christoph Woiwode, 1972,
Visiting Professor (DAAD
Langzeitprofessor), IndoGerman Centre for Sustainability, Indian Institute
for Technology Madras,
Chennai, Indien
Chennai, das frühere Madras und Hauptstadt des indischen
Bundesstaates Tamil Nadu, liegt an der Koromandelküste
im südöstlichen Indien. Obwohl nach der Unabhängigkeit
der industrielle Sektor zunehmend an Bedeutung gewann
ist heutzutage der Dienstleistungssektor mit über 70 % der
bedeutendste Arbeitgeber. Daneben beherbergt der sogenannte informelle Sektor offiziell eine weitere Million Arbeiter in allen Wirtschaftsbereichen (vgl. CMDA 2008: 14-16).
Aufgrund der Dominanz der Automobil-, Chemie- und Textilindustrie ist Chennai heute die bedeutendste Wirtschaftsmetropole Südindiens (vgl. Ravi 2004).
Chennais hohe Bevölkerungsdichte (247 Einwohnern/ha) ist
ein Beleg für den enormen Urbanisierungsschub in den vergangenen Jahrzehnten, der durch eine 13 prozentige Zunahme der Bevölkerungswachstumsrate gekennzeichnet ist (vgl.
CMDA 2008: 6). Binnenmigration aus anderen Teilen Tamil
Nadus und Indiens trägt wesentlich dazu bei, im Jahr 2011 waren ca. 22 % der Einwohner Migranten (vgl. Lavanya 2013: 115).
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Ariana Fürst, Christoph Woiwode
Anpassung an Überschwemmungen in Chennai
© Ganesh 2008
Prognostizierter Klimawandel
in Tamil Nadu und Chennai
Neben den Überschwemmungen, die unter anderem
auf den Klimawandel zurückzuführen sind, ist die
Stadt Chennai von unterschiedlichen Wetterphänomenen bedroht (starke Regenfälle und Meeresspiegelanstieg einereits, Trockenzeiten und Hitzewellen
andererseits). Chennais Klima ist tropisch feucht–heiß
bei Tagestemperaturen zwischen 20°C im Januar bis
über 40°C von Mai bis Juni. Niederschläge kommen
fast ausschließlich mit dem Nordost–Monsun in den
Monaten Oktober und November (vgl. Departmentof Environment 2014: Chapter 4), und verursachen
meist schwere Überschwemmungen in weiten Teilen
der Stadt (vgl. CMDA 2008: 105). Als Küstenstadt liegt
Chennai in der sogenannten „Low Elevation Coastal
Zone“ (LECZ), die besonders von einem Meeresspiegelanstieg betroffen wäre. Aufgrund von kaum gegebenen Höhenunterschieden in der Stadt fehlt ein
natürliches Gefälle um Regenmengen Richtung Flüsse
und Meer zu leiten. Die wichtigsten Wasserläufe der
Stadt, die Flüsse Adyar und Cooum und der Buckingham Kanal, besitzen heutzutage aufgrund von Eingriffen und Versiegelungen eine sehr geringe Abflusskapazität (vgl. Gupta/Nair 2010: 367).
Abb. 1: Physische und administrative Struktur von Chennai
Als Reaktion auf das schnelle Wachstum wurde im Jahr
2011 die Stadtfläche von 174 km² auf 430 km² erweitert.
Seitdem hat die Stadt (Chennai Municipal Corporation)
4,68 Mio. Einwohner (vgl. Corporation of Chennai 2012:
16) und zusammen mit den umliegenden Stadtgemeinden,
Kleinstädten (Town Panchayats) und 214 Dörfern (Village
Panchayats) umfasst die Metropolregion Chennais über 9
Mio. Einwohnern (vgl. Office of the Registrar General and
Census Commissioner 2011: 1).
Die vielfältigen Auswirkungen des rapiden Stadtwachstums sind u. a. in Veränderungen der Landnutzung in der
peri-urbanen Region sichtbar (vgl. Murawski 2015). Bezüglich des hier diskutierten Themas ist zu beobachten, dass
inner- und außerhalb der Stadtgrenzen neue Industrie-,
Gewerbe- und Wohnsiedlungen auf ehemaligen Feuchtgebieten und trockengelegten saisonalen Seen entstehen
und u. a. zu einer zunehmenden Bodenversiegelung führen (vgl. Gupta/Nair 2011: 1641). Erst in jüngerer Zeit ist
das Bewusstsein hinsichtlich der Bedeutung und Funktion
dieser Wasserkörper nicht nur für die Wasserversorgung,
sondern auch für die Prävention von Überschwemmungen
gestiegen (vgl. Coelho/Raman 2010: 21).
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Ergebnisse einer Studie zu Klimawandelszenarios in
Tamil Nadu berechnen einen Temperaturanstieg von
0,5°C bis 2020 und von 1,6°C bis 2,7°C bis 2080 (vgl.
Jeganathanet al. 2013: 705). Das betrifft vor allem die
Monate von März bis Mai und geografisch die nordöstlichen und westlichen Distrikte Tamil Nadus inklusive
Chennai. Dahingegen rechnet der Tamil Nadu State
Action Plan on Climate Change (SAPCC) mit einem Anstieg um 1,1°C in 2040 und 3,4°C in 2100 (vgl. Department of
Environment 2014). Obwohl die konkreten Zahlen voneinander abweichen, ist der Trend eines positiven Temperaturanstiegs in all diesen Studien nachgewiesen. Auch die Niederschlagsmengen in Tamil Nadu sollen nach diesen Szenarien
in diesem Jahrhundert zunehmen. Bis 2020 wird ein Anstieg
um 1,6 bis 5 %, und bis 2080 sogar zwischen 6,6 und 16,5 %
erwartet (vgl. Jeganathan et al. 2013: 712).
Im Interview bestätigte das Chennai Regional Meteorological Centre, dass Überschwemmungen ein grundsätzliches
Problem seien, wohin gegen der Klimawandel im Vergleich
zu den sozialen und politischen Herausforderungen noch als
„Luxusproblem“ angesehen wird (vgl. Interview Regional Meteorological Centre 21.03.2014). Das Thema hat erst in jüngster Zeit mehr Gewicht bekommen, weshalb die Datenlage
immer noch sehr dürftig ist. Obwohl Unklarheit herrscht über
die genaue Art der Konsequenzen, sind sich die Beteiligten
einig, dass eine effizientere Stadtentwicklungsplanung dem
negativen Trend des Klimawandels entgegenwirken kann.
Die wechselseitigen Beziehungen menschlicher Aktivitäten,
vor allem zwischen Urbanisierung und Überschwemmungen,
gehen eindeutig aus der folgenden Grafik (Abb. 3) hervor.
Im Rahmen eines einjährigen Studienprojekts an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund wurden
umfangreiche Primär- und Sekundärdaten zu Themen des Klimawandels, städtischer Resilienz und
Anpassung an Überschwemmungen erhoben. Während einer zweiwöchigen Exkursion nach Chennai
wurden mehr als zwanzig Experteninterviews sowie Begehungen
mit Beobachtungen und Interviews
Abb. 2: Veränderung der jährlichen Niederschlagsmenge (mm). Projektionen für 2040,
in 16 Slumsiedlungen und Umsied2070 und 2100 in Bezug auf den Ausgangswert von 1970 bis 2000
lungsgebieten durchgeführt. Konzeptionell stützt sich die Arbeit im
tungen, NGOs und community based organisations (CBO) sind
Wesentlichen auf Publikationen des IPCC (2013, 2014), welche
vor allem Institutionen auf administrativer Ebene, wie zum
die Klimawandeldebatte mit Aspekten des KatastrophenrisiBeispiel die Stadtverwaltung (Corporation of Chennai) oder
komanagements integrieren. Desweiteren wurde das vom Indas Water Resources Department, beteiligt (siehe Abb. 4). Aus
ternational Risk Governance Council entwickelte Risk Goverden Interviews ergibt sich, dass es bei der Umsetzung dieser
nance Framework herangezogen (vgl. IRGC 2014a, 2014b).
Maßnahmen kaum zu Kooperation und Absprachen zwischen
Mit dem Ziel, möglichst viele Stakeholder in Entscheidungsden Akteuren kommt, sodass in vielen Fällen Akteure nicht
prozesse einzubinden, verbindet dieser Ansatz nicht nur Kaüber alle durchgeführten Maßnahmen informiert sind. Somit
tastrophenrisikomanagement (DRM - Disaster Risk Managefehlt von städtischer Seite ein Überblick über alle umgesetzten
ment) und Anpassung an den Klimawandel (CCA–Climate
Maßnahmen; dies kömmte jedoch zu einer stärker kohärenten
Change Adaptation), sondern sucht nach einem Mittelweg
und integrativen Umsetzung der Aktivitäten beitragen. Aufzwischen bottom–up und top–down Lösungsstrategien. Angrund dessen werden derzeit viele Ansätze nicht konsequent
passungsmaßnahmen, die im Folgenden aufgezeigt werden,
umgesetzt und können keine längerfristige Wirkung erzielen.
sind vor diesem Hintergrund zu sehen.
Das folgende Schaubild (Abb 4.) stellt einen Überblick der
Vielzahl an Akteuren dar, die im Bereich der Prävention von
Überschwemmungen in Chennai eine Rolle spielen. Die wePräventions- und Anpassungsmaßnigen existierenden kooperativen Beziehungen zwischen den
nahmen bei Überschwemmungen in
einzelnen Akteuren sind anhand von Pfeilen gekennzeichnet.
Chennai
Im Folgenden werden einige ausgesuchte Maßnahmen
Trotz diverser Studien wird die Relevanz von Präventions- und
dargestellt, die sich in ihrer Wirkungsart und Ausrichtung
Anpassungsmaßnahmen von den politischen und administrativen Institutionen in Chennai sehr
unterschiedlich eingeschätzt und ist
meist davon beeinflusst, ob starke
Regenfälle in dem jeweiligen Jahr die
mediale Diskussion zu Überschwemmungen verstärkt haben und die
Stadtbevölkerung unmittelbar im
Alltag betroffen war. Nichtsdestotrotz wurden in den letzten Jahren
Maßnahmen eingeführt, die direkt
oder indirekt Überflutungen eindämmen sollen. Die Vielzahl dieser
Maßnahmen ist hoch und reicht von
punktuellen Interventionen bis hin zu
politisch regulativen Prozessen. Zugleich werden die Maßnahmen von
sehr unterschiedlichen Akteuren und
Institutionen durchgeführt und verAbb. 3: Ursachen städtischer Überschwemmungen
antwortet. Neben Forschungseinrich-
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Methodologie und
konzeptionelle Einbettung
© Department of Environment 2014: Ch. 4.3
Ariana Fürst, Christoph Woiwode
Anpassung an Überschwemmungen in Chennai
Ariana Fürst, Christoph Woiwode
Anpassung an Überschwemmungen in Chennai
© Christoph Woiwode 2015
nagement scheint positive Wirkungen zu erzielen, da es bei den letzten Überflutungen
kaum Todesopfer gab; trotzdem haben viele
Bewohner, vor allem in vulnerablen Stadtgebieten, ihr Zuhause und Eigentum verloren.
Abb. 4: Akteure im Bereich der Überschwemmungsprävention und -anpassung in
Chennai
Prävention von Überschwemmungen
durch Ausbau und Sanierung
von Entwässerungssystemen und
Wasserläufen
Der Bau und die Instandhaltung des Oberflächenentwässerungsnetzes (storm water drainage), wozu Abflussrohre
und kleinere Kanäle (sogenannte micro drains) gehören,
obliegen der Verantwortung der Stadtverwaltung Chennais
(vgl. Corporation of Chennai 2014). Über die sogenannten
macro drains, wozu die wichtigsten Wasserwege in Chennai gehören, wie der Adyar River, Cooum River und Buckingham Canal, soll das durch Niederschläge entstandene
Oberflächenwasser in Richtung Meer und größere Wasserflächen abgeleitet werden. Die Zuständigkeit für diese liegt
beim Water Resources Department Tamil Nadus. In der Re-
Maßnahmen im Bereich des Katastophenrisikomanagements
bei Überschwemmungen findet von Seiten der Stadtverwaltung in Form von Frühwarnsystemen und regelmäßigen
Treffen statt. Insbesondere in der Vormonsoonzeit werden
Maßnahmen besprochen und geplant, um die Stadt auf die
anstehenden Regenfälle vorzubereiten und negative Auswirkungen zu reduzieren (vgl. Corporation of Chennai 2012b: 3,
15-19). Hierzu gehören Maßnahmen zur Säuberung von Entwässerungskanälen und Abflussrohren, Strategien um die Bevölkerung in den betroffenen Stadtvierteln rechtzeitig zu evakuieren
und mit Lebensmitteln, Medikamenten und Notunterkünften zu versorgen. Diese Koordinierungstreffen
sind ein relativ erfolgreiches Beispiel
für Kooperation unterschiedlichster
städtischer Akteure. An den Treffen
nehmen Mitarbeiter des Meteorologischen Instituts, der Stadtverwaltung, der Feuerwehr und Polizei (zur
Warnung und Evakuierung der Bevölkerung), des Gesundheitsamtes (für
die medizinische Versorgung), der
Schulen (Umwandlung zu Notunterkünften) und des Grünflächenamtes
(zur Beschneidung von Bäumen und
Beseitigung von Ästen, die Abflussrohre verstopfen könnten) teil. Diese
Abb. 5: Flusslauf in Chennai
Form von Katastrophenrisikoma-
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unterscheiden. Die Beispiele decken Maßnahmen aus den
institutionellen, baulichen, sozialen und ökologischen Bereichen ab, die das Ziel einer Überflutungsprävention bzw.
-anpassung haben. Die Aussagen zu den Maßnahmen beruhen auf den Interviews, die mit Vertretern der oben genannten Institutionen durchgeführt wurden.
Aufgrund der zukünftigen unregelmäßigen
und kaum vorhersagbaren Niederschlagsmengen wird derzeit ein Monitoringsystem
mit einer hochauflösenden digitalen Kartierung der kompletten Metropolregion zur
Echtzeitmessung von Niederschlägen aufgebaut. Ein Server am Institut für Fernerkundung errechnet aufgrund dieser Daten die
Wahrscheinlichkeit, das Ausmaß und den
Standort von Überflutungen. Diese Informationen werden dann an die zuständigen
Institutionen weitergegeben, so dass entsprechende Maßnahmen zur Katastrophenvorsorge zeitnah eingeleitet werden können.
alität ist die Dimension, Kapazität
und der Qualitätszustand dieses
Netzwerks zu gering um bei heftigen Regenfällen die Niederschlagsmengen abzuführen. Besonders in
ärmeren Stadtteilen, die über keine
oder nur rudimentär ausgebaute
Oberflächenentwässerungssysteme verfügen, kommt es dadurch zu
schwerwiegenden Überflutungen.
Gemeinsam mit dem Water Resource Department Tamil Nadus plant
die Stadtverwaltung Chennais mithilfe von internationaler finanzieller
Unterstützung den Ausbau dieses
Netzwerkes, vor allem in Form der
Verbreitung und Säuberung von
Flussläufen und Kanälen (Corporation of Chennai 2014, Gupta und Nair
Abb. 6: Umsiedlungsgebiet in Chennai – Perumbakkam
2011: 1643). Die Umsetzung wird
durch die verschiedenen Zuständigkeiten und schwierigen Abstimliegt. Die Coastal Regulation Zone wurde dahingehend momungsprozesse zwischen den Institutionen erschwert, da
difiziert, um das Risiko eines klimawandelinduzierten Meesich diese jeweils nur für die Infrastruktur in ihrem Zuresspiegelanstiegs mit zu berücksichtigen (vgl.MOEF 2011)
ständigkeitsbereich (micro vs. macro drains) verantwortlich sehen. Auch steht im Zusammenhang mit diesen SaDerzeit kommt es zu einer konfliktiven Entwicklung auf
nierungsmaßnahmen die verordnete und oft unfreiwillige
diesen Flächen. Einerseits leben 5.000 bis 6.000 FamiUmsiedlung von Bewohnern, welche unter der nächsten
lien, meistens in informellen Siedlungen, auf Gebieten
Maßnahme detaillierter beschrieben wird.
Chennais, die Teil der Coastal Regulation Zone sind. Das
Hinzu kommt, dass viele existierende EntwässerungskaPublic Works Department hat zusammen mit dem Tamil
näle verstopft sind und nur sehr geringe Wassermengen
Nadu Slum Clearance Board (TNSCB) schon einen Teil
ableiten können. In vielen Fällen steht dies im Zusammendieser Bewohner umgesiedelt. Einerseits begründen diehang mit der unzureichenden Abfallbeseitigung. Aufgrund
se Institutionen die Umsiedlungspraxis mit Aspekten des
fehlender Alternativen und geringem Umweltbewusstsein
Umweltschutzes für die Küstenzonen sowie dem Überfluwird der Abfall von vielen Bewohnern direkt in Kanäle und
tungs- und Krankheitsrisiko für die Bewohner, andererseits
Flüsse deponiert. Zusätzlich werden Abwässer ohne vorhegibt es Pläne diese freiwerdenden Flächen innerhalb von
rige Aufbereitung direkt in Flüsse und Kanäle geleitet. AbStadtentwicklungsprojekten umzuwandeln und aufzuwerwasserleitungen und entsprechende Aufbereitungen obten. Die Bodenpreise in Chennais Innenstadt steigen derliegen der Verantwortung des Chennai Metropolitan Water
zeit stark an, in diesem Zusammenhang zeigen Investoren
Interesse größere Bau- und Infrastukturprojekte umzusetSupply and Sewerage Board (CMWSSB). Somit kommt noch
ein dritter wichtiger Akteur dazu, mit dem Prozesse koorzen, was weitere Umsiedlungen zur Folge hat.
diniert werden müssen. Aufgrund dessen empfehlen Wissenschaftler und NGOs, die zentrale Koordinierungsrolle
Der Beteiligungsgrad von NGOs, wissenschaftlichen Instiund Hauptverantwortung in einer Institution zu bündeln
tutionen oder community based organisations ist sehr ge(vgl. Gupta/Nair 2010: 369).
ring. Im Vorfeld einer Umsiedlung finden Informationsveranstaltungen für die Bewohner statt, jedoch hat diese Art
von Beteiligungsverfahren einen informativen Charakter
Der regulative Rahmen: Die „Coastal
und lässt nur einen geringen Grad an Mitsprache (z. B. zu
baulichen Alternativen wie die Ausrichtung von Türen und
Regulation Zone“und die Umsiedlung
Fenstern) zu. Kritisch wird vor allem die Veränderung des
von Bewohnern
sozialen Umfelds gesehen, auf die die Bewohner kaum EinDieses Gesetz zum Umwelt- und Küstenschutz wurde 1991
fluss haben. Die neuen Wohngebiete befinden sich in vielen Fällen weit außerhalb der Stadt, zum Teil bis zu 30 km
vom Umweltministerium Indiens eingeführt und bezieht sich
von der Innenstadt entfernt. Dadurch werden existierende
auf eine geschützte Zone entlang von Küsten, Wasserflächen
Sozialstrukturen wie gewachsene Nachbarschaften aufgeund Flussläufen. Diese Zone umfasst eine Klassifizierung in
brochen. Aufgrund der schlechten Anbindung mit öffentFlächen auf denen der Bau von Gebäuden und Infrastruktur
lichen Verkehrsmitteln können Bewohner ihrer bisherigen
komplett untersagt ist oder strengen Regulationen unter-
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Ariana Fürst, Christoph Woiwode
Anpassung an Überschwemmungen in Chennai
Ariana Fürst, Christoph Woiwode
Anpassung an Überschwemmungen in Chennai
Arbeit nicht mehr nachgehen oder müssen sehr lange Wege
in Kauf nehmen. Auch ist das schulische und gesundheitliche Angebot sehr eingeschränkt und meist von schlechterer
Qualität als in innenstadtnahen Lagen. Wie wichtig jedoch
ein funktionierendes und lang anhaltendes soziales Netzwerk ist, zeigt die nächste Form von Maßnahmen auf.
Selbsthilfeanpassung an
Überschwemmungen
Wenn auch auf einer niederschwelligen Ebene werden wichtige Maßnahmen zur Prävention und Anpassung an Überschwemmungen von den Bewohnern selbst erbracht. Vor
allem in informellen Siedlungen sind die Bewohner auf sich
selbst und auf die Gemeinschaft angewiesen, um die negativen Auswirkungen von Überflutungen zu minimieren. Hierfür werden kurz vor oder während der Überschwemmungen Hauseingänge wie auch ganze Gehwege und Straßen
mithilfe von Sandsäcken und Bauschutt erhöht. Eine andere
Maßnahme besteht aus der Säuberung von offenen Entwässerungskanälen sowie der provisorischen Verlegung von
Rohren damit das Wasser besser abfließen kann. Familien
ziehen eine zweite höhergelegene Ebene in ihren Unterkünften ein, um dort ihre Wertsachen zu verstauen und vor den
Überflutungen zu schützen. Oft werden in der Regenzeit die
Dächer der Hütten und Häuser mit festen Planen überzogen.
Die Nachbarschaften helfen sich gegenseitig, indem sie sich
mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgen. Für diese Selbsthilfe-Anpassungsmaßnahmen in der Nachbarschaft
(im Englischen auch unter community based adaptation bekannt) stellen bestehende Vertrauensbeziehungen und existierende soziale Netzwerke wichtige Voraussetzungen dar.
Fazit und kurzer Ausblick
Dieser Beitrag liefert eine exemplarische Darstellung
der Herausforderungen bei Überschwemmungen einer
schnellwachsenden Metropole in der „Low Elevation
Coastal Zone“ (LECZ). Es ist deutlich geworden, dass die
Auswirkungen von Überschwemmungen in Chennai nicht
allein durch den Klimawandel hervorgerufen werden,
sondern auch aufgrund anderer Faktoren, insbesondere
der rasch voranschreitenden Urbanisierung und der unzureichenden infrastrukturellen Versorgung, z. B. durch
Oberflächenentwässerungsnetze, noch erheblich verstärkt werden. Im Hinblick auf die derzeitige Diskussion
um die Sustainable Development Goals, zu deren Umsetzung sich die Länder weltweit verpflichten, würde eine
effektive und umfassende Anpassungsstrategie an den
Klimawandel und dessen Auswirkungen bedeutend zur
Erreicherung des Ziels 11 „Städte und menschliche Siedlungen inklusiver, sicherer, resilienter und nachhaltiger
zu gestalten“ beitragen. Insbesondere der Indikator 11.5
richtet den Fokus auf die arme und vulnerable Bevölkerung in Städten. Wie aus diesem Beitrag hervorgeht,
sind es vor allem die ärmeren Bewohner Chennais, die
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aufgrund ihrer Wohnlage und eingeschränktem Zugang
zu Infrastruktur und Dienstleistungen am stärksten von
Überschwemmungen betroffen sind. Hier ergibt sich ein
ähnliches Bild zu anderen Mittel- und Großstädten südund südostasiatischer Länder (CDIA 2012).
Die beschriebenen Maßnahmen lassen sich dabei nach institutionellen (Treffen und Zusammenarbeit beim Katastrophenrisikomanagement), baulichen (Erweiterung und
Sanierung von Entwässerungssystemen, Bau von Umsiedlungsgebieten), sozialen (Selbsthilfe–Anpassungsmaßnahmen) und ökologischen (Coastal Regulation Zone) Aspekten
unterscheiden. Momentan sind die punktuellen von Bürgern, Nichtregierungsorganisationen und Slumbewohnern
umgesetzten Maßnahmen kaum oder gar nicht mit den Absichten und Aktivitäten der Behörden verknüpft. Oftmals
stehen Maßnahmen der Regierung und Stadtverwaltung
einer armutsorientierten und inklusiven Stadtentwicklungsplanung sogar konträr gegenüber. Wie dargestellt, wird dies
z. B. bei den gegenwärtig durchgeführten Sanierungsmaßnahmen von Wasserläufen (Buckinghamkanal) und Wasserkörpern der Stadt deutlich, die wie in der Vergangenheit
weiträumige Umsiedlungsmaßnahmen der anliegenden
Slumbewohner an den Stadtrand beinhalten.
In diesem Zusammenhang sind teifgreifende Unzulänglichkeiten hinsichtlich der Governance–Strukturen in Chennai
festzustellen. Der Klimawandel und seine Auswirkungen
stellen derzeit keine Priorität auf der Agenda der Planungsbehörden in Chennai dar. Einerseits fehlen Kapazitäten und
Fachkenntnisse, um wirkungsvoll auf Überschwemmungen
und Klimawandel zu reagieren, andererseits fehlt es an politischem Willen, um die notwenigen Maßnahmen adäquat zu
koordinieren. Bisher sind jegliche Versuche gescheitert, da
weder Entscheidungen noch Pläne verbindlich für die Akteure sind. Hinzu kommt eine Vielzahl von Akteuren, mit teils unzureichenden, unklaren und fragmentierten Zuständigkeiten,
die nicht miteinander kooperieren. Darüber hinaus existieren
kaum Strukturen, die die Interessen und Sichtweisen der Bewohner bei der Planung und Durchführung von Anpassungsmaßnahmen integrieren. Ein partizipatives Vorgehen könnte
die Potentiale einer engeren Verzahnung von formellen und
informellen (Selbsthilfemaßnahmen) Ansätzen stärken.
Ein möglicher Vorschlag sieht institutionalisierte und kontinuierlich stattfindende Koordinierungstreffen vor (z. B. im
Rahmen eines Runden Tisches). Von administrativer Seite
würde die Stadtverwaltung (Corporation of Chennai), das
Public Works Department Tamil Nadus und das städtische
Wasserwerk daran teilnehmen, um vorausschauend Präventions- und Anpassungsmaßnahmen zu diskutieren,
zu planen und je nach Zuständigkeit durchzuführen. Diese Koordinierungstreffen sollten durch die Teilnahme von
weiteren Akteuren aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft
ergänzt werden, z. B. durch Vertreter von Forschungsinstituten, NGOs und community based organisations, deren
Anmerkungen und Vorschläge verpflichtend aufgenommen
werden müssen. Für eine fundierte Diskussionsgrundlage
Ariana Fürst, Christoph Woiwode
Anpassung an Überschwemmungen in Chennai
ist eine aktualisierte Datenlage von entscheidender Bedeutung, wozu Daten zur Klimawandelprognose, Überschwemmungsdaten für die Nutzung des Frühwarnsystems, Versiegelungstendenzen und Vulnerabilitätsanalysen der ärmeren
Stadtgebiete zählen. Für ein funktionierendes Koordinierungstreffen ist zusätzlich eine klare Aufteilung von Aufgaben, Rollen und Verantwortlichkeiten notwendig.
Bis es im Hinblick auf die Akteurskoordinierung und Strategieentwicklung in den Bereichen Flächennutzungsplanung,
Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Katastrophenrisikomanagement und Bewohnerumsiedlung keinen
grundsätzlichen und kohärenten Politikwechsel gibt, werden Präventions- und Anpassungsmaßnahmen bei Überschwemmungen in Chennai eine geringe Wirkung aufweisen. Gerade im Kontext von Urbanisierung und Klimawandel
könnten diese jedoch eine wichtige Funktion einnehmen
um die Resilienz der Stadt zu steigern.
¢
Anmerkungen
Die Interview wurden entsprechend ihrer Relevanz zum
Thema ausgewählt (Katastrophenrisikomanagement, Stadtplanung, Klimawandel, Wohnungs- und Armutspolitik) und
umfassten Vertreter von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie halbstaatlicher Organisationen wie Planungsbehörden und Infrastrukturbereitsteller.
Der Beitrag basiert auf einem einjährigen Studienprojekt der
Fakultät Raumplanung der TU Dortmund in Zusammenarbeit
mit dem Indo-German Centre for Sustainability am IIT Madras, welches 2013/14 durchgeführt wurde. Der komplette Projektbericht kann von der IGCS Homepage heruntergeladen
werden: http://www.igcs-chennai.org/?p=3958
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Birgit Haupter, Peter Heiland, Jakob Doetsch
Die klimaangepasste Stadt
in Schwellenländern
Entwicklung von Städtischen Aktionsplänen in Albanien, Montenegro
und Serbien
Folgen des Klimawandels, wie Hitzewellen, Sturzfluten und Wasserknappheit, wirken sich besonders in Großstädten aus. Ein Ausweichen ist kaum
möglich. Gerade bei Städten in Entwicklungs- und
Schwellenländern führt das meist schnelle, wenig
geregelte Wachstum bei geringen kommunalen
Ressourcen zu einer Verstärkung der negativen
Wirkungen. Klimawandel ist wegen der gesundheitlichen, sozialen, wirtschaftlichen und umweltbezogenen Auswirkungen ein Querschnittsthema und in
allen städtischen Handlungsfeldern zu verankern.
Birgit Haupter, 1959,
Dr.-Ing. Bauingenieurin/
Umwelt- und Raumplanung,
Projektleiterin bei Infrastruktur & Umwelt, Professor Böhm
und Partner, Darmstadt
Peter Heiland, 1964,
Dr.-Ing., Consultant Wasser/
Klimawandel/Raumplanung,
Partner und Projektleiter
bei Infrastruktur & Umwelt,
Professor Böhm und Partner,
Darmstadt
Jakob Doetsch, 1983,
Geograph, Projektleiter des Vorhabens „Klimawandelanpassung im westlichen Balkan“,
Deutsche Gesellschaft für
Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Tirana
E
ine konsequente klimagerechte Steuerung der Entwicklungen erfordert entsprechendes Problembewusstsein sowie
eine Beteiligungs- und Kooperationskultur innerhalb der
Stadtverwaltung und diversen Akteursgruppen. Es bedarf der
kontinuierlichen Kooperation der städtischen und übergeordneten Ebenen, Stadt und Stadtquartieren, Bevölkerungsgruppen
und Wirtschaft. Und es bedarf einer Strategie zum Umgang mit
den Folgen des Klimawandels, die eine politisch akzeptierte Komponente der Stadtentwicklung darstellt. Die Themen Resilienz,
Klimawandel und Gefahrenabwehr im Spannungsfeld der „Urban
Governance“ sind folgerichtig auch ein Baustein von Habitat III
und der UN Konferenz für nachhaltige Stadtentwicklung.
Das Projekt der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zur „Klimawandelanpassung im westlichen Balkan“,
welches im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) durchgeführt wird, unterstützte in einem von fünf Handlungsfeldern die Hauptstädte Belgrad
(Serbien), Tirana (Albanien) und Podgorica (Montenegro) Vulnerabilitätsanalysen und Aktionspläne zur Klimawandelanpassung zu
erarbeiten und diese in ihre Management- und Planungsprozesse
zu integrieren. In den drei Agglomerationsräumen leben insgesamt
2,3 Mio Menschen und damit 20 % der Bevölkerungen Serbiens,
Montenegros und Albaniens. Tirana und Podgorica sind geprägt
durch ein gemäßigtes mediterranes Klima mit heißen trockenen
Sommern und milden niederschlagsreichen Wintern. Belgrad liegt
dagegen in einer gemäßigt kontinentalen Klimazone mit warmen,
auch heißen Sommern mit dem jährlichen Hauptniederschlag und
milden Wintern. Alle drei Regionen müssen sich den Modellierungen zufolge auf erhöhte Jahresdurchschnittstemperaturen mit häufigeren und extremeren Hitzewellen im Sommer sowie auf teilweise
veränderte und extremere Niederschlagsregime vorbereiten.
Prozessorientierte Herangehensweise
Ziel des Projektes war es, dass alle drei Stadtverwaltungen jeweils
interdisziplinär die Verwundbarkeit für ihre Stadt analysieren,
Sektor übergreifend Maßnahmen und Aktionspläne entwickeln
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Birgit Haupter, Peter Heiland, Jakob Doetsch
Die klimaangepasste Stadt in Schwellenländern
© eigene Darstellung
Aufgrund des begrenzten Zeitraums von 18 Monaten erfolgte ein Rückgriff auf vorhandene Untersuchungen und Daten
sowie kurzfristig erhältliche zusätzliche Studien. So konnten für Belgrad regionalisierte Klimaprojektionsdaten auf
der Grundlage der neuesten IPCC (Intergovernmental Panel
on Climate Change) Szenarios berücksichtigt werden, während für Tirana auf eine großräumigere Projektion im Rahmen der UNFCCC (United Nations Framework Convention
on Climate Change) Berichte zurückgegriffen wurde.
Aktionspläne zur Anpassung
an den Klimawandel
Belgrad: Sensibilisierung durch Lernen
von vergangenen Extremereignissen
Abb. 1: Akteure und Arbeitsgruppen in dem Anpassungsprojekt
und entsprechende Maßnahmen in ihre Planungs- und Management-Prozesse einbinden. Außerdem wurden Vertreter
und Entscheidungsträger fortgebildet, um die Strategien und
Aktionspläne umzusetzen. Eingebettet waren die separaten
städtischen Prozesse in einen Erfahrungsaustausch der Städte
untereinander (Regionale Arbeitsgruppe), um die Chancen unterschiedlicher Erfahrungen bestmöglich zu nutzen.
Eine besondere Herausforderung stellte in Belgrad die Größe
der Verwaltungseinheit dar: sie umfasst 320.000 ha mit über
1,7 Mio. Einwohnern in zehn Stadtgemeinden auf 77.000 ha und
weiteren sieben ländlichen Gemeinden. Die Steuerungsgruppe
fasste dennoch den Beschluss, die gesamte Verwaltungseinheit
in die Betrachtung einzubeziehen. Nur so konnten die StadtUmland Beziehung und ihre Einflüsse auf potenzielle Hauptprobleme berücksichtigt werden. Je nach Thema sowie vorhandener
Datenlage wurde eine Kombination von überschläglichen und
detaillierteren Untersuchungen angewendet.
Die vom Verwaltungschef eingesetzte und unterstütze interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter der Leitung und Koordination
des Umweltdezernats umfasste ca. 30 Personen. Neben den
Vertretern der Stadtverwaltungsabteilungen und der städtischen Dienste und Betriebe waren weitere regionale und
nationale Institutionen sowie Nichtregierungsinstitutionen
Ein zentrales Ziel war die Entwicklung von Arbeitsstrukturen, die die Thematik auch nach Beendigung des Projekts
in ihre tägliche Arbeit integrieren. Die in den Aktionsplänen verankerten Maßnahmen wurden deshalb maßgeblich
von den jeweiligen Abteilungen und weiteren verantwortlichen Institutionen ausgearbeitet und sollen so die notwendige Unterstützung erfahren. Grundlegend dafür – und
eine große Herausforderung – ist die Akzeptanzschaffung
für die Handlungsoptionen und Anforderungen an die Planungsprozesse. Zur Verstetigung des Prozesses sind mittlerweile alle Aktionspläne als offizielle städtische Dokumente verabschiedet oder zur Verabschiedung vorgesehen.
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Zunächst wurde für alle drei Städte eine interdisziplinäre
„Arbeitsgruppe Klimawandelanpassung“ unter Leitung einer
koordinierenden Abteilung, meist der Umweltverwaltung,
aufgebaut. Von Januar 2014 bis Juli 2015 nahm die Arbeitsgruppe mit Unterstützung von internationalen und lokalen
Experten die Identifizierung und Bewertung der zu berücksichtigenden Handlungsfelder vor und entwickelte einen sektorenübergreifend Aktionsplan in enger Zusammenarbeit mit
Interessengruppen sowie den Entscheidungsträgern.
Abb. 2: Vorbereitung eines Gründaches als „Showcase“ auf einem
öffentlichen Gebäude
Birgit Haupter, Peter Heiland, Jakob Doetsch
Die klimaangepasste Stadt in Schwellenländern
beteiligt. So konnten über die in der Stadtverwaltung hinaus
verfügbaren Grundlagen auch Daten von nationalen und regionalen Stellen oder aus Projekten berücksichtigt werden. Das
städtische Umweltsekretariat koordinierte die Arbeitsgruppe.
Die Arbeitsgruppe startete mit der Zusammenstellung wetterbedingter Folgewirkungen der Vergangenheit in allen Verwaltungsbereichen. Vor allem zahlreiche Hitzewellen (2007 mit
statistisch signifikant erhöhter Todesrate und Produktivitätseinbußen) und Überflutungen (z. B. im Mai 2014 mit Toten,
zerstörter Infrastruktur, Trinkwasserverunreinigung) wurden
registriert, in Karten zusammengestellt und ausgewertet. Es
zeigte sich, dass vor Ort gute Datengrundlagen und zusätzliches Wissen vorhanden sind und belastbare Sektor übergreifende Schlussfolgerungen für besonders verletzliche Gebiete
und Bevölkerungsgruppen abgeleitet werden konnten.
Für den Aktionsplan stellten alle Arbeitsgruppenmitglieder zunächst Ziele und Aktivitäten in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich unter Berücksichtigung laufender Planungen zusammen. Die Arbeitsgruppe stimmte diese ab,
strukturierte die Einzelaktivitäten und übernahm die Priorisierung. Hierfür wurden u. a. die erwartete Wirksamkeit
der Maßnahmen hinsichtlich der festgestellten wichtigsten
Probleme, die erwarteten sozialen Effekte und die räumliche
Bedeutsamkeit im Stadtgebiet bewertet. Hochwasservorsorge- und -schutzmaßnahmen und Verbesserung der „grünen
Infrastruktur“ erhielten in Belgrad die höchste Priorität.
Sektorenübergreifend soll zur Entwicklung, Umsetzung und
Finanzierung der Maßnahmen beigetragen werden. Die Entwurfsfassung des Aktionsplans wurde innerhalb der Verwaltung verteilt und über die Homepage der Stadt veröffentlicht
und so die Möglichkeit zu Kommentaren gegeben. Dies erhöhte die Transparenz und Akzeptanz.
Einige Aspekte, auf die die Arbeitsgruppe besonderes Gewicht legte:
n Erhalt und Weiterentwicklung der öffentlichen Grünflächen und Parks vor dem Hintergrund der prognostizierten zunehmenden Hitzebelastung und Trockenheiten;
Maßnahmen zur Anpassung der Vegetation und zum Bewässerungsmanagement.
n Verbesserung der Information und Frühwarnung der Bevölkerung bei Extremwetterereignissen und zur Vermeidung
und Bekämpfung von Waldbränden. Diese bedrohen regelmäßig Randbezirke mit sozial schwachen Bevölkerungsgruppen sowie Flüchtlings- und Romasiedlungen; diese Gefahren
werden weiter zunehmen.
n Verstärkte Dämmung des meist nicht isolierten Gebäudebestands (Anpassung an zunehmende Temperaturen, Abwärmeverminderung und Energieeinsparung aus Klimaanlagen).
n Beschattung öffentlicher Flächen (z.B. Begrünung, Gebäudeausrichtung).
n Spezifizierung des Handlungsbedarfs in der Landwirtschaft
bezüglich Trockenheit, Starkregen- und Hagelereignissen.
Der im Sommer 2015 erstellte Aktionsplan umfasst zahlreiche
konkrete Aktivitäten im Zuständigkeitsbereich der Arbeitsgruppenmitglieder. Daneben wird aber auch besonderer Wert auf
die verstärkte Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gelegt,
wo diese zuständig sind. Dies betrifft z.B. die Hochwasservorsorge am Shkodra-See, die Verringerung der Hitzefolgen in
Krankenhäusern, Schulen und Kindergärten oder Empfehlungen zur Baugesetzgebung. Zur Verstetigung des Prozesses sieht
der Aktionsplan eine Fortsetzung der Treffen der Arbeitsgruppe
zum Monitoring sowie zur Koordination und Weiterbildung vor.
© INFRASTRUKTUR & UMWELT
Podgorica – Verstärkung der Zusammenarbeit mit übergeordneten Stellen
Die Hauptstadt Montenegros liegt im Landesinnern in einer breiten Ebene umgeben von Bergen an der Mündung
zweier Flüsse (Zeta und Morača). Mit 187.000 Einwohnern
leben rund 30 % der montenegrinischen Bevölkerung in der
Hauptstadt auf 150 ha Fläche.
Der Bürgermeister beauftragte das Dezernat für Raumplanung und Umwelt mit der Koordinierung der Arbeitsgruppe mit 15 Personen aus allen relevanten Abteilungen und
Stadtbetrieben. Involviert waren auch Gesundheitsamt und
Wetterdienst. Die Arbeitsgruppe traf monatlich zusammen
und koordinierte die Arbeiten. Die Arbeiten wurden zunächst auf das engere Stadtgebiet (mit gültigem Generalplan Stadtentwicklung) konzentriert. Gültige Sektorpläne,
wie der kürzlich verabschiedete Umweltaktionsplan und das
städtische Energiekonzept sowie der Masterplan (Flächennutzungsplan) und die Detailpläne (Bebauungspläne) stellten die Grundlagen für den Aktionsplan Klimaanpassung dar.
Abb. 3: Öffentliche Plätze sollen zukünftig mehr Schatten spendende Überdachung und Begrünung erhalten
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Birgit Haupter, Peter Heiland, Jakob Doetsch
Die klimaangepasste Stadt in Schwellenländern
Tirana klimaangepasste Gestaltung neuer
und laufender Projekte
sondere Berücksichtigung und wurden als exemplarische Umsetzungen dokumentiert.
Tirana liegt 30 km von der Küste entfernt, halbseitig von Hügeln
bzw. Bergketten umgeben, relativ offen in Richtung des flachen
Küstenvorlandes. Die Stadtentwicklung ist geprägt von extrem
starkem Wachstum. Seit 1991 hat sich die Bevölkerung von rund
250.000 bis 2013 auf 700.000 fast verdreifacht, für 2025 wird
eine Bevölkerung von 1 Mio. prognostiziert (SEA, 2013). Besonders in den 1990er Jahren wurde diese Entwicklung vorrangig
nach wirtschaftlichen Erfordernissen gesteuert. Der aktuelle
Masterplan vom Februar 2013 zielt darauf ab, die zukünftige Entwicklung nachhaltiger mit kooperativen Ansätzen der Akteure zu
steuern. In der Praxis dominieren jedoch aufgrund der dringend
notwendigen wirtschaftlichen Impulse oftmals einzelne Investorenprojekte oder strategische Großprojekte verschiedener Geldgeber die faktischen Entwicklungen. Im Norden spielen vor allem
das „Tirana-River-Projekt“ und das „Northern-Boulevard-Projekt“
mit Internationalen Geldgebern eine maßgebliche Rolle: hier
sollen neben der Rehabilitation des Tirana-Flusses vor allem umfangreiche Siedlungs- und Gewerbeflächen entwickelt werden.
Masterpläne für diese Projekte sind nicht im Stadtplanungsamt,
sondern im Amt für strategische Projekte angesiedelt und werden entsprechend politisch stark befördert.
Die Vulnerabilitätsanalyse und der Aktionsplan Klimaanpassung
für Tirana einschließlich des 15-monatigen kooperativen Prozesses sind wichtige Beiträge, um die Erfordernisse der Klimawandelanpassung in der täglichen Planungspraxis in der Stadt höher
auf die Agenda zu heben. Natürlich stellt ein solcher Aktionsplan
nur eine strategische Grundlage dar, die in Einzelprojekten berücksichtigt und nach und nach umgesetzt werden muss und
deren Finanzierung oftmals noch unklar ist. Nicht alle langfristig
voraussichtlich notwendigen Anpassungsmaßnahmen erfahren
heute bereits die Akzeptanz, die sie benötigen. Die Entwicklung
der Arbeitsgruppe ist grundsätzlich positiv zu bewerten, da sich
schrittweise ein besseres Verständnis und Problembewusstsein
entwickelt hat. Auch der offizielle Beschluss des Aktionsplans ist
ein wichtiges Zeichen dafür, dass es politisch Rückendeckung für
das Thema gibt.
Klimaanpassung ist eine Querschnittsaufgabe. Klimawandelfolgen müssen in stadtplanerischen Prozessen frühzeitig eine Rolle
spielen, indem die Integration geeigneter Anpassungsmaßnahmen in die städtebaulichen Entwürfe und Strategien sowie in
Investorenplanungen systematisch erfolgt. Zu oft sind es eher
Einzelaktivitäten, deren Effekte von der Akteurskonstellation abhängig sind. In den drei Projektstädten konnten, jeweils unterschiedlich und durch individuelle Situationen geprägt, durchweg
Integrationseffekte erzielt werden: sei es bei der Thematisierung
der Klimawandelfolgen in der strategischen Projektentwicklung
(Tirana) und der Masterplanung (Belgrad, Tirana und Podgorica),
oder sei es bei der Grünordnungsplanung und bei Entscheidungen über die Gestaltung von Einzelbauwerken.
Räumlich wurde neben der Betrachtung des gesamten Stadtgebietes ein Fokus gesetzt: aufgrund der Größe des Gebiets entschied die Arbeitsgruppe, ausgewählte Gebiete als Fallstudien
detaillierter zu untersuchen und hierfür konkrete Maßnahmen
zu entwickeln. Ein Schwerpunkt lag dabei auf den strategischen
Projekten mit erheblichen stadtklimatischen Auswirkungen
Die Bildung der interdisziplinären Arbeitsgruppen in allen drei
(Tirana-River:
Hochwasser,
Northern-Boulevard:
Hitze/
Frischluftventilation). Weitere
Pilotprojekte befassten sich mit
Wärmebelastung und Hitzeinseln in älteren Quartieren und
mit der Gestaltung von Gewässern. So wurden verschiedene
Darstellungen im Masterplan
Stadtentwicklung (vergleichbar
Flächennutzungsplan) analysiert und Vorschläge für eine
optimierte Umsetzung erarbeitet (z. B. Renaturierungsvorschläge für Gewässer statt
deren jetzt vorgesehener Begradigung, siehe Abbildung).
Die Ergebnisse der PilotaktioAbb. 4: Vorschlag für die klimawandelgerechte Renaturierung des Flusses Lana (links) anstelle der im
nen fanden im Aktionsplan beMasterplan vorgesehenen Begradigung (rechts)
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Auch in Tirana konstituierte sich im Januar 2014 die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Klimawandelanpassung mit Vertretern
der relevanten Stadtverwaltungsreferate (Umwelt, Gesundheit,
Stadtplanung, Strategische Projekte, Ver-/Entsorgung, Verkehr
u. a.) unter der Leitung des Umweltreferates, unterstützt durch
die Vize-Bürgermeisterin. Die Arbeitsgruppe tagte bis April 2015
fünfmal, z. T. mit nationalen Vertretern und Geldgebern.
Schlussfolgerungen: Integrierte und integrierende Prozesse in Städten in Schwellenländern
Birgit Haupter, Peter Heiland, Jakob Doetsch
Die klimaangepasste Stadt in Schwellenländern
Städten war wesentlich, um eine Plattform für das Thema zu
schaffen. In allen drei Städten musste eine gewisse, teils erhebliche Skepsis bei den einzelnen Sektoren überwunden werden.
Dabei fielen Kommentare wie „alle notwendigen Erkenntnisse für
unseren Sektor liegen bereits vor“; oder: „wir haben wirtschaftlich wichtige Projekte umzusetzen, da können wir uns um Klimawandel nicht auch noch kümmern“. Die offizielle Einrichtung der
Arbeitsgruppen und ein offizielles Mandat für die Koordinierung
durch die politische Führung sowie die Verwaltungsleitung waren
hierbei von zentraler Bedeutung. Damit konnte die Arbeitsgruppe ihre Arbeit aufnehmen und in den ersten Treffen konnte die
Mehrheit der Arbeitsgruppenmitglieder von der Notwendigkeit
und den Vorteilen der sektorenübergreifenden Betrachtungsweise überzeugt werden. Es ist gelungen, die Thematik innerhalb der
Arbeitsgruppen und den beteiligten Organisationen bewusst zu
machen. Dies ist erfahrungsgemäß stark an die jeweiligen Personen gebunden. Die Verankerung im Aktionsplan und den Bezügen zu den städtischen Plänen ermöglicht auch eine gewisse
Verstetigung, wenn Personen ihre Aufgabenbereiche wechseln.
Dennoch bleibt hierzu abzuwarten, ob die Erfolge der Arbeitsgruppe politische Umwälzungen wie Kommunalwahlen und Neubesetzung wichtiger Positionen bis in mittlere Ebenen der Verwaltung überstehen. Die Grundlagen hierfür wurden geschaffen.
In Belgrad scheint die Struktur des Prozesses aufgrund der am
weitesten reichenden politischen Unterstützung stabil, so dass
die fachlichen Themen eine große Konstanz aufweisen sollten.
Vor dem Hintergrund des schnellen und weniger gesteuerten
Wachstums in den Projektstädten ist die Überprüfung laufender Planungen und Großprojekte in Schwellenländerstädten auf
Folgewirkungen und auf ihre Klimaangepasstheit von besonderer Bedeutung. Die Aktionspläne bieten nun einen Rahmen
hierfür. Eine aktive Einbeziehung des Themas Klimawandel in
die Bewertung und Optimierung von Investorenprojekten ist
allerdings oftmals eine Frage handelnder Personen: die Großprojekte in Belgrad (Sava-Uferbebauung) und Tirana (NorthernBoulevard) bieten ausgezeichnete Ansatzpunkte, um klimawandelgerecht und sogar pilothaft zu planen und zu bauen: Es ist zu
hoffen, dass die Verantwortlichen dies erkennen.
Insofern bleibt auch zu konstatieren, dass in Schwellenländern
die (vermeintliche) Konkurrenz von Anforderungen des Klimawandels, wie z. T. allgemein von Umweltanforderungen mit
Wirtschaftlichkeit und Attraktivität von Investitionsprojekten den
häufigsten Konflikt darstellt. Dies ist zwar nicht anders als in Industriestaaten und explizit auch nicht anders als in Deutschland,
aber der Handlungsspielraum in Schwellenländern scheint den
Verantwortlichen oftmals geringer. Daher ist es dort besonders
entscheidend, dass über gut machbare und realistische Beispiele Wege aufgezeigt werden, wie eine Stadtklima-optimierte Planung von Gebäuden oder Quartieren keine Verschlechterung,
sondern eine Verbesserung auch unter wirtschaftlichen Aspekten
darstellen kann. Nur wenn hierfür ein Weg aufgezeigt und dafür
Akzeptanz geschaffen werden kann, haben Klimawandelanpassungsmaßnahmen eine Chance auf Realisierung. Eine Herausforderung bleibt die Finanzierung und Umsetzung von identifizierten Maßnahmen. Vergleichsweise kostengünstig sind „weiche“
Maßnahmen wie Information und Frühwarnung der Bevölkerung,
dagegen sind Baumaßnahmen z. B. zur schadlosen Regenwasserableitung meist nur in Kombination mit anderen Erfordernissen,
wie die Erfüllung von Umweltauflagen, finanzierbar. Die GIZ unterstützt die Umsetzung von kleinen Anschauungsbeispielen für
weiche Maßnahmen in den Städten, um auch weiterhin die Bewusstseinsbildung und die Akzeptanz zu fördern. Die Prozesse in
den drei Projektstädten haben gezeigt, dass das Konfliktverhalten
und das generelle Akzeptanzdefizit sich nicht wesentlich von den
Industriestaatenunterscheiden.
¢
Anmerkungen
Das GIZ-Projekt „Klimawandelanpassung im westlichen Balkan“
wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) beauftragt. Es zielt ab auf die Verbesserung der Anpassung an den Klimawandel im westlichen Balkan,
besonders hinsichtlich der Hochwasser- und Dürrerisiken und im
Städtischen Umfeld. Das Vorhaben stützt sich in Albanien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien auf eine diversifizierte
regionale, nationale und lokale Partnerstruktur. Die Unterstützung der GIZ umfasst Beratung durch internationale, regionale
und lokale Fachkräfte, Fortbildungsmaßnahmen und Sachgüterbeschaffung.
Mit der fachlichen Unterstützung bei der Bearbeitung der Aufgaben beauftragte die GIZ die Consultants INFRASTRUKTUR &
UMWELT Professor Böhm und Partner (Darmstadt/Potsdam). Das
Projekt wurde von Ende 2013 bis Sommer 2015 durchgeführt.
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Seilbahn in Medellín © Dirk Heinrichs, 2013
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Wissenschaftlicher Beitrag. Peer reviewed.
Dirk Heinrichs, Aline Delatte
Urbanisierung und
städtische Mobilität
Internationaler Diskurs und aktuelle Verkehrs- und Stadtplanung am
Beispiel von São Paulo und Medellín
Mit weltweiter Urbanisierung und zunehmendem ökonomischen Wohlstand steigen
Verkehrsaufkommen und Motorisierung.
Investitionen in städtische Verkehrsangebote
können die wachsende Nachfrage nicht befriedigen, mit negativen ökologischen und sozialen
Folgen. Allerdings entstehen in Städten auch
neue Mobilitätstrends. Der öffentliche Verkehr
und Radverkehr verzeichnen Zuwachsraten. Es
entstehen neue Angebote wie Bike-Sharing und
leistungsfähige Schnellbussysteme.
Dirk Heinrichs, 1966,
Prof. Dr.-Ing. habil., Abteilungsleiter Mobilität und
Urbane Entwicklung, Deutsches
Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Professor für
Stadtentwicklung und Urbane
Mobilität, TU Berlin
Aline Delatte, 1984,
Dipl.-Ing/M.Sc, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsches
Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Institut für
Verkehrsforschung, Berlin
D
ie Auswirkungen des kontinuierlich steigenden städtischen Verkehrsaufkommens einerseits und die Potenziale
neuer Ansätze und Trends andererseits sind ein globales
Thema und stehen im Zentrum der internationalen Diskurse zum
Klimawandel und einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Zahlreiche internationale Institutionen und Organisationen – unter
anderem Weltbank, OECD, UN-Habitat, Metropolis – betreiben
die Verbreitung von Best Practice Beispielen und fördern die
Entwicklung von langfristigen Visionen. Bestandteile dieser Visionen sind eine integrierte Landnutzungs- und Verkehrsentwicklung, die Beteiligung aller Akteure im Planungsprozess, die Förderung des öffentlichen und nicht-motorisierten Verkehrs sowie
innovative Angebote, eine kontinuierliche Evaluation und Monitoring der Maßnahmen sowie die Schaffung von finanziellen und
rechtlichen Rahmenbedingungen für die Implementierung und
Durchsetzung von Maßnahmen. Beispiele umfassen langfristige
integrierte Landnutzungs- und Verkehrsentwicklung in Curitiba
(Brasilien) oder auch der Transmilenio in Bogotá ( Jirón 2011).
Trotz grundsätzlich ähnlichen Herausforderungen hat jede
Stadt aufgrund ihrer sozialen, politischen, räumlichen und klimatischen Situation ihren spezifischen Kontext. Wissenstransfer und die Formulierung von gemeinsamen Zielen auf globaler
Ebene sind wesentlicher Input für die Umsetzung von nachhaltigen Strategien. Jedoch können Maßnahmen nur unter Berücksichtigung dieses stadtspezifischen Kontextes erfolgreich
implementiert werden. Die nachfolgenden Beispielen, São Paulo in Brasilien und Medellín in Kolumbien, verdeutlichen dies.
São Paulo: Planung als Abkehr von der
automobilen Stadt
Die Munizipalität São Paulo ist mit 11,9 Mio. Einwohnern
(2014) die größte Stadt und zugleich das Wirtschafts- und Finanzzentrum Brasiliens (Maluf 2014). São Paulos Entwicklung
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© Finasal, 2007
Dirk Heinrichs, Aline Delatte
Urbanisierung und städtische Mobilität
Abb. 1: BRT Haltestelle in Sao Paulo
ist geprägt durch eine rapide Urbanisierung im 20. Jahrhundert. Mit über 20 Mio. Einwohnern gehört der Metropolraum zu den weltweit größten Stadtregionen (UN
DESA). Aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums der
am Stadtrand gelegenen Stadtgebiete dehnt sich der Siedlungsraum aus. Die Stadt ist zudem durch eine ausgeprägte sozialräumliche Segregation charakterisiert. Das schnelle und ungesteuerte Wachstum der Siedlungsfläche führt
zur Entstehung informeller Hütten- und Marginalsiedlungen (Cortiços, Favelas), welche durch eine Bevölkerung
mit niedrigem sozioökonomischen Status und einer defizitären (Basis-) Infrastrukturausstattung gekennzeichnet
sind. Gleichzeitig entstehen zahlreichen Gated Communities für mittlere und höhere Einkommensgruppen, die nur
mit dem Pkw erreichbar sind. Trotz des Zersiedelungsprozesses konzentriert sich das Arbeitsangebot weiter in der
Kernstadt von São Paulo. Jedoch werden die neu entstehenden Siedlungsgebiete nicht mit dem bestehenden öffentlichen Verkehrsangebot verknüpft (Bonduki 2011).
Aus dem Urbanisierungsprozess und dem Wachstum des
ökonomischen Wohlstands resultiert eine hohe Zunahme des
Verkehrsaufkommens. Im Jahr 2012 wurden in der Metropolregion 43,7 Mio. Wege täglich zurückgelegt: eine Steigerung
um 39 % im Vergleich zum 1997. Dies gründet u. a. auf einer starken Zunahme des motorisierten Individualverkehrs
(MIV), der fast ein Drittel aller Wege ausmacht. Zwischen
den Jahren 2007 und 2012 stieg der Motorisierungsgrad von
184 Pkw/1.000 EW auf 212 (Pkw-Bestand in 2012: 4,3 Mio.). In
2012 besaß fast die Hälfte aller Haushalte mindestens einen
Pkw (Governo Estado São Paulo). Das Straßenverkehrsaufkommen – hauptsächlich durch den Pendelverkehr zwischen
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der Peripherie und der Kernstadt verursacht – übersteigt die
Kapazitäten der Infrastruktur. Häufige und lange Staus spiegeln das wenig schmeichelhafte Bild einer Stadt kurz vor
dem Zusammenbruch wider (Bonduki 2011, Rolnik/Klintowitz
2011, da Silva Costa 2013).
Die heutige Verkehrssituation ist das Resultat einer langjährigen, schon seit den 1930er Jahren verfolgten Pkw-orientierten
Politik und einer Vernachlässigung des Ausbaus des öffentlichen Verkehrs (ÖV). Erste politisch bedeutsame Forderungen
nach einer gesteigerten Priorität des ÖV-Ausbaus wurden erst
in 2003/2004 geäußert und mit der Einführung eines 150 km
langen Bus Rapid Transit (BRT) Systems realisiert.
Die daraus entstandenen, positiven verkehrlichen Wirkungen
wurden durch einen Anteilsgewinn des ÖV am motorisierten
Verkehrsaufkommen zwischen 2002 (44 %) und 2007 (55 %)
deutlich. Diese gesteigerte ÖV-Nutzung bedeutet die Kehrtwende des jahrzehntelangen Trends der Abnahme des ÖV am
Modal Split (Bonduki 2011, Maluf 2014).
Nach der Kommunalwahl in 2005 fand jedoch eine Änderung der politischen Zielsetzung statt. Die öffentliche
Förderung des BRT wurde stark eingeschränkt. Trotz der
beobachteten und messbaren positiven Wirkung der BRTFörderung auf das gesamte Verkehrsaufkommen wurde
der BRT-Ausbau nicht weitergeführt. Stattdessen standen
von nun an der Ausbau des schienengebundenen ÖV sowie auch des MIV im Vordergrund. Doch auch die ambitionierte Erweiterung des schienengebundenen öffentlichen
Verkehrs wurde aufgrund komplexer und hoher finanzieller Aufwände verhindert. Diese Periode ist durch eine
Dirk Heinrichs, Aline Delatte
Urbanisierung und städtische Mobilität
deutliche Verschlechterung des Verkehrsflusses im Straßenverkehr gekennzeichnet. Sie war bei der Kommunalwahl 2013 mit verantwortlich für den Gewinn von Kandidaten, die sich ausdrücklich für eine Förderung des BRT
positionierten (Maluf 2014).
Als Reaktion zu dem in der zivilen Gesellschaft geäußerten
Protest gegen die ÖV-Fahrpreiserhöhung in 2013 hat die
Stadtverwaltung von São Paulo die BRT-Netzerweiterung beschleunigt. Fast 300 km zusätzlicher Buskorridor wurden in
2014 geschaffen. Diese Investitionen haben direkt positive
Wirkungen entfaltet: Erhöhung der Fahrleistung, Zunahme
der Geschwindigkeit, Reduzierung der Reisezeit und Abnahme des Dieselkraftstoffverbrauchs (Maluf 2014).
Der im Juni 2014 verabschiedete Strategieplan für die Stadt
São Paulo mit dem Jahr 2030 als Zeithorizont räumt der urbanen Mobilität eine hohe Priorität ein und orientiert sich
an den internationalen Zielen, wie die Abkehr von der Automobilitätskultur und die Anerkennung der Bedeutung der
Gestaltung städtischer Mobilität für Lebensqualität.
Dafür sind eine Reihe von Maßnahmen vorgesehen. Die
Verstärkung einer integrierten Stadt- und Verkehrsentwicklung ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für
die urbane Transformation. Neben verkehrlichen Maßnahmen beinhaltet der Plan auch die Einführung einer baurechtlichen Begrenzung auf maximal einen Pkw-Stellplatz
für jede neu entstehende Wohneinheit, die an einem der
definierten öffentlichen Verkehrskorridore liegt. Die Implementierung dieser restriktiven Maßnahmen gegenüber
Autonutzung und -besitz in São Paulo ist ein Vorbild für
alle Megastädte weltweit für die Reduzierung der PkwNutzung (Scruggs 2014, ITDP).
Obwohl sich die verkehrlichen Auswirkungen der Umsetzung des Strategieplans erst im Laufe der kommenden
Jahre zeigen werden, wurde bereits im Vorfeld Kritik geäußert. Insbesondere die Einführung der baurechtlichen
Begrenzung von Parkplätzen könnte zu einer Verlagerung
von Wohnstandorten von Haushalten mit mehr als einem
Pkw in andere Stadtteile führen. Weiterer Widerspruch
richtet sich gegen die zugewiesenen finanziellen Mittel
für den Ausbau der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur für
den Rad- und Fußverkehr. Sie werden als zu gering eingeschätzt, um eine Verlagerung von der aktuell sehr intensiven Autonutzung hin zu Verkehrsmitteln des Umweltverbundes zu bewirken (Scruggs 2014).
Um mögliche negative Nebenwirkungen erfassen und die
Effizienz der Maßnahmen überprüfen zu können, wurden
neue Monitoring-Instrumente geschaffen. Das aktuelle Integrated Smart Mobility Planning Programme, das die Analyse der räumlichen und zeitlichen Verkehrsströme durch
Messgeräte in der BRT-Flotte ermöglicht, gilt als innovative Implementierung und ein wesentliches Instrument, um
politische Entscheidungen zu unterstützen (Maluf 2014).
Medellín: Seilbahn als Integriertes
Entwicklungsprojekt
Medellín ist mit gut 2 Mio. Einwohnern die zweitgrößte
Stadt Kolumbiens. Sie bildet das Zentrum der Metropolregion des Valle de Aburra, in der gut 3 Mio. Menschen leben.
Die Stadt ist durch eine ausgeprägte sozialräumliche Segregation gekennzeichnet. Nachbarschaften mit Haushalten
niedriger Einkommen finden sich im Norden und Nordosten
Medellíns, während einkommensstarke Haushalte im Zentrum und dem südlichen Stadtgebiet leben.
Nach den Ergebnissen der Verkehrserhebung aus dem Jahr
2012 (AMVA/Universidad Nacionál: 2013) lag die Anzahl der
täglichen Wege bei etwa 5,6 Mio., was einem recht moderaten Wert von etwa 1,7 Wegen pro Person entspricht. Gut
ein Viertel aller Wege entfallen auf den öffentlichen Busverkehr (Transporte Publico Collectivo, TPC). Im Vergleich zum
letzten Erhebungszeitraum 2005 ist dies ein Rückgang. Die
Nutzung des Pkw lag 2012 bei etwa 15 % – eine Steigerung
gegenüber 11 % in 2005. Die Nutzung des privaten Motorrads ist von 5 % in 2005 auf 11 % in 2012 ebenfalls deutlich gestiegen. Etwa 25 % der Wege in Medellín werden zu
Fuß zurückgelegt. Die Bedeutung des Fahrrads ist hingegen
vernachlässigbar. Auf das Metrosystem entfallen etwa 10 %
aller Wege, gegenüber 7 % in 2005. Das integrierte System
umfasst zwei Schienenstrecken (Linien A und B), drei Seilbahnlinien (Linien J, K, L) und die Busschnelllinie Metroplus.
Verkehrsmittel
Anteil 2005 (%)
Anteil 2012 (%)
Bus
32
28
Metro
7
10
Taxi
11
6
Pkw
12
15
Motorrad
5
11
Fahrrad
1
1
Zu Fuß
28
26
Andere
4
3
Tab. 1: Verkehrsmittelanteile (Modal Split) in der Metropolregion
2005 und 2012
Die Integration der Seilbahn (MetroCable) in 2004 ist ein
Vorhaben zur Verbesserung der Erreichbarkeit von Stadtgebieten außerhalb der ‚formalen‘ Stadt: informell entstandene Siedlungen an den Berghängen. Das MetroCable entstand
nicht als isoliertes Projekt, sondern als Teil eines Integrierten Urbanen Projekts (Projecto Urbano Integrado, PUI). Es
wurde vom Verkehrsbetrieb der Stadtverwaltung (Empresa
Transporte Massivo, EMTVA) durchgeführt und verfolgte zum
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Dirk Heinrichs, Aline Delatte
Urbanisierung und städtische Mobilität
einen das Ziel, die Auslastung der im Tal verlaufenden Schienenlinien durch Fahrgäste der Siedlungen an den Berghängen zu erhöhen. Zum anderen sollten mit dem Projekt die
Lebensbedingungen der Bewohner verbessert werden.
Im Projekt wurden drei Aspekte kombiniert. Ein erster Aspekt umfasst die physische Aufwertung durch die Seilbahn
einschließlich der Stationen sowie weitere Interventionen wie
Wohnungsneubau und –sanierung und Gestaltung öffentlicher
Plätze. Ein zweiter Aspekt beinhaltet die Einbeziehung der Bewohner von der Konzeption bis zur Implementierung. Ein dritter Aspekt ist die institutionelle Koordination der kommunalen
Verwaltungen für Planung, Verkehr, Gesundheit und Bildung
untereinander sowie ihre Zusammenarbeit mit den im Zuge
des PUI neu geschaffenen Stadtteilvertretungen (Blanco/Kobayashi 2009). Der Ansatz unterstützt ganz deutlich weiterreichende Ziele der Stadtplanung zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bewohner informeller Nachbarschaften. Sie
sind zugleich Ausdruck der Bestrebungen, das Image und die
Sicherheit der Siedlungen zu verbessern und zu zeigen, dass
Stadtplanung und kommunale Politik nach jahrzehntelanger
Vernachlässigung sich der Probleme in informellen Gebieten
ernsthaft annehmen (DNP 2010).
Der Bau der Seilbahn wurde erstmals im Landnutzungsplan
für Medellín im Jahr 1993 vorgeschlagen. In dem im Jahr 2001
veröffentlichten Plan wurde ein Transportkorridor für eine Linie festgelegt, welcher die Gemeinden Popular und Santa Cruz
im nördlichen Stadtgebiet an die Metro anbinden sollte. Die
Durchführung erfolgte gemeinschaftlich durch die Stadtverwaltung Medellíns und die Betreibergesellschaft der Metro.
Die Länge der Linie beträgt etwa 2 km mit vier Stationen.
Bis zu 93 Gondeln transportieren jeweils bis zu 8 Personen
sitzend und zwei weitere Personen stehend. Die Kosten für
den Bau betrugen etwa 24 Mio. US Dollar (Brand /Dávila
2012). Bezogen auf gebaute Kilometer liegen sie damit unter denen für Bus oder Rail Rapid Transit Systemen. Aufgrund des vergleichsweise minimalen Flächenbedarfs für
Stationen und Stützpfeiler entstehen potentiell geringere
Konflikte mit Anwohnern. Nach der Verkehrserhebung aus
dem Jahr 2012 nutzen täglich etwa 43.000 Personen die
Seilbahnlinie (AMVA/Universidad Nacional 2013). In Spitzenzeiten erreicht die Nachfrage die Kapazitätsgrenzen von
3.000 Passagieren/Stunde.
Die Wirkungen der Seilbahn sind eine deutlich kürzere Fahrzeit als mit dem Bus in das Stadtzentrum, besserer Komfort
und ein zuverlässiger und für die Bewohner planbarer Betrieb von früh morgens um 4:30 bis spät abends um 23:00.
Es wurde ein Tarifsystem für die kombinierbare Nutzung der
Seilbahn mit der Metro und Fahrpreisreduzierung mit der
aufladbaren Karte (tarjeta civica) eingeführt. Mit diesem
System ist die Nutzung der Seilbahn auch finanziell attraktiv und liegt für eine Fahrt ins Zentrum etwa ein Drittel unter dem Preis für eine vergleichbare kombinierte Busfahrt
(Brand/Dávila 2012). Für die Mehrheit der Bevölkerung liegt
jedoch auch dieser Preis über den finanziellen Möglich-
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keiten. Die Nutzung der Seilbahn scheint eine Option für
denjenigen Teil der Bevölkerungen mit einer Beschäftigung
(und dem entsprechenden Einkommen) in anderen Stadtteilen. Die Vorteile sind weitaus geringer für die überwiegende
Mehrzahl der Bewohner mit unregelmäßigen bzw. informellen Beschäftigungsverhältnissen, Kinder, Ältere und mobilitätseingeschränkte Personen (Heinrichs/Bernet 2014).
Die Einführung der Stationen und der Betrieb der Seilbahn hat
in Verbindung mit der Gestaltung der umliegenden öffentlichen Flächen zu Plätzen das Sicherheitsempfinden von Bewohnern des Gebiets deutlich verbessert (ibid). Hierdurch wurde
auch die Erreichbarkeit der neu angebundenen Gemeinden
positiv beeinflusst. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass
auch wieder verstärkt andere Verkehrsmittel (Taxis, Busse) die
Gemeinden ansteuern und dass die Seilbahn auch durch Besucher aus anderen Stadtvierteln und Touristen genutzt wird.
In den letzten Jahren hat sich die Seilbahn zu einer Landmarke der Stadt entwickelt, auf die ihre Bewohner stolz sind und
mit der sie sich identifizieren. Die Image-Aufwertung hat einen nicht zu unterschätzenden symbolischen Wert für die Bewohner der Gemeinden Santa Cruz und Popular (Brand/Dávila 2012). Darüber hinaus hat die Einrichtung der Seilbahn in
Medellín dazu geführt, das sowohl der integrierte Planungsansatz als auch die Seilbahn als Verkehrsangebot zunehmend
diskutiert und umgesetzt werden, so z. B. in Rio de Janeiro
in Brasilien. Vor allem in gewachsenen bzw. dicht bebauten
und topographisch anspruchsvollen städtischen Lagen kommen die Vorteile der Technologie zum Tragen. Die Kosten für
Implementierung und Betrieb liegen deutlich unter denen
alternativer Verkehrsangebote wie Bus- oder Straßenbahnsystemen (Bergerhoff/Perschon 2014). Auf der anderen Seite
handelt es sich bei einer Seilbahn nicht um ein Massentransportmittel. Im Vergleich zu maximal rund 10.000 Passagieren/Stunde einer Seilbahn sind BRT Systeme für ca. 35.000
Passagiere/Stunde ausgelegt.
Fazit: lokale Lösungen als Umsetzung
globaler Visionen
Die in diesem Artikel vorgestellten Beispiele – Verkehrspolitiken in São Paulo und in Medellín – zeigen die Hindernisse
und die Potenziale lokaler Stadt- und Verkehrsplanung zur
Umsetzung nachhaltiger Visionen, wie sie in der internationalen Diskussion derzeit geführt werden. In den Strategien und
Maßnahmen beider Städte finden sich die eingangs im Artikel
genannten Elemente internationaler Leitbilder für nachhaltige
Verkehrsentwicklung wieder. Der aktuelle Masterplan von São
Paulo setzt den Schwerpunkt auf eine integrierte Landnutzung
und Verkehrsentwicklung gegeben. In beiden Städten ist das
Ziel, die bestehende räumliche Segregation zu überwinden
und die Erreichbarkeit für alle Menschen zu verbessern. Die
Maßnahmen sind für die Kommunen finanzierbar, erfordern
aber ein hohes Maß an Steuerungswillen und -kompetenz. Die
Einbindung der städtischen Bevölkerung spielt ebenfalls eine
Rolle in beiden Fällen. Partizipative Prozesse sind, nicht zu-
Dirk Heinrichs, Aline Delatte
Urbanisierung und städtische Mobilität
letzt bedingt durch die Proteste in 2013, im Masterplan von
São Paulo vorgesehen. In Medellín erfolgte über mehrere Jahre eine gezielte Einbindung der Bevölkerung in den Kommunen Popular and Santa Cruz.
Die relativ schnelle BRT-Netzerweiterung in São Paulo im
Lauf der letzten Jahre und der Aufbau der Seilbahn in Medellín sind konkrete Investitionen, die sozial und ökologisch
gerechte Ansätze verfolgen. In beiden Städte zeigt sich, dass
der politische Willen und das lokale Engagement der Entscheidungsträger die Haupterfordernisse für die Durchführung einer nachhaltigen Entwicklung sind.
Das Beispiel São Paulo verdeutlicht aber auch die Schwierigkeiten, die Politikänderungen verursachen können. In
der jüngeren Vergangenheit hat sich gezeigt, dass Wechsel
der politischen Führung zu drastischen Kehrtwendungen in
den Zielsetzungen führen können, die die Umsetzung einer
langfristigen und nachhaltigen Stadt- und Verkehrsentwicklung gefährden. Die Erfahrung in Medellín zeigt, dass die
Veränderung des Verkehrsangebots zwar vielfältige positive
Effekte nach sich ziehen kann, die weit über die Ziele der
Verkehrsplanung im engeren Sinne hinausgehen können.
Es zeigt sich aber auch, dass fundamentale Einschränkungen der Bewohner informeller Siedlungen hinsichtlich des
verfügbaren Mobilitätsbudgets und der Bezahlbarkeit von
Verkehrsangeboten weiterhin bestehen. Die Nutzung des
Angebots ist damit eingeschränkt. ¢
> Bonduki, Nabil (2011): The urban development model of São Paulo needs to be reversed. In: Estudos Avancados 25 (71), S. 23-36
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aspx (letzter Zugriff: 25.06.2015)United Nations Department
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Prospect, the Revision 2014, http://esa.un.org/unpd/wup/ (letzer Zugriff: 25.06.2015)
Schlüsselwörter: Urbanisierung, urbane Mobilität, Stadtplanung, Verkehrsplanung, Sao Paulo, Medellín
Keywords: Urbanisation, Urban Mobility, Urban Planning, Transport Planning, Sao Paulo, Medellín
Zusammenfassung: Mit Urbanisierung und zunehmendem ökonomischen Wohlstand steigt das städtische Verkehrsaufkommen. Investitionen in Verkehrsangebote können die Nachfrage
nicht befriedigen, mit negativen ökologischen und sozialen
Folgen. Mit Blick auf internationale Ziele für nachhaltige urbane Mobilität analysiert der Beitrag aktuelle Entwicklungen der
Verkehrs- und Stadtplanung anhand der Fallbeispiele São Paulo
und Medellín.
Abstract: Worldwide urbanisation and rising economic welfare of
urban residents have led to growing travel demand and motorisation rates in cities. Resulting air and noise pollution, congestion and rising travel times increasingly affect quality of life. But
cities are at the same time locations where new mobility trends
emerge. Public transport and cycling are gaining popularity and
city governments implement new mobility concepts like bike
sharing schemes or Bus Rapid Transit systems.
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© Malve Jacobsen, Oktober 2015
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Wissenschaftlicher Beitrag. Peer reviewed.
Malve Jacobsen
Schnellbusse auf
der Überholspur
Dar es Salaam Rapid Transit als Wegbereiter nachhaltiger urbaner Mobilität?
Städtischer Verkehr in Tansania steht insbesondere aufgrund schneller Urbanisierungsprozesse
vor einer Vielzahl an Herausforderungen und es
stellt sich die Frage, inwiefern neue Transportmodelle als Treiber einer nachhaltigen Entwicklung
eingesetzt werden können. Bisher sind Minibusse,
Dala Dalas, eines der meistgenutzten Transportmittel Dar es Salaams. Im Rahmen des Projektes
Dar es Salaam Rapid Transit (DART) wird nun
ein weiträumiges Schnellbussystem (engl.: Bus
Rapid Transit System/BRT) geplant, gebaut und
in Betrieb genommen. Dieses BRT System soll in
Zukunft eine nachhaltige Lösung für die Transportprobleme der tansanischen Metropole bieten.
E
ndlich ist das Thema Verkehr bei den Vereinten Nationen
im Rahmen des Programms Habitat III und den Sustainable Development Goals (SDGs) angekommen (UN-Habitat
2015). Während in den Millennium Development Goals (MDGs)
Transport nicht direkt thematisiert wurde, spielen Fragen des
verbesserten Zugangs zu städtischer Mobilität in der neuen
globalen Entwicklungsagenda eine zentrale Rolle (World Bank
2015a, UN-Habitat 2015). Dass Mobilität und Stadt nicht nur
eng zusammenhängen, sondern Transport einen Einfluss auf
die Lebensqualität und nachhaltige Entwicklung einer Stadt
hat, ist in wissenschaftlichen Diskursen anerkannt: ”Transport
affects the ‚liveability’ of a city” (Pirie 2014: 136). Auch auf angewandter Seite, wie dem Wohn- und Siedlungsprogramm UNHabitat, wird sich seit einigen Jahren verstärkt mit nachhaltiger
urbaner Mobilität auseinandergesetzt (UNHabitat 2013: 1), was
vom Institute for Transportation and Development Policy (ITDP)
als „historischer Schritt“ (ITDP 2015) bewertet wird.
Bei der Umsetzung nachhaltiger Maßnahmen im Transportsektor gibt es insofern immensen Bedarf, bspw. hinsichtlich
der Entwicklung neuer Modelle eines umweltverträglichen
und effizienten, d. h. auf große Massen ausgerichteten, öffentlichen Personennahverkehr. Insbesondere im Globalen Süden
gibt es den Trend zur Planung und Implementierung von BRT
Systemen (Wood 2015: 1063). Inwiefern diese Bussysteme
tatsächlich zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen
können, soll zum einen generell und zum anderen exemplarisch am DART Projekt skizziert werden.
Malve Jacobsen, Master
of Arts Stadtgeographie,
Humboldt-Universität
zu Berlin; seit Dezember
2014 Doktorandin
der Humangeographie,
Universität Frankfurt
BRT: Ein globales Erfolgsmodell?
Die rapide globale Ausbreitung von BRTs seit Beginn der
2000er Jahre geht einher mit einem Hype dieses Modells. So
werden BRTs seitens lokaler Regierungen und internationalen
Organisationen eine Vielzahl an sozialen, ökologischen und
ökonomischen Effekten zugeschrieben: ”BRT is not just about
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Malve Jacobsen
Schnellbusse auf der Überholspur
© Gwen Kash, 2011
Trotz dieser Vielzahl an Vorteilen bringen Bau
und Implementierung von BRT Systemen auch
Nachteile mit sich. Generell haben solche
Transitionsprozesse kaum vermeidbare Konsequenzen wie Zwangsumsiedelungen und
Enteignungen zur Folge (Rizzo 2015: 1). Ferner
können Ziele zur Aufwertung der Lebensbedingungen der armen Bevölkerung und Ziele
des verbesserten Zugangs zu urbaner Mobilität in Form von höheren Eintrittsbarrieren
durch elektronische Zahlungsmethoden und
höhere Tarife gefährdet sein. Im Vergleich
zu schienengebundenen Systemen zeigen
sich Schwächen, wie die Verwendung fossiler
Brennstoffe, des vergleichsweise hohen Platzbedarfs und der geringeren Effizienz.
Abb. 1: Das prominente BRT System aus Bogotá: TransMilenio
BRT Systeme lassen sich insbesondere wegen ihrer hohen Effizienz und Servicequalität bei gleichzeitig relativ geringen Bau- und
Betriebskosten als positiv beurteilen. Die
Stärken rühren daher, dass bei BRT Systemen Vorteile von Bus- und Bahnsystemen
kombiniert werden, wodurch ein System
trotz seiner Größe überaus flexibel bleibt.
So sind bei BRTs im Vergleich zu schienengebundenen Systemen (Aus-)Bauphasen
schnell und kostengünstig zu realisieren.
Dies ist v. a. bei massivem Bevölkerungsund Siedlungswachstum vorteilhaft, da sich
das System relativ schnell an die städtische
Umwelt anpassen lässt. Darüber hinaus haben BRTs verglichen mit Minibus Systemen
einen niedrigeren Energieverbrauch und
demzufolge geringere Emissionen. Weitere
zentrale Charakteristika sind separate Spuren für die Busse, integrierte Tarifsysteme
innerhalb des BRT Netzes sowie Anschlüsse
an andere Verkehrsmittel (vgl. Holzwarth
2012, Nkurunziza et al. 2012).
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Die tansanische Küstenstadt ist ökonomisches Zentrum des
Landes und verzeichnet ein immenses Bevölkerungswachstum, welches mit Zersiedelung einhergeht. Diese flächenhafte Ausweitung und die durchschnittlich ohnehin bereits
geringe Bevölkerungsdichte der größten Stadt Tansanias
stellen Herausforderungen an die verkehrsinfrastrukturelle
Versorgung, u. a. aufgrund der langen Wege, die zwischen
Zentrum und Peripherie von Pendlern überwunden werden müssen. Darüber hinaus untermauert die zunehmende
Mobilität und damit einhergehend der steigende Bedarf an
Transportmöglichkeiten die Notwendigkeit einer umfassenden Umgestaltung des derzeitigen Verkehrssystems (Nkurunziza et al. 2012: 12-13, Reudenbach/Scholz 2012: 29).
© Malve Jacobsen, März 2015
transporting people. […] BRT has shown to be an effective
catalyst to help transform cities into more liveable and human-friendly environments“ (Wright/Hook 2007:ii-iii). Das
Modell taucht per se zwar nicht in Habitat III auf, verkörpert jedoch einige Ziele dieses UN-Programms. So erfährt
dieses in Lateinamerika entwickelte Bussystem im Rahmen
der Nachhaltigkeitsagenda vielseitige Förderungsmöglichkeiten und lässt sich u. a. aus diesem Grund innerhalb
kurzer Zeit in vielen Städten des Globalen Südens implementieren (Nkurunziza et al. 2012: 12-13, UNHabitat 2013:
48-49). “BRT has become the vogue” (Pirie 2014: 136), und
bleibt in nahezu keiner Debatte zu nachhaltigem Transport
im urbanen Afrika unerwähnt.
Transport und Mobilität
in Dar es Salaam
Abb. 2: Alltäglicher Stau von Dala Dalas im Stadtzentrum
© Malve Jacobsen, März 2015
Malve Jacobsen
Schnellbusse auf der Überholspur
Abb. 3: Diverse Transportmittel an BRT Station Shekilango
Der Trend steigender innerstädtischer Mobilität begründet
sich ferner in der jährlichen ökonomischen Wachstumsrate
von etwa 6-7 % ( JICA 2008: 2 – 3) sowie einer jährlichen
Bevölkerungswachstumsrate von 5,6 % (NBS 2013: 26). Die
Prognosen für einen Bevölkerungsanstieg variieren extrem,
sodass von derzeit ca. 3,4 Mio. auf 11,5 Mio. Einwohnern in
2025 (DART Agency 2015) bzw. 5,8 Mio. in 2030 ( JICA 2008:
1 – 3) ausgegangen wird. Die infrastrukturelle Entwicklung,
wie der Ausbau des öffentlichen Verkehrs, kommt diesen
Entwicklungen und daraus resultierenden Bedarfen nicht
nach und Stadtgebiete, in denen ärmere Bevölkerungsschichten leben, sind verstärkt von unzureichender infrastruktureller Versorgung betroffen (Kumar/Barrett 2008: 1).
Es gibt eine Vielzahl an Arten der Fortbewegung: Wegen
Geldmangels bewegt sich die Mehrheit der Bewohner zu
Fuß fort, jedoch nutzen viele Städter auch Dala Dalas als
prävalentes Fortbewegungsmittel. Neben herkömmlichen
Taxis sind Autorikschas (Bajaji) und Taxi-Motorräder (Boda
Boda bzw. Piki Piki) im Stadtbild omnipräsent. Außerdem
gibt es eine geringe Anzahl an Fahrradfahrern und Pendlern, die per Zug und Fähre reisen. Darüber hinaus bestimmen zunehmend private Autos, die größtenteils von der
wachsenden Mittelschicht gefahren werden, das Stadtbild
(Reudenbach/Scholz 2012: 29, Salon/Aligula 2012: 72). Die
unterschiedlichen Verkehrsmittel sind bis dato nicht direkt
miteinander verknüpft, weder hinsichtlich der Betreiber
und Tarife, noch hinsichtlich der Umsteigemöglichkeiten bei
Wechsel des Transportmittels.
Die Perspektiven der nachhaltigen Entwicklung gestalten
sich derzeit in Hinblick auf die verkehrliche Situation der
ostafrikanischen Stadt facettenreich. Einerseits bildet der
zunehmende motorisierte Individualverkehr aufgrund der
hohen Pro-Kopf-Emissionen eine Gefährdung für die nachhaltige ökologische Entwicklung. Allgemein jedoch deuten
die nach wie vor hohen Nutzungsraten von öffentlichem
und nichtmotorisiertem Verkehr auf vielfältige Potentiale
zur nachhaltigen Stadtentwicklung hin. Urbane Mobilität im
Kontext von sozialer Nachhaltigkeit (d. h. Förderung von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, vgl. Drexhage/Murphy
2010) gilt es demnach v. a. für Bevölkerungsgruppen, die
keinen bzw. schlechten Zugang zu Mobilität haben, zu verbessern. Als drittes Moment wird zukünftig das Dar es Salaam Rapid Transit System hinzukommen, welches seitens
der DART Agency und nationaler Medien bereits vor Inbetriebnahme als Erfolg verhandelt wird (Tanzania Daily News
2014). Jedoch ist es wahrscheinlich, dass sich dieses System
trotz der vielen Vorteile und globaler Erfolgsgeschichten,
die DART als Vorbild gelten, nicht reibungslos in die vorhandene Infrastruktur einfügen wird. Den größten Risiken –
Proteste der Dala Dala Industrie sowie Ablehnung von DART
seitens der Bevölkerung – soll durch die Inklusion der Dala
Dala Besitzer und Fahrer sowie einer sukzessiven Integration des neuen Systems vorgebeugt werden (The Guardian
2014, Wood 2014: 2663).
DART: Schnellbusse für Dar es Salaam
DART wird in Form einer Public-Private Partnership (PPP)
von Akteuren diverser staatlicher, privater und internationaler Organisationen seit Anfang der 2000er Jahre in sechs
Phasen geplant und gebaut. Das Dar es Salaam City Council
(DCC) hat für DART ein Finanzierungsmodell mit verschiedenen Geldgebern gewählt, bisher jedoch ist vornehmlich die
Weltbank für die Finanzierung von DART zuständig. Die Weltbank knüpft ihre Mittel an Vorgaben zum Bau und Betrieb
des Schnellbussystems, die einerseits zur Durchsetzung von
– vorrangig dem Globalen Norden entstammenden – Idealen der zentralen Infrastrukturversorgung und andererseits
zu Neoliberalisierungstendenzen führen (DART Agency 2014,
Wright/Hook 2007: 115). Da Tansania, wie eine Vielzahl der
Länder des Globalen Südens, auf externe (Teil)Finanzierung
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© Malve Jacobsen März 2015
Malve Jacobsen
Schnellbusse auf der Überholspur
Abb. 4: BRT Spur auf der Kivukoni Road
Die BRT Korridore sollen eine Gesamtlänge von 130 Kilometern erreichen, wodurch DART zu einem der umfassendsten BRT Systeme weltweit gehören wird. Die Struktur der
Korridore ist an das derzeitige Liniennetz der Dala Dalas
angelehnt und wird auf den Hauptverkehrsadern, die sich
sternförmig zum Stadtzentrum anordnen, sowie auf den
Tangentialen verlaufen. Ergänzend
wird es ein aus kleineren Bussen bestehendes Zubringersystem geben.
Ferner werden zur Unterstützung
multimodaler Mobilität Schnittstellen zu anderen öffentlichen und
nichtmotorisierten
Transportmitteln geschaffen und bspw. Fuß- und
Fahrradwege entlang der BRT Korridore gebaut (DART Agency 2014: 8,
JICA 2008: 1 – 2).
Es wird angenommen, dass DART
ohne Subventionen bei minimal höheren Tarifen als die aktuellen Dala
Dala Tarife bestehen kann (Mwananchi 2014), wodurch die Nutzung
durch jene, die sich momentan primär mit (Mini-)Bus fortbewegen,
gewährleistet bleiben soll. DART
70
RaumPlanung 182 / 6-2015
wird Konsequenzen für das Dala Dala System haben, wobei
noch nicht genau abzusehen ist, wie sich diese gestalten
werden. Sicher ist, dass BRTs ein Vorrecht auf den Straßen Dar es Salaams erhalten werden und Dala Dalas mit
den Gebieten, die nicht von DART bedient werden, vorlieb
nehmen müssen. Der kontinuierliche Anstieg an Mobilität
wird jedoch voraussichtlich die verlorenen Gebiete für das
Dala Dala Geschäft kompensieren. Außerdem haben Dala
Dala Verbände die Möglichkeit, Anteilseigner an DART zu
werden (The Guardian 2015).
Abb. 5: Implementierungsphasen von DART
TRI ALOG 12 0 / 12 1 1-2 / 2 0 15
© DART Agency 2014
bei Großprojekten angewiesen ist, bedeutet dies daher nicht
nur eine Unterstützung, sondern zugleich die Herstellung von
Abhängigkeiten und Fremdbestimmung in der Planung.
Malve Jacobsen
Schnellbusse auf der Überholspur
© Malve Jacobsen , März 2015
Die erste Linie soll in einer Übergangsphase
im Oktober 2015 (Stand: September 2015) und
vollständig Mitte 2016 den Betrieb aufnehmen
(DART Agency 2014, ebd. 2015). Der Bau aller
sechs Phasen des Großprojektes wird voraussichtlich weitere 15 Jahre in Anspruch nehmen.
Ferner ist DART im Transport Master Plan als
zukünftiges prävalentes öffentliches Verkehrsmittel statuiert (DART Agency 2014: 7, JICA
2008: 1 – 2). Es soll die Mobilität einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht verbessern,
wie es bereits anderen BRT Projekten, z. B.
dem TransMilenio aus Bogotá, gelungen ist
(UN Habitat 2013, Wright/Hook 2007: iiiii).
Verkehrs- und Raumplanung
als integrierte Planung
Abb. 6: Fuß- und Fahrradweg an der Morogoro Road
© DART Agency 2014
Bei der Planung von BRT Systemen ist eine
gemeinsame Verkehrs- und Raumplanung, sowie eine starke Vernetzung einzelner Akteure
der Stadtverwaltung erstrebenswert und notwendig. Einerseits geht es darum, dass BRTs
nachfragegerecht sowie sozial und ökologisch
gerecht gebaut werden. Andererseits kann die
Implementierung eines Schnellbussystems
selbst für eine nachhaltige Stadtentwicklung
eingesetzt werden (Cervero 2014). So könnte
in Dar es Salaam z. B. versucht werden, durch
eine räumliche Festlegung der BRT Korridore
das Siedlungswachstum zu lenken oder die
Entstehung neuer Geschäftszentren an Umstiegs- und Knotenpunkten sowie Endhaltestellen zu begünstigen.
Diesen Plänen entsprechend empfiehlt die Japan International Cooperation Agency ( JICA)
die Entwicklung eines „strategischen Korridors“ ( JICA 2008: 3 – 5), der sich primär auf
die räumliche Struktur von DART bezieht:
”Major urban activities will be encouraged
to concentrate along the corridor, aiming to
establish a compact and efficient urban structure” (ebd.). So soll durch die Entwicklung
dieses multifunktionalen Korridors mit ökonomischen Subzentren und Wohnungsbau
einerseits das Stadtzentrum entzerrt und andererseits die voranschreitende Zersiedelung
eingedämmt werden (ebd.).
Mit BRT zur nachhaltigen Stadt?
Eine integrierte Verkehrsplanung mit Fokus
auf öffentlichen, auf Massen ausgerichteten
Verkehr kann prinzipiell zu zwei Nachhaltigkeitszielen der UN einen Beitrag leisten.
Abb. 7: Plan zu Phase 1 von DART
TRI ALOG 12 0 / 12 1 1-2 / 2 0 15
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TRI ALOG 12 0 / 12 1 1-2 / 2 0 15
Foto: Daniel Isbrecht
Zum einen ist es möglich, durch
den Einsatz von BRT Systemen
zu einer ökologisch nachhaltigeren Stadt zu gelangen, z. B. durch
die Reduzierung von Emissionen.
Dabei sollte stets ein Augenmerk
auf die Kombination mit nichtmotorisierten Verkehr liegen und es
sollten multimodale Transportlösungen angestrebt werden, wie es
in Dar es Salaam der Fall ist. Zum
anderen zeigen globale Erfahrungen, dass sich durch eine verbesserte Qualität der Mobilität ebenfalls die Lebensqualität erhöhen
kann, bspw. durch mehr Komfort,
Sicherheit und Zeiteinsparung. Es
bleibt jedoch fraglich, ob BRT Systeme in wachsenden Städten wie
Abb. 8: Entwicklungsschema für Verkehrswege in Dar es Salaam
Dar es Salaam zu mehr sozialer
Gerechtigkeit – im Sinne von erhöhter Mobilität für arme Bevölkerungsschichten – führen
> Pirie, Gordon (2014): Transport Pressures in Urban Africa.
Practices, Politics, Perspectives. In: Parnell, Susan; Pieterse,
können. Die Grenzen dieser innovativen Systeme sollten
bei allen unzweifelhaft bestehenden Vorteilen nicht außer
Edgar (Hg.): Africa’s Urban Revolution. London, S. 133-147
> Reudenbach, Lisa; Scholz, Wolfgang (2012): Mobility and ReAcht gelassen werden, sodass BRTs möglichst erfolgreich
als Treiber nachhaltiger Entwicklung eingesetzt werden
sidential Location of the Middle Class in Dar es Salaam. In:
TRIALOG (110). Frankfurt am Main, S. 27-31
können. Generell sind integrierte, öffentliche und multimodale Verkehrskonzepte zentral für eine umfassende,
> Rizzo, Matteo (2015): The Political Economy of an Urban Megaproject. The Bus Rapid Transport Project in Tanzania. In: Afnachhaltige Stadtentwicklung, können jedoch nur einen
Baustein von vielen bilden.
rican Affairs (114/455). Oxford, S. 1-22
> Salon, Deborah; Aligula, Erik M. (2012): Urban Travel in Nairobi, Kenya. Analysis, Insights, and Opportunities. In: Journal of
Für Dar es Salaam scheint DART ein passendes TransportTransport Geography (22). O. O., S. 65-76
modell zu sein, um einen Teil zu einer „lebenswerteren“
> United Nations Human Settlements Programme (UN-Habitat)
städtischen Umwelt beizutragen und die urbane Mobi(Hg.) (2013): Planning and Design for Sustainable Urban Mobilität nachhaltig zu verbessern. Konkrete Erfolge werden
lity. Global Report on Human Settlements 2013. Oxon
sich allerdings erst nach einer gewissen Zeit des Betriebes
> Wood, Astrid (2014): Learning Through Policy Tourism. Circukonstatieren lassen.
¢
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Schnellbusse auf der Überholspur
Malve Jacobsen
Schnellbusse auf der Überholspur
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Schlüsselwörter: BRT, Schnellbus, Dar es Salaam, Tansania, Transport, Verkehr, Mobilität, nachhaltig, Stadtentwicklung, Stadtplanung,
Verkehrsplanung, Vereinte Nationen, Habitat III
Keywords: BRT, Bus Rapid Transit, Dar es Salaam, Tanzania, Transport, Mobility, Sustainable, Urban Development, Urban Planning, Transport Planning, United Nations, Habitat III
Zusammenfassung: Forderungen für gerechtes Leben und – damit einhergehend – nachhaltige urbane Mobilität werden immer
drängender. Wie an Dar es Salaam veranschaulicht, werden insbesondere im Globalen Süden Schnellbussysteme (BRT) als nachhaltige Lösung für Transportprobleme verhandelt. BRT Systeme
stimmen zwar mit Zielen von Programmen wie Habitat III überein, können jedoch nicht als Universallösung gelten.
Abstract: Claims on equal and equitable life, along with
claims on sustainable urban mobility are increasingly pressing. Using the example of Dar es Salaam, various cities of the
Global South implement Bus Rapid Transit systems (BRTs).
BRTs seem to be a sustainable solution for urban transport
problems and comply with a number of goals of programs like
Habitat III. Yet, they are not all-round solutions.
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RaumPlanung 182 / 6-2015
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Constance Carr, Evan McDonough, Rainer Telaar
Integration als konzeptioneller Baustein
Constance Carr, Evan McDonough, Rainer Telaar
Integration als konzeptioneller Baustein und Widerspruch der nachhaltigen
Raumplanung
Am Beispiel des Glatttals, einer Region in der
Schweiz, die sich unter starkem Wachstumsdruck entwickelt, werden im Rahmen einer
Fallstudie die Grenzen und Widersprüche
einer integrativen Strategie in der
Raumplanung aufgezeigt.
Constance Carr, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Institut für Geographie
und Raumplanung,
Universität Luxemburg
Evan McDonough, M.Sc., wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut für Geographie und
Raumplanung,
Universität Luxemburg
Das Projekt baute auf einem Vorgängerprojekt auf, welches Probleme und Widersprüche im luxemburgischen Planungssystem
aufgezeigt hat, sowohl in der institutionellen Landschaft als auch
in der praktischen Umsetzung nachhaltiger Planungskonzepte
(vgl. Carr/Hesse 2013). Urbanisierungs- und Wachstumsdruck,
eingeschränkte Möglichkeiten der Raumnutzung, eine hohe Belastung der Infrastruktur und die damit verbundenen Konflikte
erschweren die Planung enorm und tragen zur Erhöhung der
Kosten bei. Die Suche nach tragfähigen Lösungen bleibt von fundamentaler Bedeutung für Luxemburg im Besonderen und für
die raumbezogene Planung im Allgemeinen. Die Schweiz wurde
Rainer Telaar, Dip. Ing.,
Klimaschutzberater
und engagiert in
der Umsetzung des
Qualitätsmanagementsystems European Energy
Award In Luxemburg
74
RaumPlanung 182 / 6-2015
D
ie allgemeine Definition der nachhaltigen Entwicklung
ist unumstritten: Sie umfasst wirtschaftliche, soziale
und ökologische Aspekte, und durch deren Integration
soll Nachhaltigkeit erreicht werden. Im Bereich der Raumplanung wird weithin die Ansicht vertreten, dass nachhaltige Entwicklung neue interdisziplinäre Ansätze erfordert. Integration
ist somit zu einer Art Zauberwort des Nachhaltigkeits-Diskurses der Raumplanung geworden (vgl. Nadin 2001; Cameron
et al. 2004; Holden 2012) und ist inzwischen ein akzeptierter
Begriff und eine Zielsetzung. Allerdings wird sie in verschiedenen akademischen Kreisen auch kontrovers diskutiert (vgl.
Allmendinger/Haughton 2009; Carr et. al 2015; Enright 2012;
Hesse/Carr 2013; Stead/Meijers 2009). Diese Arbeiten zeigen
zum einen, dass Integration vielfach der Attraktion übergreifender Kapitalströme dient und nicht unbedingt lokalen Anwohnern zu Gute kommt; zum anderen wird deutlich, dass
nachhaltige Entwicklung auch eine problematisches Konzept
ist. Integration ist insofern nicht neutral oder per se positiv,
sondern räumlich und sozialpolitisch konstruiert und führt
nicht notwendiger Weise zu nachhaltiger Entwicklung. Dieses
Forschungsprojekt hat die planerische Zielsetzung der Integration für nachhaltige Entwicklung in der Schweiz untersucht.
TRI ALOG 12 0 / 12 1 1-2 / 2 0 15
Constance Carr, Evan McDonough, Rainer Telaar
Integration als konzeptioneller Baustein
als Gegenstand einer vergleichenden Analyse gewählt, da sie oft
als Vorreiterin in innovativen Ansätzen der Raumplanung wahrgenommen wird. Beide Länder ähneln sich auch in der Wirtschaftsdynamik, im Grad der Internationalisierung und in den
jeweiligen Mustern der Urbanisierung. Weiterhin werden Integration und Nachhaltigkeit als Zielsetzung der Planung definiert,
um entsprechende Probleme zu bewältigen. Ziel war es, nachhaltige Raumentwicklung aus der Governance-Perspective zu
untersuchen und Erkenntnisse zu gewinnen, wie die Akteure der
Raumplanung mit diesem Druck umgehen. Die nördlich von Zürich gelegene Region Glattal stellte den Untersuchungsraum des
Projektes dar. Dementsprechend liefert dieser Beitrag auch neue
Erkenntnisse über das Schweizerische Raumplanungssystem.
Integration in ‚Glattal-Stadt‘
Das Glattal umfasst in etwa den 11. und 12. Bezirk Zürichs, dehnt
sich in nordöstlicher Richtung bis zum Züricher Flughafen aus
und umfasst eine Reihe von ländlich geprägten Gemeinden. Generell wird das Glattal als eine Ansammlung von kollidierenden
und sich überschneidenden soziopolitischen und funktionellen
Räumen wahrgenommen (vgl. Diener et al. 2005; Thierstein et
al. 2005; Thierstein et al. 2006). Aufgrund des gegenwärtigen
Wachstumsdrucks durchläuft das Gebiet zurzeit eine Phase der
Transformation. Die Kommunen sind hier mit wenig Personal,
engen Beziehungsgeflechten und lokal orientierten Verwaltungssystemen konfrontiert. Sie sollen überlappende räumliche Strategien sowie Kooperationsplattformen entwickeln, die
über bisherige Verwaltungsgrenzen hinaus wirken. Zusätzlich
sollen sie den kantonalen Richtplan und die bundesweitem
Nachhaltigkeitsprogramme berücksichtigen.
Es ist erkennbar, dass Infrastruktur-Investitionen dahingehend
optimiert werden sollen, dass eine allgemeine Wertsteigerung
und erhöhte Wettbewerbsfähigkeit der Region erreicht wird
- ohne zu Qualitätsverlusten in anderen Bereichen zu führen.
Entsprechende Entwicklungsstrategien sind die Schaffung
neuer Wohnflächen, neuer Verkehrsangebote und die lokale Wirtschaftsförderung. Die Region ist im Wandel und weist
eine enorme Vielfalt sozialer Räume und funktionaler Differenzierung auf. Die integrative Planung soll diese Bereiche in
Anbetracht der neuen Herausforderungen besser organisieren
und nachhaltig gestalten. Ihre Umsetzung erfolgt unter spezifischen Rahmenbedingungen und folgt gewissen Prinzipien.
Erstens: die staatliche Raumplanungspraxis in der Schweiz ist generell sehr gut aufgestellt und institutionalisiert. Raumplanungsgesetze sind auf Bundesebene verfasst, jeder Kanton erstellt einen Richtplan der von einer eigenen Verwaltungsstelle umgesetzt
wird. Viele größere Gemeinden haben Raumplanungsabteilungen, die die Wünsche der Bevölkerung einbeziehen. Dabei wird
das Mitspracherecht der Bürger in Form von direkter Demokratie
einbezogen. Es ist eine Struktur, die Vor- und Nachteile mit sich
bringt. Einerseits, haben Bürger oft Zugang zu Entscheidungsprozessen. Schweizer Bürger haben in diesem System viele Möglichkeiten, auf die Raumplanung Einfluss zu nehmen. Anderseits, haben viele Befragte auf den langen Atem der direkten Demokratie
hingewiesen, mit der Folge, dass viele Vorhaben Jahre benötigen
bis sie genehmigt sind. Trotz Mängeln sehen viele der Befragten
diesen Prozess als das „Beste, was es gibt“.
Wie alle Schweizer Gemeinden besitzen auch jene im Glattal einen hohen Grad an Autonomie. Ihre Politik- und Planungspraxis
manifestiert sich auf zwei Wegen: 1) Gemeindeversammlungen,
© Constance Carr, 2014
Im Rahmen des Forschungsvorhabens wurden die aktuellen
Urbanisierungs- und Planungsprozesse im Glattal anhand qualitativer Methoden erforscht. Dazu wurden 25 vertiefende Interviews mit Raum- und Stadtplanern, Bauleitern, Architekten,
Aktivisten, Immobilienmaklern, Vertretern der Gemeindeverwaltung und Quartiersvereinen durchgeführt. Die Befragten
wurden gebeten, Auskunft über ihre Vorstellungen der Raum-
planung in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen, ihren
Einflussmöglichkeiten, ihrer Rolle in der Lokalpolitik sowie
ihrer Einschätzung über den Gesamtverlauf der Entwicklung
zu geben. Zusätzlich wurden Planungsdokumente, Internetseiten, Zeitschriften und Zeitungen ausgewertet und eine Reihe
von öffentlichen Präsentationen, Gemeindeversammlungen
sowie professionelle Touren in die Untersuchung einbezogen.
Abb. 1: Links, die Glattalbahn, Einkaufzentrum, und Wohnungen; Rechts, Eine A380 der Emirates Airline startet am Flughafen Zürich.
Die Fluggesellschaft bietet zweimal täglich direkte Flüge zwischen Zürich und Dubai an.
TRI ALOG 12 0 / 12 1 1-2 / 2 0 15
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Constance Carr, Evan McDonough, Rainer Telaar
Integration als konzeptioneller Baustein
bei denen die Anwesenden (eine aktive Minderheit, welche sich
zum größten Teil aus örtlichen Grundbesitzern zusammensetzt,
die schon eine längere Zeit in der Gegend leben) über Probleme
und Lösungsvorschläge diskutieren und abstimmen (Interview
mit Gemeinde-Organisation, April 2014; Interviews mit Gemeinde-Offiziellen Mai, 2014 und Juni, 2014); 2) Volksabstimmungen,
bei denen Schweizer Bürger über eine vorgegebene „Initiative”
entscheiden können. Innerhalb dieses Rahmens werden Planungsvorhaben abgestimmt, und zwar auf Gemeinde- (Bebauungspläne) sowie Kanton- (Richtplan) und Bundesebene (z.B. das
Agglomerationsprogramm). Wie die meisten ländlichen Gemeindeverwaltungen besitzen jene des Glattals aber zu wenig Personal
für eine professionelle Planung. Daher müssen externe Stadt- und
Raumplaner sowie Immobilienmakler mit der infrastrukturellen
Entwicklung beauftragt werden, um abgestimmte Vorhaben umzusetzen. Als Resultat dessen werden konkrete Planungen im
Glattal trotz aller partizipativen Entscheidungsprozesse überwiegend von privaten Entwicklern gesteuert, die über gute Beziehungen in die zuständigen Verwaltungsbehörden verfügen.
Zweitens: um interkommunale Zusammenarbeit effizienter zu
organisieren, arbeiten viele – wenn auch nicht alle – Gemeinden bei der Markenentwicklung des sogenannten Flughafenkorridors zusammen (Flughafenregion Zürich, zuvor genannt Glow.
das Glattal). Ziel ist es, eine Identität des Raumes zu schaffen,
welche die generelle Entwicklungsrichtung unterstützt und
eine Plattform zu etablieren, über die interkommunaler Informationsaustausch sowie Öffentlichkeitsarbeit stattfinden kann.
In der Öffentlichkeitsarbeit wird die strategisch günstige und
wirtschaftsfreundliche Lage von Glatt betont. Befürworter dieser Gruppierung unterstützen tendenziell auch den Begriff der
„Glatt Stadt“. Während Veranstaltungen dieser Plattform ein
wichtiger Bestandteil einer gemeindeübergreifenden Arbeit
sind, bleiben manche Akteure wegen der Unausgewogenheit
der verschiedenen Interessen eher skeptisch. Sie vermuten,
dass es darum geht, bestimmte Gemeinden in den Vordergrund
zu stellen und/oder ein wirtschaftliches und politisches Gegengewicht zur Stadt Zürich zu etablieren (Interview mit Architekten, Februar 2014; Interview mit Gemeindevertreter, Juni 2014).
Drittens: eine gewisse Orthodoxie herrscht in Bezug auf „Dichte“ oder „Verdichtung nach innen“. Architekten, Stadt- und
Raumplaner, private Entwickler und Politiker vertraten einhellig die Meinung, dass „Dichte“ ausschlaggebend für eine
positive Entwicklung sei. Dies wurde stets normativ begründet
– spärlicher Umgang und Erhaltung des Natur- und Kulturerbes und der ländlichen Ressourcen im kleinen Land, und noch
kleineren Kantonen und Gemeinden, Förderung des nachbarschaftlichen Kontaktes, (scheinbar) kurze Transportwege usw.
Diese Ansätze wurden oft auch in Rechtsvorschriften formalisiert, die von direkter Demokratie legitimiert waren.
Konkreter Handlungsantrieb war die Notwendigkeit, Wohnraum zu schaffen und die Mobilität im „Flughafenkorridor“
sicherzustellen, um den Forderungen der Wirtschaft Rechnung zu tragen, während sich die Region zu einer Einpendlerzone entwickelt (Abb. 2). Das Preisniveau der neuen Wohnungen ist allerdings exklusiv. Der durchschnittliche Preis für
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eine Wohnung im Richti-Areal (Abb. 3) beträgt 1,2 Millionen
Schweizer Franken und ist ausdrücklich auf einkommensstarke - und Steuern zahlende - Bevölkerungsschichten ausgerichtet. Gleichzeitig wird die Verkehrsinfrastruktur funktional
angelegt. Dahinter steht das Hauptziel, Unternehmensansiedlungen auszulösen und die wirtschaftliche Entwicklung
zu unterstützen. Einhergehend mit der wachsenden Bedeutung Zürichs als globales Finanzzentrum (vgl. Diener et al
2006: 490) wird der Flughafen als Wachstumsmotor der Region betrachtet (Interview mit Planers, April, Mai, Juni.2014;
Gemeindevertreter, März, April, Mai 2014, Immobilien Makler, März, 2014); nicht zufällig weist der Flughafen Zürich ein
starkes Wachstum im Passagierverkehr auf (vgl. Flughafen
Zürich 2014: 21). Unternehmenszentralen haben sich aufgrund des doppelten Nutzens in dem großen Mischnutzungsgebiet angesiedelt: Zum einen profitieren sie von der strategischen Nähe des wachsenden Flughafens, zum anderen ist
auch genügend Fläche für weitere Entwicklungen vorhanden
(vgl. Diener et al. 2006: 634). Diese Faktoren haben zur Bildung des sogenannten „Flughafenkorridors“ zwischen dem
Flughafen und dem Zentrum Zürichs geführt (vgl. Schaafsma
2009: 175). Die Glattalbahn war ein zweites Verkehrsinfrastrukturprojekt. Im Jahr 2010 zur Stärkung der „FlughafenRegion“ und auf stillgelegten Industrieflächen fertiggestellt,
sollte sie einen Mobilitäts-Korridor entlang der produktiven
Gebiete schaffen und die Verknüpfung des Flughafens mit
der Innenstadt Zürichs herstellen.
Das Design der neu erschlossenen Gebiete steht im Kontrast
zu den Einfamilienhaus-Gebieten im Bestand sowie den historischen Gemeindezentren, die nicht mit den öffentlichen
Verkehrsnetzen verbunden sind. Auch ist ein großer Teil der
neuen Infrastrukturen nicht für den Eigenbedarf der Gemeindebevölkerung bestimmt. Vielmehr stand das Ziel zur Entwicklung des Flughafenkorridors im Vordergrund. Außerdem sollten Infrastrukturen zur Förderung wirtschaftlicher Aktivitäten
bereitgestellt werden. Im Gegenzug sollte der bestehende Lebensstandard in den Gemeinden gesichert werden. In institutioneller Perspektive werden zwei Grundsätze von den Befragten gegenwärtig als äußerst wichtig erachtet: Privateigentum
und Autonomie der Gemeinden. In dieser Hinsicht waren die
bisherigen Strategien auch sehr erfolgreich.
Fragmentierung im Glattal
Die Herausforderungen in der Region werden von vielen Seiten wahrgenommen. Das zeigt sich alleine durch die Vielfalt
der Akteure, die Vielfalt der Veröffentlichungen von Behörden
und lokale Zeitschriften, die sich mit dem Thema beschäftigen,
und in der Geschwindigkeit der räumlichen Veränderungen.
Die Versuche, diesen Prozess überschaubar zu halten, sind
daher keineswegs unbegründet. Der normative Ansatz der integrativen Planung für Nachhaltigkeit kollidiert aber mit der
harten Wirklichkeit der Desintegration und Fragmentierung.
Die folgenden Punkte zeigen die Widersprüche im Glattal auf
und illustrieren, welche Probleme Integration im Bereich der
sozio-ökonomischen und räumlichen Entwicklung verursacht.
Constance Carr, Evan McDonough, Rainer Telaar
Integration als konzeptioneller Baustein
n Meinungsführer versus politisch Benachteiligte oder
Ausgegrenzte: Mehrere Befragte gaben an, dass bei
den Gemeindeversammlungen immer dieselben Personen erschienen, bei denen die Meinungsführer sich in
verhandlungsstarke Positionen brachten, indem sie auf
die motivierte Wählerschaft eingingen (Interview mit
Gemeindevertreter, 09.04.2014; Interview mit Verwaltungsangestellten, 14.05.2014). Währenddessen wurden
diejenigen, die nicht an den Versammlungen teilnehmen
konnten, praktisch als politische „Befehlsempfänger“
marginalisiert. Diese letzte Gruppe setzt sich vorwiegend
aus jüngeren Gemeindemitgliedern zusammen, die neu
in die Region gezogen sind, um nahe am Flughafen beziehungsweise der Stadt Zürich zu wohnen. Dieses Phänomen weist auf eine wachsende Polarisierung zwischen
Insidern und Außenseitern in der Praxis der direkten Demokratie hin.
n Arbeitskraft versus Bewohner: Wachstumsdruck fördert
Ambivalenz bezüglich der Wohnortfrage für die neuen
Arbeitskräfte. Besserverdiener können sich die neuen
Apartments leisten, während sich einkommensschwächere Einwohner auf längere Wege zur Arbeit einstellen
müssen. Daraus resultiert zum einen ein Planungsdilemma zwischen Mobilität und Wohnort, und zum anderen
entstehen wachsende Diskrepanzen zwischen den Lebensstilen von zugezogenen Stadtbewohnern und der
älteren ländlichen Bevölkerung.
n Profitierende versus benachteiligte Gemeinden: Einige
Gemeinden sprachen sich gegen eine ‚Glatt Stadt‘ aus,
da diese für sie kaum Vorteile mit sich bringen würde,
während andere Gemeinden dagegen den Begriff eines
integrierten Glatttals für die Umsetzung ihrer eigenen
wirtschaftspolitischen Ziele nutzen (Interviews mit Verwaltungsangestellten Mai, 2014 und Juni, 2014). Dies kann
zu Unstimmigkeiten, Konkurrenz und unfruchtbaren Dialogen unter die Gemeinden führen. Es spiegelt die generellen Beschränkungen der Gemeindebehörden wider, die
sich entsprechend der NIMBY-Logik („Not in my backyard“) hinsichtlich der Verteilung von Nutzen und Kosten
der Entwicklung verhalten.
Fazit - Widersprüchliche Integration
und Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit ist nicht ein schwierig umzusetzendes Konzept.
Nadin (2001) und Holden (2012) vertreten die Sichtweise, dass
es neuer Ansätze in der Raumplanung bedarf. Am Beispiel
Glattregion lässt sich aber aufzeigen, dass es zwar versucht
wird, Nachhaltigkeit als übergeordnetes Prinzip zu verfolgen
und durch integrative Prozesse bei der Planung zu implementieren. In der Realität bleibt der Fokus der Akteure aber auf
den Bereichen Ökonomie und selektiven ökologischen Ansätzen begrenzt und eine Nachhaltigkeitswende wird durch
bewusste und unbewusste Fokussierung auf Eigeninteressen
unterminiert. Der Transformationsprozess in der Glattregion
bietet konkrete Chancen, neue Urbanitätsformen und Herangehensweisen bezüglich der Raumplanung und Nachhaltigkeit zu entwickeln. Bisher gibt es auch Bemühungen, neue
Verflechtungen, Netzwerke und funktionelle Räume wahrzunehmen und zu fördern. Doch negative Auswirkungen oder
Konflikte werden mittels dieser sogenannten Nachhaltigen integrativen Planung weder minimiert noch beseitigt.
Die Autoren folgen daher an dieser Stelle den bisherigen, eher
kritischen Stimmen (vgl. Allmendinger/Haughten 2009; Carr
et al. 2015; Enright 2012; Stead/Meijers 2009) mit Blick auf das
Thema Integration und Nachhaltigkeit. Integration stellt somit
keinesfalls eine Zauberformel dar, die bei Anwendung für harmonische Ordnung (vgl. Faludi 1970) und Nachhaltigkeit sorgt.
In der Glattregion, werden manche Probleme zwar womöglich
gelöst (z.B. nachhaltiges Wirtschaftswachstum), aber dafür
werden sich andere verstärken (Grundstückspreise, Mobilität) und sich wahrscheinlich neue ergeben (soziale Ungleichheiten). Der Bedarf nach einer „Flughafenregion“ wird immer
noch durchaus in Frage gestellt, manche Gemeinden befinden
sich in Konkurrenz zueinander, und neue Bewohner bleiben oft
anschluss- und orientierungslos. Der überwiegende Bau von
Wohnungen mit gehobenen Standard zieht zwar höherer Ein-
© Flughafenregion Zürich 2013: 17
n Ländlich versus städtisch: Als bei einer Gemeindeversammlung Raumplaner und Politiker den aufkommenden
Begriff der Glattstadt erklärten, erhob sich ein älterer
Herr und äußerte, dass er sich „so seine Zukunft nicht
vorstellen“ könnte. Er wolle seinen ländlichen Lebensstil
beibehalten. Die Reaktionen auf seine Äußerungen fielen
gemischt aus (Kopfschütteln und zustimmendes Nicken).
Aber es wurde deutlich, dass die Entwicklungsvorhaben
keinen uneingeschränkten Rückhalt in der Bevölkerung
haben. Die „Flughafenregion“ und deren Notwendigkeit
werden durchaus in Frage gestellt. Dieser Konflikt wurde
auch in mehreren Interviews bestätigt (Interviews mit
Architekt Mai, 2014, mit Umweltbeauftragte May, 2014,
Verwaltungsangestellten, Juni, 2014, mit Raumplaner,
April, 2014).
Abb. 2: Die Gemeinden des Glattal haben ein teilweise erhebliches Überangebot an Arbeitsplätzen, wodurch es sich zu einer
Einpendlerzone par excellence entwickelt.
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RaumPlanung 182 / 6-2015
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© Constance Carr, 2014
Constance Carr, Evan McDonough, Rainer Telaar
Integration als konzeptioneller Baustein
Abb. 3: Der Innenhofs des Richti Areals in Wallisellen
kommensschichten in die Gemeinde, fördert aber sowohl das
räumliche Planungsdilemma zwischen Mobilität und Wohnort
als auch neue Formen der sozialen Konflikte und Fragmentierung. Was die Governance-Strukturen betrifft, setzt integrative Planung auf Bundes-, Kantons- oder regionaler Ebene an,
während die politischen Entscheidungsprozesse segmentiert
und sehr lokaler Natur sind. Dies hat wiederum zur Folge, dass
lokale Probleme Priorität gegenüber der Gesamtentwicklung
genießen und schlussendlich weitere Fragmentierungen und
Widersprüche geschaffen werden.
Bemerkenswert ist, dass selbst das hoch entwickelte schweizerische Planungssystem welches auch für seine Partizipationsmöglichkeiten internationale Reputation genießt, enorme
Widersprüche und Probleme aufweist. Dieses Forschungsprojekt zeigt, dass in der Praxis die Ideologie der Integration für
Nachhaltigkeit schnell in einen Wachstumsansatz mündet, der
hier die Verlagerung städtischer Funktionen Zürichs ins Umland zu Gunsten bestimmter Akteure fördert. Damit wird deutlich, dass Integration in der Raumplanung nicht unreflektiert
angewendet werden kann. Ohne eine kritische Analyse und
entsprechende Berücksichtigung in der Planung (in Bedacht
auf räumliche Fragmentierung, soziale Polarisation, Ausgrenzung usw.) kann Integration zu widersprüchlichen beziehungsweise negativen Auswirkungen führen.
Campbell (2000) hat argumentiert, dass es schlichtweg unmöglich ist, Nachhaltigkeit zu erreichen. Andere Arbeiten haben aufgezeigt wie weit entfernt viele Implementierungsversuche von einer nachhaltigen Entwicklung sind, (vgl. Carr et al.
2015; Carr/Affolderbach 2014). Nachhaltigkeit ist ein Paradox
(vgl. Krueger/Gibbs 2007). Nach Campbell (2000, 296) kann
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Nachhaltigkeit nur durch „nachhaltige Auseinandersetzung
mit Konflikten“ angenähert werden. Im Glattal, wäre das der
Einstieg in die von Thierstein et al. (2005: 327) formulierte
„vielschichtige Daueraufgabe“. Planung für Nachhaltigkeit
wäre demnach die unablässige Suche nach und Auseinandersetzung mit Konflikten, Grenzen und Widersprüchen.
¢
Anmerkung
Diese Arbeit wurde im Rahmen des Forschungsprojekts
“Governance for sustainable spatial development – a comparative study of Luxembourg and Switzerland (SUSTAINGOV)”
unter der Leitung von Prof. Dr. Markus Hesse und Dr. Constance Carr mit Unterstützung des Fonds National de la Recherche (FNR), Luxembourg, erstellt.
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European sustainable urban development initiatives are slow
to materialise/Territorial cohesion as a vehicle of sustainability/
Constance Carr, Evan McDonough, Rainer Telaar
Integration als konzeptioneller Baustein
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Sustainable urban development and the challenge of global air
transport nodes and spatial integration/Distorted density: Where
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Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
economic growth takes precedence over sustainability. As decisionmaking processes are dominated by property owners who are likely to
gain from further development, elderly inhabitants feel alienated by
the loss of their rural lifestyle, social inequality is increasing and so are
the distances travelled by the valley’s new inhabitants.
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Rita Hoff
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Heinrich Kummer
Guido Wallraven
Michael Isselmann
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Leonore Wolters-Krebs
Rainer Rutow
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Notizen
Auslobung: Werner-Ernst-Preis 2016
J Der Förderkreis für Raum- und Umweltforschung e. V. (FRU) hat Anfang
Oktober 2015 den Werner-Ernst-Preis
2016 ausgeschrieben. Unter dem Wettbewerbsthema „Facetten der Reurbanisierung“ ruft er dazu auf, sich mit
„Reurbanisierung“ auseinanderzusetzen. Arbeiten sind bis zum 15.03.2016
einzureichen. Dabei können sich die
Beiträge aus unterschiedlicher Fachsicht mit dem Themenfeld befassen,
sie können theoretisch-konzeptionell
ausgerichtet sein oder sich empirisch
auf Fallbeispiele oder einzelne Projekte
beziehen. Der Wettbewerb richtet sich
an Nachwuchswissenschaftlerinnen und
-wissenschaftler (Master-, Promotionsoder Postdoc-Phase) ebenso wie an
Personen, die sich in ihrer beruflichen
Praxis in der Verwaltung, in Planungsbüros etc. mit Fragen der Stadt- und Raumentwicklung beschäftigen. Teilnehmen
können demnach Studierende, Absolventinnen und Absolventen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Lehre,
Forschung und Praxis aller relevanten
Fachbereiche. Das Höchstalter beträgt
35 Jahre (Stichtag: 15. März 2016). Insgesamt ist der Werner-Ernst-Preis 2016
mit 4500 € dotiert. Die Preise werden
im Rahmen des ARL-Kongresses vom
15. bis 18. September 2016 in Hannover überreicht. Die Verfasserin bzw.
der Verfasser des mit dem ersten Preis
ausgezeichneten Wettbewerbsbeitrages
erhält Gelegenheit zur Vorstellung der
Arbeit. Weitere Informationen auch zur
Anmeldung unter www.fru-online.de
STÄDTEBAULICHES KOLLOQUIUM Winter 2015/2016
J Im Wintersemester 2015/2016 bietet
die TU Dortmund mit Unterstützung u. a.
durch den IfR e. V. das Städtebauliche
Kolloquium zum Thema "Reurbaniserung vs. Suburbanisierung" an, dass sich
mit den anhaltenden Trend der Renaissance der Innenstädte und die Zukunft
der suburbanen Räume befasst. Wie
wirkt sich die zunehmende Attraktivität
der Innenstädte auf die Dichte und die
Wohnqualität aus? Wo liegen die aktuellen Herausforderungen der (Re-)Vitalisierung suburbaner Räume? Welcher
Handlungs- und Gestaltungsbedarf resultiert aus dem Wechselspiel der aktuel-
len Trends? Mit u. a. diesen Fragen wird
sich im Laufe der drei Veranstaltungen
beschäftigt. Die erste der drei Veranstaltung findet am 10. November 2015 zum
Thema "Trends und Herausforderungen",
die Zweite am 15. Dezmber zum Thema
"Wohnen zwischen Urbanität und ländlicher Idylle" und die letzte Veranstaltung
am 19. Januar 2016 zum Thema "Instrumente und Strategien" statt. Veranstaltungsort ist die Technische Universität
Dortmund, Rudolf Chaudoire Pavilion,
Campus Süd, Baroper Straße 297. Weitere Informationen unter www.staedtebauleitplanung.de
Aktion „Stadtklang“: So klingt
Deutschland
J Im Rahmen des Wissenschaftsjahr
2015 „Zukunftsstadt“ werden mit der
Aktion „Stadtklang“, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) und Wissenschaft im Dialog
(WiD) initiiert wurde, Städte zum Klingen
gebracht. Vom Glockenspiel aus dem Kölner Rathausturm über Salsa-Klänge vom
Berliner Spreeufer bis hin zum Muhen
der Kühe beim Almabtrieb in Bad Hindelang: Mehr als 1.000 Alltagsgeräusche,
Lieblingsklänge oder Lärmkulissen haben Menschen in Deutschland seit dem
Start der Aktion Stadtklang am 1. August
2015 aufgenommen und in eine OnlineKlangkarte hochgeladen. „Mit der Aktion
Stadtklang machen wir auf die bislang
noch wenig bekannte Forschungsdisziplin der akustischen Stadtplanung
aufmerksam. Geräusche prägen den
Alltag von uns allen und beeinflussen
unser Wohlbefinden. Forschung kann
dazu beitragen, die Klangkulisse von
Städten positiv zu beeinflussen“, sagte
Bundesforschungsministerin Johanna
Wanka. Auf der Aktionsseite www.stadtklang2015.de können Bürgerinnen und
Bürger auf der Webseite noch bis Februar 2016 Geräusche aus ihrem Umfeld
mit dem Smartphone oder einem anderen mobilen Endgerät aufnehmen und in
die Klangkarte hochladen. Zudem bietet
die Website wissenschaftlich fundierte
Informationen zu Themen wie Lärmforschung, Psychoakustik und akustischer
Stadtplanung. Weitere Informationen
unter www.stadtklang2015.de
Ergebnisbericht zum 4. Hochschultag der Nationalen Stadtentwicklungspolitik erschienen
J Im Oktober 2015 ist der Ergebnisbericht zum 4. Hochschultag der
Nationalen Stadtentwicklungspolitik
erschienen. Der vierte Hochschultag,
der vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit und der Deutschen Akademie
für Städtebau und Landesplanung
veranstaltet wurde, fand vom 21. bis
22. November 2014 in Berlin statt.
Im Mittelpunkt des Hochschultages
stand das Themenfeld „Wohnen“, das
in Vorträgen und Foren der Veranstaltung unter verschiedenen Aspekten
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RaumPlanung 182 / 6-2015
beleuchtet wurde. Der Ergebnisbericht präsentiert dazu anschaulich den
in diesem Rahmen erreichten Stand
des Dialogs zwischen der sich in Forschung und Lehre mit Fragen der
Stadtentwicklung befassenden Wissenschaft und der städtebaulichen
Praxis auf Bundes-, Länder und kommunaler Ebene. Er ist darüber hinaus
ein Beleg für die Intensivierung von
Kooperationen zwischen den Institutionen der Wissenschaft. Weitere Informationen unter www.bbsr.bund.de
und www.dasl.de
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Campus
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachleute für weltweite Stadtentwicklung: der internationale Masterstudiengang “Urban Agglomerations”
D
ie Erfahrungen der letzten Jahrzehnte
haben gezeigt, dass den Herausforderungen des rapiden städtischen Wandels mit dem Wissen und den Methoden
separater Fachdisziplinen allein nicht begegnet werden kann. Die Entwicklungen
in den Stadtregionen des 21. Jahrhunderts machen – bereits in der Ausbildung
– integrierte Herangehensweisen und
Lösungsansätze erforderlich, die über die
Grenzen voneinander isolierter technischer Disziplinen hinausgehen.
Ein disziplinübergreifender
Ausbildungsansatz
Im Hinblick auf diese Herausforderungen
legt der internationale, weiterbildende
Master-Studiengang „Urban Agglomerations“, der seit 2008 an der Frankfurt
University of Applied Sciences (FRA-UAS)
angeboten wird, seinen Schwerpunkt
auf einen disziplinübergreifenden Ausbildungsansatz. Dabei werden grundlegende „technische“ Fertigkeiten (in Bezug auf Stadtentwicklung, Stadtplanung,
Stadttechnik und Infrastruktur, Datenanalyse und Geoinformationssysteme)
mit nicht-technischen Wissens- und Aufgabenfeldern (wie Partizipation, Stake
Holder-Analysen, Governance-Modellen
und Projektmanagement) ebenso zusammengeführt wie mit den maßgeblichen
sozialen und kulturellen Bestimmungsfaktoren und Phänomenen heutiger
Stadtentwicklung.
Internationale Vernetzung
Urbane Agglomerationen sind von ihrem Wesen her multikulturelle Räume.
Deshalb verfolgt der komplett englischsprachige, zweijährige Studiengang eine
internationale Ausrichtung. In den ersten
beiden Semestern werden in Frankfurt
am Main grundlegende Fachkompetenzen vermittelt und ein interdisziplinäres
Projekt bearbeitet. Das dritte Semester
erfolgt dann im Ausland, an einer von
derzeit mehr als 10 Partnerhochschulen weltweit, neben den europäischen
Erasmus-Partnern in Schweden, Großbritannien, Italien, Polen, Portugal und der
Türkei u. a. in Brasilien, Chile, Mexiko, Kolumbien, Thailand, Malaysia, Australien.
Die Studierenden lernen und leben damit
in mindestens zwei Ländern und machen
– über das Fachstudium hinaus – vielfältige soziale und interkulturelle Erfahrungen, was zu einem wichtigen „Mehrwert“
des Studienprogramms beiträgt.
Berufliche Wege
Etwa 60 Absolventinnen und Absolventen haben den Studiengang seit seiner
Gründung abgeschlossen. Die Mehrzahl
von ihnen kommt aus dem europäischen
und weltweiten Ausland und hat, umfassend qualifiziert, in ihren Heimatländern seither erfolgreiche Tätigkeiten im
öffentlichen wie privaten Sektor aufgenommen, z. B. in Stadtentwicklungsbehörden in Istanbul, Ankara, Taipeh sowie
kleineren Kommunen in Deutschland
und in Schweden, Regionalplanungsverbänden in Banda Aceh und Hannover,
dem Umweltministerium des Saarlands,
freien Ingenieur- und Planungsbüros in
Frankfurt, Bogotá, Kuala Lumpur, Düsseldorf sowie zahlreichen Hochschulen und
Forschungsinstituten. Daraus hat sich
inzwischen ein internationales AlumniNetzwerk gebildet.
Wohnen und Stadtumbau
im globalen Kontext
Im Zentrum eine Reihe von Modulen und
Projekten des Studiengangs stehen die
Herausforderungen der Wohnversorgung
und des Stadtumbaus bzw. der Stadterneuerung, vor allem in schnell wachsenden Stadtagglomerationen. Gegenwärtige Tendenzen formeller und informeller
Stadtentwicklung, Gründe und Auswirkungen einer zunehmenden Segregation,
Fragmentierung und Gentrifizierung und
sich wandelnde soziale und ökologische
Risikofaktoren im Lebensraum Stadt werden dabei vermittelt und diskutiert. Im
Verständnis des Architekten und Stadtplaners als Teil einer komplexen Akteursgemeinde wird damit in theoretischen und
praktischen Planungsaufgaben nach Konzepten gesucht, die Bewohner und die je-
weilige Community und deren Kultur(en)
aktiv einbeziehen, um somit zukunftssichere und nachhaltige Stadtentwicklungsund Wohnbauprojekte zu entwickeln.
Erste Preise beim internationalen UNHabitat Studierendenwettbewerb
Vor diesem Hintergrund und im Rahmen des Lehrmoduls “Urban Renewal
and Redevelopment” nahmen die Studierenden 2014 an dem von UN-Habitat
international ausgelobten Studierendenwettbewerb “Urban Revitalization
of Mass Housing” teil. Es ging darum,
im globalen Kontext eine entwicklungsoder veränderungsbedürftige Großsiedlung auszuwählen und Konzepte zu ihrer
Verbesserung und Anpassung an lokale
Bedürfnisse vorzuschlagen. Bewusst
wurden im Kurs auch unvollendete Großprojekte in die Debatte mit einbezogen.
Vier interdisziplinäre Teams arbeiteten
schließlich an Projekten in Litauen, Jordanien, Ägypten und dem Iran. Zwei Teams
wurden als Gewinner in der jeweils nationalen Kategorie ausgezeichnet: zum
einen das Team “Making Heritage Sustainable“ (Allyson Murillo, Eugenia Marinaki, Marvin Alvarado Brenes, Mina
Mansourian, Öykü Ülgüner, Shikha Salla
Mohanraj), das die Großsiedlung Karoliniskes in Vilnius/Litauen unter Einbeziehen der Bewohner zu einer produktiven
Nachbarschaft machen will; und zum anderen das Team “Checker Planner“ (Gustavo Alberto Tánori Rivera, Carolina Zabas
Roelandt, Khalil Albitar, Rajiv Irungbam,
Talia Figueroa und Relder Legus), das für
das unvollendete Großprojekt Al-Zarqa
in Jordanien eine Bottom-Up-Strategie
vorsieht und vor allem den sozialen Zusammenhalt im Rahmen eines neuen,
gemischten und gemeinschaftlich gestalteten Masterplans entwickeln möchte.
Kontakt: ua-info@fb1.fra-uas.de
www.urban-agglomerations.eu
Prof. Dr. Michael Peterek,
Prof. Dr. Kathrin Golda-Pongratz,
Frankfurt
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Campus
Flächen sparen – Land bewahren!
BMBF-Fördermaßnahme Nachhaltiges Landmanagement diskutiert auf Dortmunder Workshop Möglichkeiten zur Umsetzung innovativer Lösungen
G
egenwärtig werden in Deutschland
über 70 ha Freiflächen in Siedlungsund Verkehrsflächen umgewandelt. Dies
führt zu dem Verlust von Grund und Boden als wichtiger natürlicher Ressource.
Die Bundesregierung hat daher im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie das
Ziel formuliert, diese Neuinanspruchnahme von Flächen für Siedlungs- und
Verkehrszwecke erheblich zu reduzieren.
Um dieses Ziel zu erreichen, sind innovative Lösungen gefragt.
Flächensparen in wachsenden und
schrumpfenden Räumen
Herr Osterhage vom ILS stellte eingangs die aktuellen Prognosen für die
Bevölkerungsentwicklung in Nordrhein-Westfalen vor, die Auswirkungen
auf die Raumentwicklung und damit
auch auf die Landnutzung hat. Aktuelle
Annahmen stehen zum Teil den vorherigen Prognosen entgegen. So verteilen
sich mit den Trends zur Reurbanisierung
Wachstums- und Schrumpfungsräume
neu. Die veränderten Annahmen der
Bevölkerungs- und Raumentwicklung
zeigen die Notwendigkeit, mit dem Instrumentarium in der Planungspraxis
zwischen Wachstums- und Schrump-
© Risse/ILS 2015
Im Rahmen der Fördermaßnahme
„Nachhaltiges Landmanagement“ des
Bundesministeriums für Bildung und
Forschung (BMBF) werden diese innovative Lösungen entwickelt. Am 27.
August 2015 wurden sie in einem Regionalworkshop in Dortmund zur Diskussion gestellt. Organisiert wurde die
Veranstaltung vom Leibniz-Zentrum
für Agrarlandschaftsforschung (ZALF)
e.V., an dem das wissenschaftliche Begleitvorhaben der Fördermaßnahme
angesiedelt ist, in Kooperation mit dem
Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH (ILS).
Ziele des Workshops waren, die Ergebnisse aus der BMBF-Fördermaßnahme
vorzustellen, gemeinsam die Möglichkeiten zur Umsetzung in NordrheinWestfalen zu diskutieren sowie Überlegungen für neue Kooperationen treffen.
Knapp einhundert Teilnehmerinnen
und Teilnehmer insbesondere aus der
Praxis in Nordrhein-Westfalen beteiligten sich an dem Workshop.
Abb. 1:Reger Zuspruch für den Regionalworkshop
82
RaumPlanung 182 / 6-2015
TRI ALOG 12 0 / 12 1 1-2 / 2 0 15
fungsräumen unterscheiden und dabei
flexibel auf zukünftige Entwicklungen
reagieren zu können.
Professor Thomas Weith vom ZALF
stellte das Flächensparen in den Zusammenhang der übergeordneten
Raumstrategie der Innenentwicklung
vor Außenentwicklung. Er zeigte dabei
die Notwendigkeit auf, Flächensparen
in örtliche und regionale Gesamtstrategien eines nachhaltigen Landmanagements zu integrieren. Dabei machte
er deutlich, dass „die Umsetzung des
Ziels ‘Innenentwicklung vor Außenentwicklung‘ heute eine zentrale Aufgabe
für Gemeinden und Regionen darstellt.
Wichtig ist, mit Augenmaß vorrangig
freie innerörtliche Bauflächen zu nutzen. Das vorhandene Wissen hierzu aus
den Projekten muss nun angewandt
und weiterverbreitet werden.“
Nutzen der Ergebnisse aus den Regionen für die Regionen
Die neuen Siedlungs- und Verkehrsflächen entstehen überwiegend auf
bisherigen landwirtschaftlichen Flächen. Mit dem Flächensparen wird
daher ein wichtiger Beitrag zur Lösung von Konflikten zwischen der
Siedlungsentwicklung und der Landwirtschaft erreicht. Darüber hinaus
werden aber auch Landnutzungskonflikte innerhalb der landwirtschaftlichen Nutzung reduziert. Denn wenn
Freiflächen für die Landwirtschaft erhalten bleiben, können diese genutzt
werden, um gleichzeitig Pflanzen für
Ernährung, Futtermittel, Energie und
stoffliche Verwertung anzubauen.
Innovative Lösungen zum „Land bewahren“ entstehen daher aus zwei
unterschiedlichen Perspektiven.
Zum einen stellt sich die Frage, wie
Siedlungsentwicklung intelligent gesteuert werden kann. In dem Verbundprojekt RegioProjektCheck wurde
hierfür ein neues Planungswerkzeug
entwickelt. Wenn neue Siedlungsflä-
© Risse/ILS 2015
Campus
Abb. 2: Diskussion zur Umsetzung der innovativen Lösungen (Quelle: Risse/ILS 2015)
chen in Anspruch genommen werden
müssen, dann solle dies an geeigneten
Standorten und in geeigneter Form
erfolgen. Das Werkzeug, so Andrea
Dittrich-Wesbuer vom ILS, unterstütze
in einem frühen Stadium die Entscheidungsfindung für neue Großvorhaben,
z. B. für Wohnen und Gewerbe. Entsprechend wird mithilfe diverser Bewertungskriterien ein bestmöglicher
Projektstandort identifiziert. Das in
dem Projekt entwickelte Werkzeug und
in mehreren Regionen bereits erfolgreich getestete Werkzeug steht kostenlos im Internet auch allen anderen
Regionen zur Verfügung. Es ist auch für
die Bürgerbeteiligung einsetzbar.
Herr Prof. Carsten Gertz präsentierte
ein weiteres, im Verbundprojekt €LAN
entwickeltes Werkzeug. Vor dem Hintergrund der zukünftig erwarteten
Energiepreissteigerung ging das Verbundprojekt der Frage nach, wie sich
diese Preissteigerung auf das Mobilitätsverhalten in einer Region sowie auf
die Siedlungsflächenentwicklung auswirkt. Hierfür wurde mit Planspielen
ein Modell entwickelt, das insbesondere das Entscheidungsverhalten lokaler
Akteure besser abbildet, zugleich aber
auch für die Praxisakteure der Metropolregion Hamburg die Entwicklung
neuer Strategien ermöglicht. Seit dem
Projektende nutzt nun der Hamburger
Verkehrsverbund das Modell zur Wei-
terentwicklung seines Verkehrsnetzes.
Zum anderen sind neue Lösungen zum
Ausgleich von Landnutzungskonflikten innerhalb des Freiraumes gefragt.
Hier stellte Prof. Dr. Peter Rohler von
der Hochschule Ostwestfalen-Lippe Ergebnisse aus dem Verbundprojekt KuLaRuhr vor. Unter dem Stichwort „Ernten statt Pflegen“ sollen Flächen des
Emscher Landschaftsparks nachhaltig
genutzt werden. Für die Entwicklung
eines „Produktiven Parks“ könnte die
bislang kostenintensive Parkpflege mit
einer regionalen Biomassestrategie –
mit positiven Effekten für die regionale Wertschöpfung – verknüpft werden.
Dies erfordere allerdings neue Managementkonzepte.
Alle vorgestellten innovativen Lösungen verdeutlichten, dass die bestehenden Akteursnetzwerke und Planungs- und Steuerungsstrukturen zur
Landnutzung weiterentwickelt werden
müssen, um eine nachhaltige Landnutzung zu erreichen. Eine Schlüsselbedeutung hat dabei die Stärkung regionaler Kooperationsformen, auf Basis
transparenter Informationsgrundlagen.
Hierbei ist eine Weiterentwicklung
des Wechselspiels zwischen formellen Instrumenten (v.a. Landesentwicklungsplan Nordrhein-Westfalen, neuer
Regionalplan für das Ruhrgebiet) und
informellen Instrumente (z. B. Sied-
lungsflächenmonitoring,
regionaler
„Kümmerer“ für Kooperationen) erforderlich.
Fördermaßnahme leistet Mehrwert für
Praxis und Wissenschaft
Die Regionalveranstaltung in Dortmund stellte den Mehrwert der Fördermaßnahme unter Beweis, sowohl
für die Anwendung in der Praxis als
auch für den Erkenntnisgewinn in der
Wissenschaft. Die Präsentationen der
Verbundprojekte zeigten den Teilnehmenden, dass die in den Untersuchungsräumen getesteten Produkte
auch in anderen Regionen angewendet
werden können. Die Produkte können
in einer umfangreichen Wissensthek
ausgewählt und in einem Internetforum diskutiert werden (siehe http://
nachhaltiges-landmanagement.de/de/
wissensthek).
Der Regionalworkshop bildete den Auftakt einer Veranstaltungsreihe, um in
verschiedenen Regionen in Deutschland den Dialog zwischen Wissenschaft
und Praxis zu stärken. Weiterführende
Informationen finden Sie unter www.
modul-b.nachhaltiges-landmanagement.de
Dr.-Ing. Christian Strauß,
Potsdam-Babelsberg
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Studium – und dann?
Perspektiven im Berufsfeld Stadt-, Regional- und Landesplanung
K
ommunikationstalent, Einfühlungsvermögen und grundsolide Fachkenntnisse sind notwendige Voraussetzung für eine Karriere in der Stadt-,
Regional- und Landesplanung. Darin waren sich die ExpertInnen aus Planungsbüros und der öffentlichen Verwaltung
einig. Bei der Informationsveranstaltung für Studierende der Landschaftsarchitektur und Umweltplanung am
29. April 2015 in der Leibniz Universität
Hannover stellten vier PraktikerInnen
anhand ihres persönlichen Werdegangs
Möglichkeiten im Berufsfeld vor.
Rund 60 Studierende der Landschaftsarchitektur und Umweltplanung an der Leibniz Universität Hannover LUH informierten sich über
ihre beruflichen Perspektiven. Dabei
lag der Schwerpunkt in diesem Jahr
auf der Stadt-, Regional- und Landesplanung. Roswitha Kirsch-Stracke
(Institut für Umweltplanung IUP),
die im Rahmen der Hochschulselbstverwaltung das Praktikantenamt der
Fachgruppe Landschaft betreut, hatte
die Veranstaltung organisiert.
Das große Arbeitsfeld der Stadt-, Regional- und Landesplanung umfasst
zum einen die (formelle) Einbindung
freiraum- und umweltplanerischer
Themen und Inhalte in die räumliche Gesamtplanung auf kommunaler, regionaler und Landesebene
mit all ihren planungsmethodischen
und planungsrechtlichen Aspekten
und Aufgaben. Zum anderen gehören hierzu die eher informellen Planungen z. B. in der Dorfentwicklung
und der Regionalentwicklung: Viele
AbsolventInnen der Landschaftsarchitektur und Umweltplanung organisieren, moderieren, begleiten und
dokumentieren solche Prozesse.
Praxispartner bei der Vorbereitung der
Veranstaltung war der Informationskreis für Raumplanung e.V. IfR, einer
der Berufsverbände im Bereich Stadt-,
Regional und Landesplanung. Er wur-
84
RaumPlanung 182 / 6-2015
de vertreten durch Dr. Christian Poßer
(s. u.), Fachbereich Naturschutz und
Grünplanung der Stadt Duisburg.
Moderiert von Prof. Dr. Frank Othengrafen (IUP) gaben vier Fachleute aus
einem kleineren und einem größeren
Planungsbüro, einer Stadtverwaltung
und einem Ministerium Einblicke in
ihren Arbeitsalltag und beruflichen
Werdegang. Sie erklärten ihre Erwartungen an junge KollegInnen und
stellten sich ihren Fragen.
Karin Bukies, Dipl.-Ing. Landespflege
Hannover 1985, führt gemeinsam mit
einem Architekten und Stadtplaner das
Büro Planungsgruppe Stadtlandschaft
Hannover (www.stadtlandschaft.de).
Die eingetragene Landschaftsarchitektin und Stadtplanerin SRL erläuterte
das Arbeitsfeld Dorfentwicklung, in
dem sie seit fast 30 Jahren tätig ist,
schwerpunktmäßig in Niedersachsen.
Karin Bukies war auf Umwegen zum
Studium der Landespflege gekommen. Ihre Kenntnisse aus dem Ausflug
in die Sozialwissenschaften und aus
der Tätigkeit für die Niedersächsische
Denkmalkartei kann sie in ihrem jetzigen Beruf gut brauchen. Auch ihr
besonderes Interesse an der historischen Entwicklung von Orten ist in der
Dorferneuerungsplanung wertvoll. Der
Wechsel von Schreibtischarbeit und
Vor-Ort-Terminen mit Bestandsaufnahmen und Arbeitskreisen bedeutet viel
Abwechslung im Berufsalltag, insbesondere im Sommer. Als Selbstständige kann Karin Bukies ihre Arbeitszeit
relativ frei gestalten. Allerdings sind
viele Abendtermine wahrzunehmen,
und die freiberufliche Tätigkeit bringt
vor allem in Projektendphasen manche
Überstunde mit sich. „In meinem Tätigkeitsfeld sind Empathie und die Fähigkeit, fachliche Inhalte allgemein verständlich, kurz und präzise erklären zu
können unverzichtbar“, erklärte Karin
Bukies. Von zentraler Bedeutung sei es,
ein Projekt strukturieren und (sprachlich gute) Berichte verfassen zu können
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– deshalb hält sie Studienprojekte, wie
sie seit über 40 Jahren die Ausbildung
in Hannover bestimmen, für die wichtigste Lehr- und Lernform. Für MitarbeiterInnen sei zeichnerisches Talent
von Vorteil, wobei der Entwurf aber
einen insgesamt eher geringen Anteil
der täglichen Arbeit einnehme. In den
übrigen Arbeitsfeldern des Büros wie
Bauleitplanung und Landschaftsplanung seien gute Kenntnisse des Planungsrechts unabdingbar.
Dr. Christian Poßer, Dipl.-Ing. Landespflege Essen 1989, Dipl.-Ökologe Essen
1998, Dr. Ing. Stadt- und Regionalplanung Dortmund 2012, zeigte an seinen
Werdegang auf, wie man sich vom Gärtner über den Landespfleger und Ökologen zum Raumplaner entwickeln kann.
Seine Studienarbeiten über Biotopmanagementplanungen von Schutzgebieten sowie die Untersuchung und
Inwertsetzung von Obstwiesen in Duisburg führten ihn über seiner Tätigkeit
in der kommunalen Stadtplanung zur
grundsätzlichen Beschäftigung mit
freiraumplanerischen Leitbildern in
der Stadtentwicklung. Heute bringt
Christian Poßer als Landschaftsarchitekt und wissenschaftlicher Mitarbeiter
im Amt für Umwelt und Grün, Fachbereich Naturschutz und Grünplanung
der Stadt Duisburg (www.duisburg.de/
micro2/duisburg_gruen/index.php),
Freiraumthemen in die Stadt- und Regionalentwicklung ein. „Mich motiviert,
bei Entscheidungen über bestimmte
Raumentwicklungen mitzuwirken und
Akzente setzen zu können“, erklärte
Christian Poßer. Die Nahtstellen zwischen Verwaltungshandeln und politischem Handeln zu verstehen und
dafür eine Sensibilität zu entwickeln,
sei auch, neben dem praktischen Tun,
einer der wesentlichen Lernprozesse
nach dem Berufseinstieg. Von jungen
KollegInnen wünscht sich Christian
Poßer neben fundiertem fachlichen
Grundwissen und einer dem Berufsbild
entsprechende Ausdrucksfähigkeit in
Wort und Schrift vor allem aber „eine
Campus
gewisse Demut: Erkennen, was man
weiß – und besonders, was man noch
nicht weiß – und dann die Lust am lebenslangen Lernen behalten!“
Tanja Frahm, Dipl.-Ing. Landschaftsund Freiraumplanung Hannover 2002,
ist eine von vier GeschäftsführerInnen
bei KoRiS – Kommunikative Stadt- und
Regionalentwicklung (www.korishannover.de). Das hannoversche Büro mit
Standorten auch in anderen Städten
hat einen Arbeitsschwerpunkt in der
Regionalentwicklung und im Regionalmanagement. In diesem Tätigkeitsfeld sind selbstverständlich viele VorOrt-Termine, auch abends, notwendig.
Trotzdem ist KoRiS bekannt für seine
Familienfreundlichkeit: Über HomeOffice und flexible Arbeitszeiten wird
den MitarbeiterInnen ermöglicht, ihre
jeweilige private Lebenssituation,
z. B. die ersten Jahre der Elternschaft,
mit einem engagierten Berufsalltag zu
verbinden. Ursache – oder Folge: Drei
Viertel des 15-köpfigen Teams und
ebenso der Geschäftsführung sind
weiblich. „Ich wünsche mir BewerberInnen mit einem prozessorientierten,
kooperativen Planungsverständnis,
die sowohl im direkten, persönlichen
Kontakt als auch im schriftlichen Ausdruck überzeugen“, so Tanja Frahm.
Diese Fähigkeiten sind notwendig,
wenn z. B. wie im letzten Jahr in kurzer Zeit mehrere Regionale Entwicklungskonzepte erarbeitet und fertig
gestellt werden müssen.
Fabian Wais, Dipl.-Ing. Landschaftsund
Freiraumplanung
Hannover
2007 und Assessor der Landespflege
2010, stellte anhand seines Werdeganges das „Landespflege-Referendariat“ vor (www.landespflege-referendariat.de). Das Referendariat gilt nach
wie vor als „Königsweg“ für die höhere
Verwaltungslaufbahn im Naturschutz
und der räumlichen Gesamtplanung
auf kommunaler, regionaler und auf
Landesebene. Die zweijährige Ausbildung, die mit dem zweiten Staatsexamen abschließt, bietet einen breiten
Einblick in Verwaltungsstrukturen und
in planungsrechtliche Zusammenhänge. Alternativ zum Landespflege-Referendariat steht AbsolventInnen der
Landschaftsarchitektur und Umweltplanung mit Masterabschluss auch das
Städtebau-Referendariat offen. Nach
zwei Jahren in der Regionalplanung
des Landkreises Holzminden arbeitet Fabian Wais heute im Niedersächsischen Ministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
(www.ml.niedersachsen.de) im Referat Raumordnung und Landesplanung.
Zurzeit ist er mit der Änderung des
Landes-Raumordnungsprogramms beschäftigt. „Ich finde es als Landschaftsund Freiraumplaner wichtig, alle
Ansprüche an den Raum in der Landesplanung mit Blick auf Langfristigkeit möglichst gut zusammenzuführen,
und dabei neben den wirtschaftlichen
und sozialen Aspekten die Umweltbelange angemessen einzubeziehen“, so
sieht Fabian Wais seine Aufgabe und
Verantwortung. Anders als die bisher
vorgestellten Arbeitsbereiche ist sein
Berufsalltag eine Schreibtischtätigkeit
und von klaren Hierarchien und festgelegten Zuständigkeiten geprägt. Als
Vorteile einer Verwaltungstätigkeit
nannte Fabian Wais unter anderem
die geregelten, familienfreundlichen
Arbeitszeiten (Gleitzeit, Zeiterfassung,
Möglichkeiten der Teilzeit) und die
transparente Vergütung.
In der Diskussionsrunde, moderiert von
Prof. Dr. Rainer Danielzyk (IUP, ARL),
waren sich alle Referierenden einig,
dass der Wille zum lebenslangen Lernen sowie die Fähigkeit, sich schriftlich
und mündlich auszudrücken wesentliche Voraussetzungen für das Berufsfeld der Stadt-, Regional und Landesplanung sind (aber sicherlich nicht nur
hier). Während in den eher informellen
Prozessen der Dorfentwicklung und
Regionalentwicklung
Kommunikationsfähigkeit und Empathie ganz vorne
stehen, sind es in der eher formellen
Planung in den Verwaltungen aller Ebenen besonders planungsfachliche und
rechtliche Kenntnisse und das Wissen
und Erkennen von Entscheidungswegen. Die Vernetzung über Berufsverbände und Interessensgruppen wurde
von allen Referierenden als ungemein
wertvoll hervorgehoben, Konkurrenzen
der Vereinigungen spielen dabei keine
Rolle, zumal der mehr wissenschafts-
orientierte IfR und die eher praxisorientierte SRL bereits über eine Fusion
nachdenken. Die weiteren Organisationen und Initiativen sind durchweg
auf mehreren Wegen miteinander verknüpft, über personelle Verbindungen
ebenso wie über gemeinsam bearbeitete Themenfelder.
Zum Abschluss der Veranstaltung stellte Markus Löwer, Geschäftsführer der
Niedersächsischen Akademie Ländlicher Raum e.V. ALR, die Auslobung des
diesjährigen ALR-Hochschulpreises vor.
Unter den PreisträgerInnen der letzten
Jahre waren mehrmals Studierende der
Fachgruppe Landschaft der LUH.
Im Foyer konnten sich die Studierenden über Aktivitäten unterschiedlicher
Berufsverbände und weiterer Organisationen im Berufsfeld informieren.
Vertreten waren:
n Informationskreis für Raumplanung
e.V. IfR (www.ifr-ev.de),
n Vereinigung für Stadt-, Regionalund Landesplanung e.V. SRL (www.
srl.de),
n Akademie für Raumforschung und
Landesplanung ARL (www.arl-net.
de),
n Niedersächsische Akademie Ländlicher Raum e.V. ALR (www.alr-niedersachsen.de),
n Forschungsinitiative Transdisciplinary Rural and Urban Spatial Transformation TRUST der LUH (www.trust.
uni-hannover.de),
n Bundesverband Beruflicher Naturschutz BBN (www.bbn-online.de),
Regionalgruppe Niedersachsen /
Bremen / Hamburg.
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Roswitha Kirsch-Stracke,
Hannover
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85
Rezensionen
Rezensionen
n Gary White, Marguerite Pienaar, Bouwer Serfontein: AFRICA
DRAWN. One Hundred Cities
Rezensent: Ronald Kunze
J Gary White, Marguerite Pienaar,
Bouwer Serfontein
AFRICA DRAWN. One Hundred
Cities
Vorwort von Elizabeth
Plater-Zyberk.
280 × 300 mm, 244 Seiten,
300 Abbildungen.
Hardcover. DOM Publishers,
Berlin 2015. ISBN 978-386922-423-7 (englische
Ausgabe). 48 EUR
© AFRICA DRAWN. One Hundred Cities (S. 97)
Africa gezeichnet? Über 300 detailgenau
gezeichnete Pläne und Ansichten illustrieren anschaulich zeitgenössische und
historische Siedlungsformen aus allen
Bereichen des Kontinents und stellen
der Leserschaft dabei die 100 größten
und bedeutendsten Städte in jeweils drei
unterschiedlichen Zeichnungen von Kairo bis Kapstadt, von Huambo (Angola)
bis Lomé (Togo) vor. Dahinter steht ein
von den Autoren mitbegründetes südafrikanisches Forschungsprojekt Africa
Drawn. Ergänzt durch einen jeweils ein-
führenden (englischen) Text reduzieren
die Zeichnungen die komplexen urbanen
Zusammenhänge auf die wesentlichen
strukturellen Elemente, so dass die wichtigsten Merkmale der jeweiligen Stadt
sichtbar werden. So ermöglicht das Buch
erstmals eine vergleichende Betrachtung der Vielfältigkeit des Phänomens
Stadt auf dem afrikanischen Kontinent.
Die Urbanisierung des afrikanischen
Kontinents schreitet rasant voran, die
afrikanischen Städte und Metropolregionen gehören zu den am schnellsten
wachsenden der Welt. Zahlreiche der
heute als bedeutend angesehenen Orte
kennt man nicht einmal mit Namen,
wenn man sich nicht intensiv mit dem
schwarzen Kontinent beschäftigt. Dabei
wirken die in 2014 gezeichneten Stadtstrukturen doch teils recht statisch, wie
seit langer Zeit unverändert. Was sich
in den einzelnen Baublocks und in den
Straßenräumen tatsächlich in den letzten Jahrzehnten geändert hat, kann man
aus der gezeichneten Vogelperspektive
Abb. 1: Algier (Ausschnitt)
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natürlich nicht erkennen, weder die in
manchen Orten herrschenden Straßenkämpfe, noch die wohl fast durchgängige technologische Aufrüstung durch
mobile Kommunikationsmittel. Und
dennoch scheinen lebendiges Flair und
heißes Klima wie von selbst aus den
Zeichnungen empor zu zusteigen.
Das Ergebnis dieser faszinierenden
Dokumentation städtischer Räume in
Afrika ist eine Analyse urbaner Strukturen und Morphologien aus ganz
unterschiedlichen
Bereichen:
Von
Nordafrika (19) über Westafrika (28),
Ostafrika einschließlich Madagaskar und
den Seychellen (29), Zentralafrika (14)
bis Südafrika (10) werden die jeweils
auftretenden Erscheinungsformen in
100 verschiedenen Beispielen in einer
einheitlichen Darstellungsart abgebildet.
Dabei unterscheiden sich typisch afrikanische Städte, islamische Städte, Kolonialstädte und europäische Städte. Durch
das Nebeneinander von afrikanischen
und per se fremden Elementen ergeben
sich noch weitere Kategorien wie Dual
Cities oder Hybrid Cities. Die doch recht
unterschiedlichen Darstellungen machen dabei die historisch gewachsenen
Raummuster sichtbar, deren Kenntnis
notwendig ist, um die zukünftige Entwicklung der afrikanischen Städte erfassen zu können. Insgesamt ist das Werk
eine ungeheure Fleißarbeit, die eine
intensive Auseinandersetzung mit den
afrikanischen Stadtstrukturen aufzeigt.
Ronald Kunze,
Langenhagen
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e.V.
Nachrichten aus dem Verband
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IfR intern
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IfR intern
1975 2015
–
Geschäftsstelle: Gutenbergstr.34, 44139 Dortmund
Tel. 0231 7595-70, Fax 0231 7595-97, E-Mail info@ifr-ev.de, www.ifr-ev.de
Informationskreis für Raumplanung (IfR) – Das kompetente Fachnetzwerk
Fahrrad-Exkursion der Regionalgruppe Niedersachsen (Braunschweig/Hannover)
trug Tim Schneider vom Planungsamt
der Stadt Magdeburg bei. Er steuerte
gezielt die städtebaulich bedeutungsvollen Punkte an und gab mit seinen
profunden Kenntnissen viele Hintergrundinformationen.
Nach dem ersten Weltkrieg verfolgte
der damalige Bürgermeister das Ziel,
die Kompetenz der Stadtverwaltung
mit erfahrenen Fachkräften zu erhöhen. So rief er 1921 den bekannten
Architekten Bruno Taut in sein Verwaltungsteam. Taut war durch frühere
Gartenstadtprojekte „Reform“ (Abb. 1
u. 2) und „Hopfengarten“ in Magdeburg aufgefallen. Beide Siedlungen im
Süden der Stadt sind natürlich auf der
Fahrradtour angefahren worden. Die
Zeit von Bruno Taut als Stadtbaurat
in Magdeburg war nicht lang. Bereits
1924 war sein Engagement beendet.
In diesen Jahren leitete er zahlreiche
planerische Diskussionsprozesse ein.
Gebäude von ihm selbst entstanden
in Magdeburg nur wenige. Erhalten
ist noch die ehemalige Ausstellungshalle „Stadt und Land“, die jetzige
Hermann Gieseler Sporthalle (nur die
Spätabendradler waren bei diesem Besichtigungspunkt noch dabei). Es ist zu
hoffen, dass dieses Bauwerk des ehemaligen Stadtbaurates von der Stadt
Magdeburg weiter geschätzt und erhalten wird. Es soll wohl „dunkle Wolken“ am Horizont geben.
Farbe, dieses städtebauliche Gestaltungsmittel, das bei Bruno Taut einen
erheblichen Stellenwert besaß, löste
damals in der Bürgerschaft Madeburgs
© Wolfgang Brumund
J Auf den Spuren von Bruno Taut, so
lautete das diesjährige Motto der Fahrradexkursion, die die Regionalgruppe
Niedersachsen, Braunschweig/Hannover des IfR in Magdeburg am 11.07.2015
durchführte. Das Wetter war bestens
und die Besichtigungspunkte waren
zahlreich und interessant. Dies führte
dazu, dass einige Mitglieder nach einem guten Essen auf der Terrasse des
„Porten“ (für die „Jüngeren“: Henny
Porten, gebürtige Magdeburgerin, war
ein Starlet der Stummfilmzeit) direkt
neben dem Schauspielhaus, noch bis
kurz vor 22.00 Uhr die Spuren des legendären Architekten verfolgten und
dann in die Regionalbahn nach Helmstedt/Braunschweig stiegen. Trotzdem,
schon beim Essen war klar, dass eine
weitere Fahrradtour nach Magdeburg
Sinn macht. Für den Erfolg der Tour
Abb. 1 und Abb. 2: Gartenstadt “Reform”
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IfR intern
Das Rathaus im Jahr 2015 hat wieder
eine schlichte, zurückhaltende Farbfassung (Abb. 3). Aber am Domplatz,
wo wenige historische bzw. nach dem
2. Weltkrieg wiederaufgebaut Gebäude
auf die Architektur der Nachwendezeit, wie z. B. das Verwaltungsgebäude
von Bolles und Wilson mit 275 Tonnen
bläulichen Natursteinplatten aus Brasilien, treffen, gibt es noch eine Farbexplosion jüngeren Datums. Über die
Grüne Zitadelle von Hundertwasser am
Domplatz mag man unterschiedlicher
Auffassung, von Begeisterung bis die
Nase rümpfen, sein. Für Magdeburg ist
dieses bunte Gebäude eine Attraktion,
die auch von Touristen angenommen
wird. Auch Bruno Taut verfolgte mit
bunter Architektur das Ziel, Menschen
nach Magdeburg zu locken.
Die Stadt Magdeburg hat hervorragende Publikationen über die städtebaulich spannende Zeit zwischen den
beiden Weltkriegen erstellt: über die
Gartenstädte Hopfenkamp und Reform, natürlich über das Wirken von
© Wolfgang Brumund
kontroverse Diskussionen aus. Der
Stadtbaurat war nicht unumstritten
(aber welcher Stadtbaurat ist schon
unumstritten). Historische Postkarten
mit einem „Gruß vom bunten Magdeburg“ oder mit dem Rathaus in den
Farben der 20ger Jahre und dem Aufdruck „Magdeburg die bunte Stadt“
sind Zeugnisse der damaligen Bewegung.
Abb. 3: TeilnehmerInnen am Magdeburger Rathaus
Bruno Taut und seine Schriftenreihe
„Frühlicht“, über die Ausstellungshalle Stadt und Land, über die Stadthalle
und über weitere Großsiedlungen der
20ger Jahre. Es macht Spaß, sie zu lesen. Die Veröffentlichungen sind zwar
weitgehend vergriffen, lassen sich
über die einschlägigen Suchmaschinen dieser Welt auf einen Monitor im
Wohnzimmer befördern.
Übrigens, Nachfolger von Bruno Taut
als Stadtbaurat von Magdeburg wurde Johannes Göderitz. Dieser wiederum war nach dem Zweiten Weltkrieg
Stadtbaurat in Braunschweig.
Abb. 4: Wohnungsbau am Alten Elbbahnhof
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Neben den stadtbaugeschichtlichen
Spuren konnten sich die Teilnehmer
der diesjährigen Fahrradexkursion
über aktuelle Themen der Magdeburger Stadtplanung informieren. Überzeugend ist das neue elbnahe Wohnquartier „Am Elbbahnhof“ (Abb. 4),
aber auch die Stadtsanierung in industriell geprägten Stadtteil Buckau (Abb.
5) hat Akzente gesetzt.
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Abb. 5: Sanierung in Buckau
Wolfgang Brumund,
Helmstedt
Kalender
Termine
Dezember 2015
straße 1, 80333 München, Tel. 089/5427060,
office@isw.de, weitere Informationen: www.
isw-isb.de
08027/1785, oekologische-akademie@gmx.
de, weitere Informationen: www.oeko-akademie.de
2. Dezember, Wiesbaden _____________
8. Dezember, Frankfurt am Main_______
14. Dezember, Düsseldorf_____________
Klimaschutz braucht Initiative – seien Sie
dabei Fördermittel für den kommunalen
Klimaschutz. Deutschlandweite Infotour
2015/2016. Veranstaltungsort: Hessisches
Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Mainzer
Str. 80, 65189 Wiesbaden, Kontakt: Serviceund Kompetenzzentrum: Kommunaler Klimaschutz am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), Dina Lieder, Tel. 0221/340308-12,
lieder@difu.de weitere Informationen: www.
difu.de/veranstaltungen
Urbane und städtebauliche Sicherheit:
Maßnahmen - Möglichkeiten - Perspektiven
und Chancen. Veranstaltungsort: InterCityHotel Frankfurt Airport, Am Luftbrückendenkmal 1, 60549 Frankfurt am Main, Kontakt:
vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V., Fax 030/390473690, seminare@vhw.de, weitere Informationen: www.
vhw.de
Jahresrückblick Bauleitplanung 2015. Veranstaltungsort: Hotel Leonardo City Center,
Ludwig-Erhard-Allee 3, 40227 Düsseldorf,
Kontakt: Institut für Städtebau und Wohnungswesen, Steinheilstraße 1, 80333 München,
Tel. 089/5427060, office@isw.de, weitere Informationen: www.isw-isb.de
3. Dezember, München_______________
Revolution im Einzelhandel - Räumliche Auswirkungen des Onlinehandels und Handlungsempfehlungen für Kommunen. Veranstaltungsort: IHK Akademie München, Orleansstr.
10, 81669 München, Kontakt: Institut für
Städtebau und Wohnungswesen, Steinheilstraße 1, 80333 München, Tel. 089/5427060,
office@isw.de, weitere Informationen: www.
isw-isb.de
3. Dezember, München_______________
Wohn-Dialog München: Dichter, höher, innovativer – Auswege aus dem Wohn-Dilemm.
Veranstaltungsort: Hotel Vier Jahreszeiten
Kempinski München, Maximilianstraße 17,
80539 München, Kontakt: Frau Tanja Zinke,
Tel. 0211/4690517, zinke@heuer-dialog.de,
weitere Informationen: www.heuer-dialog.
de/veranstaltungen
4. Dezember, Braunschweig __________
Regionalgruppen-Stammtisch “Jahresplanung
2016”. Veranstaltungsort: Gaststätte Mexicana, Am Wollmarkt 14, 38100 Braunschweig.
Kontakt: IfR-Regionalgruppensprecher Frank
Schröter, f.schroeter@tu-bs.de, weitere Informationen: www.ifr-ev.de
5. Dezember, Berlin__________________
20. Berliner Gespräch. Veranstaltungsort:
DAZ - Deutsches Architektur Zentrum, Köpenicker Str. 48-49, 10179 Berlin, Kontakt: Bund
Deutscher Architekten BDA, Köpenicker
Straße 48-49, 10179 Berlin, Tel. 030/2787990,
kontakt@bda-bund.de, weitere Informationen: www.bda-bund.de
7. Dezember, Stuttgart _______________
Jahresrückblick Bauleitplanung 2015. Veranstaltungsort: Haus der Architekten, Danneckerstr. 54, 70182 Stuttgart, Kontakt: Institut für
Städtebau und Wohnungswesen, Steinheil-
9. Dezember, Frankfurt am Main ______
Radverkehr, Fußverkehr und ÖPNV. Wie das
Miteinander gelingen kann. Veranstaltungsort: Mainfeld Raum für Kultur, Festsaal, Im
Mainfeld 6, 60528 Frankfurt am Main, Kontakt: Deutsches Institut für Urbanistik gGmbH, Fahrradakademie, Zimmerstraße 13–15,
10969 Berlin, Dipl.-Ing. Simone Harms, Tel.
030/39001132, harms@difu.de weitere Informationen: www.fahrradakademie.de
9. Dezember, Berlin _________________
Bürgerticket – Königs- oder Holzweg? Veranstaltungsort: Deutsches Institut für Urbanistik, Zimmerstraße 13-15 (Eingang 14-15),
10969 Berlin, Kontakt: Deutsches Institut
für Urbanistik gGmbH, Sylvia Koenig, Tel.
030/39001258, koenig@difu.de, weitere Informationen: www.difu.de/veranstaltungen
9. Dezember, Freiburg _______________
Freiburg. Nichts geht mehr!? Wo bleiben die
Wachstumsperspektiven für die Stadt?.Veranstaltungsort: Humboldtsaal Freiburg, Humboldtstraße 2, 79098 Freiburg, Kontakt: Frau
Tanja Zinke, Tel. 0211/4690517, zinke@heuerdialog.de, weitere Informationen: www.heuer-dialog.de/veranstaltungen
15. Dezember, Berlin _________________
Aktuelle Fragen zum öffentlichen Baurecht
auf den Punkt gebracht. Veranstaltungsort:
Hotel NH Berlin, Friedrichstraße 96, 10117
Berlin, Kontakt: vhw – Bundesverband für
Wohnen und Stadtentwicklung e.V., Fax
030/390473690, seminare@vhw.de, weitere
Informationen: www.vhw.de
17. Dezember, Hamburg ______________
Unterbringung von Flüchtlingen - Baurecht
in Krisenzeiten. Veranstaltungsort: Hotel
Hafen Hamburg, Seewartenstraße 9, 20459
Hamburg, Kontakt: vhw – Bundesverband
für Wohnen und Stadtentwicklung e.V., Fax
030/390473690, seminare@vhw.de, weitere
Informationen: www.vhw.de
Januar 2016
12. Januar, Düsseldorf _______________
HOAI aktuell — Auswirkungen auf die Vertrags- und Abrechnungspraxis in der Stadtplanung. Veranstaltungsort: Düsseldorf,
Kontakt: Akademie der Architektenkammer
NRW gGmbH, Zollhof 1, 40221 Düsseldorf, Fax
0211/496793, anmeldung@akademie-aknw.
de, weitere Informationen: www.akademieaknw.de
10. Dezember, Berlin_________________
Beherbergung von Flüchtlingen - Praxiserfahrungen der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft. Veranstaltungsort: Hotel
Sylter Hof, Kurfürstenstraße 114–116, 10787
Berlin, Kontakt: vhw – Bundesverband für
Wohnen und Stadtentwicklung e.V., Fax
030/390473690, seminare@vhw.de, weitere
Informationen: www.vhw.de
13. Januar, Berlin ___________________
Nicht ohne meine Nachbarn!? Interkommunale Kooperation in der „Spreeregion“. Veranstaltungsort: Difu, Zimmerstraße 13-15 (Eingang 14-15), 10969 Berlin, Kontakt: Deutsches
Institut für Urbanistik gGmbH, Sylvia Koenig,
Tel. 030/39001258, koenig@difu.de, weitere
Informationen: www.difu.de/veranstaltungen
11. – 12. Dezember, Reimlingen ________
16. Januar _________________________
SRL: Moderation und Konfliktmoderation
für PlanerInnen. Grundlagen – Übungen –
Praxisfälle. Veranstaltungsort: Tagungshaus
St. Albert, Reimlingen bei Nördlingen, Kontakt: Thomas Ködelpeter, Ökologische Akademie e.V., 83623 Dietramszell/Linden, Tel.
Abstandsflächen und andere ausgewählte
Fragen der ThürBO. Kontakt: Bauhaus Akademie Schloss Ettersburg gGmbH, Am Schloss
1, 99439 Ettersburg bei Weimar, Tel. 03643/
7428417, info@bauhausakademie.de, weitere
Informationen: www.bauhausakademie.de
RaumPlanung 182 / 6-2015
89
Kalender
18. Januar, Düsseldorf _______________
10. Februar, Düsseldorf ____________
Neue Aufgaben im Städtebaurecht —
Innenentwicklung, Klimaschutz, Wohnungsbau, Wohnungen für Flüchtlinge.
Veranstaltungsort: Düsseldorf, Kontakt:
Akademie der Architektenkammer NRW
gGmbH, Zollhof 1, 40221 Düsseldorf, Fax
0211/496793,
anmeldung@akademieaknw.de, weitere Informationen: www.
akademie-aknw.de
Städtebauliche Nachverdichtung als Planungsaufgabe. Veranstaltungsort: Düsseldorf, Kontakt: Akademie der Architektenkammer NRW gGmbH, Zollhof 1, 40221
Düsseldorf, Fax 0211/496793, anmeldung@
akademie-aknw.de, weitere Informationen:
www.akademie-aknw.de
27. Januar, Dortmund________________
Die Anwendung der TA-Lärm. Veranstaltungsort: Kongresszentrum Westfalenhallen, Rheinlanddamm 200, 44139 Dortmund, Kontakt: vhw – Bundesverband für
Wohnen und Stadtentwicklung e.V., Fax
030/390473690, seminare@vhw.de, weitere Informationen: www.vhw.de
11. – 12. Februar, Potsdam __________
Fachtagung Infrasstruktur - Umwelt - Vergabe
zum HVA F-StB . Veranstaltungsort: Potsdam,
Kontakt: Bundesministerium für Verkehr und
digitale Infrastruktur BMVI, Bund Deutscher
Landschaftsarchitekten bdla, info@bdla.de,
weitere Informationen: www.bdla.de
15. Februar, Berlin ________________
10. Februar, Berlin ________________
Praxiskurs Artenschutz und Bauleitplanung über den problemangemessenen Umgang mit
Flora und Fauna beim Planen. Veranstaltungsort: Hotel Sylter Hof Berlin, Kurfürstenstraße
114–116, 10787 Berlin, Kontakt: vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung
e.V., Fax 030/390473690, seminare@vhw.
de, weitere Informationen: www.vhw.de
Mehr Mitbestimmung in der Stadt. Chancen und Risiken von Volksentscheiden.
Veranstaltungsort: Deutsches Institut für
Urbanistik, Zimmerstraße 13-15 (Eingang
14-15), 10969 Berlin, Kontakt: Deutsches
Institut für Urbanistik gGmbH, Sylvia
Koenig, Tel. 030/39001258, koenig@difu.
de, weitere Informationen: www.difu.de/
veranstaltungen
QUO VADIS 2016. 26. Jahresauftakt für Immobilienentscheider. Veranstaltungsort: u.a.
Hotel Adlon Kempinski Berlin, Unter den
Linden 77 – 10117 Berlin, Kontakt: Frau Tanja
Zinke, Tel. 0211/4690517, zinke@heuer-dialog.de, weitere Informationen: www.heuerdialog.de/veranstaltungen
Februar 2016
15. – 17. Februar, Berlin ______________
Impressum
Herausgeber:
Informationskreis
für Raumplanung (IfR) e. V.
Gutenbergstraße 34, 44137 Dortmund
Tel. 0231 7595-70, Fax -97
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Verantwortlich für diese Ausgabe:
Der Vorstand des IfR e. V., vertreten
durch den Vorsitzenden
Dr.-Ing. Ronald Kunze (ViSdP)
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Dr. Brigitte Adam, Bonn
Prof. Dr. Peter Ache, Nijmegen
Dr.-Ing. Susanne Bieker, Darmstadt
Dr.-Ing. Alexandra Hill, Bochum
Prof. Dr.-Ing. Thomas Krüger, Hamburg
Dr.-Ing. Ronald Kunze, Langenhagen
Dr.-Ing. Frank Othengrafen, Hamburg
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Redaktionsanschrift:
Redaktion RaumPlanung
c/o IfR e. V., Dortmund,
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Titelmotiv:
Quito, Ecuador; ©Daphne Frank
Produktion und Satz:
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Meike Wolter
Layoutkonzept:
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Unter anderem mit folgenden Beiträgen*:
RaumPlanung 182 / 6-2015
Verlag:
Selbstverlag des IfR e. V.,
ISSN 0176-7534
Diese Ausgabe enthält eine Beilage von:
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ung
*Arbeitstitel, Änderungen vorbehalten
Anzeigenverwaltung:
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n Tobias Panwinkler:
Regionale Arbeitsmärkte und Migration (EU weit)
n Birte Nienhaber, Ursula Roos:
Welche Rolle spielt die internationale Migration in Raumplanungsdokumenten?
Eine Analyse am Beispiel der beiden Bundesländer Saarland und Rheinland-Pfalz
n Kolar Aparna, Joris Schapendonk, Olivier Kramsch:
Rethinking Planning Visions from a Migrant-Border Lens
n Rainer Staubach:
Dortmund All-inclusive – ein Projekt zur Förderung des „innerstädtischen Grenzverkehrs“
n Heike Hanhörster:
Migranten auf dem (Miet-)wohnungsmarkt: Sachbearbeiter als `gatekeeper´?.
Ein deutsch-niederländischer Vergleich
n Fabian Thiel:
Heisser Boden Frankfurt am Main - Flüchtlingsunterbringung, Eigentümerkooperation und
Bodenpolitik
n Eberhard von Einem:
Wissenstransfer durch türkischstämmige Re-Migraten nach Istanbul
Bezugspreise:
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Migration. Auswirkungen europäischer
Wanderbewegungen*
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Vorschau RaumPlanung 183 / 1-2016 (erscheint Ende Januar 2016)
Erscheinungsweise:
Sechs Ausgaben im Jahr
1975 – 2015
Informationskreis für Raumplanung (IfR) e. V., Gutenbergstraße 34, 44139 Dortmund
PVSt, Deutsche Post AG, »Entgelt bezahlt«, K 5158
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Beteiligung mal anders –
informelle Beteiligung mit INKA
INKA ist interaktiv, leicht zu bedienen und individuell anpassbar.
Ob als Mängelmelder, als Karte zur Vorstellung bestimmter
Maßnahmen oder zur Sammlung von Ideen für Ihr Projekt.
INKA können Sie immer dort einsetzen, wo Sie sie gerade brauchen.
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www.buergerbeteiligung.de
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