FORUM : QUALITATIVE
S O ZIA LFO RS C HU N G
S O C IA L RES EA RC H
Volume 8, No. 3, Art. 12
September 2007
Rezension:
Daniela Jauk
Ralf Bohnsack, Aglaja Przyborski & Burkhart Schäffer (Hrsg.) (2006).
Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis.
Opladen: Barbara Budrich, 304 Seiten, ISBN 3-938094-41-9, Preis € 24,90
Keywords:
Zusammenfassung: Der Sammelband von BOHNSACK, PRZYBORSKI und SCHÄFFER
Methodologie,
verspricht Einblick zu geben in konkrete Anwendungen von Gruppendiskussionen in ausgewählten
rekonstruktive
Forschungsfeldern (Kindheit, Jugend, Handlungspraxis im organisatorischen und gesellschaftlichen
Sozialforschung,
Kontext). Darüber hinaus offeriert er neue und weiterführende methodische Reflexionen. Zwar ge-
Gruppen-
währen die meisten AutorInnen anhand von Transkriptauszügen Einblicke in die Forschungspraxis
diskussion,
– konkreter in die Forschungspraxis rekonstruktiver Sozialforschung. Insgesamt eröffnet das Buch
dokumentarische
jedoch vor allem den Blick auf jene deutschsprachigen Forschenden, die sich dem
Methode,
Mitherausgebers Ralf BOHNSACK bzw. seiner dokumentarischen Methode verpflichtet fühlen und
Fokusgruppen,
hinterlässt in Ermangelung historischer Kontextualisierung mitunter den schalen Geschmack der
Forschungspraxis
Selbstreferentialität. Der Umstand, dass großteils aus noch laufenden Forschungsprojekten
berichtet wird, bedingt möglicherweise die oft sehr gut gelungene Explikation und metatheoretische
Begründung des methodischen Vorgehens, lässt aber an mancher Stelle jene enttäuscht zurück,
die sich mehr Inhalt zur Form wünschen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ausgewählte Felder der Forschungspraxis
2.1 Kindheit: Handlungspraxis in Ritual und Spiel
2.2 Politische, ästhetische und berufliche Orientierungen
2.3 Handlungspraxis und Legitimation im organisatorischen und gesellschaftlichen Kontext
3. Methodische Reflexionen
4. Resümee
Literatur
Zur Autorin
Zitation
1. Einleitung
Die meisten der in den letzten beiden Jahrzehnten erschienenen Bücher über
Gruppendiskussionen beginnen mit der Feststellung, dass diese Technik sich
zunehmender Beliebtheit erfreue. Auch der vorliegende Band fällt hier nicht aus der
Reihe: Die Herausgebenden beabsichtigen, mit dem Buch die zunehmende
Popularität von Gruppendiskussionen in der empirischen Sozialforschung zu
dokumentieren. Darüber hinaus sollen den Lesenden aber auch methodische und
methodologische Weiterentwicklungen des Gruppendiskussionsverfahrens, das
sich zum "Standardinstrument qualitativer Sozialforschung" (S.7) entwickelt habe,
näher gebracht werden. Nicht aus dem Titel, aber in der Einleitung wird bald klar,
© 2007 FQS http://www.qualitative-research.net/fqs/
Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (ISSN 1438-5627)
FQS 8(3), Art. 12, Rezension Daniela Jauk:
"Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis " ( Bohnsack, Przyborski & Schäffer (2006)
dass alle hier versammelten Aufsätze sich der rekonstruktiven Sozialforschung
zurechnen, oder noch genauer: der dokumentarischen Methode und damit dem
Mitherausgeber BOHNSACK verpflichtet sind. Dieser (BOHNSACK 2007, 1.
Auflage 1991)1 hat gemeinsam mit LOOS und SCHÄFFER (2001)2 im
deutschsprachigen Raum die Methode der Gruppendiskussion als Methode zur
Ermittlung kollektiver (milieuspezifischer) Orientierungsmuster methodologisch
neu begründet (vgl. auch LAMNEK 1998 und 2005, S.429), welche hier einleitend
noch einmal kurz erläutert sei. [1]
In Abgrenzung zu "Focus Groups", die ab 1950 bis 1980 vor allem in der Marktund Medienforschung populär waren (vgl. MORGAN 1998, S.39, LITTIG &
WALLACE 1997, S.1) und in Weiterentwicklung des Modells der "informellen
Gruppenmeinung" von MANGOLD (1960) – mit dem BOHNSACK in den 1980er
Jahren auch zusammenarbeitete – war und ist Anliegen von BOHNSACK (und
damit auch Ziel des hier besprochenen Buches) eine metatheoretische
Fundierung und Aufwertung der Gruppendiskussion explizit für die
Sozialwissenschaften. BOHNSACK prägte den Begriff der "praxeologischen
Wissenssoziologie", welche den Hintergrund zum Auswertungsmodus von
Gruppendiskussionen bildet: der dokumentarischen Methode. Die Suche nach
kollektiven Erfahrungen und Orientierungsmustern stellt dabei das zentrale
Erkenntnisinteresse der dokumentarisch Forschenden dar, das auf die
Konzeption des "konjunktiven Erfahrungsraumes" bei MANNHEIM aufbaut. Ein
derartiger verbindender Erfahrungsraum basiert demnach auf
kollektivbiographischen strukturidentischen Erfahrungszusammenhängen (etwa
generationenspezifische Erfahrungen), die in der BOHNSACKschen
Weiterentwicklung und methodischen Operationalisierung des Gedankens in
einer Gruppendiskussion repräsentiert und damit erforschbar werden. [2]
In der Tradition der dokumentarischen Methode ist die Gruppendiskussion
folglich mehr als nur exploratives Addendum im Forschungsprozess: sie ist ein
prädestiniertes Instrument, Milieuanalyse zu betreiben und kollektive
Orientierungen von Akteuren zu erheben, welche als milieu- und
kulturspezifisches Orientierungswissen innerhalb und außerhalb von Institutionen
die Handlungspraxis von Menschen konstituieren. Die Auswertung des Materials
und die Textinterpretation erfolgt hierbei in vier Schritten, die BOHNSACK (2007)
in seinem Hauptwerk ausführt: formulierende Interpretation (Rekonstruktion der
thematischen Gliederung), reflektierende Interpretation (Rekonstruktion des
Orientierungsrahmens), Fall- bzw. Diskursbeschreibung (Charakterisierung der
Gesamtgestalt des Falles/Diskurses) und Typenbildung (Herausarbeiten von
Bezügen zwischen Erfahrungshintergrund und aktivierten Orientierungen in der
Gruppendiskussion). Übersichtliche Zusammenfassungen der Arbeitsschritte der
Textinterpretation bieten darüber hinaus LAMNEK (2005, S.457) und etwas
ausführlicher auch LOOS und SCHÄFFER (2001, S.59-74). [3]
1
Siehe die Rezensionen in FQS von KÖLBL (2001) sowie KREUZER (2001).
2
In FQS rezensiert von FIEDLER (2002).
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"Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis " ( Bohnsack, Przyborski & Schäffer (2006)
Bei der Interpretation kommt insbesondere der Analyse der "Diskursorganisation"
Bedeutung zu – der auch ein eigenes Kapitel gewidmet ist –, wobei hier das
Augenmerk auf die Formalstruktur und interaktiv intensive Sequenzen der
Diskussion gerichtet wird. Als "Fokussierungsmetaphern" werden jene (Text-)
Sequenzen bezeichnet, die aufgrund ihrer interaktiven und metaphorischen
Dichte kollektive Orientierungen der Gruppe bzw. des jeweiligen Milieus
besonders prägnant, lebhaft oder elaboriert zum Ausdruck bringen (vgl.
BOHNSACK 2007, S.123f.). [4]
2. Ausgewählte Felder der Forschungspraxis
Die Herausgebenden organisieren die Beiträge der insgesamt 19 AutorInnen
anhand von drei zentralen Forschungsfeldern (Kindheit, Jugend und Institutionen)
und schließen mit methodologischen Reflexionen und Vorschlägen zur
Weiterentwicklung der dokumentarischen Methode. Sympathischerweise finden
wir ausgeglichen weibliche und männliche Autor/innen sowie Beiträge von
wissenschaftlichem Nachwuchs in dem Buch, was auch ein Hinweis auf die
zunehmende Wichtigkeit, Akzeptanz und Dissemination der dokumentarischen
Methode ist. [5]
2.1 Kindheit: Handlungspraxis in Ritual und Spiel
Videografie und ein neues Interesse an Ritualen in den
Erziehungswissenschaften spielen in den beiden Beiträgen zu Handlungspraxen
der Kindheit eine Rolle. Iris NENTWIG-GESEMANN befasst sich dabei mit
Verständigungs-, Abstimmungs- und Gemeinschaftsbildungsprozessen im
Spielen, das den Kindern während der Diskussion ausdrücklich erlaubt ist
("Spielbegegnung", S.30) und ihnen eine Teilnahme an der Gruppendiskussion
erleichtert. Auf Basis des empirischen Materials gelingt der Autorin zweierlei:
Einerseits rekonstruiert sie kollektive Spielpraxis (hier am Beispiel des PokèmonSpielens) und leistet damit einen Beitrag zur Klassifikation der Spielpraxis, wenn
sie diese in "regelgeleitete, habituelle und aktionistische Spielpraxis" strukturiert.
Die Videodokumentation eröffnet darüber hinaus neue methodologische
Möglichkeiten und Fragen: so ist es zusätzlich zu den bereits erwähnten
dramaturgischen Höhepunkten des Gesprächs – den Fokussierungsmetaphern –
auch möglich, "Fokussierungsakte" ins Zentrum der Analyse und damit die
konjunktiven habitualisierten kulturellen Neuschöpfungen von Kindern (im
Kontrast zur Frage nach Sozialisationswerten von Spielen) in den Vordergrund zu
rücken. [6]
Monika WAGNER WILLI trianguliert Videodokumentation, teilnehmende
Beobachtung und Gruppendiskussionen, um Übergangsritualen von
SchülerInnen und LehrerInnen von der Hofpause zum Klassenunterricht auf die
Spur zu kommen und damit "Mikrorituale einer alltäglichen Schwellenphase"
aufzudecken. WAGNER WILLI ortet vier verschiedene rituelle Muster des
"liminalen Herumtobens", von denen die "Peer Group im Klassenraum"
exemplarisch näher behandelt wird. Damit ist die Situation gemeint, in der die
SchülerInnen – bereits im Klassenraum angekommen – sich noch immer auf die
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"Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis " ( Bohnsack, Przyborski & Schäffer (2006)
konjunktive Erfahrung des gemeinsamen Spielens in der Pause beziehen, und es
in der Folge zu rituellen Schemata der Disziplinierung durch das pädagogische
Personal kommt. Interessant ist, dass durch die Gegenüberstellung von Videound Kommunikationsdokumentation eine Analyse von Handlungs- und
Kommunikationspraxen gelingen kann. Ein dergestalt einleuchtendes Plädoyer
für die Triangulation im Rahmen des rekonstruktiven Paradigmas ist ein Trost für
die Lesenden angesichts des dünnen theoretischen Erkenntnisgewinns: denn wir
erfahren eigentlich nicht mehr, als dass die Schwellenphase vom Spannungsfeld
der Vorder- und Hinterbühne, von Peer Group und Unterrichtssozialität bestimmt
ist, und dass so auch der schulische Alltag von konjunktiven kommunikativen
Ritualisierungen geprägt wird (vgl. S.54). [7]
2.2 Politische, ästhetische und berufliche Orientierungen
Es ist aus mehreren Gründen nicht verwunderlich, dass der zweite Teil des
Buches über politische, berufliche und ästhetische Orientierungen von
Jugendlichen die meisten Beiträge versammelt. Das steht grundsätzlich in
Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung von Gruppenbildungen (Peer
Groups) in der Jugendphase, für die die Gruppendiskussion eine naheliegende
Methode darstellt. Paul WILLIS hat sich diesen Umstand in seiner mittlerweile
klassischen Untersuchung "Learning to Labour" (1977) zunutze und damit die
"Group Discussion" auch für Cultural Studies fruchtbar gemacht. Er ortet in seiner
Studie eine "Gegenschulkultur" von Arbeiterjugendlichen, die ein wenig
meritokratisches System antizipieren und ihre Identität im Widerstand zum
kapitalistischen Erziehungssystem herausbilden. Er ist es auch, der neben
MANGOLD und POLLOCK der einzige "Riese" ist, auf dessen Schultern die
rekonstruktiv Forschenden dieses Bandes zu stehen beanspruchen und dessen
Arbeit sie daher als "bahnbrechend" beurteilen (S.10). Zudem hat auch
BOHNSACK selbst sich im Feld der Jugendforschung habilitiert (BOHNSACK
1998) und dabei die Entwicklung des Gruppendiskussionsverfahrens im
deutschsprachigen Raum entscheidend vorangetrieben (vgl. S.14). [8]
Ethnozentristische Orientierungen an Schulen im Stadt-Land Vergleich (Heinz
Hermann KRÜGER und Nicole PFAFF), Lernen von globalen Zusammenhängen
(Barbara ASBRAND), Statuspassagen junger Migrantinnen im Übergang von
Schule und Beruf (Karin SCHITTENHELM) und Computernutzung an der
Schnittstelle von Medien- und Sozialpädagogik (Stefan WELLING) stellen dabei
Forschungsfragen in den Mittelpunkt, die an eine breitere wissenschaftliche Debatte anschließen, aber dennoch Detailaspekte ausführlicher erhellen können. [9]
Neuland betritt Claudia STREBLOW, wenn sie die Gruppendiskussion als
Methode der Evaluationsforschung am Beispiel von Schulsozialarbeit nutzt.
STREBLOW kann – ebenfalls unter Verwendung von Videografie – zeigen, dass
Gruppendiskussionen in der Evaluationsforschung den analytischen Zugriff auf
explizite Bewertungen und den diesen zugrunde liegende Werthaltungen
erlauben, und kommt zu überraschenden Ergebnissen: In den
Gruppendiskussionen mit den jugendlichen "Usern" der Schulstation tritt klar die
entspannende "integrative Zwischenstellung" einer solchen Methode zu Tage, in
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"Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis " ( Bohnsack, Przyborski & Schäffer (2006)
der sich die SchülerInnen auch vom Aktionismus und der Anspannung des
Schulalltags erholen können. Das Personal der Schulstation wiederum fokussiert
eher auf die individualspezifischen und familiären Gründe für ein ("Fehl"-)
Verhalten in der Schule, welches dem Besuch in der Schulstation oft vorausgeht,
und lenkt damit eigentlich von innerschulischen Phänomenen, etwa dem
Verhalten des Lehrkörpers, ab (was m.E. ähnlich bedeutsam ist wie die
Ergebnisse von WILLIS seinerzeit). [10]
Wivian WELLERs interkulturell vergleichende Studie zu Hip-Hop Kulturen wirft
interessante Fragen zur methodischen Kontrolle interkulturellen Fremdverstehens
auf. Sie verwendet Gruppendiskussionen als Teil eines Methodenmix, wobei sie
in Sao Paolo schwarze Jugendliche und in Berlin türkische Jugendliche in den
Blick nimmt, dabei auch in unterschiedlichen Sprachen agierte und eine
Forschungswerkstatt zur methodischen Kontrolle der Interpretation eingerichtet
hat. (Wie bei SCHITTENHELM liegt dabei das Augenmerk auf der Explikation der
Methoden und nicht auf den Inhalten der Studie, deren Vermittlung KRÜGER &
PFAFF, ASBRAND und STREBLOW besser gelingt.) Die sehr unterschiedlichen
Fragestellungen treffen sich teils im Vergleich bildungsnaher und bildungferner
Milieus (ASBRAND, WELLING), wobei im Fall von WELLING auch die
Vernetzung der rekonstruktiven Forschung in Deutschland deutlich wird, da er
seine Studie als Vergleichsstudie zu einer Studie des Mitherausgebers
SCHÄFFER (2003) konzipierte. [11]
2.3 Handlungspraxis und Legitimation im organisatorischen und
gesellschaftlichen Kontext
In den Beiträgen zu Handlungspraxis und Legitimation im organisatorischen und
gesellschaftlichen Kontext eröffnet sich schließlich eine größere Vielfalt der
"Reize", die als Startimpuls für die Gruppendiskussionen eingesetzt werden
(eigentlich ganz in der Tradition des "Focussed Interview" bzw. des "Group
Interview" bei MERTON, FISKE und KENDALL 1956). So dienen etwa
Arbeitssituationsbeschreibungen – Fallvignetten – als Impuls zur Erforschung
moralischen Entscheidungsverhaltens in Jugendhilfeverbänden (Nadja
KUTSCHER) oder in ein dreistufiges Diskussionsdesign eingebettete fiktive
Kurzbiographien zur Belichtung des Leistungsprinzips als
Rechtfertigungskriterium sozialer Statuszuweisung (DRÖGE, NECKEL, SOMM).
Auch hier stehen die Erträge des methodischen Zuganges im Zentrum der Texte.
ERNST und MENSCHING präsentieren Auszüge aus größeren
Forschungsprojekten, in denen auch repräsentative Fragebogenerhebungen und
ergänzend zu den Gruppendiskussionen Leitfadeninterviews durchgeführt
wurden, wobei sie sich in ihren Ausführungen jedoch ganz im Sinne des
Buchtitels auf die Gruppendiskussionen konzentrieren. Anja MENSCHING gelingt
es, die Forschungspraxis von natürlichen Gruppen (im Unterschied zu künstlich
zusammengestellten Gruppen für Gruppendiskussionen) sinnvoll zu erweitern,
wenn sie am Beispiel der niedersächsischen Polizei gelebte Hierarchie mittels
natürlicher Diskussionsgruppen rekonstruiert, wobei hierarchie-homogene und
hierarchie-heterogene Gruppen kontrastiert werden. Frank ERNST nimmt sich
der gewerkschaftsnahen Freiwilligenarbeit an und bearbeitet auf Basis gut
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"Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis " ( Bohnsack, Przyborski & Schäffer (2006)
verständlicher Begriffsdefinitionen die Bedeutung des Begriffes "neues
Ehrenamt" in gewerkschaftsnahen Organisationen. Ausgangspunkt der
Untersuchung war die rückläufige Engagementquote in Verbänden, die im
Widerspruch zum gesamtgesellschaftlichen Anstieg des Ehrenamtes steht. In der
Tat findet er – außer bei den SeniorInnen – kollektive Orientierungen der
ehrenamtlich tätigen AkteurInnen vor, die sich als "selbstentfaltungsorientiertes
Engagement" (S.185) darstellen und sich damit auch vom betriebsorientierten
"alten" Ehrenamt im Sinne persönlicher Betroffenheit und sozialer Gesinnung
emanzipiert haben, worauf gewerkschaftliche Verbände nun auch reagieren
müssten. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die klassische
Frage nach dem Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und ehrenamtlichem
Engagement (die auch schon Motor der Marienthalstudie in den 1930er Jahren
war): Wenngleich als Motivation die Perspektive auf Erwerbsarbeit und die
Kompensationsfunktion von Ehrenamt aus den Gruppendiskussionen mit
Erwerbslosen rekonstruiert werden kann, zeigt sich empirisch ein nüchterneres
Bild. Erwerbslose engagieren sich dann ehrenamtlich – so der Autor – wenn sie
schon während ihrer Erwerbstätigkeit bürgerschaftlich tätig waren, und geben
auch häufig ihr Engagement in der Erwerbslosigkeit auf. [12]
3. Methodische Reflexionen
In den abschließenden allgemeinen methodischen Reflexionen liefert Burkhard
MICHEL in seiner Bildrezeptionsforschung nicht nur einen Beitrag zur
dokumentarischen Methode, sondern auch zur visuellen Soziologie und gibt den
Blick frei auf Interpretationsprozesse und milieuspezifische Sinnbildungsprozesse
beim Betrachten von Bildern. Ralf BOHNSACK und Iris NENTWIG-GESEMANN
beschäftigen sich mit Gruppendiskussionen in der Evaluationsforschung
(allerdings ohne Bezugnahme auf den im Band präsentierten Beitrag von
STREBLOW zum Thema). Fragestellungen der interkulturellen Kommunikation
(Arnd-Michael NOHL) und das Analyseverfahren der "Diskursorganisation" (Ralf
BOHNSACK und Aglaja PRZYBORSKI) werden mit hoher verbaler Komplexität
ausbuchstabiert. Der Beitrag zur Diskursorganisation bietet eine interessante
methodische Weiterentwicklung des Gruppendiskussionsverfahrens, denn:
"In diesem zirkulären Wechselspiel von formaler Diskursorganisation und inhaltlicher
Semantik im Vollzug der dokumentarischen Interpretation von Gruppendiskussionen
lag der Fokus zumeist auf der Explikation des inhaltlichen, semantischen,
dokumentarischen Sinngehaltes. Die Rekonstruktion der (formalen)
Diskursorganisation bleibt als Mittel zum Zweck auf ihren instrumentellen Charakter
reduziert" (S.235f.). [13]
PRZYBORSKI hat hier bereits Vorarbeit geleistet, diese Lücke zu füllen, und sie
stellt mit BOHNSACK drei Modi der Diskursorganisation vor, mit denen sich in der
Auswertung von Gruppendiskussionen ebenfalls konjunktive Erfahrungsräume
und deren Grenzen ausmachen lassen. Der univoke Modus ("Einer für alle, alle
für einen"), der antithetische Modus ("Wer weiß es besser?") und der divergente
Modus ("Mind the gap") werden dabei zu Analyseinstrumenten von Milieus, die
einen rekonstruktiven Zugang zum Forschungsfeld ermöglichen, da – die
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"Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis " ( Bohnsack, Przyborski & Schäffer (2006)
Diskursorganisation fokussierend – die forschungsleitenden Hypothesen bei der
Interpretation nicht unterstellt werden müssen. [14]
Einen speziell für Lehrende interessanten Beitrag liefert Burkhard SCHÄFFER,
wenn er eine "rekonstruktive Didaktik qualitativer Forschung" (vgl. S.290)
entwickelt. Im rekonstruktiven Paradigma qualitativer Forschung kann die Praxis
der Lehre nicht von der Forschungspraxis getrennt werden; insofern bedeutet die
Interpretationskompetenz auch die Ausbildung eines entsprechenden Habitus auf
Seiten der Studierenden. SCHÄFFER benutzt hier die bewährte Differenzierung
von theoretisch-explizitem und handlungspraktisch-implizitem, d.h. habituellem
Wissen und stellt fest:
"Um eine Gruppendiskussion interpretieren zu können (und nicht nur prinzipiell
theoretisch zu wissen wie das geht), bedarf es des zweiten Typus
handlungspraktischen Wissens oder anders formuliert: Es bedarf der Entwicklung
von handlungspraktischem Wissen, das sich in Interpretationskompetenz
niederschlägt, die sich dann in entsprechender Interpretationsperformanz bzw.
angemessenem Interpretationshandeln dokumentiert" (S.289). [15]
SCHÄFFER lässt sich als Lehrender insofern selbst über die Schulter schauen
und wählt selbsterfahrungsbezogene praktische Zugänge zum Thema Gruppendiskussion, was in der Explikation eines Seminarverlaufs aus der eigenen Lehrpraxis deutlich wird. Es geht ihm um die Etablierung einer Interpretationskultur
("forschungspraktischer Habitus", S.289), in der sich ein rekonstruktiver Blick auf
den jeweiligen Text entwickeln kann, und der in der Lage ist, vor allem die Ebene
des Impliziten in Gruppendiskussionen herauszuarbeiten. [16]
4. Resümee
Das Buch besticht durchaus durch die beispielhafte Einbeziehung von
Transkriptdaten in jedem Beitrag, die die Vorgehensweise und
Interpretationsleistung der Forschenden transparent machen und die teils
sperrige Terminologie und hohe sprachliche Komplexität der dokumentarischen
Methode veranschaulichen (wenngleich die Beigabe von Transkriptionsregeln im
Anhang etwas seltsam anmutet, da sie in der überwiegenden Anzahl an Fällen
nicht mit den in den Aufsätzen verwendeten Transkriptionsregeln
korrespondieren). [17]
In vielen Beiträgen wird die methodische Vorgehensweise erfreulicherweise
besonders deutlich, wenn die AutorInnen im Sinne einer formulierenden
Interpretation die Ausschnitte aus der Empirie zuerst thematisch
zusammenfassen und erst dann zu reflektierender Interpretation übergehen. Im
Sinne dieser Forschungspraxisnähe und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse ist
die Publikation ein echter Gewinn für Lehrende und Studierende. [18]
Das Faktum, dass im vorliegenden Band auch aus laufenden
Forschungsprojekten berichtet wird, hat allerdings zur Folge, dass in einigen
Beiträgen eine Verknüpfung der Methodenexplikation mit Inhalten und
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Ergebnissen nur unzureichend gelingt, wenngleich die verschiedenen Ansätze
zur Triangulation quantitativer und qualitativer Daten als gleichwertige
Erhebungsschritte (z.B. KRÜGER & PFAFF oder ERNST) oder auch die
Einbeziehung von Bildinterpretation (wie sie ja auch in BOHNSACK 2007, Kapitel
9 gefordert wird) eine Bereicherung der deutschsprachigen Forschungsliteratur
darstellen. [19]
Insgesamt macht sich allerdings von der ersten bis zur letzten Seite ein schaler
Beigeschmack bemerkbar, den eine einfache Zitationsanalyse greifbarer macht:
Von allen in den Beiträgen genannten Literaturverweisen bezieht sich rund ein
Fünftel auf den Mitherausgeber Ralf BOHNSACK; alle AutorInnen des Bandes
machen ein ganzes Drittel der genannten Literaturangaben aus (33%). Das ist
einerseits eine klare Positionierung, andererseits kann aber eine breitere
historische Einbettung der Methode "Gruppendiskussion" im internationalen
Kontext der Sozialwissenschaft nicht gelingen bzw. wurde hier offenbar nicht
intendiert. So fehlen beispielsweise Hinweise auf die amerikanische
Marktforschung der 1920er Jahre (vgl. LITTIG & WALLACE 1997, S.1) oder auf
Kurt LEWIN, der bereits in den 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts die
Methode im Zusammenhang mit sozialpsychologischen
Kleingruppenexperimenten in die Sozialwissenschaft einführte (vgl. LAMNEK
2005, S.409), und auf Robert K. MERTON (mit FISKE & KENDALL 1956, 1987).
Die Rezeption von international bedeutsamen früheren Ansätzen bleibt auf die
Arbeiten von WILLIS beschränkt. [20]
Wir würden MERTON unrecht tun, würden wir ihn hier als "Vater" der
Gruppendiskussion darstellen, der er selbst nie sein wollte. Wenn er (1987) die
frühen Anfänge der Gruppendiskussion reflektiert, erzählt er im Gegenteil wie er
1941 von Paul LAZARSFELD in diese Methode eingeführt wurde und verweist
auf die Arbeiten von Frank STANTON. MERTONs und LAZARSFELDs
Verständnis der "Focus Group" ist zweifelsfrei an der quantitativen
Datenauswertung interessiert; sie verwenden Gruppendiskussion als
hypothesengenerierendes Instrument für weiterführende Surveyforschung. Diese
Anwendung basiert insoweit auf einer anderen methodologische Begründung,
von der sich die dokumentarische Methode abgrenzt. Es darf allerdings
verwundern, dass wir in diesem Buch bei DRÖGE, NECKEL und SOMM in ihrem
Bericht über ein DFG-Projekt des Instituts für Sozialforschung Frankfurt/Main
erfahren, dass "die Methode der Gruppendiskussion ursprünglich am Institut für
Sozialforschung entwickelt worden [ist]" (S.204). Es scheint hier etwas passiert
zu sein, das MERTON (1987, S.564) zwar an anderer Stelle entwickelt, aber
treffenderweise gerade auch im Kontext der Geschichte der Gruppendiskussion
mit seinem Konzept der "Obliteration by incorporation" bezeichnet hat:
"For in the course of time, ideas which are taken up and utilized or developed
become so much part of current knowledge, both explicit and tacit, that their sources
and consequently the lines of intellectual continuity get increasingly lost to view …
and since, in all innocence, many of us tend to attribute a significant idea, method, or
formulation to the author who introduced us to it. The equally innocent transmitter
becomes identified as the originator". [21]
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FQS 8(3), Art. 12, Rezension Daniela Jauk:
"Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis " ( Bohnsack, Przyborski & Schäffer (2006)
Jedoch: Nicht nur die nicht-deutschen Urgroßeltern der Gruppendiskussion sind
"durch die Literaturlisten" und somit auch aus dem Buch gefallen. Auch
LEITHÄUSER und VOLMERG (1977, 1988), die sich zwar im Rahmen des
interpretativen Paradigmas – von dessen Oberflächensemantik und
Situationsspezifik sich die dokumentarische Methode abzugrenzen sucht –
systematisch theoretisch und empirisch mit dem Gruppendiskussionsverfahren in
Deutschland auseinandergesetzt haben, suchen wir in diesem Band vergeblich.
Das ist letztlich aber wiederum verständlich, da in diesem Buch das
Gruppendiskussionsverfahren in rekonstruktiver Forschungspraxis expliziert und
weiterentwickelt werden soll, auch wenn in dieser Hinsicht der Titel andere
Assoziationen wecken mag. [22]
Fazit: Wenn Sie …
… rekonstruktive Sozialforschende sind und mit Gruppendiskussionen arbeiten
wollen, dann brauchen Sie dieses Buch.
… ein Buch suchen, das Sie über aktuelle deutschsprachige Forschungen in der
Tradition der dokumentarischen Methode nach Ralf BOHNSACK informieren soll
und das zwischen den Zeilen auch Auskunft über das damit zusammenhängende
ForscherInnennetzwerk gibt; auch dann: Greifen Sie zu.
… sich für Kontext und Geschichte von Gruppendiskussionen in einem größeren
Zusammenhang interessieren, werden Sie eher enttäuscht sein. [23]
Literatur
Bohnsack, Ralf (1989). Generation, Milieu und Geschlecht. Ergebnisse aus Gruppendiskussionen
mit Jugendlichen. Opladen: Leske + Budrich.
Bohnsack, Ralf (2007). Rekonstruktive Sozialforschung (6. Auflage). Opladen: Barbara Budrich.
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29. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/4-02/4-02review-fiedler-d.htm
[Datum des Zugriffs: 28.12.2006].
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was ein Einführungstext in qualitative Methoden bringen soll. Rezensionsaufsatz zu: Ralf Bohnsack
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[On-line Journal], 2(2), Art. 13. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-01/201review-koelbl-d.htm [Datum des Zugriffs: 28.12.2006].
Kreuzer, Michael (2001, Mai). Rezension zu: Ralf Bohnsack (2000). Rekonstruktive
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Lamnek, Siegfried (2005). Qualitative Sozialforschung (4.Auflage). Weinheim: Beltz.
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Leithäuser, Thomas; Volmerg, Birgit; Salje Gunter, Volmerg, Ute & Wutka, Bernhard (1977).
Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
© 2007 FQS http://www.qualitative-research.net/fqs/
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"Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis " ( Bohnsack, Przyborski & Schäffer (2006)
Littig, Beate & Wallace, Claire (1997). Möglichkeiten und Grenzen von Fokusgruppendiskussionen
für die sozialwissenschaftliche Forschung. Wien: IHS, Reihe Soziologie Nr. 21. Verfügbar über:
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Zur Autorin
Mag. Daniela JAUK, geb. 1974, ist
Projektmitarbeiterin (http://www.anovasofie.net/)
und Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie
Graz. Forschungsschwerpunkte sind Frauen- und
Geschlechterforschung, qualitative Methoden,
politische Soziologie und Berufssoziologie. Ein
Fulbright-PhD Stipendium in den USA ab August
2007 und eine Dissertation ist im Bereich
Soziologie zeitgenössischer Kunst & Gender
Studies geplant.
Kontakt:
Mag. Daniela Jauk
Institut für Soziologie
Karl Franzens Universität Graz
Universitätsstrasse 15/G4
8010 Graz
Österreich
Tel.: 0043 316 380 7414
Fax: 0043 316 380 9515
E-Mail: dani.jauk@uni-graz.at
URL: http://www.divanova.net/
Zitation
Jauk, Daniela (2007). Rezension zu: Ralf Bohnsack, Aglaja Przyborski & Burkhart Schäffer (Hrsg.)
(2006). Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis [23 Absätze]. Forum Qualitative
Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(3), Art. 12, http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0703125.
© 2007 FQS http://www.qualitative-research.net/fqs/