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Kuriose Tradition : Warum bauen die Schweizer so viele Bunker? - Nachrichten Politik - Ausland - DIE WELT 06.12.13 06:23 6. Dez. 2013, 12:22 Diesen Artikel finden Sie online unter http://www.welt.de/13481396 12.07.11 Kuriose Tradition Warum bauen die Schweizer so viele Bunker? 300.000 Bunker gibt es bereits in der Schweiz – mit mehr Plätzen als Einwohner. Und nach Fukushima errichten die Schweizer noch mehr Schutzanlagen. Von Konrad Putzier Foto: Picture-Alliance/KEYSTONE/KEYSTONE Als Silvia Berger ein kleines Mädchen war, bewahrte ihre Mutter die Marmeladengläser hinter einer schweren Tresortür und dicken Betonwänden auf. Jedes Mal, wenn die Mutter sie nach einem Glas schickte, musste sie all ihren Mut zusammennehmen und sich in den dunklen, bunkerähnlichen Raum im Keller des Hauses wagen. Dort waren die Lebensmittel der Familie Berger an kahlen, feuchten Wänden aufgereiht. Dabei war es nicht so, dass die Marmelade der Familie Berger sonderlich wertvoll gewesen wäre. Es gab auch keine akute Lebensmittelknappheit. Was grotesk klingt, ist normal in einem Land, in dem jedes Haus ab einer gewissen Größe laut Gesetz einen Schutzraum haben muss. Wer kein leeres Zimmer im Haus haben will, der nutzt seinen Schutzraum eben als Abstellkammer, Werkstatt oder Geräteschuppen. Für die Schweizer gehört der Schutzraum genauso zum Alltag wie das Wohnzimmer oder die Garage. Heute ist Silvia Berger Historikerin und erforscht die Geschichte des Schweizer Bunkerbaus. "Die Schutzräume sind Teil unserer Identität geworden", sagt sie. Angst lässt sich in Quadratmetern messen Die Angst der Schweizer lässt sich in Quadratmetern messen. Mehr als 300.000 Schutzräume gibt es in der Eidgenossenschaft. In einem Land, das nur 7,6 Millionen Einwohner hat, bieten sie Platz für 8,6 Millionen Menschen. Nun sollen noch mehr hinzukommen. http://www.welt.de/politik/ausland/article13481396/Warum-bauen-die-Schweizer-so-viele-Bunker.html?config=print Page 1 of 4 Kuriose Tradition : Warum bauen die Schweizer so viele Bunker? - Nachrichten Politik - Ausland - DIE WELT 06.12.13 06:23 Eigentlich hatte der Schweizer Nationalrat am 9. März dieses Jahres beschlossen, dass die Schutzräume 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges nicht mehr gebraucht würden. Doch zwei Tage später brach die Atomkatastrophe in Fukushima (Link: http://www.welt.de/themen/Fukushima/) aus. Neue Schutzräume bauen Bei den Schweizern machte sich Angst breit, und das Parlament revidierte seine Entscheidung. Während sich die deutsche Regierung hastig in den Atomausstieg (Link: http://www.welt.de/themen/Atomdebatte/) stürzte, entschied der Schweizer Nationalrat Anfang Juni, die Schutzraumpflicht nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern sogar neue Schutzräume bauen zu lassen. Damit lebt eine kuriose Tradition wieder auf. Wer einen Schweizer fragt, ob er einen Schutzraum habe, der wird angeguckt, als habe man gefragt, ob er denn Luft atme. Selbstverständlich! Schutzräume gehören zur Schweiz wie Käse, Uhren und Schokolade. Es gibt sie in jeder Gemeinde. Manche sind klein, unscheinbar in den Kellern von Einfamilienhäusern. Andere sind regelrechte Bergfestungen, die Hunderte Betten beherbergen. Schwere Tresortüren sind obligatorisch Für alle gelten strenge Sicherheitskriterien. Schwere Tresortüren sind obligatorisch, ebenso Betonwände von mindestens einem halben Meter Dicke. Wirklich heimelig sind die wenigsten. Kahle, untapezierte Wände, grelles Neonlicht, Lüftungsrohre an der Decke. Oft stehen die eisernen Hochbetten der Schweizer Armee darunter. Der Bunker aber weckt bei den meisten Schweizern positive Assoziationen. "Wenn die Deutschen das Wort Schutzraum hören, denken sie an Krieg und Verschüttung. Doch wir Schweizer mögen den Untergrund, spätestens seit dem Bau des Gotthard-Tunnels", sagt Berger. Viele leere Schutzräume Viele Schutzräume stehen leer, doch die meisten privaten Schutzräume werden genutzt. Einige sind zu Musikräumen umgewidmet worden, andere dienen als Asylantenheime. Die Gemeinde Sevelen im Kanton St. Gallen musste Anfang der 90er-Jahre einen umgerechnet knapp drei Millionen Euro teuren kommunalen Schutzraum bauen. Schuld daran war das Schweizer Zivilschutzgesetz aus dem Jahr 1963. Es besagt, dass jeder, der keinen Schutzraum im Haus haben will, eine Gebühr bezahlen muss. Im Gegenzug ist die Gemeinde verpflichtet, einen Platz in einem kommunalen Schutzraum zu schaffen. Schnell sah sich die Gemeinde mit hohen Hypothekenzahlungen konfrontiert. Also wandte sie sich an die Künstler Frank und Patrik Riklin mit dem Auftrag, ein Konzept für die Nutzung des Bunkers zu entwickeln. Neuer Bunker – keine wirkliche Funktion "Es war absurd. Jeder wusste, dass dieser nagelneue Bunker überhaupt keine wirkliche Funktion hatte, da es ja überhaupt keine Kriegsgefahr mehr gab", erinnert sich Frank Riklin. Im Jahr 2008 schufen die Konzeptkünstler in dem 300-Betten Bunker das erste "Null-SternHotel" der Welt. Sie ersetzten die Armeeeinrichtung mit ausrangierten Biedermeier-Betten aus stillgelegten Luxushotels, das neue Hotel kostete die Gemeinde keinen Franken. Auch andere Gemeinden kamen auf kreative Ideen: In Trogen (Kanton Appenzell Ausserrhoden) ist der kommunale Schutzraum nun Magazin der Kantonsbibliothek. Die geringen Temperaturschwankungen im Schutzraum sind ideal für das Archiv. Doch sowohl Hotel als auch Bibliothek müssen sich im Notfall innerhalb von 24 Stunden komplett leerräumen lassen, so sieht es das Zivilschutzgesetz vor. Ganz leicht machen die Schweizer Behörden die Umnutzung also nicht. http://www.welt.de/politik/ausland/article13481396/Warum-bauen-die-Schweizer-so-viele-Bunker.html?config=print Page 2 of 4 Kuriose Tradition : Warum bauen die Schweizer so viele Bunker? - Nachrichten Politik - Ausland - DIE WELT 06.12.13 06:23 Ein Barometer der globalen Panik Die Geschichte der Schweizer Schutzräume liest sich wie ein Barometer der globalen Panik. 1950 entschied das Schweizer Parlament, neue Schutzräume zu bauen. Nur Monate vorher hatte der erste erfolgreiche Atombombentest der Sowjetunion die Schreckensvision eines Atomkrieges heraufbeschworen. 1963 wurde die Schutzraumpflicht eingeführt, kaum ein Jahr, nachdem die Welt während der Kubakrise nur knapp an einer neuerlichen Weltkrise vorbeigeschrammt war. Am 6. Juni 2011 befand der Nationalrat, dass Schutzräume auch im 21. Jahrhundert ihren Platz haben sollten – als Reaktion auf die in Fukushima offengelegte Unsicherheit der Atomkraft. Seinen Ursprung hat der Mythos Schutzraum im Zweiten Weltkrieg. Damals verschanzte sich die Schweizer Armee in einem System von Bergfestungen, dem sogenannten Réduit. "Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Schweizer das Gefühl, dass ihr Land verschont worden war, weil sich ihre Soldaten in das Réduit zurückziehen konnten", sagt Berger. Ein Gefühl der Sicherheit Dieser Mythos erkläre, warum die Schutzraumpflicht während des Kalten Krieges immer von der Bevölkerung unterstützt wurde. Sie gab den Schweizern ein Gefühl der Sicherheit in einer immer gefährlicher werdenden Welt, ein Réduit für ein ganzes Volk, das bis heute zehn Milliarden Euro gekostet hat. In Filmen warb die offizielle Propaganda mit dem Murmeltier für die Schutzraumpflicht. Der kleine Nager verschwindet bei Gefahr unter der Erde. Eine Taktik, die sich seit Jahrtausenden gegen Steinadler bewährt hat, müsse schließlich auch gegen sowjetische Atomraketen funktionieren. Mehrere Generationen sind seitdem mit den Schutzräumen aufgewachsen. Silvia Berger verbrachte mit ihrem Pfadfinderlager ganze Nächte in Schutzräumen. Doch die Schweizer Bunkerverliebtheit endete mit dem Zerfall des Ostblocks. Immer mehr Schweizer gaben an, dass sie die Schutzräume eigentlich für überflüssig hielten – insofern überraschte die Parlamentsentscheidung vom 9. März dieses Jahres niemanden. Fukushima änderte alles. Nun sind viele Schweizer, vor allem junge, wieder froh, dass sie ihre Schutzräume haben. Fukushima als Warnung "Fukushima hat uns gezeigt, dass Kernkraftunfälle auch in westlichen Ländern passieren können", sagt Bruno Frick von der bürgerlichen Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP). Frick hat im Ständerat, dem Unterhaus des Schweizer Parlaments, gegen die Abschaffung der Schutzraumpflicht gestimmt. Denn bei einem Reaktorunfall ist die Strahlung in einem Schutzraum 500 Mal geringer als außerhalb. Doch er denkt noch weiter, sieht eine Gefährdung nicht nur durch einen Reaktorunfall, sondern auch durch Unwetter oder Erdbeben. Solche Katastrophen seien in letzter Zeit wahrscheinlicher geworden. "Ein Schutzraumplatz kostet zwar 2000 bis 3000 Franken, aber wir müssen uns fragen, was uns unsere Sicherheit wert ist", meint Frick. Verteidigungsminister Ueli Maurer ist gleicher Meinung und begründet den Bedarf an Schutzräumen zusätzlich mit der Gefahr, dass Atomwaffen in die falschen Hände geraten könnten. "Nicht mehr das richtige Konzept" Franziska Teuscher ist anderer Meinung: "Die Schutzräume sind nicht mehr das richtige Konzept", sagt die Nationalrätin und Vizepräsidentin der Schweizer Grünen. Sie schützten zwar vor einem Bombenangriff, seien aber nicht geeignet für einen Reaktorunfall. "Man kann ja nicht monatelang im Schutzraum bleiben", so Teuscher. http://www.welt.de/politik/ausland/article13481396/Warum-bauen-die-Schweizer-so-viele-Bunker.html?config=print Page 3 of 4 Kuriose Tradition : Warum bauen die Schweizer so viele Bunker? - Nachrichten Politik - Ausland - DIE WELT 06.12.13 06:23 Sie fordert lieber gleich einen schnellen Atomausstieg. Denn parallel zur Debatte über die Schutzräume diskutiert die Schweiz auch über die Atomkraft. Zwar hat das Parlament grundsätzlich den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen, doch der Zeitplan ist weitaus weniger ambitioniert als der der Deutschen Bundesregierung. "Mit den Schutzräumen ist es wie mit dem Militär" Hannes Hänggi vom Eidgenössischen Nuklearinspektorat bemängelt, dass es keinen Evakuierungsplan für den Notfall gibt. "Die Schutzräume sind ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg und nicht unbedingt die beste Antwort auf einen Reaktorunfall." Insgesamt spricht also wenig für den Bau neuer Schutzräume. Und doch scheint es so, als sei die Zukunft der Schutzräume zumindest für die nächsten 50 Jahre gesichert. "Mit den Schutzräumen ist es wie mit dem Militär", sagt die GrünenPolitikerin Teuscher, "es werden für beide nicht immer rationale Argumente hervorgebracht." Ausdruck der Schweizer Mentalität Die Schutzraumpflicht ist auch Ausdruck der Schweizer Mentalität: "Wir haben nun einmal ein enormes Sicherheitsbedürfnis", sagt der Künstler Frank Riklin. "Wir Schweizer schützen uns vor allem, das um uns herum ist, weil wir Angst davor haben, unsere Eigenheit zu verlieren. Die Schweiz als Land ist heute wie ein einziger riesiger Schutzraum." Ein Gesetz lässt sich zwar schnell ändern, aber mit der Identität und dem Selbstverständnis eines ganzen Volkes ist es schon etwas schwieriger. "Solange es immer neue Gefahren gibt, wird es auch weiter Schutzräume in der Schweiz geben", prognostiziert Silvia Berger. Die Schutzräume, einst Symbole des Kalten Krieges, sind zum Ausdruck einer neuen Welle der Angst geworden. Und Schweizer Mütter werden wohl auch in Zukunft ihre Kinder in den Bunker schicken, wenn sie ein Glas Marmelade brauchen. © Axel Springer SE 2013. Alle Rechte vorbehalten http://www.welt.de/politik/ausland/article13481396/Warum-bauen-die-Schweizer-so-viele-Bunker.html?config=print Page 4 of 4