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Marcel Krebs · Roger Mäder Tanya Mezzera Hrsg. Soziale Arbeit und Sucht Eine Bestandesaufnahme aus der Praxis Soziale Arbeit und Sucht Marcel Krebs · Roger Mäder Tanya Mezzera Hrsg. Soziale Arbeit und Sucht Eine Bestandesaufnahme aus der Praxis Hrsg. Marcel Krebs Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW Olten, Schweiz Roger Mäder Forum Suchtmedizin Ostschweiz FOSUMOS St.Gallen, Schweiz Tanya Mezzera Suchthilfe ags, Suchtberatung ags Lenzburg, Schweiz ISBN 978-3-658-31993-9 ISBN 978-3-658-31994-6 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6 (eBook) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en) 2021. Dieses Buch ist eine Open-Access-Publikation. Open Access Dieses Buch wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Buch enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Das Kapitel Raus aus der Isolation durch soziale Integration wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 3 Tabellenverzeichnis ........................................................................................... 4 Grusswort Verstehen, verbinden, vorausschauen. Soziale Arbeit und Sucht aus nationaler Perspektive ....................................................................... 5 Mirjam Weber Vorwort Soziale Arbeit in der Suchtprävention und Suchthilfe der deutschsprachigen Schweiz .......................................................................... 11 Toni Berthel Vorwort Sucht ist (auch) ein soziales Problem .......................................................... 17 Simone Gremminger Einleitung ......................................................................................................... 21 Marcel Krebs, Roger Mäder, Tanya Mezzera Arbeitsfeld Prävention Soziale Arbeit in der Suchtprävention – eine Suche................................ 39 Martina Buchli Arbeitsfeld Ambulante Beratung Eine Selbstverständlichkeit: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchtberatung und Therapie ........................................................................ 55 Ruth Rihs Arbeitsfeld Entzug und Entwöhnung Stationärer Entzug, der Start in ein suchtfreies Leben?........................... 75 Markus Kaufmann Arbeitsfeld Teilstationäre Therapie Soziale Arbeit: Eine wichtige Profession in der suchtmedizinischen Tagesklinik ...................................................................................................... 87 Rahel König‐Hauri Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie Soziale Arbeit: Dreh‐ und Angelpunkt der stationären Suchttherapie 97 Peter Forster, Fabian Müller, Michel Villard Arbeitsfeld Betreutes Wohnen Soziale Arbeit in einem stationären therapeutischen Reintegrationsprogramm ............................................................................ 113 Fabienne Bingler, Hans Peter Engler Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration Raus aus der Isolation durch soziale Integration ................................... 127 Andrea Kaspar, Stefan Leimgruber Arbeitsfeld Arbeitsintegration Soziale Teilhabe durch Arbeitsintegration .............................................. 143 Martin Stalder, Karin Stoop Arbeitsfeld Opioidagonistische Therapie Soziale Arbeit als unverzichtbarer Bestandteil in der Opioidagonistischen Therapie ................................................................... 157 Regula Hälg Arbeitsfeld Aufsuchende Soziale Arbeit Aufsuchende Soziale Arbeit als sozialräumliche und lebensweltorientierte Schadensminderung ............................................. 175 Mathias Arbogast Arbeitsfeld Niederschwellige Arbeit Von umstrittenen Pionierprojekten zum Erfolgsmodell ...................... 193 Franziska Schicker, Natascha Inauen Arbeitsfeld Nightlife Soziale Arbeit, nach acht ............................................................................. 209 Alexander Bücheli Arbeitsfeld Intervention und Prävention im öffentlichen Raum Die SIP der Stadt Luzern als Akteurin der vermittelnden Sozialarbeit .................................................................................................... 231 Christina Rubin, Lucia Sidler Arbeitsfeld Bewährungshilfe Soziale Arbeit bei der Bewährungshilfe ‐ von Wünschen und Realitäten........................................................................................................ 249 Carolin Ospelt, Marcel Müller Soziale Arbeit in der Suchthilfe der französischsprachigen Schweiz Über die Krankheit hinaus: die Rückkehr der Sozialen Arbeit ........... 261 Jean‐Félix Savary, Ann Tharin, Romain Bach, Cédric Fazan, Hervé Durgnat, Cédric Periard Gedanken zur Reflexion Soziale Arbeit als massgebliche Kraft in der interprofessionellen Suchthilfe? ..................................................................................................... 279 Peter Sommerfeld Anhang1 Leitfaden, Orientierung und Ideengeber für die Beschreibung der Arbeitsfelder Anhang 2 Reviewerinnen und Reviewer der Beiträge Abbildungsverzeichnis Gesundheitsdeterminanten ............................................................................ 47 Chancengerechte Gesundheitsförderung ..................................................... 49 Grundsätze der Beratungs‐ und Therapiepraxis der Berner Gesundheit 68 Integrierte Suchtbehandlung Suchthilfe Region Basel ............................. 122 Stufenmodell Integration .............................................................................. 134 Das Lebensführungssystem ......................................................................... 291 Idealtypische Gestalt einer lebensverlaufsbezogenen Sozialen Arbeit, Wandel des Lebensführungssystems als handlungsleitendes Ziel der Sozialen Arbeit ............................................................................................... 297 Systematik des Interventionsmethoden‐Pools........................................... 298 Tabellenverzeichnis Nightlife‐Präventionsangebote in der Schweiz 2020 ................................ 222 Strukturelle Prävention im Schweizer Nachtleben ................................... 223 Sozialräumliche Ansätze im Schweizer Nachtleben ................................. 225 Verstehen, verbinden, vorausschauen. Soziale Arbeit und Sucht aus nationaler Perspektive Mirjam Weber1 Leiterin Nationale Strategie Sucht, Bundesamt für Gesundheit 1. Soziale Arbeit? Ausgerechnet Sucht? Die tiefe Überzeugung, dass es uns nur dann gut gehen kann als Gesell‐ schaft und Staat, wenn für das Wohlergehen und für Perspektiven auch für die Verletzlichen unter uns gesorgt ist, brachte mich zur Sozialen Ar‐ beit. Die Präambel unserer Bundesverfassung beinhaltet, dass «…die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen» – diesem Grund‐ wert mit Taten zu folgen, motiviert mich auch heute noch täglich. Die The‐ matik Sucht zieht sich durch meinen beruflichen Werdegang. Dies ist dem Bewusstsein geschuldet, dass Brüche in der Biographie, Situationen der lähmenden Überforderung, oder nagende Sorgen bei den allermeisten von uns früher ohader später zumindest phasenweise zur Realität werden. Und dass Sucht – so erfuhr ich es in unzähligen Beratungsgesprächen und Begegnungen, aber auch im Austausch mit den in der Suchtarbeit tätigen Fachpersonen – eine mögliche Reaktion auf solche Belastungen sein kann. Eine Suchterkrankung nimmt das familiäre und soziale und berufliche Umfeld von Betroffenen ein, betrifft oft bald die finanzielle Sicherheit und zieht gesundheitliche Probleme, oft auch Stigmatisierung und Erfahrun‐ gen von Ausgrenzung nach sich. In der Suchtarbeit tätig zu sein heisst, mit unterschiedlichsten Menschen, in fast allen Bereichen des Alltags in Be‐ rührung zu kommen. Ich erinnere mich an die Stärke der 18‐Jährigen Lu‐ isa, die als Kind einer schwer heroinabhängigen Mutter schon früh selb‐ ständig wurde und in der Beratung jene Gespräche suchte, die sie ihrer 1 MSc in Sozialer Arbeit. 6 Grusswort Mutter nicht auch noch zumuten wollte. An Frau Straub, bei der der Dro‐ genkonsum nebst psychischen Problemen und Gewalterfahrungen nicht das Problemfeld war, das primär behandelt werden musste – hier war vor allem Stabilität und weniger Beschaffungsstress wichtig. Auch an Herrn Murati, dessen Kokainkonsum zwar von seinem Arbeitgeber, einem grös‐ seren Spital, bisher unbemerkt blieb, der aber selbst darunter litt, dass der Konsum seinen Alltag je länger je mehr strukturierte. Brüche in Biographien zum Thema zu machen oder sie als zum Leben zugehörig zu betrachten, genauso aber ein besonderes Augenmerk dem potentiell Stärkenden – nicht nur beim Individuum, sondern auch in den ihm umgebenden Strukturen – gelten zu lassen, gehört für mich zu den zentralen Aufgaben der Sozialen Arbeit. Gerade im Bereich der Suchthilfe. 2. Verstehen «Du arbeitest in der Verwaltung? Fehlt dir nicht die Praxis? Ist dir das nicht zu unkonkret? Die Lebenswelt der Klientinnen, Adressaten oder Pa‐ tienten wird dir fern sein…» Nicht selten bin ich mit solchen Fragen und Vorurteilen konfrontiert. Als ich den Schritt vom Beratungszimmer der Ju‐ gend‐, Eltern‐ und Suchtberatungsstelle zuerst in die Kantons‐ und später in die Bundesverwaltung machte, war es nie eine Bewegung weg von den Themen, die mich zur Sozialen Arbeit geführt hatten. Es war die Überzeu‐ gung, dass das Rüstzeug aus meinem Studium sich auch für steuernde o‐ der strategische Tätigkeiten eignet, um komplexe soziale Situationen zu verstehen und mit unterschiedlichsten Anspruchsgruppen zu arbeiten. 3. Verbinden Auf Bundesebene bedeutet Soziale Arbeit im Suchtbereich insbesondere, an den Schnittstellen unterschiedlicher Themenbereiche und organisatio‐ naler Einheiten tätig zu sein. Das Grundthema der Sozialen Arbeit, die Teilhabe der Adressatinnen und Adressaten am sozialen Leben, steht da‐ bei im Zentrum – ganz egal, auf welcher strukturellen Ebene man tätig ist. Sucht betrifft nicht nur Menschen jeglichen Hintergrunds, sie wirkt sich Mirjam Weber 7 auch auf das Handeln dieser Menschen in jedem Bereich ihres Lebens aus. Die Integration in die Arbeitswelt, der Zugang zum Gesundheits‐ und Bil‐ dungswesen und die Einbettung in soziale Strukturen werden durch Suchterkrankungen erschwert. Im selben Mass, wie die Interdisziplinarität in der Suchtprävention oder der Therapie von Suchterkrankungen unab‐ dingbar ist, ist es auf Bundesebene zentral, jene Systeme, Institutionen und Organisationseinheiten für die Thematik «Sucht» zu sensibilisieren, denen in der Prävention und der Behandlung von Sucht und deren Folgen eine Rolle zukommt. Sei dies nun in der Finanzierung, Steuerung, Konzeptua‐ lisierung, Versorgung, Rechtsetzung oder in der Gestaltung des gesell‐ schaftlichen Diskurses. Die Nationale Strategie Sucht ist ein Teilprojekt der umfassenden Gesundheitsstrategie 2020 des Bundes. Zentrale Aufgabe, die sich in vielen der Massnahmen der Suchtstrategie widerspiegelt, ist die Stärkung der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit. Sucht ist kein Ge‐ sundheitsthema allein. Sucht ist auch Sozialpolitik und beschäftigt die Jus‐ tiz und Verwaltung. Übergeordnete Strategien auf konkrete Ansätze in der Praxis herunterbrechen, auf allen föderalen Ebenen regions‐ und bereichs‐ übergreifend unterstützende Strukturen schaffen, verschiedenste Stake‐ holder einbinden und dabei Luisa, Frau Straub und Herrn Murati mitden‐ ken – ein Fall für den multiperspektivischen Blick der Sozialen Arbeit. Ich wünsche mir, dass die Soziale Arbeit noch vermehrt Brücken schlägt und verbindet. Und Auswirkungen politischer Entscheide auf die tatsächliche Lebenswelt der Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit noch prägnanter – und etwas lauter – für Fachleute wie auch für die breite Öf‐ fentlichkeit aufzeigt und erklärt. 4. Vorausschauen An Herausforderungen wird es in den kommenden Jahren in der Suchtar‐ beit nicht mangeln. Die adäquate Behandlung der heterogenen Zielgruppe von suchtbetroffenen Menschen, die langfristige Finanzierung der Ange‐ bote von Prävention und Therapie, sowie neue Produkte und Konsumfor‐ men, seien hier nur als wenige Beispiele genannt. Der Umgang der Gesell‐ schaft mit der grossen Vielfalt an Lebens‐, Arbeits‐ und Freizeitgestaltung und damit einhergehend auch mit der Balance von Enhancement, Genuss, 8 Grusswort selbstverantwortlichem Konsum und Gefährdung wird sich auch auf den Umgang mit dem Konzept «Sucht» auswirken. Sucht als nur einer von mehreren belastenden Faktoren in ohnehin prekären Lebensverhältnissen der Betroffenen, Versorgungslücken für betreuungsaufwändige oder sehr spezifische Zielgruppen und finanzieller Druck durch Kosteneinsparun‐ gen werden integrierte Versorgungsmodelle, das heisst, flexiblere Struk‐ turen entlang des Versorgungspfades und ein Zusammenspiel von unter‐ schiedlichen Disziplinen, erforderlich machen. Vor dieser komplexen Aus‐ gangslage werden die Kompetenzen der Sozialen Arbeit in der Suchtarbeit und ‐politik gefragt sein. Sozialarbeitende sind darin ausgebildet, genau hinzuhören und hinzusehen: Wie stellt sich eine vielschichtige soziale Si‐ tuation dar? Was unterscheidet genau diesen Fall von Alkoholmissbrauch von einem, der augenscheinlich ähnlich angelegt ist und doch so andere Konsequenzen für die Betroffenen und ihr Umfeld nach sich zieht? Welche Rolle spielen dabei allfällige Zweitdiagnosen, das soziale Umfeld, die Wohn‐Umgebung oder die in Zusammenhang stehende Rechtslage? Sozi‐ alarbeitende sind fähig, den Blick vom Einzelfall zu lösen und individuelle Geschichten vor dem Hintergrund sozialer Strukturen zu betrachten. So‐ zialarbeitende können eigene Arbeitsfelds‐ und Professionstheorien ver‐ binden mit Wissen aus Bezugsdisziplinen wie Psychologie, Pädagogik, Medizin, Ethik, Soziologie, Recht und Politik und den Transfer von Wis‐ senschaft zur Praxis feldbezogen einleiten. Der Aufruf geht gleichermas‐ sen an die Hochschulen, Soziale Arbeit als Profession auf allen Ebenen der Praxis und als (eigene) Wissenschaft zu fördern und spezifisch auch der Aus‐ und Weiterbildung im Kontext Sucht besondere Beachtung zu schen‐ ken. Er richtet sich aber auch an die Praxis der Suchthilfe, der Sozialen Ar‐ beit den Platz zu geben, der ihr gebührt, um wirken zu können. Hier ist insbesondere zu bedenken, dass ein vermehrtes Anbinden der Suchthilfe an medizinische Strukturen nicht das Verdrängen von sozialarbeiteri‐ schem Wissen mit sich bringen darf. Sucht ist nur interdisziplinär anzuge‐ hen – und hier kommt der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle zu. Das vorliegende Buch gewährt Einblicke in die vielfältigen Arbeits‐ bereiche und Methoden der Sozialen Arbeit im Feld der Suchtarbeit. Es zeigt die Herausforderungen auf, die die komplexen Strukturen und Auf‐ gaben im Institutionsalltag mit sich bringen und veranschaulicht, welche Mirjam Weber 9 Rollen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern aufgrund der geschilder‐ ten Kompetenzen zukommen. Nicht scheuen sollten sich Wissenschaft wie Praxis davor, das Agieren in der Sozialen Arbeit mit der nötigen Offenheit zu reflektieren, um sich in den sich im Wandel begreifenden Strukturen aktiv und effektiv einbringen zu können. Wir sind auch künftig dazu auf‐ gefordert, uns verstehend, verbindend und vorausschauend unseren Raum zu nehmen und in unserem Handeln die Achtung der Würde der Betroffenen in der täglichen Arbeit in Institutionen, Verwaltungen und der Politik hochzuhalten. Das echte Interesse an Unebenheiten und Brüchen im Verlauf des Le‐ bens macht auch einen Teil des sozialarbeiterischen Könnens und Wirkens aus. Wie der Sänger und Schriftsteller Leonard Cohen sagte: «There is a crack in everything – that’s how the light gets in». Im April 2020 Soziale Arbeit in der Suchtprävention und Suchthilfe der deutschsprachigen Schweiz Toni Berthel, Dr. med. Ehemaliger Präsident der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen (bis Ende 2019) 1. Das Verständnis von Sucht wandelt sich stetig Das Verständnis von Sucht hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Jahrhundertelang wurde Sucht, mit grenzenloser Gier und Völlerei gleich‐ gesetzt, als Laster bezeichnet und zu den Todsünden gezählt. Süchtige Menschen wurden aus der Gesellschaft ausgegrenzt und religiöse Puristen bemächtigten sich der Behandlung von Substanzabhängigen. Anfang 20. Jhd. entstanden im Soge tiefenpsychologischer Konstrukte erstmals An‐ sätze mit denen versucht wurde, Substanzkonsum zu verstehen und psy‐ chotherapeutisch zu behandeln. Die gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er‐Jahre erweiterten den Blick auf die soziale Dimension individueller Probleme, auch von Suchtproblemen. Im Zuge der medizinischen Fort‐ schritte in den 1990er‐Jahren – mit Erkenntnissen aus Neurobiologie und Hirnforschung – gerieten biologische Denkansätze ins Zentrum. Philoso‐ phen beurteilen Sucht heute als Folge moderner Kulturtendenzen mit der Entritualisierung vieler Lebensformen, was mit Schwierigkeiten des eige‐ nen Weltaufbaus einhergeht. Neben dem Substanzkonsum wurden in den letzten Jahren auch nicht substanzbezogene Verhaltensweisen den Suchterkrankungen zugeordnet, die mit Kontrollverlust, Craving und Ent‐ zugssymptomen einhergehen, wie z. B. Geldspiele oder der Gebrauch neuer Medien. Heute hat das bio‐psycho‐soziale Modell für die Erklärung, wie Suchtprobleme verstanden werden können, die breiteste Akzeptanz. Dieses geht davon aus, dass biologische, psychische und soziale Faktoren nicht allein oder primär die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten bestimmen, sondern miteinander interagieren und ein komplexes Ganzes bilden. 12 2. Vorwort Der bio‐psycho‐soziale Ansatz Die Arbeit mit Suchtkranken, Suchtgefährdeten und Abhängigen orien‐ tiert sich heute an diesem bio‐psycho‐sozialen Ansatz. Hier sind wir in den letzten Jahrzehnten einen weiten Weg gegangen. Aus den partikularen, paternalistischen Denk‐ und Handlungsansätzen mit klaren, von aussen vorgegebenen Abstinenzforderungen, entwickelte sich eine moderne, das Individuum in seiner Einzigartigkeit akzeptierende Grundhaltung. Im Zentrum steht der suchtkranke Mensch und mit ihm die Menschenwürde. Theorien und Modelle orientieren sich heute an der Selbstbestimmung und ‐verantwortung des Menschen auch im Umgang mit seinem Sub‐ stanzkonsum. Die Zusammenarbeit zwischen Patient/Klient und Helfern basiert auf Gleichwertigkeit und findet auf Augenhöhe statt. Transparenz und individuelle Ziele bestimmen heute unser Tun. Durch den grossen Pa‐ radigmenwechsel vom Abstinenz‐ zum Schadensminderung‐Theorem ste‐ hen nun Konzepte wie kontrollierter Konsum, Zieloffenheit und Selbstbe‐ fähigung im Zentrum. Die in der Betreuung und Behandlung eingesetzten Interventionstechniken sind vielfältig geworden. Dabei hat sich gezeigt, dass Methoden, die die Motivation für eine Veränderung unterstützen und die die Verantwortung für die eigene Le‐ bensbewältigung fördern, besonders erfolgreich sind. Neben‐ oder nach‐ einander werden spezifische Gesprächstechniken, Medikamente gegen zusätzliche psychische Leiden, schadensmindernde Massnahmen, soziale Unterstützung und in psychosozialen Ansätzen gründende Methoden er‐ folgreich eingesetzt. Alle diese Behandlungs‐ und Interventionsansätze sind individualisiert und modular; und die unterschiedlichen Problem‐ stellungen werden in stationärer, teilstationärer und ambulanter Arbeit parallel, miteinander und nacheinander bearbeitet. Diese Interventions‐ techniken sind sowohl bei legalen, illegalen wie substanzunabhängigen Suchterkrankungen hilfreich. Die frühere Unterteilung der Interventionen nach dem Legalstatus der Substanz ist in Theorie und Praxis längst über‐ holt und in der Alltagsarbeit nicht zielführend. Toni Berthel 3. 13 Arbeit im Feld der Sucht ist interprofessionell Es besteht mittlerweile eine weitgehende Einigkeit: Arbeit mit Suchtkran‐ ken geht mit einer Vielzahl von Problemstellungen einher, die in der Regel interprofessionell angegangen werden müssen. Doch obwohl die Komple‐ xität der Arbeit im Feld der Sucht für alle ersichtlich ist, ist die Zusammen‐ arbeit nicht selbstverständlich. Dies hat neben strukturellen Schwierigkei‐ ten auch mit den jeweiligen Berufsgruppen ihrer Berufssozialisation und den einzelnen in die Behandlung, Beratung und Betreuung involvierten Fachleuten aus Medizin, Psychotherapie, Soziale Arbeit zu tun. Die verschiedenen involvierten Professionen und Berufe haben je‐ weils unterschiedliche Aufgaben zu erbringen. Sie wurden in ihren Berufs‐ ausbildungen unterschiedlich geschult und sozialisiert und bedienen sich unterschiedlicher, oft divergierender Denkansätze und Denktraditionen. Diese fachlichen Spannungsfelder werden zusätzlich verstärkt durch den (manchmal auch nur phantasierten) unterschiedlichen Status der jeweili‐ gen Berufsgruppen im Selbsterleben und der gesellschaftlichen Wahrneh‐ mung. Das Thema Sucht nimmt in Grundausbildungen und der Weiterbil‐ dung nur wenig Raum ein. Zusätzlich gibt es kaum differenzierte Modelle, wie mit der Vielschichtigkeit von Sucht und den damit einhergehenden Problemstellungen umzugehen ist. Und selbst wenn sich in der Fachwelt die Einsicht durchgesetzt hat, dass Sucht mit einem bio‐psycho‐sozialen Ansatz erklärt und behandelt werden kann, kultivieren die Öffentlichkeit und teilweise die Politik immer noch und immer wieder mittelalterliche, voraufklärerische und mystische Glaubenssätze wie das alleinige Primat der Abstinenz oder den Konsum berauschender Substanzen als sündhaf‐ tes Verhalten. 3.1 Interprofessionelle Zusammenarbeit gründet in einer stabilen Berufsidentität Die Basis, damit wir interdisziplinär zusammenarbeiten können, ist eine gut ausgebildete, auf Evidenz und in Kompetenz gründende sowie aus Wissen generierter Berufsidentität, die Bereitschaft und Fähigkeit in einer gemeinsamen Sprache zu kommunizieren. Dafür muss jede Berufsgruppe wissen was sie kann, was ihre Ziele in der Arbeit sind, wie sich ihr Auftrag, 14 Vorwort ihre Denkansätze und Interventionen von den anderen involvierten Be‐ rufskategorien unterscheiden. 3.2 Interprofessionelle Zusammenarbeit findet in Netzwerken statt Die Beratung, Behandlung und Betreuung von Menschen mit Suchtprob‐ lemen ist eine komplexe Aufgabe. Kooperation von unterschiedlichen An‐ bietern ist notwendig. Ziele und Interventionen müssen mit allen Invol‐ vierten – inklusive den PatientInnen oder KlientInnen – formuliert und ab‐ gesprochen werden. So können gegenseitige Ressourcen genutzt, Rei‐ bungsverluste minimiert und Hilfsangebote aufeinander abgestimmt wer‐ den. Kooperation ist mehr als das Wissen, dass andere auch involviert sind. Kooperation verlangt nach verbindlicher Zusammenarbeit, klaren Regeln wie zusammengearbeitet werden soll und der Bereitschaft nach unverkrampfter Kommunikation. Wir sprechen hier von einem integriert‐integrativen Behandlungsmo‐ dell. Integrierte Suchtbehandlung meint vernetzte, verbindliche und ziel‐ orientierte Zusammenarbeit verschiedener Anbieter unter Koordination und gegenseitiger Abstimmung der Angebote und Interventionen. Integ‐ rative Suchtbehandlung meint das gezielte Zusammenwirken verschiede‐ ner wirksamer (nach Möglichkeit evidenzbasierter), sinnvoller Behand‐ lungsmethoden und die Arbeit mit transparenten verständlich kommuni‐ zierbaren Erklärungsmodellen. 3.3 Soziale Arbeit ist für die ganzheitliche Begleitung im Feld der Sucht unerlässlich Sucht und risikoreicher Konsum wie risikoreiches Verhalten sind multifa‐ ktorielle Phänomene mit vielen bio‐psycho‐sozialen Wechselwirkungen. Können mit Substitutionsmitteln die Suchtprozesse im Gehirn beruhigt, mit Medikamenten Infektionen geheilt und comorbide Störungen beein‐ flusst, mit psychotherapeutischen Methoden innerpsychische, interaktio‐ nelle und kognitive Prozesse beeinflusst werden, hat die Soziale Arbeit das Wissen wie soziale Hilfssysteme funktionieren, wie sie genutzt werden können, welche hilfreich sind, oder sie hat in der Beratung ihre spezielle Kompetenz. Die in der Sozialen Arbeit Tätigen sind Spezialistinnen und Toni Berthel 15 Spezialisten für die Arbeit mit dem Individuum, der Arbeit an Schnittstel‐ len zur Gesellschaft und deren Institutionen sowie in Netzwerken. Die So‐ ziale Arbeit kann auch ausserhalb der ärztlichen und psychotherapeuti‐ schen Praxen oder sozialmedizinischen Ambulatorien aufsuchend und le‐ bensnah tätig sein. Auf diese Kompetenzen sind unsere Klienten/Patienten und wir im Suchthilfenetzwerk dringend angewiesen. 3.4 Die Soziale Arbeit muss sich positionieren Das vorliegende Werk, das von einer Vielzahl von Autorinnen und Auto‐ ren verfasst wurde, ist die Basis dafür, dass sich die Soziale Arbeit im Feld der Sucht und dem Netzwerk der Suchthilfe positionieren kann. Was ist Soziale Arbeit, was kann sie, was sind ihre spezifischen Methoden die hilf‐ reich eingesetzt werden können, wo sind welche Ansätze erfolgreich, wie können sie sich weiter entwickeln? Es sind wichtige Aussagen und An‐ sätze, damit die Soziale Arbeit auch in Zukunft ihren Platz in der Arbeit mit Abhängigen, mit Menschen die risikoreich psychoaktive Substanzen konsumieren, oder dem Umfeld und Angehörigen behaupten kann. Ich gratuliere den Herausgeberinnen und Herausgebern zu dem Mut, dieses Werk in Angriff genommen zu haben. Gleichzeitig hoffe ich auch, dass es Einsatz findet in der Aus‐, Weiter‐ und Fortbildung an den Hochschulen und Universitäten, in denen die Soziale Arbeit gelehrt und erlernt wird und hilft, Brücken zu bauen zwischen den verschiedenen Fachleuten, die im Netzwerk Sucht tätig sind. Im Mai 2020 Sucht ist (auch) ein soziales Problem Simone Gremminger1 Präsidentin AvenirSocial, Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz. Übermässiger Konsum und Sucht sind Themen, die den Alltag von vielen Menschen in betreffen und doch häufig gesellschaftlich tabuisiert werden. So sind auch Sozialarbeitende in den verschiedensten Arbeitsfeldern mit dem Thema Sucht konfrontiert, wie in der Schulsozialarbeit, in der So‐ zialhilfe, in der Jugendarbeit, im Kindes‐ und Erwachsenenschutz, um nur einige Beispiele zu nennen. Umso wichtiger ist es, dass Sozialarbeitende über genügend Fachwissen verfügen, um Suchtprobleme (frühzeitig) zu erkennen und die Interventionsplanung angemessen auszugestalten. Zugleich sind die Institutionen der Suchthilfe eines der Arbeitsfelder, in der Soziale Arbeit wirkt, ob im Bereich der Prävention, der Schadens‐ minderung, der Therapie – die Fachpersonen der Sozialen Arbeit sind aus den Angeboten der Suchthilfe nicht wegzudenken. Sie fokussieren auf die sozialen Aspekte von Gesundheit, auf die Lebensverhältnisse, die Lebens‐ qualität und setzen in Zusammenarbeit mit den Klientinnen und Klienten bei der (Wieder‐)Erschliessung ihrer Ressourcen an. Basierend auf einer systemischen Denkweise arbeiten sie im gesamten Unterstützungsprozess unter Einbezug des sozialen Umfelds sowie der beteiligten Institutionen und Fachpersonen. Dennoch werden Fachpersonen der Sozialen Arbeit kaum als Exper‐ tinnen und Experten in der Suchthilfe wahrgenommen, zumal Suchter‐ krankungen vorwiegend als medizinisch(‐psychiatrisches) Problem und nicht als ein soziales Problem wahrgenommen werden. Sucht hat längst nicht nur gesundheitliche Auswirkungen, sondern ‐ in ihren oft langjährigen Verläufen ‐ Konsequenzen auf verschiedenste, um nicht zu sagen fast alle, Lebensbereiche. So haben suchtmittelabhän‐ 1 MSc in Sozialer Arbeit. 18 Vorwort gige Menschen ein grösseres Risiko von Arbeitslosigkeit, Armut, Ver‐ schuldung und instabilen Wohnverhältnissen betroffen zu sein. Umge‐ kehrt können aber solche – oft multifaktoriellen ‐ Problemkonstellationen auch in eine Sucht hineinführen. Oft führen Suchtprobleme zu Spannungen und Konflikten mit dem angestammten sozialen Umfeld, wie Familie und Freundeskreis, und pa‐ rallel oder infolgedessen zur Veränderung des sozialen Umfelds zu «Gleichgesinnten» bis hin zur sozialen Isolierung. Schliesslich führen Suchtprobleme nicht selten zu Kriminalität, im Kontext von Beschaffung und Konsum illegaler Substanzen, aber auch von Gewaltdelikten und an‐ deren Straftaten unter Suchtmitteleinfluss. Das Wirken der Sozialen Arbeit findet im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen statt. Sie begleitet einerseits Veränderungs‐ und Entwicklungsprozesse, um Indivi‐ duen und Gruppen maximale Selbständigkeit und Selbstbestimmung und damit Teilhabe und Teilnahme an der Gesellschaft zu ermöglichen. Gleich‐ zeitig wirkt sie auf einen sozialen Wandel auf gesellschaftlicher Ebene hin, «der den Einzelnen die Befriedigung der biologischen, psychischen, sozi‐ alen, ökonomischen und kulturellen Bedürfnisse und ihre Entfaltung er‐ möglicht» (vgl. AvenirSocial 2014). Suchtmittelkonsum und Abhängigkeit haben nicht nur auf das Leben der betroffenen Menschen und ihr unmittelbares soziales Umfeld Auswir‐ kungen, sondern stellen auch die Gesellschaft vor verschiedenste Fragen und Probleme, die es zu lösen gilt. So war in den 1990er Jahren, um ein prominentes Beispiel in der Schweizerischen Suchtpolitik anzuführen, die gesellschaftliche Belastung durch die offenen Drogenszenen und deren Auswirkungen so gross, dass die Politik und die involvierten Fachpersonen neue Wege denken muss‐ ten. Dies hatte eine Abkehr von der alleinigen Abstinenzorientierung und die Entwicklung der Angebote der Schadensminderung, wie Kontakt‐ und Anlaufstellen und Substitutionsbehandlungen, zur Folge. Es gehört zum Selbstverständnis und zum Auftrag der Sozialen Arbeit, solche gesell‐ schaftlichen und politischen Lösungen mitzugestalten. Deshalb ist AvenirSocial, Berufsverband der Sozialen Arbeit Schweiz, Mitglied der Nationalen Arbeitsgemeinschaft Suchtpolitik (NAS‐CPA), in Simone Gremminger 19 der verschiedenste InteressenvertreterInnen aus dem Suchtbereich Lö‐ sungsvorschläge zu aktuellen Problemstellungen erarbeiten. In diesem Rahmen setzt sich AvenirSocial für verstärkte Massnahmen in der Früher‐ kennung und Frühintervention ein, aber auch für eine Regularisierung il‐ legaler Substanzen im Sinne einer Entstigmatisierung und Entkriminali‐ sierung von Suchtmittelkonsumentinnen und ‐konsumenten. AvenirSocial begrüsste zudem die Nationale Strategie Sucht, die ei‐ nen nationalen Orientierungsrahmen in der Suchthilfe gibt. Insbesondere die Erweiterung vom Vier‐Säulen‐Modell zum Würfelmodell ermöglicht eine ganzheitliche Sichtweise auf die Komplexität von Suchtproblemati‐ ken. Zudem orientiert sich die Nationale Strategie Sucht vermehrt an Res‐ sourcen und schliesst damit an die Methoden der Sozialen Arbeit an. Den‐ noch machte AvenirSocial bereits in der Vernehmlassung zur Nationalen Strategie Sucht (2015) darauf aufmerksam, dass eine Überbetonung der medizinischen und psychiatrischen Institutionen stattfand und dem so‐ zial‐therapeutischen Bereich zu wenig Bedeutung beigemessen wurde. Dies mag auch mit den komplexen Finanzierungsmodellen in der Suchthilfe zusammenhängen, die geprägt sind von den föderalistischen Strukturen und den Zuständigkeiten der verschiedenen sozialen Siche‐ rungssysteme, wie bereits von Sommerfeld 2016 unter dem Schlagwort «Medizinalisierung der Suchthilfe» angesprochen. Mit der Etablierung der Vier‐Säulen‐Politik ist «das Drogenproblem» aus dem Fokus der Gesellschaft geraten. Die Erinnerungen an das sicht‐ bare Elend der offenen Drogenszenen der 1990er Jahre verblassen langsam im kollektiven Gedächtnis. Die geschaffenen Angebote haben in der Tat viel dazu beigetragen, die Lebensqualität von abhängigen Menschen zu verbessern, aber auch die Gesellschaft, vor allem die Jugendlichen, für die Risiken von Suchtmittelkonsum und daraus folgender Abhängigkeit zu sensibilisieren. Dennoch bergen diese Unsichtbarkeit und das vermeint‐ lich gelöste Drogenproblem auch die Gefahr, dass immer weniger öffent‐ liche Gelder in die Suchthilfe fliessen. Es ist jedoch ein Trugschluss anzu‐ nehmen, dass mit dem Verschwinden der offenen Drogenszenen auch der Substanzkonsum und die Gefahr von Süchten generell verschwunden wä‐ ren. Vielmehr sieht sich die Suchthilfe mit immer neuen Substanzen und Süchten, wie Internet‐ und Spielsüchten oder verschiedensten chemischen 20 Vorwort Substanzen konfrontiert, während auch die alt bekannten Substanzen (ins‐ bes. Alkohol und Tabak) und Konsumformen nicht verschwunden sind. Deshalb braucht es eine solide Finanzierung: Um gute Präventionsarbeit leisten zu können, neue Tendenzen frühzeitig zu erkennen und adäquate Angebote zu entwickeln, sowie um die Menschen in ihren individuellen Entwicklungsprozessen im Umgang mit ihrer Abhängigkeit zu begleiten. Und deshalb sind die Soziale Arbeit und deren Fachpersonen Schlüssel‐ personen in der Suchthilfe: Weil sie die betroffenen Menschen wie auch die Mitbetroffenen begleiten und unterstützen, die Kooperation mit den anderen involvierten Fachpersonen und Professionen suchen und sich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene dafür einsetzen, dass die gesetzli‐ chen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um eine menschenwür‐ dige und zukunftsorientierte Suchtpolitik zu gestalten. Ich habe selbst fast zehn Jahre in der niederschwelligen Suchthilfe ge‐ arbeitet und bin aus diesem Kontext, wie auch als Präsidentin von Ave‐ nirSocial überzeugt, dass dieses Buch einen wichtigen Beitrag leistet, die Rolle der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe sichtbar zu machen, sie aber auch zu reflektieren und die Schnittstellen, Kooperationsmöglichkeiten und ‐notwendigkeiten mit anderen Professionen aufzuzeigen. Letztere, die Selbstreflexion wie die interprofessionelle Kooperation, sind u. a. Kernkompetenzen der Sozialen Arbeit. So könnte dieses Buch auch ein Anstoss sein, in anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit eine solche Übersicht und Reflexion vorzunehmen. Im Mai 2020 Literatur AvenirSocial (2010): Leitbild Soziale Arbeit im Gesundheitswesen. www.tinyurl.com/s5tkf9c, Zugriff 22.11.2019. AvenirSocial (2014): Berufsbild der Professionellen Sozialer Arbeit. www.tinyurl.com/wjy8klh, Zugriff 18.12.2019. AvenirSocial (2015): Vernehmlassung zur Nationalen Strategie Sucht. www.tinyurl.com/uq8bnjy, Zugriff: 18.12.2019. Sommerfeld, Peter (2016): Sucht ‐ ein medizinisches oder ein soziales Problem? SuchtMaga‐ zin 42(6): 26‐31. Einleitung 1. Eine Idee entsteht Begegnungen im Zug haben meist den Vorteil, dass Gespräche entstehen können, die keiner Traktandenliste folgen müssen und keinem Zweck, sondern schlicht der Zufälligkeit zu verdanken sind. Diese Zufälligkeit und das Wissen, eine bestimmte Zeit gemeinsam auf Reisen zu sein, war der Ausgangspunkt des nun vorliegenden Buches. Der Tag lässt sich noch genau bestimmen: Es war der 1. September 2016. Sowohl Roger als auch Marcel waren auf dem Weg nach Bern zum jährlichen Austausch der Ko‐ ordinations‐ und Dienstleistungsplattform Sucht KDS des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Zwischen Zürich und Bern begann alsbald eine in‐ tensive Diskussion zur Bedeutung der Sozialen Arbeit in der Suchtarbeit. Was es in der Sozialen Arbeit endlich brauche, seien konkrete Leitlinien für die Suchtarbeit. Diese Forderung hatte der Suchtmediziner Robert Hämmig bereits im Oktober 2012 an die Soziale Arbeit gerichtet, anlässlich seines Referates zu den medizinischen Empfehlungen für substitutionsge‐ stützte Behandlungen. Im Gegensatz zur Suchtmedizin habe die Soziale Arbeit noch keine solchen Empfehlungen vorzuweisen. Für den aufmerk‐ samen Zuhörer und Sozialarbeiter Roger eine Aufforderung zum Aktiv‐ werden. Die Neugier von Marcel war geweckt, denn auch er hatte schon länger mit einem ähnlichen Gedanken gespielt, nämlich der Herausgabe eines SuchtMagazins zum Thema «Soziale Arbeit in der Suchtarbeit»1. Es entstand ein lockerer E‐Mail‐Austausch und Roger holte Tanya mit ins Boot. Tanya und Roger hatten zu diesem Zeitpunkt seit 15 Jahren ge‐ meinsam Einsitz in die Fachgruppe Ambulante Beratung des Fachverbands Sucht gehabt und sich immer rege untereinander ausgetauscht, insbeson‐ dere auch über die Aufgaben der Sozialen Arbeit im Suchtbereich. Am 1. Februar 2017 hielten Roger, Marcel und Tanya an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten ihr erstes Treffen ab, an welchem auch Peter 1 Diese Ausgabe ist unterdessen erschienen, vgl. SuchtMagazin 3/2019 «Arbeit am Sozialen», www.suchtmagazin.ch © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_1 22 Einleitung Sommerfeld teilnahm. An dieser Sitzung zeigte sich schnell: Für konkrete Leitlinien und Best‐Practice‐Empfehlungen bestand in der Schweiz noch zu wenig Forschung und schriftlich niedergeschriebene Expertise. An die Stelle von Empfehlungen trat die Idee einer Publikation, in welcher Sozi‐ alarbeiterInnen aus der Praxis die verschiedenen Arbeitsfelder der Sozia‐ len Arbeit in der Suchthilfe vorstellen sollten. Darauf aufbauend sollten dann in einem nächsten oder übernächsten Schritt Empfehlungen erarbei‐ tet werden. Es wurde deutlich, dass ein längerfristiger Prozess entstehen würde. Ebenso wurde deutlich, dass wesentliche Player der Sozialen Ar‐ beit und Suchthilfe ins Boot geholt werden mussten. Wir rannten überall offene Türen ein, offensichtlich hatten wir genau den richtigen Zeitpunkt gefunden. Roger und Tanya erarbeiteten ein erstes Grobkonzept als Grundlage für die Kickoff‐Sitzung vom 12. Juni 2017. Zu dieser waren nebst den Her‐ ausgeberInnen dieses Buches auch Avenir Social, der Fachverband Sucht und Infodrog eingeladen. Der zu diesem Zeitpunkt gerade neu entstan‐ dene Verein SAGES, der Schweizerische Fachverband Soziale Arbeit im Gesundheitswesen, kam später ebenfalls hinzu. Die Idee begann nun konkrete Gestalt anzunehmen. Es wurde entschie‐ den, eine Projektgruppe mit den oben genannten Playern zu gründen und ein Redaktionsteam zusammenzustellen, welches für die Gestaltung und Herausgabe des Buches zuständig und verantwortlich sein sollte. So kam es, dass wir, ein Jahr nach der Zugreise nach Bern, am 23. August 2017 beim Fachverband Sucht in Zürich unsere erste Redaktionssitzung abhiel‐ ten. Seither sind mehr als zweieinhalb Jahre vergangen und es ist an über 20 Redaktionssitzungen diskutiert, geplant, gestritten und nicht zuletzt viel gelacht worden. 2. Die soziale Dimension der Suchtarbeit Die Suchthilfe zeichnet sich durch die Zusammenarbeit verschiedener Pro‐ fessionen aus, was an der Mehrdimensionalität des Phänomens Sucht liegt. Dieses muss auf verschiedenen Ebenen analysiert, konzeptualisiert und behandelt werden (vgl. Sommerfeld 2019, S. 4). Um die verschiedenen 23 Ebenen und deren Interaktion in den Blick zu bekommen, stehen verschie‐ dene Modelle zur Verfügung. So kann seit Ende der 1960er‐Jahre die Dro‐ genproblematik im Rahmen einer Dreiecksbeziehung zwischen den drei Polen Persönlichkeit – Substanz – Gesellschaft analysiert werden, 2 heute sprechen wir von «Drug, Set and Setting». Ebenfalls bereits in den 1960er‐ Jahren kritisierte der Psychiater George E. Engel das engstirnige biomedi‐ zinische Denken und setzte diesem ein bio‐psycho‐soziales Verständnis von Krankheit gegenüber (vgl. Krebs 2020). Bei Entstehung, Verlauf und Heilung von Erkrankungen sind nebst biologisch‐organischen Faktoren ebenso psychische und soziale Faktoren relevant (Pauls 2011: 99). Sucht kann demnach nur dann adäquat verstanden, diagnostiziert und behan‐ delt werden, wenn ihre Entstehung, Entwicklung und Chronifizierung in einem bio‐psycho‐sozialen Modell analysiert wird. Die gedanklichen Wur‐ zeln dieses Modelles finden sich bereits im 19. Jahrhundert, wurden aber erstmals im Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation WHO von 1946 prägnant zum Ausdruck gebracht. Demnach ist Gesundheit «ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohler‐ gehens» (WHO 1946). 3 Das bio‐psycho‐soziale Modell von Gesundheit und Krankheit und damit auch von Sucht ist ein transtheoretisches Modell und eignet sich als Grundlage, um verschiedene professionelle Zugänge zu Sucht zu integrie‐ ren. Fachdisziplinen haben jeweils ein spezifisches Bezugsproblem, prob‐ lematisieren Sucht also aus unterschiedlichen Perspektiven. Auf diese Weise lassen sich die Professionen in ihren funktionalen Zuständigkeiten unterscheiden und in einem nächsten Schritt komplementär aufeinander beziehen. In einem ersten Zugang kann festgehalten werden, dass die ge‐ sundheitsbezogene Soziale Arbeit für die soziale Dimension der Sucht zu‐ ständig ist (vgl. z. B. Sommerfeld 2016; Laging 2018: 167). Wie es der Sozi‐ alen Arbeit gelingt, ihre Zuständigkeit zu begründen, also die Relevanz der sozialen Dimension im Rahmen eines bio‐psycho‐sozialen Modelles Vgl. zur Geschichte und Wandel dieser Triade Tanner (2019). Allerdings geriet dieser Zusammenhang in Vergessenheit und wurde erst in den 1960er‐ und 1970er Jahren im Kontext verschiedener sozialer Bewegungen «wiederentdeckt», indem diese den engen Zusammenhang von Umwelt, sozialen Rahmenbedingungen und Gesund‐ heit thematisierten (vgl. Prümel‐Philippsen 2020; Ruckstuhl 2016). 2 3 24 Einleitung von Sucht zu benennen, hängt dann u. a. von ihrem eigenen theoretischen Rüstzeug ab. Sucht hat einen Einfluss auf die Lebensführung von Men‐ schen. Vor allem aber kann die Lebensführung in der modernen Gesell‐ schaft wesentlich zur Entstehung von Suchterkrankungen und Suchtmit‐ telmissbrauch beitragen. Wir haben es mit einer zirkulären Bedingungskons‐ tellation (vgl. Sommerfeld et al. 2016: 8) zu tun: Soziale Faktoren haben ei‐ nen Einfluss auf die Entstehung einer Suchterkrankung und eine Suchter‐ krankung ist wiederum Ursache für gesellschaftliche Ausschlussprozesse und für einen «social drift» in unterprivilegierte Inklusionskonstellatio‐ nen, die wiederum einen Einfluss auf die Entwicklung und Aufrechterhal‐ tung einer Sucht haben. Die Bedeutung der sozialen Dimension für die Entstehung und den Verlauf von psychischen Erkrankungen ist unbestritten, auch scheint ein weitgehender Konsens zu bestehen, wonach die Soziale Arbeit für diese Dimension zuständig ist. Trotzdem ist es der Sozialen Arbeit bisher nicht gelungen, sich in der Suchthilfe auf Augenhöhe mit den anderen Professi‐ onen (v. a. Medizin und Psychotherapie) zu positionieren. Einer der Gründe liegt sicherlich darin, dass die soziale Dimension «seltsam unter‐ belichtet» und damit nur rudimentär ausgearbeitet erscheint (vgl. ebd.: 6f.). So liegen nach unserer Kenntnis für die Schweiz kaum konsoli‐ dierte Wissensbestände vor, noch gibt es Arbeitsfeldanalysen, die sichtbar machen, was die Soziale Arbeit in der Suchthilfe konkret leistet, was also «Arbeit am Sozialen» in der Praxis bedeutet und wie diese Dimension adä‐ quat erfasst werden kann.4 Gerade vor dem Hintergrund der Medizinalisierung der Suchthilfe und durch die vermehrten Sparmassnahmen gerät die Soziale Arbeit zu‐ nehmend unter Druck. Medizinalisierung bedeutet, dass in der klinischen Suchttherapie zunehmend nur noch Leistungen angeboten werden, die im Für Deutschland liegen erste Analysen vor. Vgl. für die Soziale Arbeit in der ambulanten Suchtberatung Hansjürgens (2013, 2018) und Bayer (2019). Für Methoden der Sozialen Arbeit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchthilfe Gastiger & Abstein (2012) und Stöver (2012). Eine Publikation zu den Kompetenzprofilen der Sozialen Arbeit für die verschiedenen Arbeitsfelder der Suchthilfe hat jüngst die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (vgl. DG‐SAS 2015) herausgegeben. Und in Kürze erscheint ein Buch, welches ver‐ schiedene Tools vorstellt, die in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialer Arbeit in der Suchthilfe zum Einsatz kommen (vgl. Hansjürgens/Schulte‐Derne 2020). 4 25 Leistungskatalog der Krankenkassen enthalten sind (Subjektfinanzierung pro geleistete Therapiestunde) und in der Suchtbehandlung werden zu‐ nehmend PsychotherapeutInnen eingesetzt, weil diese ärztlich delegiert arbeiten und dadurch ihre Leistungen über die Krankenkasse abrechnen können. Im Gegensatz dazu werden die Leistungen der Sozialen Arbeit über öffentliche Gelder abgegolten (Objektfinanzierung via Globalbudget) und laufen damit aktuell Gefahr, weggespart zu werden.5 Darum ist die Soziale Arbeit im Suchtbereich gefordert, deutlicher sichtbar zu machen, was ihr spezifischer Beitrag in der Suchthilfe ist. Dazu muss es ihr gelingen, sich den anderen Professionen im Suchtbereich fach‐ lich offensiv zu präsentieren und ihre spezifischen, wissenschaftlich ge‐ stützten Diagnose‐ und Hilfsangebote zu benennen,6 übrigens eine Forde‐ rung, die auch andere Professionen an die Soziale Arbeit richten. So steht in den soeben erschienenen medizinischen Empfehlungen für Opioidago‐ nistentherapie beim Opioidabhängigkeits‐Syndrom: «Die Erarbeitung schweizweit gültiger Empfehlungen im Umgang mit Personen mit Opioi‐ dabhängigkeit im Sozialbereich wäre zu begrüssen» (SSAM 2020, S. 5). Eine Empfehlung, welche die Gesellschaft für Suchtmedizin SSAM direkt an die Soziale Arbeit richtet. 3. Ziel und Zweck dieses Buches Gegenwärtig ist es noch nicht möglich, Empfehlungen für eine «best prac‐ tice» der Sozialen Arbeit im Suchtbereich festzulegen. Dazu fehlt es an der Der Sozialen Arbeit ist es im Kontext des neuen Bundesgesetzes über die Gesundheitsberufe (GesBG) nicht gelungen sich als Gesundheitsberuf zu etablieren. Eine Mehrheit der Akteure aus der Sozialen Arbeit haben sich dafür ausgesprochen (u. a. Avenir Social und SAGES), nur Savoirsocial nahm dagegen Stellung (vgl. Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsver‐ fahrens zum Vorentwurf zu einem GesBG, August 2014, https://tinyurl.com/t8maxoh, Zugriff 21.02.2020.). Das Gesetz trat per 1. Februar 2020 in Kraft. 6 Mit Blick auf Deutschland zeigen sich ähnliche Schwierigkeiten. Auch dort gilt die Soziale Arbeit nicht als Gesundheitsberuf. Eine Studie der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen kommt zum Schluss, dass für die Soziale Arbeit im Gesundheitswesen die Voraussetzung für eine Anerkennung als Heilberuf im Sinne der Heilberufsgesetzgebung nicht erfüllt sind. Dies insbesondere deshalb, weil die Soziale Arbeit oft nur diffus wahrge‐ nommen wird und mit ihr kein spezifisches, prägnantes Bild verbunden ist, wie es etwa beim Arzt oder beim Krankenpfleger der Fall ist (vgl. Ortmann, 2015, S. 16). 5 26 Einleitung entsprechenden Forschung und v. a. fehlt noch eine Darstellung der Auf‐ gaben und Funktionen, welche die Soziale Arbeit in den verschiedenen Arbeitsfeldern der Suchtarbeit und Suchtprävention übernimmt. Der adä‐ quate Forschungsbedarf an der Nahtstelle zur Praxis kann nur in Rück‐ sprache und in Zusammenarbeit mit der Praxis erhoben werden. Die kon‐ kreten Fragestellungen und Herausforderungen ergeben sich im Praxisall‐ tag der Profession, also in der Arbeit mit der Klientel, in den Institutionen und in der interdisziplinären Kooperation. Bevor Empfehlungen formu‐ liert werden können, braucht es eine Bestandesaufnahme der Praxis und eine darauf aufbauende Forschung. Das vorliegende Buch ist somit der erste Schritt eines mehrstufigen Prozesses. Es geht darum, die Vielfalt der Arbeitsfelder vorzustellen, mit denen es die Soziale Arbeit im Suchtbereich und in der Prävention zu tun hat. Die Grundidee ist, dies in Form von Selbstbeschreibungen aus der Praxis zu leisten. Professionelle der Sozialen Arbeit reflektieren in ihren Beiträ‐ gen ihre eigene Praxis. Auf diese Weise soll zu jedem relevanten Arbeits‐ feld ein Beitrag entstehen. Ziel der vorliegenden Publikation ist damit, eine aktuelle Bestandesaufnahme für die deutschsprachige Schweiz zu erhal‐ ten, ergänzt durch je eine Reflexion aus der Romandie und aus dem Tessin. Mit dieser Idee begannen die HerausgeberInnen mit der Planung. Wir erarbeiteten ein Konzept und sicherten in einem ersten Schritt die Finan‐ zierung der Publikation. Anschliessend begannen wir mit der Auswahl der AutorInnen. Dies geschah unter Nutzung der fachlichen Netzwerke der HerausgeberInnen und durch Nachfragen bei Fachpersonen und Ver‐ bänden. Dabei sollten auch die verschiedenen Regionen der Deutsch‐ schweiz berücksichtigt werden. Last but not least war es uns aber auch – soweit möglich – wichtig, Sozialarbeitende anzufragen, die Erfahrung im Publizieren hatten. Die jetzige Auswahl darf aber nicht als ein «Best‐of» der Praxis verstanden werden. Dies hätte eine vorgängige Analyse voraus‐ gesetzt. Selbstbeschreibungen von AkteurInnen aus der Praxis sind Reflexio‐ nen über die eigene Tätigkeit und dürfen nicht mit der Praxis an sich ver‐ wechselt werden. So zeigt z. B. eine Studie aus Deutschland, dass das, was 27 die Professionellen der Sozialen Arbeit leisten und wie sie es leisten, weit‐ gehend den Fachstandards entspricht (vgl. Hansjürgens 2013, S. 98). Aller‐ dings gelingt es den Fachpersonen nicht, diese Leistungen auch explizit zu machen. Es handelt sich um implizites Wissen, welches on the job erlernt wurde. Es fehlt eine gemeinsame Fachsprache und an wissenschaftlicher Forschung, die implizites Wissen explizit macht. Selbstbeschreibungen sind nicht eindeutige Abbilder, sondern Reflexionen über die eigene Pra‐ xis. Dieser Sachlage begegneten wir auf viererlei Weise. Wir entschiede‐ nen, einen Leitfaden in Form eines strukturierten Fragekatalogs zu erstel‐ len, der als Orientierung und Ideengeber für die Reflexion über das Ar‐ beitsfeld dienen sollte. Folgende zentralen Aspekte standen dabei im Vor‐ dergrund: (a) Beschreibung des Arbeitsfeldes, (b) Soziale Arbeit in diesem Arbeitsfeld, (c) Interprofessionelle Zusammenarbeit, (d) Stand der Profes‐ sionalisierung der Sozialen Arbeit in diesem Arbeitsfeld, (e) Strukturelle Aspekte und Rahmenbedingungen sowie (f) Herausforderungen im Ar‐ beitsfeld und Ausblick.7 Zweitens durchliefen alle Beiträge ein Peer‐Review. Die ReviewerIn‐ nen hatten ebenfalls einen sozialarbeiterischen Hintergrund und waren in der Praxis tätig oder hatten zumindest einen direkten Bezug zur Praxis der Sozialen Arbeit. Mit diesem zweiten Blick auf die Praxis sollten fehlende Aspekte und regionale oder institutionelle Unterschiede eingebracht so‐ wie kritische Anregungen für die Überarbeitung gegeben werden. Drittens wurden alle Beiträge von den HerausgeberInnen gegenlesen, die weitere Anregungen zur Reflexion gaben. Wichtig waren uns dabei v. a. die Fragen, was das spezifisch Sozialarbeiterische im jeweiligen Arbeits‐ feld ist, wie die Funktion der Sozialen Arbeit beschrieben wird und auf welches Wissen und welche Methoden sich die Soziale Arbeit in ihrem Ar‐ beitsfeld jeweils bezieht. Viertens entschieden wir uns für ein Lektorat, welches nebst sprach‐ lichen Korrekturen auch inhaltliche und fachliche Rückmeldungen ein‐ bringen konnte. Dadurch wurden gerade implizite und alltägliche Selbst‐ verständlichkeiten der Praxis «aufgedeckt» und der expliziten Reflexion zugänglich gemacht. 7 Der Leitfaden findet sich im Anhang. 28 Einleitung Auf diese Weise hat der Grossteil der Beiträge mehrere Überarbei‐ tungsschlaufen durchlaufen und an Tiefe gewonnen. Natürlich blieb aber jede Autorin und jeder Autor selbst verantwortlich für ihren/seinen Bei‐ trag. Inwiefern sie auf Rückmeldungen und Anregungen von uns eingin‐ gen resp. diese als sinnvoll erachteten, lag im Ermessen der jeweiligen Au‐ torin und des jeweiligen Autors. 4. Die Beiträge Die Struktur des Buches folgt der Logik der schweizerischen Suchtpolitik der vier Säulen. Es sind dies (1) Gesundheitsförderung, Prävention und Früherkennung, (2) Therapie und Beratung, (3) Schadensminderung und Risikominimierung und (4) Regulierung und Vollzug (BAG 2015, S. 5). Er‐ gänzt werden die 14 Beiträge durch einen Artikel aus der Romandie und eine theoretische Reflexion von Peter Sommerfeld. Die erste Säule – Prävention – umfasst einerseits Massnahmen der Ge‐ sundheitsförderung, welche die Stärkung von individuellen gesundheitli‐ che Ressourcen zum Ziel haben und somit u. a. der Prävention von Sucht‐ problemen dienen. Andererseits werden unter dieser Säule Massnahmen zur Verhaltens‐ und Verhältnisprävention zusammengefasst, die das Ge‐ sundheitsverhalten der Menschen betreffen oder v. a. auch spezifisch auf Suchtfragen ausgerichtet sind (vgl. ebd., S. 26). Der Beitrag von Martina Buchli zum Arbeitsfeld Prävention hat den Fachbereich Gesundheitsförderung und Prävention der Stiftung Berner Gesundheit zum Gegenstand. Die Autorin zeigt auf, dass die Prävention sich zunehmend als eigene Fachrichtung zu verstehen beginnt und die un‐ terschiedliche disziplinäre Herkunft der Fachpersonen an Bedeutung ver‐ liert. Entsprechend ist bei der Autorin auch von einer «Suche» die Rede, nämlich eine Suche danach, was der spezifisch sozialarbeiterische Fokus und Beitrag der Prävention ist. Ein weiterer Beitrag zum Thema Früherkennung & Frühintervention (F&F) aus Sicht der Sozialen Arbeit war geplant. Es gelang uns aber nicht, eine Fachperson der Sozialen Arbeit zu finden, die diese Thematik aus ei‐ 29 ner sozialarbeiterischen Perspektive reflektieren konnte. Was für die Prä‐ vention gilt, scheint in einem stärkeren Sinne auch für F&F zuzutreffen: Die disziplinäre Herkunft tritt in den Hintergrund und es findet eine Iden‐ tifizierung mit dem Handlungsfeld statt, bei welcher die Differenzierung und die unterschiedlichen Bezugsprobleme und Funktionen der Professi‐ onen aus dem Blick geraten.8 Die Säule der Therapie und Beratung richtet sich an Menschen, die Probleme mit dem Konsum haben. Das Ziel von Beratung und Therapie sind die Verbesserung der Lebensqualität und der körperlichen und psy‐ chischen Verfassung der Betroffenen sowie deren soziale und berufliche Integration (vgl. ebd.). Der Beitrag von Ruth Rihs, ebenfalls von der Berner Gesundheit, weist deutlich darauf hin, dass es der Sozialen Arbeit im Bereich ambulante Beratung nicht um eine Suchttherapie im engeren Sinne geht. Vielmehr liegt der Fokus auf der Ermöglichung von Lebensqualität. Entsprechend ist auch von einer zieloffenen Grundhaltung die Rede. Aber auch Rihs be‐ trachtet die Kernfrage der Sozialen Arbeit, nämlich die, was ihr genuiner Beitrag in der ambulanten Beratung ist, als noch nicht ausreichend beant‐ wortet: «Eine der grössten Herausforderungen der Sozialen Arbeit ist be‐ stimmt jene der Bestimmung ihrer Identität» (S. 70). Der Beitrag von Markus Kaufmann nimmt das Arbeitsfeld Entzug und Entwöhnung in den Blick und reflektiert die sozialarbeiterische Praxis im Sozialdienst der Klink Zugersee. Er zeigt die Bedeutung der sozialen Le‐ benslage einer Person für eine erfolgreiche Behandlung auf. Um diese so‐ ziale Situation adäquat berücksichtigen zu können, führt der Sozialdienst in der ersten Woche nach Eintritt in die Klinik ein soziales Kurzassessment durch, auf dessen Grundlage die Interventionen in der sozialen Dimension geplant werden können. Rahel König‐Hauri widmet sich dem Arbeitsfeld Teilstationäre Thera‐ pie und reflektiert die Soziale Arbeit im Sozialdienst der Tagesklinik Lenz‐ burg, die zur Klinik im Hasel AG gehört. Das Setting einer Tagesklinik ist 8 Eine andere Frage, die sich bei dieser Säule stellt, ist, in wie fern hier eine eigene Fachrich‐ tung am Entstehen ist. Der neue Bachelorstudiengang «Gesundheitsförderung und Präven‐ tion» am Departement Gesundheit der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW ist dafür zumindest ein Indiz. Vgl. https://tinyurl.com/wuz426z, Zugriff 25.02.2020. 30 Einleitung für eine Klientel vorgesehen, die einen wesentlichen Teil ihres Alltags in ihrem privaten Umfeld verbringt. Dies ist mit Herausforderungen in der Lebensführung verbunden, die zum typischen Arbeitsgebiet der Sozialen Arbeit gehören. Die Stationäre Sozialtherapie ist Thema im Beitrag von Peter Forster, Fabian Müller und Michel Villard, die von der männerspezifischen Sucht‐ therapie in der Casa Fidelio in Niederbuchsiten berichten. Wie in den zwei vorangehenden Beiträgen ist hier die Soziale Arbeit auch im internen So‐ zialdienst tätig und für die soziale Dimension zuständig. Auffallend ist bei diesen drei Beiträgen die Fokussierung der Sozialen Arbeit auf ihre klassi‐ schen Themen: Arbeit, Alltagsgestaltung, Finanzen, Wohnen, Sozialversi‐ cherung, institutionelle Vernetzung u. a. m. Für das Arbeitsfeld Betreutes Wohnen berichten Fabienne Bingler und Hans Peter Engler aus der teilstationären Reintegration Stadtlärm der Suchthilfe Basel. Im Gegensatz zu eher behandlungsfokussierten Arbeits‐ feldern steht in diesem Arbeitsfeld nicht mehr die Suchttherapie i. e. S. im Fokus, sondern vermehrt lebensweltliche Themen wie soziale und beruf‐ liche Integration oder auch Wohnungssuche. Entsprechend rückt die Sozi‐ ale Arbeit deutlich ins Zentrum der Hilfe. So übernimmt sie im Rahmen des Case Managements die Fallführung aller KlientInnen. Das Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration ist Thema im Bei‐ trag von Andrea Kaspar und Stefan Leimgruber. Sie stellen den nieder‐ schwelligen Treffpunkt Azzurro in Bern vor, welcher vom Blauen Kreuz betrieben wird. Hierbei handelt es sich um ein Angebot, dass sich v. a. als Anschlusslösung an eine Therapie versteht. Auch dieses Angebot setzt sich zum Ziel, einen Beitrag zur sozialen Integration und zur Stabilisierung der psychosozialen Gesundheit zu leisten und versteht sich als ein spezifi‐ sches Angebot der Sozialen Arbeit. Das gleiche gilt auch für das Arbeitsfeld Arbeitsintegration. Der Beitrag von Martin Stalder und Karin Stoop reflektiert die Herausforderungen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die sich bei der Arbeitsintegration von suchtmittelabhängigen Menschen ergeben. Am Beispiel der Perspek‐ tive in Solothurn zeigen sie verschiedene Formen der Arbeitsintegration auf, von Beschäftigungs‐ bis hin zu Teillohnprogrammen. Auch hier zeigt 31 sich, und dies scheint somit für Angebote der «Nachsorge» und «Rein‐ tegration» typisch zu sein, dass der Hilfeprozess ein sozialarbeiterischer ist, der oft im Rahmen eines Case Managements geleistet wird. Soziale Arbeit als Bestandteil der Opioidagonistischen Therapie9 ist Thema im Beitrag von Regula Hälg vom Zentrum für Suchtbehandlung Suprax in Biel. Der Einbezug der Sozialen Arbeit in die Behandlungen mit u. a. Methadon und Diacetylmorphin (künstlich hergestelltes Heroin) ist explizit gesetzlich verankert, ohne dass aber konkrete sozialarbeiterische Massnahmen empfohlen werden. Entsprechend, so Hälg, tritt die Soziale Arbeit «nicht mit einer gleichermassen fundierten Expertise auf, wie dies […] die Ärztinnen und Ärzte tun. Sozialarbeitende stützen sich in ihrem Handeln nicht auf konsolidierte Theorien oder auf eine evidenzbasierte Praxis» (S. 165). Entsprechend wird die Legitimation der Sozialen Arbeit bisweilen in Frage gestellt. Hälg reflektiert einige wichtigen Massnahmen der Sozialen Arbeit und macht auf die Notwendigkeit einer weiteren Pro‐ fessionalisierung aufmerksam. Die Säule der Schadensminderung und Risikominimierung fokussiert auf den Erhalt der Lebensqualität der Betroffenen, damit diese trotz aktu‐ ellem Risiko‐ und Suchtverhalten ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können (vgl. BAG 2015, S. 27). In dieser Säule hat sich die Aufsuchende Soziale Arbeit, so Mathias Ar‐ bogast, unterdessen als eigenes Arbeitsfeld etabliert. Arbogast zeichnet diesen langen Weg zur Professionalisierung nach. Die Notwendigkeit die‐ ses Arbeitsfeldes sieht er v. a. darin, dass die «Komm‐Struktur» der beste‐ henden Angebote für einen Teil der Klientel zu hochschwellig ist. Darauf antwortet die aufsuchende Soziale Arbeit mit einer «Geh‐Struktur», die zu einer Umkehrung bei der Kontaktaufnahme führt. Auf diese Weise gelingt es ihr u. a., «eine Brücke von den bestehenden Angeboten zu potentiellen Klientinnen und Klienten zu schlagen» (S. 189). Wie Hälg sieht auch Arbo‐ gast einen zunehmenden Legitimationsdruck auf die Soziale Arbeit zu‐ kommen und empfiehlt dem Arbeitsfeld, sich mit Fragen der Wirkung und mit Wirkungsforschung auseinanderzusetzen. 9 Dieser Begriff löst zunehmend jenen der «substitutionsgestützten Behandlung bei Opioi‐ dabhängigkeit» ab. 32 Einleitung Im Bereich der niederschwelligen Sozialen Arbeit sind die Kontakt‐ und Anlaufstellen (K&A) so etwas wie die Pioniere der Schadensminde‐ rung. In den Konsumräumen kann die Klientel im geschützten Rahmen Substanzen konsumieren und weitere niederschwellige Angebote (z. B. Beratung, Kleidertausch, Duschmöglichkeiten, Essmöglichkeiten) in An‐ spruch nehmen. Franziska Schicker und Natascha Inauen reflektieren in ihrem Beitrag die sozialarbeiterische Praxis in den K&A in Zürich. Diese Praxis orientiert sich am Profil der klassischen Sozialarbeit und weniger an jenem der Sozialpädagogik. Die Soziale Arbeit ist zuständig für die be‐ ratungsorientierte Klientelarbeit und tritt, z. B. im Rahmen des Case Ma‐ nagements, als Schnittstellenkoordinatorin zu anderen Fachstellen auf. Was der Sozialen Arbeit teilweise fehlt, ist der «theoretische Bezugsrah‐ men, was die professionelle Sozialarbeit in diesem Arbeitsfeld angreifbar macht». Das Arbeitsfeld Nightlife und Freizeitdrogenkonsum ist Thema im Bei‐ trag von Alex Bücheli. Dieser Bereich beinhaltet sowohl präventive als auch schadensmindernde Aspekte. Im Fokus steht die Gesundheit der Gäste und hier v. a. die Frage, wie ein Konsum von psychoaktiven Sub‐ stanzen möglichst risikoarm gestaltet werden kann (z. B. durch Safer‐Use‐ Regeln, Drug Checking, Safer‐Clubbing). Grundlage der Sozialen Arbeit ist hier eine akzeptanzorientierte Haltung. Eine weitere Tätigkeit liegt in der Öffentlichkeitsarbeit und damit in der Ermöglichung einer friedlichen Ko‐Existenz von PartygängerInnen und Anwohnenden. Es geht um die Anerkennung des Nachtlebens als eigenständiger Sozialraum. Die friedliche Ko‐Existenz verschiedener Bedürfnisse im öffentlichen Raum ist auch Thema des Beitrags von Christina Rubin und Lucia Sidler zum Arbeitsfeld Intervention und Prävention im öffentlichen Raum. Die Au‐ torinnen reflektieren aus ihrer Praxis bei Sicherheit, Intervention, Präven‐ tion (SIP) Luzern. Diese Form der Intervention, die es in verschiedenen Städten der Schweiz in ähnlicher Form gibt, ist an der Schnittstelle zwi‐ schen Sozialer Arbeit und Polizei angesiedelt. Daraus ergibt sich das Di‐ lemma, dass Menschen mit Suchtproblemen einerseits ein Recht darauf haben, sich im öffentlichen Raum zu bewegen und diesen zu nutzen. An‐ derseits kann eine übermässige Ansammlung konsumierender Menschen 33 bei der Bevölkerung zu Unsicherheit führen. Mittels Sensibilisierung, Ver‐ mittlung aber auch mit der Einleitung ordnungspolitischer Massnahmen bewegt sich hier eine uniformierte Soziale Arbeit in einem deutlich sicht‐ baren Spannungsfeld zwischen Sozialer Arbeit und der vierten Säule der Schweizer Suchtpolitik, der Repression (Regulierung und Vollzug). In die‐ ser Säule geht es um die Umsetzung der bestehenden gesetzlichen Rah‐ menbedingungen und um die Verfolgung und strafrechtliche Ahndung des illegalen Konsums (vgl. BAG 2015, S. 27). Ebenfalls im Kontext der Säule Repression ist das Arbeitsfeld der Be‐ währungshilfe zu finden. Dieses Arbeitsfeld wird von Carolin Ospelt und Marcel Müller von der Bewährungshilfe St. Gallen diskutiert. Die Bewäh‐ rungshilfe als Soziale Arbeit hat das Ziel, straffällig gewordene Personen bei der Integration in die Gesellschaft zu unterstützen. Auch die Bewäh‐ rungshilfe hat es mit dem oben erwähnten Dilemma zu tun und sieht sich zunehmend mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, den Fokus verstärkt auf Sicherungsmassnahmen zu legen. Mit diesen vierzehn Beiträgen wird die Situation der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe der Deutschschweiz reflektiert. Unser Ziel war es, aus der Romandie und dem Tessin ebenfalls einen Beitrag ins Buch aufzunehmen, um die Situation der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe in den jeweiligen Sprachregionen zu reflektieren. Für den Kanton Tessin hatten wir zu Be‐ ginn eine feste Zusage, welche von den Autoren leider nicht eingehalten werden konnte. Die knappe Zeit ermöglichte es daraufhin nicht mehr, ei‐ nen neuen Artikel zu organisieren. Der Beitrag aus der Romandie von Jean‐Félix Savary, Ann Tharin et al. ist zugleich ein Plädoyer für und eine Reflexion über die Soziale Arbeit. In einem ersten Schritt zeichnet der Artikel die Veränderungen politischer Rahmenbedingungen nach, welche die Medizinalisierung der Suchthilfe begünstigten. Dies hat aufgrund von spezifischen Eigenheiten der Roman‐ die – z. B. der frankophonen Tradition des «starken Staates» – zu einem grossen Umbau der Konzepte und Leistungen in der Suchthilfe geführt, welche die Suchtbehandlung zu einem biomedizinischen Gesundheits‐ thema machen. Vor diesem Hintergrund ist es für die AutorInnen ent‐ scheidend, dass die Soziale Arbeit die soziale Dimension in den Blick 34 Einleitung nimmt: «Es geht nicht mehr einfach um den Zusammenhang von Sucht‐ mittelkonsum und den damit verbundenen Schwierigkeiten, die heutzu‐ tage im medizinischen Bereich umfassend thematisiert werden, sondern darum, die zahlreichen Dimensionen zu berücksichtigen, die erforderlich sind, um eine würdige Lebensqualität sicherzustellen» (S. 265). Es geht um Recovery und damit um eine Ermöglichung einer positiven sozialen In‐ tegration, in welcher der oder die Einzelne wieder als selbstbestimmtes In‐ dividuum in der Gesellschaft partizipieren kann. Mit diesem Fokus findet die Soziale Arbeit auch in der Nationalen Strategie Sucht (vgl. BAG 2015) ihre Fürsprecherin, indem ein Ziel der Strategie ebenfalls in der Ermögli‐ chung von Autonomie liegt. Im zweiten Teil des Beitrages wird anhand von verschiedenen Praxisbeispielen gezeigt, wie die Soziale Arbeit Recovery‐Prozesse fördern kann. Die komplementäre Ergänzung von medizinischer Behandlung einer‐ seits und Ermöglichung von sozialer Integration anderseits verlangt nach einem integrativen Modell, mit dem beides aufeinander bezogen und un‐ tereinander abgestimmt werden kann. Dieser Gedanken aus der «Roman‐ die» findet im Beitrag von Peter Sommerfeld seine Fortsetzung. Ziel seines Beitrages ist, die Bedeutung der sozialen Dimension für die Thematik Sucht aufzuzeigen und darauf aufbauend Grundlagen für die Schärfung des Profils der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe zu liefern. Sommerfeld be‐ tont vor dem Hintergrund des transdiziplinären bio‐psycho‐sozialen Mo‐ dells ebenfalls die Komplementarität der Sozialen Arbeit zur medizinisch‐ (psycho‐)therapeutischen Orientierung. Die Soziale Arbeit kann ihre Zu‐ ständigkeit für die soziale Dimension aber nur durchsetzen, wenn sie im Behandlungsprozess als massgebliche Kraft im Sinne einer eigenständigen Profession auftritt. Die Soziale Arbeit muss Behandlungen anbieten, «die ihrer Zuständigkeit entsprechen, die dem Stand ihrer fachlichen Entwick‐ lung entsprechen und die ihr zugerechnet werden, und das heisst, dass sie nicht im Meer der medizinisch‐therapeutisch strukturierten Multiprofes‐ sionalität oder ihrer eigenen Diffusität verschwimmen» (S. 286). Die Wich‐ tigkeit der Sozialen Arbeit im Suchtbereich ist unbestritten. Die Frage ist aber, wie weit es ihr gelingt, eine massgebliche Profession in der Suchthilfe zu sein, d. h. ihre Zuständigkeit durchzusetzen und die dafür notwendi‐ gen Ressourcen für sich zu reklamieren. Zentral dafür ist, wie Sommerfeld 35 mit Verweis auf den Professionssoziologen Abbott hervorhebt, das Wissen inkl. Handlungswissen. Folgende Fragen – so Sommerfeld – ergeben sich daraus für die in diesem Buch abgedruckten Texte: Beziehen sich die Bei‐ träge auf eine sozialarbeiterische Wissensbasis (zum Thema Sucht, Theo‐ rien, Methoden) und dementsprechend auf Literatur aus ihrem Fachbe‐ reich? Gelingt es den Beiträgen, die soziale Dimension mit Inhalt zu füllen und sie in einen grösseren Zusammenhang zu integrieren, wie z. B. in ein bio‐psycho‐soziales Modell? Definieren sich die AutorInnen auch inhalt‐ lich als der Profession der Sozialen Arbeit zugehörig oder nicht, und macht dies einen wesentlichen Unterschied? Wird die Soziale Arbeit in einem in‐ terdisziplinären Feld sichtbar gemacht und wird ihre fachliche Positionie‐ rung deutlich? Sommerfeld stellt hier gewichtige Fragen, welche die künftige Positi‐ onierung der Sozialen Arbeit im Feld betreffen. Sie sollen zum Reflektieren beim Lesen der Beiträge anregen. Dabei geht es nicht darum, ob die Soziale Arbeit eine Zukunft in der Suchthilfe hat. Es geht darum, wie diese ausse‐ hen soll. 5. Ausblick und Dank Wie bereits eingangs erwähnt, soll mit diesem Buch der erste Schritt für einen längeren Prozess lanciert werden. Die aufgeworfenen Fragen geben erste Hinweise, vor welchem Hintergrund und in welcher Hinsicht die ak‐ tuelle Praxis analysiert werden kann. Das Buch will Fachleute aus For‐ schung, Lehre und Praxis der Sozialen Arbeit animieren, sich genau diesen Themen anzunehmen und sie breit zu diskutieren. Geplant ist eine Ta‐ gung, die mithilfe der vorliegenden Bestandesaufnahme den Handlungs‐ und Forschungsbedarf thematisieren und konkretisieren soll.10 Längerfris‐ tiges Ziel ist die Formulierung von Empfehlungen für eine professionelle Praxis der Sozialen Arbeit in den verschiedenen Arbeitsfeldern der Sucht‐ hilfe. 10 Hinweise zur Tagung vom 2. Juni 2021unter www.suchthilfeplus.ch 36 Einleitung Dieses Buch ist nur dank einer Vielzahl von Personen und Institutio‐ nen möglich geworden. Für die Finanzierung und Ermöglichung einer O‐ pen Access Publikation bedanken wir uns ganz herzlich bei den verschie‐ denen Geldgebern. Es sind dies die Kantone Aargau, Appenzell Innerrho‐ den, Graubünden, Nidwalden, St. Gallen und Solothurn mit ihren Beiträ‐ gen aus dem Alkoholzehntel sowie der Swisslos‐Fonds des Kantons Ob‐ walden. Die Finanzverwaltung und viele Aufgaben rund um das Thema Book‐Management übernahm Monika Ammann vom Institut für Soziale Arbeit und Gesundheit ISAGE der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Herzlichen Dank! Sitzungsräume und wertvolle administrative Unterstützung stellte uns immer wieder der Fachverband Sucht zur Ver‐ fügung. Ein weiterer grosser Dank geht an Lea Huber vom ISAGE. Sie fügte die verschiedenen Dokumente in ein einheitliches Layout zusam‐ men. Ein spezieller Dank geht an alle Reviewerinnen und Reviewer der Beiträge. Die Liste der ReviewerInnen ist im Anhang zu finden. Ein riesiger Dank gebührt Marianne König von Infodrog. Sie lekto‐ rierte nahezu alle Beiträge und mit ihren Rückmeldungen und Reflexions‐ anregungen hat sie einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieses Bu‐ ches geleistet. Ein grosser Dank geht an unsere Arbeitgebenden. Die Aargauische Stiftung Suchthilfe ags, die FHNW, das Forum Suchtmedizin Ostschweiz FOSUMOS und die Schweizerische Koordinations‐ und Fachstelle Sucht Infodrog stellten zeitliche Ressourcen und räumliche Infrastrukturen zum Gelingen dieses Buches zur Verfügung. Der grösste Dank geht an die Autorinnen und Autoren. Viele von ihnen haben einen langen Prozess bei der Erstellung ihres Beitrages durch‐ gemacht, wurden von uns immer und immer wieder angeschrieben mit der Bitte, diesen Aspekt noch zu vertiefen oder dort noch etwas zu ergän‐ zen. Wir haben sie strapaziert und viele von ihnen mussten auch in der Freizeit an ihren Beiträgen arbeiten. Umso mehr hoffen wir nun, dass sie mit dem vorliegenden Resultat zufrieden sind und das Buch für ihre Praxis wertvolle Dienste leisten kann. Die Herausgeber und die Herausgeberin Marcel Krebs, Roger Mäder und Tanya Mezzera 37 Literatur BAG – Bundesamt für Gesundheit (2015): Nationale Strategie Sucht. www.tinyurl.com/y3ys9crl, Zugriff 02.03.2020. Bayer‐Mai, B. (2019): Eine Systematisierung der Ambulanten Suchtberatung durch das Le‐ bensbewältigungskonzept nach Lothar Böhnisch. Bachelor Thesis, FH Münster. DG‐SAS – Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (2015): Kompetenzpro‐ fil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und Suchtprävention. www.tinyurl.com/yx3leu9x, Zugriff 02.03.2020. DHS – Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (2020): Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland. Analyse der Hilfen und Angebote und Zukunftsper‐ spektiven. Update 2019. www.tinyurl.com/tjmgpa5, Zugriff 13.03.2020. Gastiger, S./Abstein, H. J. (Hrsg.) (2012): Methoden der Sozialarbeit in unterschiedlichen Ar‐ beitsfeldern der Suchthilfe. Freiburg i. Br.: Lambertus. Hansjürgens, R. (2013): «Zwischen den Stühlen...» – Soziale Arbeit in der ambulanten Sucht‐ hilfe. Eine explorative Arbeitsfeldanalyse anhand von Experteninterviews. Katholische Hochschule Nordrhein‐Westfalen. www.tinyurl.com/ubf9fo6, Zugriff 02.03.2020. Hansjürgens, R. (2018): In Kontakt kommen: Analyse der Entstehung einer Arbeitsbezie‐ hung in Suchtberatungsstellen. Marburg: Tectum Wissenschaftsverlag. Hansjürgens, R./Schulte‐Derne (Hrsg.) (2020): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitli‐ nien und Instrumente für Soziale Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Krebs, M. (2020): Das biopsychosoziale Modell. In: O. Schmid & T. Müller (Hrsg.), Die Sucht‐Enzyklopädie – Addictionary. Lngerich: Papst. (im Erscheinen) Laging, M. (2018): Soziale Arbeit in der Suchthilfe: Grundlagen – Konzepte – Methoden. Stuttgart: Kohlhammer. Ortmann, K. (2015): Ist Sozialarbeit (k)ein Gesundheitsberuf? SiO ‐ Soziale Arbeit in Öster‐ reich, 4: 13–17. Pauls, H. (2011): Klinische Sozialarbeit: Grundlagen und Methoden psycho‐sozialer Be‐ handlung. Weinheim: Juventa. Prümel‐Philippsen, U. (2020): Die Ottawa‐Charta zur Gesundheitsförderung ‐ Entstehungs‐ hintergründe, Konzept, Umsetzung in Deutschland, Entwicklungsperspektiven. S. 25‐ 34 in: C. 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Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Soziale Arbeit in der Suchtprävention – eine Suche Arbeitsfeld Prävention Martina Buchli1 1. Einleitung Der Frage nach dem Stellenwert der Sozialen Arbeit in der Suchtpräven‐ tion geht die Frage voraus, welche Aufgaben die Soziale Arbeit in der Suchtprävention überhaupt übernimmt. Was ist ihr Beitrag, ihre Expertise und ihre Legitimation. Der folgende Text bezieht sich auf den Fachbereich Gesundheitsförderung und Prävention (nachfolgend GuP genannt) der Stiftung Berner Gesundheit. Die Berner Gesundheit ist eine Stiftung, die im Auftrag der Gesundheits‐, Sozial‐ und Fürsorgedirektion des Kantons Bern zuständig für Gesundheitsförderung, Prävention, Sexualpädagogik sowie Suchtberatung und Suchttherapie ist. Der Auftrag des Fachbereichs GuP zielt auf die Förderung der Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kanton Bern. Die Berner Gesundheit bietet Beratung, Schulung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit an (Berner Ge‐ sundheit 2016). 2. Gesundheitsförderung und Prävention Gesundheitsförderung und Prävention sind der ersten der vier Säulen der Schweizer Suchtpolitik zuzuordnen. Gesundheitsförderung möchte den Menschen Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit befähigen. Gesundheitsförderung befähigt Individuen, Gruppen und Organisationen, die Voraussetzungen ihrer Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern – mittels Veränderung der Lebensstile und Gestaltung der Lebensbedingungen (vgl. Altgeld & Fachmitarbeiterin im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention bei der Berner Ge‐ sundheit, MA Soziale Arbeit. 1 © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_2 40 Arbeitsfeld Prävention Kolip 2014). Im Bereich der Gesundheitsförderung erarbeitet die Berner Gesundheit gesundheitsfördernde Konzepte und setzt Massnahmen zur Förderung von Lebenskompetenzen und psychischer und sexueller Ge‐ sundheit um (Berner Gesundheit 2016). So berät und unterstützt sie bei‐ spielsweise Schulen, Organisationen des Freizeitbereichs und auch ganze Gemeinden. Mit Prävention sind alle gezielten Massnahmen gemeint, die ergriffen werden, um ein Gesundheitsproblem oder eine ungewollte Entwicklung zu verhindern, weniger wahrscheinlich zu machen oder zu verzögern. Die Präventionsmassnahmen der Berner Gesundheit umfassen die Themen Suchtprävention, Prävention von risikoreicher Nutzung von digitalen Me‐ dien, Prävention von Gewalt und Mobbing, Prävention von depressiven Verstimmungen und Suizidalität sowie Prävention von sexueller Gewalt (Berner Gesundheit 2016). Der Auftrag des Fachbereichs geht damit über die reine Suchtprävention hinaus. Dies prägt den Arbeitsalltag der Fachmitarbeitenden. Ebenso die zentrale Orientierung an MultiplikatorInnen und Settings. Leitend ist für die Berner Gesundheit ein bio‐psycho‐soziales Gesundheitsverständnis sowie die Gesundheitsdefinition der WHO: «Gesundheit wird von Men‐ schen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: Dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und leben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt wird, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermög‐ licht» (WHO 1986). 3. Arbeiten mit MultipliaktorInnen und Settings Die Fachmitarbeitenden des Fachbereichs GuP der Berner Gesundheit ar‐ beiten im Auftrag des Kantons nach dem MultiplikatorInnen‐Ansatz. Un‐ ter MultiplikatorInnen werden Personen verstanden, welche empfangene Informationen und vermittelte Kompetenzen an andere Personen und In‐ stitutionen weitergeben und dadurch vervielfachen bzw. multiplizieren. Martina Buchli 41 Im Fachbereich GuP sind MultiplikatorInnen die Hauptzielgruppe der In‐ terventionen. Die Endzielgruppe der Interventionen, also dort wo über MultiplikatorInnen Wirkung erzielt werden soll, sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. MultiplikatorInnen mit welchen der Fachbereich zusammenarbeitet sind beispielsweise Eltern, Kitamitarbeitende, Lehrper‐ sonen, Schulleitungen, Schulsozialarbeitende, SozialpädagogInnen, Ju‐ gendarbeitende und SporttrainerInnen. Aus Sicht des Fachbereichs GuP kommt MultiplikatorInnen die wichtige Aufgabe zu, bei Kindern und Ju‐ gendlichen zur Stärkung von Schutzfaktoren und Reduktion von Belas‐ tungsfaktoren beizutragen. Sie können in ihrem Wirkungsbereich eine we‐ sentliche Übersetzungsfunktion ausüben, indem sie die Botschaften und Massnahmen zielgruppengerecht und den Settings und Lebenswelten an‐ gepasst weitergeben, umsetzen und verankern (Berner Gesundheit 2016). Dies können einmalige Interventionen durch Präventionsfachmitarbei‐ tende nicht leisten. Ein weiterer bedeutender Aspekt der Arbeit des Fachbereichs ist die Ausrichtung an Settings Unter Settings werden bei der Berner Gesundheit Lebenswelten verstanden, in welchen sich Kinder, Jugendliche, junge Er‐ wachsene und deren Bezugspersonen aufhalten. Setting oder Lebenswel‐ ten sind Orte oder soziale Zusammenhänge, in denen sich der Alltag von Menschen abspielt, denen sie sich zugehörig fühlen und die einen Einfluss auf ihre Gesundheit haben. Dazu gehören beispielsweise der Lehrbetrieb, die Wohnsiedlung, Bildungsinstitutionen oder Freizeiteinrichtungen. Auf den Settingansatz als bedeutender Ansatz der Prävention wird weiter unten nochmals eingegangen. 3.1 Professionelle der Gesundheitsförderung und Prävention Die Soziale Arbeit mit ihren Bezügen, Handlungsfeldern, Arbeitsprinzi‐ pien und Methoden dient als Bezugsrahmen für einige unserer Multipli‐ katorInnen wie z. B. für Schulsozialarbeitende, Jugendarbeitende und So‐ zialpädagogInnen. Im Rahmen ihrer Anstellung haben sie meist auch ei‐ nen Auftrag der Gesundheitsförderung und Prävention. 42 Arbeitsfeld Prävention Im Fachbereich GuP der Berner Gesundheit arbeiten Professionelle aus unterschiedlichen Berufsgruppen. Es sind dies Personen mit einem pä‐ dagogischen, einem psychologischen oder einem sozialpädagogischen, so‐ ziokulturellen oder sozialarbeiterischen Hintergrund. Viele der Mitarbei‐ tenden verfügen zusätzlich über Qualifikationen in den Bereichen Erwach‐ senenbildung, Organisationsentwicklung und Coaching/Supervision. Diese interdisziplinäre Zusammensetzung wird vom Stiftungsrat und der Geschäftsleitung explizit gewünscht. Im Austausch im Team ist die beruf‐ liche Herkunft der Fachmitarbeitenden jedoch kaum ein Thema. Alle tra‐ gen den Titel der Fachmitarbeiterin oder des Fachmitarbeiters Prävention und scheinen sich primär auch darüber zu definieren. Für die weitere Klä‐ rung der Beziehung zwischen der Sozialen Arbeit und der (Sucht‐)Präven‐ tion sollen daher im Weiteren wichtige Aspekte der Prävention aufgezeigt und anschliessend in Bezug zur Sozialen Arbeit gesetzt werden. 4. Zielgruppen und Lebenswelten Die Präventionsmassnahmen werden entlang der Zielgruppen differen‐ ziert, indem zwischen universeller, selektiver und indizierter Prävention unterschieden wird. Diese Einteilung richtet sich an den Lebenswelten und Lebenslagen der Zielgruppen aus und vermag daher die Zielgruppe deutlicher zu definieren als dies mit der Einteilung nach primärer, sekun‐ därer und tertiärer Prävention (Einordnung nach Zeitpunkt der Interven‐ tion) möglich ist. Letztere Einteilung ist eher dem medizinischen Klassifi‐ kationssystem zuzuordnen (vgl. Laging 2018). 4.1 Universell, selektiv, indiziert Die universelle Prävention richtet sich an eine breite Zielgruppe, welche unterschiedliche Risiko‐ und Schutzfaktoren aufweist. Dies können bei‐ spielsweise Kampagnen oder die Arbeit mit allen SchülerInnen einer Schule sein. Die Fachmitarbeitenden vermitteln den MultiplikatorInnen Handlungswissen, damit sie Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, Belastungssituationen besser bewältigen zu können. So führen die Fach‐ Martina Buchli 43 mitarbeitenden beispielsweise in Kollegien Schulungen zum Thema För‐ derung der Lebenskompetenzen oder zur Bedeutung eines guten Klassen‐ klimas durch. Um ihrer bedeutenden Rolle als Bezugspersonen gerecht zu werden, gilt es zudem, die MultiplikatorInnen in dieser Rolle und in ihrem Auftrag zu stärken. Die selektive Prävention richtet sich an Gruppen, welche über empi‐ risch belegte erhöhte Risiken verfügen, beispielsweise Kinder aus suchtbe‐ lasteten Familien. Dabei zeigen diese Kinder selbst meist noch kein risiko‐ haftes Verhalten. Anders ist es bei der Zielgruppe der indizierten Präven‐ tion. Diese Kinder und Jugendlichen zeigen bereits Problemverhalten, ohne jedoch bereits Diagnosekriterien zu erfüllen (vgl. Infodrog 2018). Ri‐ siken sind in einer Gesellschaft ungleich verteilt. Selektive oder indizierte Strategien ermöglichen es, dass Prävention jene Zielgruppen erreicht, wel‐ che auch eine erhöhte Problemlast tragen. Dabei besteht immer auch das Risiko der Stigmatisierung, zudem sind die Strategien methodisch heraus‐ fordernd (vgl. Sucht Schweiz 2013). Die Fachmitarbeitenden mit einem Hintergrund der Sozialen Arbeit haben meist Praxiserfahrungen in Feldern mit Zielgruppen mit erhöhten Risiken, beispielsweise in Einrichtungen der Kinder‐ und Jugendhilfe. Sol‐ che Praxiserfahrungen aus der stationären Kinder‐ und Jugendhilfe und das spezifische Wissen zu Themen wie Kinder aus suchtbelasteten Fami‐ lien oder Resilienzförderung helfen in Beratungen, den Alltag dieses Set‐ tings besser zu erfassen, differenziertere Fragen zu stellen und Verknüp‐ fungen herzustellen. 4.2 Früherkennung und Frühintervention Viele Schnittstellen zur zweiten Säule der Schweizer Suchtpolitik, der Be‐ ratung und Therapie, weist die Früherkennung und Frühintervention auf. «Früherkennung und Frühintervention hat zum Ziel, ungünstige Entwick‐ lung und Rahmenbedingungen sowie problematische Verhaltensweisen (…) wahrzunehmen, passende Hilfestellungen zu finden und die betroffe‐ nen Menschen in ihrer gesunden Entwicklung und gesellschaftlichen In‐ tegration zu unterstützen» (Avenir Social et al. 2016). Unter Früherkennung ist zu verstehen, dass schwierige Situationen, Auffälligkeiten und Symptome rechtzeitig wahrgenommen und richtig 44 Arbeitsfeld Prävention gedeutet werden (Gefährdungseinschätzung). Den MultiplikatorInnen kommt dabei durch ihren häufigen Kontakt und die Beziehung zur Ziel‐ gruppe und teils auch zu deren Familien oder Systemen eine grosse Be‐ deutung zu. Es gilt, die MultiplikatorInnen für diese Rolle zu sensibilisie‐ ren und zu befähigen. Auch das Wahrnehmen, Erkennen und Benennen von ungünstigen gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen sind wichtige Aufgaben der Früherkennung. Frühintervention verfolgt das Ziel, den als gefährdet erkannten Per‐ sonen und deren Umfeld eine geeignete Unterstützung anzubieten. Dafür müssen die MultiplikatorInnen geklärt haben, wie weit ihr Auftrag geht, und sie benötigen Wissen über weiterführende Angebote, an welche sie triagieren können (Avenir Social et al. 2016). Die Tatsache, dass bei der Berner Gesundheit der Bereich Gesundheitsförderung und Prävention un‐ ter einem Dach mit der Beratung und Therapie ist, stellt dabei eine grosse Chance dar. Fachmitarbeitende mit einem Hintergrund der Sozialen Arbeit, haben häufig selbst in Funktionen gearbeitet, in welchen Früherkennung und Frühintervention Teil ihres Auftrags war. Dieses Fach‐, Methoden‐ und Erfahrungswissen hilft beispielsweise, MultiplikatorInnen bei der Einfüh‐ rung eines Leitfadens der Früherkennung und Frühintervention zu beglei‐ ten und dabei Möglichkeiten und Grenzen aufzuzeigen. 4.3 Settingansatz Um die erwähnten förderlichen Rahmenbedingungen herzustellen, braucht es nicht nur Wissen über die Zielgruppen, sondern auch über de‐ ren Lebenswelten respektive Settings. Der Settingansatz fokussiert auf diese und damit auf die Rahmenbedingungen, unter welchen die Men‐ schen leben. Das Ziel ist es, die Lebenswelten so zu gestalten, dass sie einen positiven Einfluss auf die Gesundheit haben. Dabei ist zwischen Gesundheitsförderung und Prävention im Setting und der Schaffung von gesundheitsförderlichen Settings zu unterscheiden. Im Setting steht im Vordergrund, beispielsweise durch aufsuchende Ange‐ bote, die Zielgruppen besser zu erreichen. Martina Buchli 45 Bei der Schaffung von gesundheitsförderlichen Settings stehen vor allem die Partizipation und der Prozess der systemischen Entwicklung im Zent‐ rum (Rosenbrock & Hartung 2011). Denn: «Gesundheitsförderliche Mass‐ nahmen sind umso erfolgreicher, je stärker die Beteiligten an der Proble‐ meinschätzung, der Planung und der Umsetzung gesundheitsförderlicher Massnahmen mitwirken... Nur was die Menschen wirklich selber wollen, setzen sie auch nachhaltig um» (Gesundheit Berlin‐Brandenburg e.V. 2014: 9). Somit verbindet der Settingansatz die Strukturentwicklung und die Stärkung der individuellen Kompetenzen und Ressourcen, verbindet also Verhältnisse und Verhalten (Fabian et al. 2017) Der Partizipation kommt beim Settingansatz ein hoher Stellenwert zu. Gerade Fachmitarbeitende mit einem Hintergrund in der Sozialen Ar‐ beit, speziell der Soziokultur, verfügen hier über ein hohes Fach‐, Metho‐ den‐ und Erfahrungswissen. Dieses Wissen ist beispielsweise in der Arbeit mit Gemeinden unabdingbar für die Initiierung und Begleitung von Parti‐ zipationsprozessen. 5. Verhalten und Verhältnisse Vermehrt wurde im Text bereits von Verhalten und Verhältnissen gespro‐ chen. Dies sind zwei bedeutende Grundbereiche in der (Sucht‐)Prävention. Bei der Verhaltensprävention zielen die Interventio‐ nen auf das individuelle Verhalten einer Person. Dies bedingt Wissen um personenbezogene Risiko‐ und Schutzfaktoren und methodisches Werk‐ zeug, um durch Sensibilisierung und Interventionen auf das Verhalten ei‐ ner Person Einfluss nehmen zu können. Die Verhaltensprävention ist vor allem bei der Arbeit der MultiplikatorInnen mit der Zielgruppe bedeu‐ tend. Wie erwähnt, ist die Suchtprävention meist Teil ihres Auftrags. Von einer Fachstelle für Gesundheitsförderung und Prävention erwarten sie sich daher die Aufbereitung aktuellen Wissens, von Materialien und Me‐ thoden, wie die Thematik mit Kindern und Jugendlichen aufgenommen und bearbeitet werden kann. Ein zentraler Faktor ist dabei das Wissen über den Einfluss der unterschiedlichen Belastungs‐ und Schutzfaktoren auf das zu verhindernde Problem und über das Zusammenspiel dieser Faktoren. Unabdingbar sind weiter möglichst umfassende Kenntnisse 46 Arbeitsfeld Prävention über die zu beeinflussenden Systeme (Organisationen, Familien etc.) sowie eine Vielfalt von hinreichend reflektierten und evaluierten methodischen Zugängen, welche auf die jeweiligen Konstellationen von Problemein‐ flussfaktoren und die strukturellen Eigenheiten der Zielsysteme (Settings) zugeschnitten sind. Die Fachmitarbeitenden halten ihr Wissen in den ver‐ schiedenen Themenbereichen sowie zu den personenbezogenen Risiko‐ und Schutzfaktoren aktuell und verarbeiten Forschungsgrundlagen so, dass sie für die Praxis verständlich, zugänglich und nützlich werden. Es ist hilfreich, wenn die Fachmitarbeitenden über eigene Settingkenntnisse verfügen, um die Unterstützung möglichst adressatInnen‐ und settingge‐ recht aufzubereiten. Unter Verhältnisprävention werden vor allem strukturelle Massnah‐ men verstanden, welche förderliche Rahmenbedingungen für ein gesun‐ des Aufwachsen der Zielgruppen ermöglichen. Dabei ist den sozio‐ökono‐ mischen Lebensbedingungen besondere Beachtung zu schenken (vgl. Laging: 2018). So formuliert die Nationale Strategie zur Prävention nicht‐ übertragbarer Krankheiten (NCD‐Strategie) als Grundsatz: «Ansätze der Verhaltens‐ und Verhältnisprävention werden kombiniert. Um der Bevöl‐ kerung eine gesunde Wahl zu ermöglichen werden gesundheitsförderli‐ che Rahmenbedingungen verbessert und Kompetenzen und Ressourcen betroffener Menschen gestärkt» (BAG/GDK 2016: 35). Bedeutend ist dabei, dass Gesundheit durch mehrere Faktoren beeinflusst wird: die sogenann‐ ten Gesundheitsdeterminanten. 5.1 Gesundheitsdeterminanten In der täglichen Arbeit mit den MultiplikatorInnen begegnen die Fachmit‐ arbeitenden einem heterogenen Verständnis von Gesundheit und der Ent‐ stehung von Krankheiten oder Sucht. Gerade bei der Frage der sozialen Dimension von Gesundheit bestehen sehr unterschiedliche Definitionen und Ansichten. So gilt es häufig zu Beginn der Zusammenarbeit mit den MultiplikatorInnen das Grundverständnis von Gesundheit zu klären, bei‐ spielsweise der Ansatz einer bio‐psycho‐sozialen Gesundheit. Zur Erklä‐ rung, welche Faktoren Einfluss auf die Gesundheit nehmen, ist das Modell Martina Buchli 47 der Gesundheitsdeterminanten des Bundesamtes für Gesundheit (vgl. BAG/GDK 2016) hilfreich. Gesundheitsdeterminanten können mitsamt ihrem positiven oder ne‐ gativen Einfluss auf die Gesundheit in fünf übergeordnete Bereiche einge‐ teilt werden (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Gesundheitsdeterminanten (BAG/GDK 2016) Die verschiedenen Dimensionen von Determinanten stehen in einer Wechselbeziehung. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens‐ bedingungen haben einen grossen Einfluss auf die Gesundheit und sind auch weitgehend für die soziale Ungleichheit der Gesundheit verantwort‐ lich (vgl. Fachkonzept Berner Gesundheit 2016). Im Berner Sozialbericht 2015 wird festgehalten, «dass Menschen häufiger wegen ihres niedrigen sozialen Status bei schlechter Gesundheit sind, als dass sie wegen gesund‐ heitlicher Probleme einen gesellschaftlichen Abstieg erleben» (Regierungs‐ rat Bern 2015: 61). Die Wissensvermittlung über die Wirkungszusammen‐ hänge zwischen sozioökonomischem Status als Ausdruck der sozialen Di‐ 48 Arbeitsfeld Prävention mension und bio‐psycho‐sozialer Gesundheit ist notwendig. Welchen Ein‐ fluss hat die soziale Dimension auf körperliche oder psychische Beschwer‐ den? Wie beeinflusst der sozioökonomische Status die Teilhabe am sozia‐ len Leben? Die Thematisierung dieser Fragen und Sensibilisierung dafür sind beispielsweise in der Arbeit mit Gemeinden zentral. Nur wenn die politische Ebene erkennt, dass die Herausforderungen, die mit einem problematischen Suchtmittelkonsum von Jugendlichen einhergehen, nicht in die alleinige Verantwortung der Jugendlichen und deren Familien fal‐ len, wird auch Geld für Massnahmen der Verhältnisprävention gespro‐ chen. Für die Professionellen der Gesundheitsförderung und Prävention und besonders für die Professionellen der Sozialen Arbeit in diesem Feld ist es vordringlich, dass Prävention auch besonders belastete Zielgruppen erreicht und die MultiplikatorInnen über den Zusammenhang von Verhal‐ ten, Verhältnissen und ungleichen Gesundheitschancen sensibilisiert sind und entsprechend handeln. Dies beinhaltet, dass auf der Verhaltens‐ und der Verhältnisebene interveniert und investiert wird. Die MultiplikatorIn‐ nen dahingehend zu sensibilisieren, zu beraten und zu begleiten ist die Aufgabe der Fachmitarbeitenden der Gesundheitsförderung und Präven‐ tion. Die Arbeit an der sozialen Dimension ist Auftrag der Sozialen Arbeit. 6. Chancengerechte Gesundheitsförderung und Prävention Der Kern der Sozialen Arbeit im Feld der Gesundheitsförderung und Prä‐ vention ist daher die Förderung einer chancengerechten Gesundheitsför‐ derung und Prävention – durch Thematisierung, Bestrebung und Umset‐ zung. Wie bereits aufgezeigt, besteht ein direkter Zusammenhang zwi‐ schen Gesundheit und sozioökonomischem Status. Weber & Salis Gross formulieren den Auftrag der Gesundheitsförderung und Prävention wie folgt: «Eine chancengerechte Gesundheitsförderung und Prävention strebt einerseits danach, Ungleichheiten in der Verteilung von Schutzfaktoren und Ressourcen zu reduzieren. Andererseits beabsichtigt sie, Risikofakto‐ ren und Belastungen abzubauen» (Weber & Salis Gross 2018: 14). Auch die NCD‐Strategie formuliert in einem ihrer Grundsätze, dass der Förderung Martina Buchli 49 der Gesundheit von Menschen in vulnerablen Situationen besondere Be‐ achtung geschenkt werden soll (vgl. BAG/GDK 2016: 35). Die Berner Gesundheit befasst sich schon länger mit diesem Aspekt. Das Augenmerk richtet sich vor allem auf die Diversitätsaspekte Alter, Ge‐ schlecht, kultureller Hintergrund, Migrationserfahrung, gesundheitliche Beeinträchtigung, sexuelle Orientierung sowie sozioökonomische Ausstat‐ tung. Ziel der Diversität und Chancengerechtigkeit gegenüber KlientInnen und KundInnen ist, allen Bevölkerungsgruppen und Personen den Zu‐ gang zu den Dienstleistungen der Berner Gesundheit zu ermöglichen so‐ wie die unterschiedlichen Voraussetzungen, Merkmale, Problematiken und Ressourcen der einzelnen Personen und Gruppen als solche und in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und in die Angebotsentwicklung und ‐ erfüllung einzubeziehen (vgl. Berner Gesundheit 2015). So hat der Fachbereich GuP der Berner Gesundheit auch zwei Pro‐ jekte aufgebaut (Pa‐paRat und Migram), welche durch die Arbeit mit Schlüsselpersonen besonders belastete Zielgruppen für die Themen der Gesundheitsförderung und Prävention erreichen. Des Weiteren setzen die Fachmitarbeitenden in der Zusammenarbeit mit MultiplikatorInnen auf transkulturelle Kompetenz, damit auch diese in ihrem Alltag besonders belastete Zielgruppen besser erreichen Abbildung 2: Chancengerechte Gesundheitsförderung (Berner Gesundheit) 50 7. Arbeitsfeld Prävention Methoden der Sozialen Arbeit Die Aufgabe der Fachmitarbeitenden des Fachbereichs GuP der Berner Ge‐ sundheit liegt in der Beratung, Schulung, Beteiligung und Befähigung der MultiplikatorInnen. Dafür können die Professionellen der Sozialen Arbeit auf vielfältige Methoden zurückgreifen. Für die Beratung und Unterstüt‐ zung der MultiplikatorInnen beispielsweise ist eine geschulte Gesprächs‐ führung notwendig. Die Professionellen der Sozialen Arbeit verfügen hier über ein grosses Repertoire. Der MultiplikatorInnenansatz und damit ver‐ bunden die Grundhaltung, die KundInnen und KlientInnen zu befähigen, selbst Lösungen zu finden und Herausforderungen zu meistern, sind da‐ bei zentrale Aspekte sowohl der Prävention als auch der Sozialen Arbeit. Der Bezug zu den Methoden und Arbeitsprinzipien der Sozialen Arbeit wird auch deutlich, wenn man die Qualitätskriterien der Gesundheitsför‐ derung und Prävention betrachtet: Ressourcenorientierung und Em‐ powerment, Partizipation, Chancengerechtigkeit, Diversität und Nachhal‐ tigkeit (vgl. Berner Gesundheit 2016). Um diesen Kriterien in der Planung, Umsetzung und Evaluation von Interventionen der Prävention und Ge‐ sundheitsförderung gerecht zu werden, benötigt es vielfältiges Wissen, ein breites Methodenrepertoire und eine geschulte Grundhaltung. Auf all dies können die Professionellen der Sozialen Arbeit zurückgreifen. 8. Soziale Arbeit in der Suchtprävention – eine Positionierung Sowohl in der Fach‐ als auch in der Methodenkompetenz wie in den Ar‐ beitsprinzipien und Qualitätsmerkmalen ist die Soziale Arbeit in der Suchtprävention zu finden. Dennoch war der Ausgangspunkt dieses Bei‐ trags eine Suche. Aktuell ist die zunehmende Medizinalisierung der Suchthilfe auch in der Prävention sicht‐ und spürbar. Dadurch wird die Expertise der Sozia‐ len Arbeit der medizinischen untergeordnet oder es wird ihr indirekt ihre Position im Gesundheitswesen abgesprochen. Der bedeutenden Bezie‐ hung von Sozialer Arbeit und Gesundheit hat sich der Berufsverband Ave‐ nir Social gemeinsam mit dem Schweizerischen Fachverband Soziale Arbeit im Gesundheitswesen (sages) angenommen und ein «Leitbild Soziale Arbeit Martina Buchli 51 im Gesundheitswesen» erarbeitet. Dabei sind Organisationen der Gesund‐ heitsförderung und Prävention explizit als Arbeitsfelder benannt. Die The‐ matik der chancengerechten Gesundheitsförderung wird bei der Zielset‐ zung und dem Auftrag der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen deut‐ lich: «Dies tun sie [Fachkräfte der Sozialen Arbeit], indem sie insbesondere die sozialen Aspekte von Gesundheit thematisieren und positiv beeinflus‐ sen» und: «Die Fachkräfte setzen sich für die Chancengleichheit aller Be‐ völkerungsgruppen beim Zugang zu Organisationen des Gesundheitswe‐ sens ein» (sages & Avenir Social 2018: 5). Diese Forderung deckt sich mit Schwerpunkten der Strategie Sucht und der NCD‐Strategie. Die Strategie legt ein besonderes Augenmerk auf besonders Bedürftige und stellt neben Eigenverantwortung und persönlichem Verhalten die Schaffung gesund‐ heitsförderlicher Rahmenbedingungen ins Zentrum. (vgl. BAG/GDK 2016: 35 und BAG 2015: 52) Festzuhalten ist auch, dass die Prävention im heutigen gesellschaftli‐ chen Umfeld einen schweren Stand hat. Der Ruf nach Prävention wird häufig dann laut, wenn sich Problemstellungen zeigen; seien es grosse (Ge‐ sundheits‐)Kosten oder Probleme im gesellschaftlichen Zusammenleben, beispielsweise eine Zunahme von Jugendlichen, die Alkohol im öffentli‐ chen Raum konsumieren. Es wird postuliert, dass durch Prävention Fol‐ gekosten verringert werden können. Dem Grundsatz «je früher desto bes‐ ser» stimmt man gerne zu, jedoch kann die Wirkung von Prävention selten in der Zeitlogik von politischen Prozessen ausgewiesen werden. Auch kann meist nicht oder nicht unmittelbar belegt werden, welche Interven‐ tion zu welcher Wirkung geführt hat. In Zeiten von knappen Ressourcen wird daher meist bei der Behandlung respektive der Schadensminderung investiert, da diese als notwendig erachtet werden und Ursache und Wir‐ kung fassbarer erscheinen. Prävention, vor allem universelle Prävention und Verhältnisprävention, muss man sich leisten können. Im Schwarzbuch Soziale Arbeit wird die grösste Herausforderung ganz deutlich formuliert: «Prävention im Sinne einer strukturellen Präven‐ tion wird schon deshalb nicht mehr angestrebt, weil die sozialen Bedin‐ gungen, die zu Problemen bei Menschen führen, nicht mehr zur Debatte stehen. Prävention wird heute immer mehr (miss)verstanden als Identifi‐ kation potentieller Versager» (Seithe 2010: 353). 52 Arbeitsfeld Prävention Die Soziale Arbeit mit ihrem spezifischen Wissen um Problemlagen hat auch in der Prävention die Aufgabe, immer wieder darauf hinzuwei‐ sen und darauf zu achten, dass die Unterstützung auch Personen erreicht, welche besonderen Bedarf haben. Damit bleibt festzuhalten, dass es weni‐ ger bedeutend ist, wo die Soziale Arbeit in der Suchtprävention ist, son‐ dern dass und wie sie sich – auch berufspolitisch – positioniert. Wenn sie sich in der Gesundheitsförderung und Prävention engagieren, müssen sich die Professionellen der Sozialen Arbeit vermehrt auch als solche prä‐ sentieren, indem sie ihre Tätigkeiten in der Gesundheitsförderung und Prävention explizit in Verbindung zu ihrer sozialarbeiterischen Profession setzen. Die Soziale Arbeit ist ein wichtiger Player im Bereich Sucht. Zudem ist das Thema Abhängigkeit und Sucht ein Querschnittsthema in vielen Praxisfeldern der Sozialen Arbeit, beispielsweise in der Jugendhilfe. In der Gesundheitsförderung und Prävention sind die Professionellen der Sozia‐ len Arbeit jedoch (noch) wenig vertreten. Leider. Der Bezug zur, die Be‐ deutung und der Beitrag der Sozialen Arbeit in der Gesundheitsförderung und Prävention sind deutlich und wichtig. Es ist daher wünschenswert, dass sich mehr Professionelle diesem spannenden Feld annehmen und ihre fachlichen und methodischen Kompetenzen einbringen. Sie leisten damit einen Beitrag dazu, dass die soziale Dimension von Gesundheit the‐ matisiert und beachtet wird, von Beginn an gesundheitsförderliche Rah‐ menbedingung hergestellt werden und die Verteilung von Gesundheits‐ chancen gerechter wird. Literatur Altgeld, T./Kolip, P. (2014): Konzepte und Strategien der Gesundheitsförderung. S. 45‐56 in: K. Hurrelmann/T. Klotz/J. (Hrsg.), Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. Bern: Huber. Avenir Social/Fachverband Sucht/Groupement romand d‘études des addictions (GREA) et al. (2016): Charta Früherkennung und Frühintervention (2016). www.tinyurl.com/y8zqcghq, Zugriff 29.08.2019. BAG ‐ Bundesamt für Gesundheit/GDK ‐ Schweizerische Konferenz der kantonalen Ge‐ sundheitsdirektorinnen und ‐direktoren (2016): Nationale Strategie Prävention nicht‐ übertragbarer Krankheiten (NCD‐Strategie) 2017 – 2024. www.tinyurl.com/yb5bjxc9, Zugriff 29.08.2019. 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Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Eine Selbstverständlichkeit: Soziale Arbeit in der am‐ bulanten Suchtberatung und Therapie Arbeitsfeld Ambulante Beratung Ruth Rihs1 1. Die Berner Gesundheit Die Berner Gesundheit ist eine Stiftung mit Leistungsaufträgen der Ge‐ sundheits‐ und Fürsorgedirektion des Kantons Bern (GEF) in den Berei‐ chen Gesundheitsförderung, Prävention, Sexualpädagogik sowie Suchtbe‐ ratung und Suchttherapie. Diese Leistungsaufträge betreffen sowohl die erste (Prävention) wie die zweite (Beratung) der vier Säulen der schweize‐ rischen Drogenpolitik. Mit vier Regionalzentren und zusätzlichen Stand‐ orten ist die Berner Gesundheit im ganzen Kanton Bern vertreten. Die An‐ gebote sind vielfältig, um die individuellen Bedürfnisse der KlientInnen abzudecken. Im Fachbereich Beratung und Therapie ist die Berner Ge‐ sundheit zuständig für alle substanzgebundenen und –ungebundenen Sucht‐ und Risikoverhalten. Die Berner Gesundheit berät Betroffene und deren Angehörige, andere Personen aus dem sozialen Umfeld sowie Ar‐ beitgebende. Sie bietet Einzel‐, Paar‐ und Familienberatungen und ‐thera‐ pien sowie Gruppenangebote zu verschiedenen Themen an. Zudem führt sie Schulungen und Sensibilisierungen in Organisationen aus dem Ge‐ sundheits‐ und Sozialwesen durch, die in ihrer Arbeit mit dem Thema Sucht konfrontiert sind. Das politisch und konfessionell unabhängige An‐ gebot der Berner Gesundheit richtet sich an Menschen aller Altersgrup‐ pen. Die Beratungen und Therapien sind kostenlos und werden durch die öffentliche Hand finanziert. Der folgende Text bezieht sich auf den Fachbereich Beratung und Therapie der Berner Gesundheit. Sozialarbeiterin FH & zert. in integrativer Soziotherapie, Fachmitarbeiterin bei der Berner Gesundheit, Zentrum Bern. 1 © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_3 56 1.1 Arbeitsfeld Ambulante Beratung Entwicklung der Institution zur heutigen Form Bei der Gründung der Stiftung Berner Gesundheit im Jahre 1998 wurden mehrere Präventionsfachstellen und alle sozialmedizinischen Dienste (Al‐ koholberatungsstellen) im Kanton Bern zu einer einzigen Organisation zu‐ sammengefügt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte jedes Amtsgebiet im Kanton Bern einen eigenen sozialmedizinischen Dienst geführt. Die meisten dieser langjährigen Alkoholberatungsstellen funktionierten als Einmannbe‐ triebe. In grösseren Gemeinden arbeiteten bereits geschlechtergemischte Teams. Alle Fachstellen waren als Vereine organisiert und wurden vom Kanton und/oder von den Gemeinden finanziert. In den 1970er‐Jahren wurden in den grösseren Städten Fachstellen für Menschen gegründet, die illegale Drogen konsumieren. (Contact, Drop‐In, Jugend‐und Drogenbera‐ tungen). Diese waren in der Regel ebenfalls als Vereine organisiert. Die politische und finanzielle Lage veränderte sich Ende der Neunzigerjahre und der Kanton Bern beschloss, mehrere Präventionsfachstellen und alle sozialmedizinischen Dienste (Alkoholberatungsstellen) im Kanton Bern zu einer einzigen Organisation zusammenzufügen. Zusätzlich strich er auch die Sachhilfe der klassischen Sozialen Arbeit in der Suchtberatung und Therapie wie Budgetberatungen, Lohnverwaltungen, Schuldensanie‐ rungen sowie Wohnungs‐ oder Arbeitssuche aus dem Angebot und über‐ trug sie den Sozialdiensten. Als Begründung wurden Doppelspurigkeiten mit den Sozialdiensten angegeben. Dieser grosse Einschnitt ins Angebot löste zuerst Widerstand bei KlientInnen und Fachpersonen aus. Aus der neuen Situation folgte für die Stiftung Berner Gesundheit eine Fokussie‐ rung auf die Beratungs‐ und Therapiearbeit, einen der Grundpfeiler der Sozialen Arbeit. Dies erforderte eine Professionalisierung dieser Arbeit. Nach einer Übergangszeit, während der die Aufteilung zwischen der Stiftung Berner Gesundheit und der unterdessen ebenfalls aus einer Fu‐ sion entstandenen Stiftung Contact Netz nicht mehr nach legalen und ille‐ galen Substanzen, sondern nach Altersgruppen erfolgte, wurde 2015 auch der Jugendbereich in die Berner Gesundheit integriert und die Beratungs‐ und Therapieteams der beiden Institutionen wurden in der Berner Ge‐ sundheit zusammengefügt. Die Arbeit in nunmehr vier grossen interdis‐ ziplinären regionalen Teams mit den verschiedenen fachlichen Hinter‐ gründen und Perspektiven ist wertvoll, ergänzend und befruchtend. Ruth Rihs 57 Der Kanton bestimmte damals und bestimmt bis heute über die Leis‐ tungsvereinbarungen die Kernleistungen der Berner Gesundheit. 1.2 Institutionelle und politische Rahmenbedingungen Die Berner Gesundheit ist zusammen mit dem Blauen Kreuz für die am‐ bulante Suchtberatung und ‐therapie des ganzen Kantons zuständig. Wie in anderen Kantonen werden auch im Kanton Bern verschiedene neue Versorgungsmodelle im Suchtbereich diskutiert. Oft genannte Be‐ griffe sind dabei die ‹Integrierte Versorgung› und die ‹Medizinalisierung›. Die Gesundheit‐, Sozial‐ und Integrationsdirektion des Kantons Bern (GSI)2 führte 2018 neue Rahmenverträge für die Suchthilfe‐Institutionen ein und transferierte die Berner Gesundheit vom kantonalen Sozialamt ins kantonale Spitalamt. Die GSI bezog sich dabei auf die Nationale Strategie zu den nicht übertragbaren Erkrankungen des Bundesamtes für Gesund‐ heit BAG (BAG 2016) und auf die Erfahrungen aus anderen Kantonen. Bei der Abteilung Gesundheitsförderung und Prävention der Berner Gesund‐ heit wird im Rahmen des kantonalen Entlastungspakets 18+ ein Leistungs‐ abbau von 1 Mio. Fr. und somit eine Reduktion von fast einem Drittel ver‐ ordnet. Bei der Abteilung Beratung und Therapie waren bereits in den letz‐ ten Jahren massiv Leistungen gekürzt worden. Der Abteilung Beratung und Therapie, um die es in diesem Text geht, gehören insgesamt 49 Fachmitarbeitenden an, die meisten davon in Teil‐ zeitanstellungen. Alle sind nach der Funktion und nicht nach ihren Aus‐ bildungen angestellt und gemäss kantonalem Lohnreglement eingereiht. Die Stellenausschreibungen der Abteilung Beratung und Therapie der Ber‐ ner Gesundheit sind so formuliert, dass sich Fachleute aus verschiedenen Disziplinen und Hintergründen angesprochen fühlen. (Sozialarbeit, Sozi‐ alpädagogik, Psychologie mit therapeutisch‐beraterischer Zusatzausbil‐ dung). Die meisten Fachmitarbeitenden bringen eine Grundausbildung in sozialer Arbeit mit. Es sind auch PsychologInnen und einzelne Psychothe‐ rapeutInnen angestellt. Als Fachmitarbeitende sind sie mit denselben Auf‐ gaben betraut wie ihre Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialen Arbeit 2 Die GSI hiess bis Ende 2019 Gesundheits‐ und Fürsorgedirektion des Kantons Bern (GEF). 58 Arbeitsfeld Ambulante Beratung und in denselben Lohnklassen eingeteilt. Dabei werden die verschiedenen fachlichen Hintergründe und Methoden als Bereicherung angesehen, wie weiter unten noch präzisiert wird. Alle Fachmitarbeitenden verfügen über mindestens eine Aus‐ oder Weiterbildung in Beratung und Therapie mit verschiedenen fachlichen Hintergründen und Methoden, vor allem aus dem systemischen, lösungs‐ und ressourcenorientierten Bereich. Die einzelnen Mitarbeitenden haben sich zu unterschiedlichen Themen Allgemein‐ und Spezialwissen angeeig‐ net. 2. Soziale Arbeit in der ambulanten Suchtberatung und Therapie Wir leben in einer arbeits‐ und leistungsorientierten Gesellschaft. Diese hat ein Interesse daran, dass die Menschen gesund und arbeitsfähig sind und bleiben. Die Voraussetzungen sind nicht für alle gleich und nicht alle schaffen es ohne Unterstützung von aussen, den gesellschaftlichen Anfor‐ derungen zu genügen. Die Soziale Arbeit hat in diesem Kontext vielfältige Aufgaben. Eine davon ist, in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für Sucht‐ verläufe und Abhängigkeitserkrankungen zu wecken und zu schärfen. Via Presse, Radio, Fernsehen und digitale Medien einerseits und mit Sensibili‐ sierungsveranstaltungen bei Institutionen von der Grundschule bis zu In‐ stitutionen im Altersbereich andererseits übernimmt die Berner Gesund‐ heit diese wichtige Aufgabe. Die soziale Arbeit sensibilisiert die Gesell‐ schaft für sozialpolitische Themen, löst Tabus auf, gibt Menschen am Rand der Gesellschaft eine Stimme. Diese Grundhaltung der Sozialen Arbeit deckt sich weitgehend mit jener der Berner Gesundheit als sozialer Insti‐ tution. Sie fördert die Enttabuisierung von Sucht und Abhängigkeit und stellt diese mit Gesundheitsförderung, Beratung und Therapie in einen Ge‐ samtzusammenhang. Wie oben erwähnt, führt sie auch Schulungen und Sensibilisierungen in Institutionen, Organisationen, Firmen, bei Vereinen etc. durch. Dazu ist es sehr von Nutzen, dass sie zwei grosse Fachbereiche hat, nämlich die Gesundheitsförderung und Prävention und den hier be‐ schriebenen Bereich Beratung und Therapie. Dies ermöglicht nach einer genauen Auftragsklärung eine unkomplizierte Zusammenarbeit. Ruth Rihs 59 Die Abteilung Beratung und Therapie ist dank ihrer vielfältigen Fach‐ und Methodenkompetenz in der Lage, hochspezialisierte Suchtberatung und ‐therapie anzubieten. Die Fachmitarbeitenden arbeiten, wie oben er‐ wähnt, nach systemischen, lösungs‐ und ressourcenorientierten Ansätzen. Spezifische Themen wie Strassenverkehrsdelikte im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen, Überweisungen vom Jugendamt oder der KESB, Ju‐ gendberatung, Sucht im Alter, Glücksspiel etc. teilen sie unter sich auf und können sich so spezialisieren und in die vielfältigen Themen vertiefen – unabhängig von ihrem beruflichen Hintergrund. Der Anlass zu einem Erstkontakt ist immer im Bereich Sucht und Ab‐ hängigkeit zu finden. Beim genauen Hinhören wird oft rasch klar, dass der Leidensdruck verschiedene Lebensbereiche betrifft. Diese werden mit Blick auf das ganze System erfragt und gemeinsam mit den KlientInnen wird in einem ersten Schritt eine mögliche Priorisierung besprochen: Möchte jemand an der Konsumreduktion arbeiten und braucht dafür An‐ leitungen wie zum Beispiel konkrete Trainingsprogramme (Konsumre‐ duktion auf der Basis eines Konsumtagebuches)? Ist das aktuelle Haupt‐ anliegen der Umgang mit den eigenen Ambivalenzen (ich möchte ja schon aufhören zu konsumieren, aber…)? Fehlen Rückfallpräventionsstrategien (Umgang mit Suchtdruck) oder steht ein anderes Thema im Vordergrund, das belastet? Wichtig dabei ist, dass die KlientInnen bestimmen, über was sie sprechen und welche Themenbereiche sie bearbeiten wollen. Es geht dabei um eine erste Auftragsklärung. Dieser erste wichtige Kontakt wird von allen Fachmitarbeitenden ähnlich gestaltet. Der ganzheitliche Blick auf den Menschen ermöglicht ihnen zuzuordnen, für welche Anliegen sie selber zuständig sind und wo die externe Vernetzung mit anderen Institu‐ tionen Sinn macht. 3. Suchtberatung in der Berner Gesundheit Zur Einleitung ein Zitat aus den Grundsätzen der Beratung und Therapie: «Alle Menschen bewegen sich in ihrem Alltag in einem Spannungsfeld o‐ der Kontinuum zwischen den Polaritäten Fremdbestimmung und Selbst‐ bestimmung. Die Beratung und Therapie hat zum Ziel, im Sinne einer Suchbewegung eine Entwicklung der KlientInnen in Richtung mehr 60 Arbeitsfeld Ambulante Beratung Selbstbestimmung auf dem erwähnten Kontinuum zu ermöglichen» (Ber‐ ner Gesundheit 2016a: 10). Diese Grundsätze, die in diesem Text immer wieder zitiert werden, wurden in Zusammenarbeit mit den Fachmitarbeitenden entwickelt und 2016 aktualisiert. Und weiter im Zitat: «Im Kern beziehen sie sich auf den wissenschaftlich fundierten Konsens der Methoden in der psychosozialen Suchtberatung sowie die jugendspezifischen und entwicklungspolitischen Kenntnisse» (ebd.: 3) 3.1 Menschenbild «Menschen sind einzigartig und stehen in den Spannungsfeldern Natur‐ Kultur und Individualität‐Sozialität» (ebd.: 5). Dieser Satz zeigt deutlich die Grundhaltung der Institution. Was treibt den Menschen an, wie ist er verankert, vernetzt, verbunden mit sich und seiner Umwelt? Ist er über‐ haupt verbunden oder wo sind die losen Stellen, die Spannungsfelder, die unter Umständen eine Suchtgeschichte begünstigt haben. Wie können seine eigenen Ressourcen wieder aktiviert werden, wo ist er bereit und fä‐ hig anzusetzen, damit er in seiner Entwicklungsfähigkeit gefördert wer‐ den kann. «Menschen sind innerhalb ihrer individuellen Möglichkeiten ent‐ wicklungsfähig» (ebd.). Mit dem Wissen um diese Zusammenhänge be‐ gegnen die Fachmitarbeitenden den KlientInnen und deren Umfeld. 3.2 Suchtverständnis «Sucht ist ein multifaktorielles und systemisches Phänomen. Fol‐ gende Dimensionen spielen bei der Entstehung von Sucht eine wichtige Rolle: Psychische Aspekte, emotionale Aspekte, sozioökonomische As‐ pekte, soziokulturelle Aspekte, ethisch‐religiöse Aspekte, somatische As‐ pekte» (ebd.: 6). Was heisst das für die Fallarbeit? Der Blick aufs Ganze, wie es die Soziale Arbeit lehrt, ist selbstverständlich und unabdingbar. Es geht um den Menschen in seinem ganzen Sein und nicht um ein Krank‐ heitsbild und um eine Pathologisierung. Mit welchen Anliegen kommen KlientInnen auf eine Fachstelle? Welche Erwartungen und Hoffnungen haben sie? Was ist der Anlass, sich Unterstützung zu holen, wo stehen sie Ruth Rihs 61 im aktuellen Leben, was treibt sie an, wo haben sie Druck und Energie, ihre Situation zu reflektieren? Was funktioniert in ihrer aktuellen Situation gut, auf welche gesunden Anteile können sie bauen (ressourcenorientiert) was möchten sie verändern (lösungsorientiert) und in welchen Gesamtzu‐ sammenhängen stehen sie mit ihren Themen (multifaktoriell)? Mit diesen Fragen im Hintergrund wird ein Erstkontakt zu einer Begegnung mit einer zieloffenen Grundhaltung anlog des Grundsatzes: «Menschen bestimmen selber, was für sie Sinn macht» (ebd.: 5). «Wir unterstützen unsere Klien‐ tinnen und Klienten sowie Kundinnen und Kunden im verantwortungs‐ vollen und selbstbestimmten Handeln» (Berner Gesundheit 2016b: 5). Das folgende Fallbeispiel zeigt, dass beide Klientinnen – in diesem Fall Mutter und Tochter – selber bestimmen, an welchen Themen sie ar‐ beiten wollen: Frau A. ist leitende Angestellte, lebt mit den erwachsenen Kindern zusammen. Die Kinder lassen sich zuerst beraten, motivieren die Mutter, sich Unterstützung zu holen. Sie trinkt oft Alkohol, um Spannun‐ gen abzubauen. Sie spürt ihre Ambivalenzen hinsichtlich der Ablösung von den Kindern. Diese wagen nicht, auszuziehen und ihr eigenes Leben zu leben, machen sich Sorgen um die Mutter. Nach zwei Familiengesprä‐ chen entscheiden sich die Tochter und die Mutter je für ein Einzelsetting. Frau A. arbeitet an den Themen: Konsum und Abhängigkeit, Ablösung von den Kindern, eigene Berufsperspektiven, Menopause, Alleinsein und Wohnen im Alter. Ihre Tochter beschäftigen Themen wie die Ablösung vom Elternhaus, ihre Orientierung im Berufsleben, ihre labilen psychi‐ schen Anteile und ihre eigenen Zukunftspläne. Nach einigen Monaten zie‐ hen die Tochter und später auch der Sohn in ihre erste eigene Wohnung aus. 3.3 Niederschwellige Kontaktaufnahme Der erste Kontakt geschieht sehr oft per Telefon. Nach der ersten Triage im Sekretariat, wo es oft hektisch zu‐ und hergeht, werden Anliegen zu Beratung und Therapie an die Fachmitarbeitenden weitergeleitet. Die The‐ men Sucht und Abhängigkeit sind bis heute Tabuthemen in der Gesell‐ schaft und immer noch schambesetzt. Darum ist es sehr wichtig, dass dem Erstkontakt genügend Beachtung geschenkt wird und nebst der dafür be‐ 62 Arbeitsfeld Ambulante Beratung nötigten Zeit auch Sensibilität und Empathie für die Anliegen der Klien‐ tInnen selbstverständlich sind. Die ratsuchende Person wird von Anfang an in ihrer Ganzheit wahrgenommen und nicht schubladisiert. Oft wird bereits im ersten Telefongespräch eine komplexe belastende Ausgangssi‐ tuation geschildert und die Fachperson versucht herauszuhören, welche Anliegen dahinterstehen. Frau B. ruft als betroffene Angehörige an. Sie selber lebt im angren‐ zenden Ausland. Ihre Mutter ist betagt und lebt allein im Einfamilienhaus in einem angesehenen Quartier der Stadt. Schon länger hat sich bei ihr eine Alkoholabhängigkeit manifestiert. Zudem ist sie starke Raucherin und lei‐ det an Asthma. Frau E. macht sich grosse Sorgen um sie, stösst aber bei ihrer Mutter auf massiven Widerstand, wenn sie über ihre Suchtthematik oder einen Heimeintritt mit ihr reden will. Innerhalb einer längeren Zeit‐ spanne ruft die Tochter mehrmals bei der Berner Gesundheit an, um über ihre Sorgen sprechen zu können und sich über Handlungsmöglichkeiten zu informieren. Herr C. ruft an. Er habe festgestellt, dass er alkohol‐ und kokainab‐ hängig sei. Er möchte aber nicht zu einem Gespräch kommen, denn er möchte niemandem begegnen, den er vielleicht kennen könnte. Seine Zu‐ rückhaltung und seine Scham werden ernst genommen. In mehreren Te‐ lefongesprächen wird seine Situation besprochen und als er genügend Vertrauen gewonnen hat, entscheidet er sich für ein Gespräch auf der Fachstelle. Die zwei Beispiele zeigen auf, wie wichtig und zeitintensiv der tele‐ fonische Kontakt sein kann. Seit Sommer 2018 haben Ratsuchende auch die Möglichkeit, sich auf der Homepage der Berner Gesundheit über einen anonymen Chatkanal zu melden. Ein Teil der Anfragenden wünscht Informationen zu den Ange‐ boten der Institution. Andere nutzen den Chat, um mit einer Fachperson auf diesem Weg eine erste Auslegeordnung ihrer Situation und eine Be‐ dürfnisklärung zu machen. Es kann sein, dass nach der Chatunterhaltung keine weiteren Kontakte gewünscht oder benötigt werden. Andere ent‐ scheiden sich dazu, in weiteren Kontakten per verschlüsselter Mail, telefo‐ nisch oder in persönlichen Gesprächen ihre Themen weiterzubearbeiten. Ruth Rihs 63 Dass sich Ratsuchende über diesen Kanal melden, ist wie auch bei ei‐ ner telefonischen oder persönlichen Kontaktaufnahme eine bewusste Ent‐ scheidung. Vielleicht ist ihnen eine telefonische oder gar persönliche Erst‐ anfrage und Terminvereinbarung zu unangenehm, zu exponierend. Der Chatkanal soll helfen, die Hemmschwelle für eine Kontaktaufnahme zu senken. 3.4 Menschen mit eigenen Abhängigkeitsthematiken Die meisten KlienInnen sind selber betroffen von einer beginnenden oder fortgeschrittenen Suchtthematik. Je nach Anliegen und Lebenslage entwi‐ ckelt sich nach dem ersten Kontakt eine Beratung, eine Therapie oder eine langjährige Begleitung. Die KlientInnen werden in ihrem Prozess in der Regel von derselben Fachperson begleitet. So kann eine tragfähige, profes‐ sionelle Beziehung entstehen, die zur Lösung von Problemen oder zur Heilung von Verletzungen beitragen kann. Und die KlientInnen können erstmals oder erneut mit sich selber in Beziehung kommen. Herr D. hat mit 14 Jahren mit Kiffen angefangen, es folgen Jahre mit Heroinkonsum, den er später selber wieder beendet. Er trinkt Alkohol und braucht immer mehr davon, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Sei‐ nen Nikotinkonsum findet er unproblematisch. Er lebt in zweiter Ehe, hat aus jeder Ehe eine Tochter. Seine Familie leidet zunehmend an den Aus‐ wirkungen seines hohen Konsums. Er ist im Kontakt zuerst skeptisch und zurückhaltend. Er hat eine Arbeit mit viel Verantwortung, ist gewohnt, selber zu entscheiden und fürchtet, wie er später gesteht, dass er nun über‐ zeugt werden soll, mit Alkoholtrinken aufzuhören. In den ersten Gesprä‐ chen wird die Fachmitarbeiterin getestet, ob sie ihre gewährende Haltung und ihre Zieloffenheit auch wirklich lebt. Im Verlauf des Therapieprozes‐ ses experimentiert Herr B. mit verschiedenen Modellen des kontrollierten Konsums. Er reduziert die Trinkmenge drastisch und spürt langsam, dass der Körper sich an die kleinere Menge gewöhnt. Er erlebt, dass seine eige‐ nen Zielvorgaben oft zu hochgesteckt sind und passt sie immer mehr sei‐ ner eigenen Realität an. Nach einem Jahr und vielen Auf und Abs hat er die Trinkmenge auf die Hälfte reduziert. Er weiss, dass er sich aufgelehnt hatte, wenn ihm jemand gesagt hätte, er «müsse» ganz aufhören. Dieser Prozess eröffnet ihm neue Empfindungen und er wird aufmerksamer zu 64 Arbeitsfeld Ambulante Beratung sich und den andern. Zudem hat er einen Zugang zu verdrängten Themen gefunden, die den Konsum begünstigten. 3.5 Angehörige Da die Berner Gesundheit in ihren Grundsätzen das systemische Ver‐ ständnis vertritt und die Fachmitarbeitenden diese Sicht verinnerlicht ha‐ ben, richtet sich das Angebot auch an die Angehörigen aus dem privaten sozialen Umfeld von Betroffenen: Ehefrauen oder Männer, Lebenspartne‐ rInnen, Kinder einschliesslich erwachsene Kinder, Mütter und Väter, Ver‐ wandte, Freunde, Nachbarn. Unwichtig, in welcher Rolle die Angehörigen sind, das Thema Sucht verunsichert sie und sie wissen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. Zudem werden die Themen Sucht und Abhängig‐ keit, wie schon oben erwähnt, in der Gesellschaft immer noch tabuisiert. Dies erschwert einen natürlichen Umgang damit. Frau E. wünscht im ersten Gespräch, dass ihr Mann von der Fach‐ stelle zum Gespräch aufgeboten wird. Sie ist am Rande ihrer Kräfte, lebt seit zwanzig Jahren in einer Ehe zu dritt, wie sie sagt, denn der Alkohol sei immer zwischen ihr und ihrem Mann. Sie hat alles probiert, um ihm zu helfen. Sie hat die leeren Flaschen gezählt und entsorgt, hat die halbvollen Flaschen ausgeleert, sie hat ihren Mann geschützt, als er jeweils montags seinen Wochenendrausch auskurieren musste, und dem Arbeitgeber eine Grippe vorgeflunkert. Sie hat geweint, sie hat getobt, sie hat gedroht, sie hat ihn immer wieder entschuldigt. Sie hat ihre Freundinnen belogen und sich aus Scham immer mehr zurückgezogen. Als sie erfährt, dass die Ge‐ spräche auf der Fachstelle freiwillig sind, ihr Mann nicht aufgeboten wer‐ den kann, sie jedoch selber willkommen ist, ihre Geschichte zu erzählen und sich für sich Zeit zu nehmen, ist sie überrascht. In knochenharter Ar‐ beit beginnt sie ihre eigene Rolle zu verstehen und kann mit der Zeit in Minischritten ihre Einstellung zu sich und ihrer Situation ändern. Angehörige haben genau so viel Druck und Leid auszuhalten wie ihre Familienmitglieder mit einem Suchtproblem oder Suchtverhalten. Sie brauchen ebenso Unterstützung, Beratung, Therapie oder Coaching. Sie sind wichtige Regulatoren in der Paar‐ und Familienbeziehung und haben jedoch oft kaum Unterstützung in der Behandlungskette der Versorger. Ruth Rihs 65 Ein zentraler Grund, weshalb bei vielen Institutionen keine Angehörigen‐ beratung vorgesehen ist, liegt darin, dass diese nicht bei den Krankenkas‐ sen abgerechnet werden kann. Da Suchtprobleme Auswirkungen auf das soziale Umfeld haben, sind solche Angebote jedoch wertvoll und müssen unbedingt erhalten bleiben. 3.6 Arbeitgeber und Institutionen Die dritte Personengruppe, die die Angebote der Berner Gesundheit in Anspruch nehmen, sind Arbeitgebende und Vorgesetzte, BerufskollegIn‐ nen aus verschiedenen Institutionen wie Spitäler und Heimen oder Lehrerpersonen aus verschiedensten Schulen. Herr F. wird vom Arbeitgeber verwarnt, weil sein auffälliges Verhal‐ ten und die verminderte Leistung den Verdacht übermässigen Alkohol‐ konsums erhärten. Er muss eine Vereinbarung unterzeichnen, die auch suchtspezifische Unterstützung bei der Berner Gesundheit beinhaltet. Vor einigen Jahren hat bereits eine kurzzeitige Begleitung stattgefunden. Herr F. hat Mühe, in der Freizeit allein zu sein, und braucht den Alkohol, um unerwünschte Gefühle auszuhalten. Er weiss, dass ihm das alkoholfreie Leben besser bekommt, doch er ist innerlich nicht am Punkt, ganz darauf zu verzichten. Als seine Zuverlässigkeit am Arbeitsplatz abnimmt und der Druck vom Arbeitgeber erhöht wird, entscheidet er sich dazu, mit dem Trinken von Alkohol ganz aufzuhören. Nach einem Jahr ohne Vorkomm‐ nisse wird die Vereinbarung erfolgreich abgeschlossen. Herr F. beschliesst, weiterhin zu Gesprächen auf die Fachstelle zu gehen, weil er weitere The‐ men im Zusammenhang mit seinem Suchtverhalten bearbeiten will. In diesem Beispiel war es wichtig und entscheidend, beide Seiten ins Boot zu bekommen. Hilfreich dabei sind eine genaue Rollen‐ und Auf‐ tragsklärung. Wer macht was, welche gegenseitigen Erwartungen gibt es, wo sind die Grenzen. Mit Einbezug einer detaillierten Schweigepflichts‐ vereinbarung ist es möglich, die nötigen Punkte zu regeln, damit trotz der verschiedenen Ansprüche ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann. Vor allem, wenn ein behördlicher Auftrag ins Spiel kommt, (Sozial‐ dienste, Kindes‐ und Erwachsenenschutzbehörde KESB, Jugendanwalt‐ schaften, Bewährungshilfen), ist eine sorgfältige Vorarbeit entscheidend für eine gute Zusammenarbeit. 66 Arbeitsfeld Ambulante Beratung Diese genaue Rollen‐ und Auftragsklärung bewährt sich immer, wenn verschiedene Anspruchsgruppen eine Zusammenarbeit suchen. Wie in folgendem Beispiel gut sichtbar wird, hat die Vernetzungsar‐ beit einen hohen Stellenwert innerhalb der Angebote der Berner Gesund‐ heit. Frau G. geht auf dringende Empfehlung des internen Sozialdienstes der KESB zu Gesprächen auf die Suchtfachstelle. Es liegt ein akuter Dro‐ genmissbrauch vor, der sich ungünstig auf ihre Mutterrolle auswirkt. Rasch zeigt sich, dass die Situation sehr komplex ist. Frau G. wird begleitet durch die Psychiatriespitex, finanziell unterstützt durch den Sozialdienst ihres Wohnortes, ist neu in einem Arbeitstraining. Ihre halbwüchsige Tochter ist hin‐ und hergerissen zwischen Loyalität und Aggression und bringt ihre Mutter an deren Grenzen. Eine Zusammenarbeit mit den be‐ treffenden Institutionen wird organisiert, immer in engem Einbezug der Klientin. Eine klare Bereinigung des Auftrages am Anfang sowie gemein‐ same Standortgespräche während einer Beratung verhindern Missver‐ ständnisse, falsche Erwartungen und Doppelspurigkeiten. Es ist in diesem Beispiel sowohl der Klientin, wie auch der Spitexfach‐ frau und der Suchtberaterin klar, dass zuerst Belastungsmomente im All‐ tag gelöst werden müssen (Unklarheiten bezüglich der Einrichtung einer Beistandschaft für die Tochter, die bevorstehende Einschätzung der Ar‐ beitsfähigkeit und damit verbundene Eingliederung in den ersten Arbeits‐ markt), bevor die Drogenproblematik konkret behandelt werden kann. 4. Vielfalt von Methoden in der Berner Gesundheit «Risikoverhalten im Jugendalter sowie die multifaktorielle Beschaffenheit der Sucht erfordern im Beratungs‐ und Therapieprozess eine bestimmte methodische Freiheit, polyvalente Kompetenz und reflektierte Berufser‐ fahrungen der Fachmitarbeitenden» (Berner Gesundheit 2016a: 13). Die Fachmitarbeitenden arbeiten nach systemischen und lösungs‐/ressourcen‐ orientierten Ansätzen. Das häufigste Arbeitsinstrument ist das Beratungs‐ gespräch nach den Regeln der Motivierenden Gesprächsführung, wobei Ruth Rihs 67 sich der Gesprächsprozess nach den individuellen Zielen und dem Auf‐ trag der KlientInnen ausrichtet. «Wir definieren die Beziehung zu unseren Klientinnen und Klienten als professionelle Beziehung zwischen Auftrag‐ gebenden und Beratungspersonen. Wir tragen die Verantwortung für die Professionalität unseres Umgangs mit Aufträgen und Auftraggebenden. Wir fördern verantwortliches Handeln. Wir achten die Eigenständigkeit der Klientinnen und Klienten insbesondere bezüglich Urteilsbildung und Entscheidung» (ebd.: 10). Auch die Soziale Arbeit nennt als eines der wich‐ tigsten Arbeitsinstrumente das Gespräch und die professionelle Bezie‐ hung. Empathie, Engagement und Rollenklarheit sind weitere Vorausset‐ zungen, damit KlientInnen Vertrauen aufbauen können und dann eher wagen, belastende und oft schambesetzte Themen zu bearbeiten. Weitere Methoden kommen in der Therapie als Ergänzung und Er‐ weiterung zum Tragen, wenn es um die Förderung von nonverbalen Pro‐ zessen geht. Viele KlientInnen sind es nicht gewohnt, von sich zu spre‐ chen. Mit kreativen Methoden wie zum Beispiel dem Darstellen von belas‐ tenden Situationen mit Holzfiguren, Aufzeichnen von Systemen auf Flip‐ chartblättern, Ausdrücken von Gefühlen anhand von Farben oder Tier‐ symbolen werden bei den KlientInnen aktuelle Themen visualisiert. Diese Vielfalt von Methoden spricht andere Sinne an und ermöglicht oft, verbor‐ gende Quellen neu‐ oder wiederzuentdecken und zu entwickeln. Frau H. erzählt, dass sie immer zum Kokain greift, wenn sie vor gros‐ sen Veränderungen steht. Sie zeichnet auf einem grossen Papier ihr Leben in Form von Themenlinien zu Arbeit, Paarbeziehungen, Finanzsituationen und ihrem Kokainkonsum auf und sieht, dass ihre Konsumvorfälle seit Jahren einer gewissen Gesetzmässigkeit unterworfen sind. Sie fängt an, die Zusammenhänge zu sehen und kann ihr momentanes Lebensgefühl besser verstehen. Je nach Problem und Anliegen wird mit verschiedenen Settings wie Einzel‐, Paar‐ und/oder Familiengespräch gearbeitet. Zudem bietet die In‐ stitution innerhalb der Beratung Einzel‐ und Gruppenprogramme an, die in Form von strukturierten Kursinhalten zum gesetzten Ziel führen kön‐ nen: Kontrollierter Konsum oder Konsumstopp von Alkohol, Nikotin, Cannabis oder Kokain. Zweistündige, von Fachmitarbeitenden geleitete Gruppensitzungen, finden alle zwei Wochen statt. Sie werden entweder 68 Arbeitsfeld Ambulante Beratung wie oben erwähnt in strukturierten Programmen oder prozessorientiert angeboten und durchgeführt. Zur Methodenvielfalt hat die Berner Gesundheit eine Grafik erarbei‐ tet (s. Abb. 1). Die grafische Darstellung soll im Praxisalltag als eine Art Landkarte dienen, um zu wissen, wo die Fachmitarbeitenden sich mit ih‐ rer Beratungs‐ und Therapiepraxis in Relation zu den Methodengrenzen der Berner Gesundheit bewegen. Der innere Kreis stellt dar, welches die gemeinsamen methodischen Grundlagen sind. Im äusseren Kreis werden Ansätze und Methoden aufgeführt, welche die Institution gegen aussen zwar nicht aktiv propagieren und anbieten, von denen jedoch in der tägli‐ chen Arbeit Elemente angewendet werden. Jene Methoden und Ansätze, die ausserhalb der Kreise aufgeführt sind, werden nicht angeboten. Abbildung 1: Grundsätze der Beratungs‐ und Therapiepraxis der Berner Gesundheit Ruth Rihs 5. 69 Interdisziplinäre Zusammenarbeit Die Berner Gesundheit hat, wie eingangs erwähnt, die Bereiche Ge‐ sundheitsförderung, Prävention, Suchtberatung und ‐therapie unter ei‐ nem Dach vereint. Die interne interdisziplinäre Zusammenarbeit hat in der täglichen Arbeit einerseits intern mit Prävention und Sexualpädagogik und vor allem extern einen wichtigen Stellenwert. Seit einigen Jahren be‐ stehen Zusammenarbeitsverträge mit Institutionen der stationären Sucht‐ hilfe (Klinik Südhang, Psychiatriezentrum Münsingen etc.). Es geht dabei um ergänzende Dienstleistungsangebote innerhalb der Behandlungskette und nicht um Konkurrenz zwischen den verschiedenen Anbietern. Zum Beispiel kann eine Klientin oder ein Klient während des ambulanten Bera‐ tungsprozesses einen stationären Aufenthalt antreten und wird unkompli‐ ziert überwiesen. Weitere Kooperationen werden mit Heimen, Schulen, Jugendanwaltschaften, Behörden und Casinos gepflegt. Diese Zusammen‐ arbeit bewährt sich. Im Zentrum stehen dabei immer die Bedürfnisse der KlientInnen. «Das Phänomen der Sucht ist von multifaktorieller Natur. Entsprechend haben sich schon früh verschiedene Fachdisziplinen damit beschäftigt und spezialisierte Angebote entwickelt. Auf dieser Realität ba‐ siert das Selbstverständnis der Beratung und Therapie der Berner Gesund‐ heit. Im Alltag folgert daraus eine enge Zusammenarbeit mit den verschie‐ denen Institutionen und Akteurinnen und Akteuren der Suchthilfe. Ziel ist, den Leistungsnehmenden ein optimales Angebot von eigenen, aber auch von Leistungen Dritter anzubieten» (Berner Gesundheit 2016a: 4). Herr I. ist seit seiner Jugend mit Suchtproblemen konfrontiert. Er ar‐ beitet mehrere Jahre als junger Elektriker im Nahen Osten und geniesst in seiner Freizeit das Leben. Er rutscht ab in eine Alkoholabhängigkeit, mit der er sich die nächsten vierzig Jahre mehr oder weniger erfolgreich aus‐ einandersetzt. Sämtliche Beziehungen mit Frauen zerbrechen und er grün‐ det nie eine Familie. Als er sechzig wird, beschliesst er, noch einmal zu versuchen, mit dem Alkohol Schluss zu machen. Dank dem bestehenden Kooperationsvertrag mit der zuständigen Klinik kann die Fachmitarbeite‐ rin ihn direkt zuweisen und er muss keine unnötige Wartezeit überbrü‐ cken. In der Klinik wird er rund um die Uhr betreut und wagt den ersten Schritt in ein alkoholfreies Leben in Form eines begleiteten stationären Ent‐ 70 Arbeitsfeld Ambulante Beratung zugs. Bei der Entlassung wird der Austrittsbericht mit dem Therapiever‐ lauf an die Berner Gesundheit geschickt, was einen nahtlosen Übergang in der Behandlungskette vom stationären zurück ins ambulante Setting er‐ möglicht. Nebst der Kernarbeit in Beratung und Therapie sind die Fachmitar‐ beitenden in kommunalen, regionalen, kantonalen und nationalen Ver‐ bänden und Gremien aktiv. Sie erweitern auf diese Art ihr ExpertInnen‐ wissen und geben es in verschiedenen Interessengruppen weiter. Regel‐ mässige Mitarbeit im Fachverband Sucht, in Arbeitsgruppen zu fachspezi‐ fischen Themen gehören ebenso zur Arbeit wie Einsitz in Gremien ver‐ schiedenster Zusammensetzungen im Bereich Sucht und psychosoziale Gesundheit. 6. Die verschiedenen Facetten von Professionalität Eine der grössten Herausforderungen der Sozialen Arbeit ist bestimmt jene der Bestimmung ihrer Identität. Was ist Soziale Arbeit genau, wo hat sie ihre Grenzen? Sie wird sehr breit gelehrt und ihre Einsatzgebiete und Aufgaben sind sehr vielfältig. Übersetzt auf die Kernaufgaben in Beratung und Therapie wird jedoch rasch klar: Die Beziehung zum Klientel ist das Kernstück und die Basis, um gegenseitiges Vertrauen zu entwickeln und Veränderungsprozesse zu ermöglichen. Dies setzt auch eine stetige Selbs‐ treflexion und Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit voraus. Nur wer sich selber gut kennt, ist in der Lage, die eigenen Themen von denen des Gegenübers zu unterscheiden und so eine professionelle Bezie‐ hung aufzubauen Die Selbst‐ und Sozialkompetenzen gehören zu den Grundkompetenzen der Sozialen Arbeit. Innerhalb der Institution werden die fachliche Weiterbildung (Fach‐ und Methodenkompetenzen) und Reflexion der täglichen Arbeit mittels Intervision, Supervision und Fachaustauschen gewährleistet. Regelmäs‐ sige Fort‐ und Weiterbildungen, die Teilnahme an Tagungen und Kon‐ gressen gehören zur individuellen Weiterentwicklung und sind selbstver‐ ständlich. Mit internen und externen Audits in allen Arbeitsbereichen im Rahmen der Rezertifizierung des Qualitätsmanagements QuaTheDA wird Ruth Rihs 71 die Qualitätskontrolle sichergestellt. Und als wichtigster Indikator für die Qualität der täglichen Arbeit dienen die Resultate der regelmässigen Zu‐ friedenheitsbefragungen beim Klientel. Die Soziale Arbeit ist innerhalb der Institution eingebettet in die ver‐ schiedenen beruflichen Hintergründe, welche die einzelnen Fachmitarbei‐ tenden mitbringen. Diese Professionen sind nicht hierarchisch gegliedert, sondern werden in der Teamarbeit gleichberechtigt behandelt. Die Ge‐ meinsamkeit und die Verbindung zwischen den Professionen ist der sys‐ temische Ansatz. Ein weiteres wichtiges Gebiet ist die fachliche Ausbil‐ dung. Regelmässig werden Studierende der Sozialen Arbeit im zweiten Praktikum ausgebildet und begleitet. Zusätzlich haben oder hatten Fach‐ mitarbeitende Lehraufträge an der Berner Fachhochschule für Soziale Ar‐ beit zu den methodischen und fachlichen Kernkompetenzen in den Berei‐ chen Gesprächsführung und Sucht. 7. 7.1 Herausforderungen und Schlussbemerkungen Herausforderungen für die Soziale Arbeit innerhalb der ambulanten Suchtberatung Die Herausforderungen auf fachlicher Ebene stellen sich einerseits auf‐ grund der Digitalisierung, die uns in immer rascherem Tempo mit Eindrü‐ cken versorgt, fordert und teilweise überfordert. Dieses Tempo wird für immer mehr Menschen mit oder ohne Beeinträchtigungen bedeuten, dass sie aus dem normalen Arbeitsprozess fallen. Themen rund um die Abhän‐ gigkeit von digitalen Medien werden zunehmen, es wird, wie die Ge‐ schichte zeigt, immer neue Arten von Abhängigkeiten geben, seien es sub‐ stanzgebundene oder Verhaltenssüchte. Die gesellschaftlichen Haltungen werden weiterhin die Thematiken in der professionellen Landschaft mit‐ prägen. Und doch werden sich dadurch das innere Wesen, der Geist und die Psyche nicht gleichermassen verändern. Dies erzeugt eine grosse Span‐ nung, die bereits jetzt spürbar geworden ist. Die Aufgabe der Sozialen Ar‐ beit und der psychosozialen Versorgung muss sein, Brücken zu bauen, um 72 Arbeitsfeld Ambulante Beratung diese Diskrepanzen zu überwinden. Sie müssen das Individuum befähi‐ gen, an den wesentlichen Themen des menschlichen Seins zu bleiben und sich nicht vom Tempo der Technisierung überrollen zu lassen. Das eine tun und das andere nicht lassen: Die Soziale Arbeit soll also der Beschleu‐ nigung und Entmenschlichung entgegenhalten und trotzdem offen für Neues bleiben und mit der Zeit gehen. Das ist eine der Herausforderungen der nächsten Jahre. Eine weitere Herausforderung ist die Veränderung auf demographischer Ebene. Die Menschen werden immer älter. Auch ein be‐ tagter oder hochaltriger Mensch hat Recht und Anspruch auf Unterstüt‐ zung. Es wird neue Angebote brauchen, die dieser Altersgruppe gerecht werden. Diese Zukunftsperspektiven gepaart mit den permanenten menschlichen Herausforderungen legitimieren die Soziale Arbeit und ge‐ ben ihr einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. 7.2 Schlussbemerkungen Was vermutlich zunehmend Ressourcen brauchen wird, ist der Verteil‐ kampf, der Kampf zwischen den Verfechtern für soziale Verantwortung und Solidarität des Staates und jenen, die sich für Eigenverantwortung und Beschneidung der Staatsaufgaben stark machen. Die Auseinanderset‐ zungen in der Gesundheits‐ und Sozialpolitik, welche finanziellen Leis‐ tungen weiterhin über das Staatsbudget laufen sollen und welche Kosten die Bürgerinnen und Bürger selber oder via Krankenkassen und private Versicherungen berappen müssen, werden uns vermutlich mehr beschäf‐ tigen und umtreiben als die Kernaufgaben der Sozialen Arbeit. Und so müssen wir uns dafür einsetzen, dass weiterhin genügend finanzielle Mit‐ tel zur Verfügung stehen, damit die Menschen, die unsere Unterstützung brauchen, diese auch bekommen. Es wird immer niederschwellige, er‐ schwingliche Angebote brauchen. Die Suchtfachstellen wurden bis jetzt über die Steuergelder finanziert. Das macht durchaus Sinn. Denn Sucht‐ probleme haben immer auch einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Darum ist es nur logisch und richtig, dass sich die Gesellschaft solidarisch verhält, indem sie die Angebote mitfinanziert und Leistungen nicht zu‐ nehmend über die einzelnen Betroffenen abgerechnet werden. Nur so übernimmt sie wirklich Verantwortung. Ruth Rihs 73 Solange Menschen mit Suchtproblemen stigmatisiert werden, solange sich die Volksmeinung hält, dass man selber schuld ist, wenn man abhän‐ gig geworden ist, solange braucht es genügend finanzielle Ressourcen für fundierte Aufklärungskampagnen und Sensibilisierungsprogramme ge‐ paart mit psychosozialen Angeboten im ambulanten und stationären Set‐ ting. Dass es immer noch vorkommt, dass manche PatientInnen in Spitä‐ lern herablassend behandelt werden, weil eine Diagnose zu Sucht in ihrer Krankengeschichte steht, zeigt, wie hartnäckig das frühere Suchtverständ‐ nis, Suchtprobleme seien auf Charakterschwäche zurückzuführen, noch in manchen Köpfen herumgeistert. Unsere Gesellschaft braucht zudem unbedingt weiterhin ein nieder‐ schwelliges Angebot für Angehörige. Suchtprobleme sind auch Familien‐ probleme. PartnerInnen, Kinder und andere Familienangehörige sind stark von Suchtproblemen mitbetroffen und haben Anrecht auf fachliche Unterstützung. Diese Haltung hat die Soziale Arbeit immer schon vertre‐ ten und sich dafür stark gemacht. Zum Schluss ein Zitat von Judith Giovanelli‐Blocher, einer der wich‐ tigsten Pionierinnen der Sozialen Arbeit in der Schweiz. Sie schreibt im letzten Kapitel ihrer Lebensgeschichte ‹Der rote Faden›: «Wenn heute ganz normale Menschen danach gefragt werden, was ihnen im Leben das Wich‐ tigste sei, sagen sie häufig: ‹Ich möchte einfach ich selber sein›. Diese Ant‐ wort legt nahe, dass der Mensch sich langsam abhandenkommt. Sich des‐ halb eine Selbstverwirklichung mit all den heute zur Verfügung stehenden Techniken zum Ziel zu machen, kann aber nur schiefgehen. Man verwirk‐ licht sich, indem man Verantwortung übernimmt» (2012: 243). Um Verantwortung übernehmen zu können, muss der Mensch hand‐ lungsfähig sein. Die Soziale Arbeit hat zum Ziel, Menschen selbstbestimmt und handlungsfähig zu machen. Es geht ihr darum, Stärken zu fördern und ressourcenorientiert zu arbeiten. Und diesen Ansatz brauchen wir auch in Zukunft in der schweizerischen Suchtlandschaft. 74 Arbeitsfeld Ambulante Beratung Literatur BAG ‐ Bundesamt für Gesundheit (2016): Nationale Strategie zur Prävention nichtübertrag‐ barer Krankheiten (NCD‐Strategie) 2017‐2024. Bern Giovanelli‐Blocher, J. (2012): Der rote Faden. Geschichte meines Lebens. München: Nagel & Kimche. Berner Gesundheit (2016a): Grundsätze der Beratung und Therapie für Fachmitarbeitende der Abteilung Beratung und Therapie. (2016). Bern (internes Dokument). Berner Gesundheit (2016b): Leitbild der Berner Gesundheit. Bern (internes Dokument) Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Stationärer Entzug, der Start in ein suchtfreies Leben? Arbeitsfeld Entzug und Entwöhnung Markus Kaufmann1 1. Die Klinik Zugersee Das therapeutische Angebot der Klinik Zugersee beinhaltet Behandlungen für sämtliche Formen psychischer Erkrankungen (z. B. Depressionen, Ängste, Psychosen, Abhängigkeitserkrankungen und verschiedene De‐ menzformen) sowie psychosomatischer Erkrankungen (z. B. Schlafstörun‐ gen und Schmerzstörungen). Als Institution der Triaplus AG deckt die Klinik Zugersee im Auftrag des Psychiatriekonkordats der Kantone Uri, Schwyz und Zug die psychi‐ atrische Grundversorgung der erwachsenen Bevölkerung ab. Neben der regulären Behandlung von psychisch erkrankten Menschen aller Versiche‐ rungskategorien bietet die Klinik auch akute Notfallbehandlungen und stationäre Kriseninterventionen an. PrivatpatientInnen aus der ganzen Schweiz und dem Ausland werden auf der Psychotherapiestation Privé behandelt. In der Klinik werden psychologische, somatische und soziale Thera‐ pieansätze angewendet. Die Klinik verfügt auf 9 Stationen über 156 Betten. 2. Suchttherapie im stationären Setting In der Klinik Zugersee wird mit zwei unterschiedlichen Suchtbehand‐ lungskonzepten gearbeitet. Einerseits mit dem Konzept zur Behandlung von PatientInnen mit Alkoholabhängigkeit (vgl. Winkler 2013) und ande‐ rerseits mit dem Konzept zur Entzugsbehandlung von illegalen Substan‐ 1 Dipl. Sozialarbeiter HFS, klinikinterner Sozialdienst der Klinik Zugersee. © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_4 76 Arbeitsfeld Entzug und Entwöhnung zen (vgl. Bergner 2017). Diese beiden Konzepte tragen dazu bei, die Ent‐ zugs‐ bzw. Entwöhnungsbehandlung von legalen und illegalen Substan‐ zen sowohl auf allen allgemeinpsychiatrischen Akutstationen unserer Kli‐ nik sowie auf der suchtspezifischen Abteilung zu vereinheitlichen und den Behandlungsleitfaden sowohl dem Patienten/der Patientin als auch dem MitarbeiterInnenteam gegenüber transparent zu gestalten. Mit den PatientInnen werden individuelle Ziele festgelegt, die in einer Behand‐ lungsvereinbarung schriftlich festgehalten werden. Die Behandlungsver‐ einbarung orientiert alle beteiligten Professionen über die Behandlungs‐ richtung und thematisiert u. a. auch, welche Folgen ein allfälliger Rückfall nach sich zieht. Ein besonderer Wirkfaktor in der Behandlung ist die personen‐ zentrierte Beziehungsgestaltung, wobei die gängigen Prinzipien aus der Recovery‐ und Adherence‐Forschung umgesetzt werden (vgl Goschke/Kuhl 1993). Psychotherapeutisch werden verhaltenskogni‐ tive Ansätze mit Arbeitsmaterialien aus dem klinikinternen Alkohol‐Kon‐ zept kombiniert, welches sich an den Empfehlungen der DGPPN‐Leitli‐ nien orientiert.2 Die integrierte psychiatrische Behandlung umfasst zudem ergänzende evidenzbasierte Psychopharmakotherapie. Das Alkohol‐Konzept ist für stationäre Aufenthalte auf freiwilliger Basis konzipiert. Bei PatientInnen, die per FU (fürsorgerische Unterbrin‐ gung) mit einer Abhängigkeitserkrankung in die Klinik kommen, sind die komorbiden psychiatrischen Störungen häufig vordergründig und Auslö‐ ser der fürsorgerischen Unterbringung. Diese Störungen müssen geson‐ dert betrachtet werden. Die erste Phase der Behandlung von PatientInnen mit Suchtproble‐ men findet in unserer Klinik auf den allgemeinpsychiatrischen Akutstati‐ onen statt, solange die Suchtentwöhnung oder die Behandlung der komor‐ biden psychiatrischen Störungen im Vordergrund stehen. Es besteht je‐ doch auch die Möglichkeit, KlientInnen direkt auf der spezialisierten Suchtbehandlungsstation aufzunehmen. Dies wird vor dem Eintritt in Ab‐ sprache mit dem/der PatientIn und den zuweisenden Stellen je nach Vor‐ belastung und Schweregrad der Erkrankung festgelegt. 2 Die verschiedenen DGPPN Leitlinien sind hier zugänglich: www.dgppn.de/leitlinien‐publikationen/leitlinien.html, Zugriff 21.11.2019. Markus Kaufmann 77 Die Behandlung im stationären Setting ermöglicht eine Akutbehand‐ lung, welche in der Regel 6 bis 8 Wochen dauert. Ziele dieses Aufenthaltes sind der Entzug und idealerweise auch ein Teil der Entwöhnung im Hin‐ blick auf eine künftige Abstinenz. An diese Behandlung schliesst idealer‐ weise eine stationäre Therapie im Sinne einer Postakutbehandlung an, welche üblicherweise klinikintern auf der Suchtspezialtherapiestation stattfindet oder in einer anderen externen Suchtklinik. Die Behandlungs‐ dauer auf der Suchtbehandlungsstation der Klinik Zugersee beträgt meis‐ tens zwischen 6 ‐ 8 Wochen. In einer krankenkassenanerkannten externen Suchtinstitution beträgt die Behandlungszeit ca. 3 ‐ 6 Monate. Sowohl Akutbehandlung wie auch stationäre Therapie werden durch die Krankenkasse finanziert. 2.1 Die stationäre Soziale Arbeit im Kontext der Suchtbehandlung Auf der Suchttherapiestation (16 Betten) ist der Sozialdienst mit einem Pensum von 30 % vertreten. Der Sozialdienst ist Teil des Behandlungs‐ teams, das sich aus ÄrztInnen, PsychologInnen, Pflegefachpersonen sowie Fachpersonen für handlungs‐ und werkorientierte Therapie, Kunst‐ und Ausdruckstherapie, Musiktherapie und Soziale Arbeit zusammensetzt. Die Fallverantwortung liegt bei den ÄrztInnen oder PsychologInnen. Die Fallführenden bilden gemeinsam mit den Pflegefachpersonen ein Kern‐ team. Fehlende Ressourcen verhindern, dass der Sozialdienst Teil des Kernteams ist. Der Sozialdienst nimmt einmal wöchentlich am interdisziplinären Rapport teil. Die mit den KlientInnen erarbeiteten Ziele werden mit den anwesenden TherapeutInnen diskutiert und die weiteren Schritte gemein‐ sam geplant. Der Einbezug der verschiedenen Disziplinen ermöglicht ein gegenseitiges gutes Verständnis für den/die PatientIn. Für eine adäquate Behandlung ist es zentral, Menschen in ihrem Ei‐ genverständnis, im Erleben ihrer Selbstwirksamkeit zu begreifen und ihre Lebensführung zu verstehen. Die Soziale Arbeit kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Daher ist der Einbezug des klinikinternen Sozialdienstes ein wichtiger Teil der Behandlung. Die Soziale Arbeit ist spezialisiert da‐ rauf, die Auswirkungen der sozialen Faktoren im Gesamtkontext der Le‐ bensführung zu erkennen. In einem nächsten Schritt kann der Sozialdienst 78 Arbeitsfeld Entzug und Entwöhnung entsprechende Schritte einleiten, die zu einer Entlastung oder gar zu einer Verbesserung der gesamten Situation führen. Ein Schwerpunkt sozialarbeiterischen Handelns ist die soziale Ana‐ lyse der Lebenssituation der PatientInnen (siehe dazu Kapitel 3). Der Sozi‐ aldienst betrachtet Ressourcen und Defizite nicht isoliert, sondern in ei‐ nem sozialen Kontext. Es ist wichtig, dass die Sozialarbeitenden zusam‐ men mit dem/der PatientIn allfällige Brennpunkte (wie unsichere Wohn‐ situation, offene Rechnungen etc.) eruieren und mit der nötigen Unterstüt‐ zung dazu beitragen, weitere Probleme zu verhindern. Sozialarbeitende kennen im Idealfall die verschiedenen Krankheitsbilder und können dadurch besser nachvollziehen, wie der/die PatientIn denkt, fühlt und handelt. Ein Aufenthalt in der Klinik Zugersee wird durch die Krankenkasse (KVG) finanziert. Die Soziale Arbeit ist kein Bestandteil des bestehenden Finanzierungsvertrages. Sie wird durch die Klinikaufenthaltstaxe querfi‐ nanziert, weshalb eine Stellenerweiterung aktuell trotz Bedarf nicht mög‐ lich ist. 2.2 Selbstverständnis, Ethik und Werte der Sozialen Arbeit Die Sozialarbeitenden der Klinik Zugersee sind dem ethischen Kodex des Berufsverbandes der Sozialen Arbeit verpflichtet (vgl. Avenir Social 2010). Die Vertraulichkeit wird zudem aufgrund des institutionellen Rahmens der Klinik Zugersee durch die ärztliche Schweigepflicht gewährleistet. Das Leitbild, der Stellenbeschrieb sowie schriftlich vereinbarte Ab‐ läufe zur Zusammenarbeit mit den ÄrztInnen, PsychologInnen und dem Pflegepersonal bilden eine wesentliche Grundlage für das Selbstverständ‐ nis der Sozialen Arbeit innerhalb der Klinik Zugersee. Gute Vernetzung und Zusammenarbeit aller beteiligten Professionen werden als essentiell angesehen und gefördert. Auch stetige Weiterbildung ist Teil des professionellen Selbstverständnis‐ ses. Das Team der Suchtstation arbeitet u. a. mit SuchtspezialistInnen der Klinik salus in Brandenburg (D) zusammen, die das Behandlungsteam re‐ gelmässig in Theorie und Praxis in «motivierender Gesprächsführung» unterrichten. Markus Kaufmann 79 Die PatientInnen werden in ihrem Willen und mit ihrer Wahlmög‐ lichkeit respektiert. Sie sollen in ihrem Selbstverständnis und ihren Be‐ dürfnissen des sozialen Wohlbefindens geachtet und gefördert werden. Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der Patientinnen sollen, wenn immer möglich, gewährleistet und gefördert werden. Die Zielsetzungen werden mit den Betroffenen daher gemeinsam erarbeitet. Manchmal müs‐ sen sie neu verhandelt werden, da sie sich während der Behandlung als unrealistisch erweisen. Damit ein gutes Zusammenarbeitsbündnis entsteht, müssen geplante Massnahmen inkl. deren Folgen mit den PatientInnen transparent und ehrlich besprochen werden (z. B. Wohnung mieten, Stelle kündigen). Im Rahmen der sozialen Beratung sollen die Resilienz (vgl. Wunsch 2013) und die Ressourcen der PatientInnen einbezogen und gefördert werden. Bereits bestehende Bezugspersonen (Angehörige, Fachpersonen aus externen Fachstellen etc.) kennen die PatientInnen oft am besten. Sie stel‐ len für diese meistens eine unentbehrliche Ressource dar und helfen, Kri‐ sen mitzutragen oder zu überwinden. Diese Bezugspersonen verdienen ebenso geachtet und mit Einverständnis der PatientInnen einbezogen zu werden. Angehörige brauchen möglicherweise auch Unterstützung. Pati‐ entInnen wie auch Angehörige benötigen Empathie und Verständnis für die schwierigen Lebenssituationen, die auf eine Suchterkrankung zurück‐ zuführen sind oder der Sucht zu Grunde liegen. 3. Kurzassessment des Sozialdienstes und dessen Handlungsablei‐ tungen Eine umfassende Exploration und die Wahrnehmung des sozialen Gefü‐ ges der PatientInnen sind essenziell. Die Analyse kann Rückschlüsse auf das Umfeld und die soziale Ausgangslage des/der PatientIn geben. Lang‐ fristiger Suchtmittelmissbrauch führt oft zu einer Zunahme der sozialen Problematik. Die aktuelle soziale Situation hat Auswirkungen auf den in‐ dividuellen therapeutischen Kontext und die Behandlungsplanung. Der Sozialdienst lädt während der ersten Woche ihres Aufenthalts möglichst alle PatientInnen zu einem Erstgespräch und einem Kurzasses‐ sment ein. Als Vorlage dient ein Formular, welches in Zusammenarbeit 80 Arbeitsfeld Entzug und Entwöhnung mit der Fachhochschule Nordwestschweiz während eines Forschungspro‐ jektes entwickelt wurde (vgl. Sommerfeld et al. 2016: 305ff., 356). Die The‐ menschwerpunkte werden in diesem Kapitel weiter unten ausgeführt. Die für die einzelnen PatientInnen zuständigen SozialarbeiterInnen erstellen die soziale Indikation und planen die weitere sozialdienstliche Arbeit. In ihrer Verantwortung liegt auch die Organisation des weitergehenden Ar‐ beitsbündnisses zur Bearbeitung der relevanten Themen. Während des Erstgesprächs erhalten die Sozialarbeitenden Antwor‐ ten zu folgenden Grundpfeilern des sozialen Lebens (vgl. ebd.: 305f.): - Wohnen ‐ Tagesstruktur ‐ Arbeit ‐ familiäres Umfeld ‐ rechtliche Situation / Erwachsenenschutzmassnahmen ‐ Finanzen / Administration / Existenzsicherung ‐ allgemeine Fragen Im Folgenden findet sich eine Aufzählung möglicher Interventionen in diesen Grundpfeilern. 3.1.1 Wohnen Es ist abzuklären, ob die bisherige Wohnform nach wie vor adäquat ist oder ob ein geschütztes Wohnen in Betracht zu ziehen ist. Dabei muss auch die finanzielle Situation berücksichtigt werden. Eine zu teure Wohnung kann das finanzielle Gleichgewicht ins Wanken bringen. Auch stellt sich immer die Frage, ob eine gesundheitliche Gefährdung vorliegt, die ein ge‐ schütztes Wohnen unabdingbar macht. Dieses lässt sich während des Kli‐ nikaufenthaltes oft nicht abschliessend organisieren. Aus diesem Grunde ist es wichtig, mit externen Sozialberatungsstellen, Gemeindesozialdiens‐ ten, der KESB etc. eine nachfolgende Anbindung einzufädeln. 3.1.2 Tagesstruktur Bei der prophylaktischen Behandlung zur Vermeidung einer Exazerbation (d. h. einer deutlichen Verschlechterung des Krankheitsbildes, vgl. Koch 2005: 38f.) von psychiatrischen Erkrankungen und Suchterkrankungen ist stets zu beachten, dass eine geregelte Tagesstruktur vorhanden ist. Sie Markus Kaufmann 81 wirkt sich meistens positiv aus. Aus diesem Grunde wird bei der Explora‐ tion die Tagesstruktur vor dem Klinikeintritt erfragt. Daraus kann sich be‐ reits ein Hinweis darauf ergeben, dass sich nach der Klinikentlassung eine veränderte Tagesstruktur günstig auf die Gesamtsituation auswirken kann. Schon während des Klinikaufenthalts können diesbezüglich mit den KlientInnen Veränderungen angestrebt werden, die sich vorteilhaft auf die Suchtbewältigung auswirken. 3.1.3 Arbeit Ob eine Arbeitsstelle besteht oder nicht gibt bereits einen Hinweis auf die finanzielle Situation der KlientInnen. Im Suchtbereich ist oft festzustellen, dass die Arbeitsstelle zwischen‐ zeitlich durch den Arbeitgeber gekündigt wurde oder eine Kündigung droht. Dass daraus finanzielle Problemfelder entstehen, liegt auf der Hand. Natürlich gilt es vorerst sicherzustellen, ob die erfolgte Kündigung auch rechtlich korrekt ist. Bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähig‐ keit (Sperrfrist während Krankheit) kann die Kündigung z. B. auch recht‐ lich angefochten werden. Eine wesentliche Aufgabe ist die Geltendmachung von Krankentag‐ geldversicherungsleistungen auf Grund der Arbeitsunfähigkeit. Die Kran‐ kentaggeldversicherung ist keine obligatorische Versicherung. Die meis‐ ten Arbeitgebenden haben mit Versicherungsgesellschaften jedoch einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen. Bei beendeten Arbeitsverhältnis‐ sen muss geprüft werden, ob weiterhin die Kollektivkrankentaggeldversi‐ cherungen zuständig sind bzw. ob eventuell eine Umwandlung in eine Einzelkrankentaggeldversicherung notwendig wird, um das Einkommen weiterhin zu gewährleisten. Mit einem Arbeitsverhältnis hängen noch weitere Versicherungen zu‐ sammen, wie z. B. Unfallversicherung, Pensionskasse, Arbeitslosenversi‐ cherung etc. Bei Verlust des Arbeitsplatzes muss sichergestellt sein, dass die Unfallversicherung mit einer «Abredeversicherung» bei der Arbeitslo‐ senkasse oder bei der Krankenkasse weiterläuft. Die monatlichen Pensi‐ onskassenzahlungen werden im Falle einer längerfristigen Erkrankung je nach Versicherung sistiert. Oft verlangen die Taggeldversicherungen auch, dass sich der Patient/die Patientin bei der IV anmeldet. 82 Arbeitsfeld Entzug und Entwöhnung Für manche ausländische Staatsangehörige ist der Nachweis einer Arbeits‐ stelle relevant, damit der Aufenthaltsstatus nicht gefährdet ist. 3.1.4 Familiäres Umfeld KlientInnen mit einer Suchtthematik empfehlen wir, dass sie ihre Angehö‐ rigen in den Prozess der Behandlung einbeziehen. Oftmals schämen sich SuchtpatientInnen gegenüber ihren Angehörigen. Sie haben Mühe, zu ih‐ rer Sucht zu stehen und sich den Angehörigen gegenüber zu öffnen. Teil‐ weise erlauben sie den BehandlerInnen nicht, die Angehörigen in die Be‐ handlung einzubeziehen. Diese Situation erschwert die Ressourcener‐ schliessung. Diese Problematik mit den KlientInnen zu reflektieren kann aber dazu führen, dass sie – möglicherweise auch zu einem späteren Zeit‐ punkt – Angehörige in den Prozess miteinbeziehen möchten. 3.1.5 Rechtliche Situation / Erwachsenenschutzmassnahmen Wie bereits bei der Wohnfrage erwähnt, besteht bei Suchterkrankten die Gefahr, dass diese sich nicht mehr adäquat am Leben beteiligen können und sie sich dadurch selber in verschiedenen Lebensbereichen in Gefahr bringen. In einer solchen Situation hat der Sozialdienst gemeinsam mit den Fallführenden zu prüfen, ob bei der Kinder‐ und Erwachsenenschutzbe‐ hörde (KESB) eine Gefährdungsmeldung einzureichen ist. Die Behörde ih‐ rerseits hat die Aufgabe zu prüfen, ob entsprechende Massnahmen einge‐ leitet werden müssen, um den betroffenen Menschen mit behördlich an‐ geordneter FU (fürsorgerische Unterbringung) oder mit einer Beistand‐ schaft soziale Sicherheit zu vermitteln. Wird eine Gefährdungsmeldung bei der KESB eingereicht, hat der So‐ zialdienst zu berichten, in welchen sozialen Bereichen eine potentielle Ge‐ fährdung vorliegt. Zudem ist zu prüfen, ob die Sicherheit von Angehöri‐ gen (Kinder und/oder Haustiere, die alleine zu Hause sind) bedroht ist und Schritte zu deren Sicherheit eingeleitet werden müssen. 3.1.6 Finanzen / Administration Im Kurzassessment ist die Frage nach den finanziellen Mitteln und der Er‐ ledigung der administrativen Arbeiten wichtig. Es zeigt sich oft, dass Be‐ troffene mit einer Suchterkrankung einen eingeschränkten Zugang zu fi‐ nanziellen Mitteln haben. Sie kennen das Sozialsystem oft zu wenig und Markus Kaufmann 83 wissen nicht, wie sie rechtliche Ansprüche geltend machen können. Zum einen ist dies eine Auswirkung ihrer teilweise jahrelangen Suchterfahrung. Eine Berufsausbildung oder eine Weiterbildung ist unter diesen Umstän‐ den oft nicht realistisch. Erfahrungsgemäss ist aber die berufliche Bildung eine wesentliche Voraussetzung, um eine gute Arbeit zu erhalten. Je länger die Arbeitslosigkeit andauert, umso grösser ist die Gefahr, noch mehr fi‐ nanzielle Einbussen ertragen zu müssen. Dadurch wird die finanzielle Si‐ tuation immer prekärer, was wiederum Auswirkungen auf andere soziale Situationen hat. Bei einer finanziellen Knappheit sind meistens auch An‐ gehörige mitbetroffen. Dies wiederum hat Auswirkungen auf das soziale Gefüge. Nicht selten brechen Beziehungssysteme aufgrund von finanziel‐ len Engpässen auseinander. Die Soziale Arbeit hilft Betroffenen, Grundlagen zu erarbeiten, damit die Stellenlosigkeit beendet werden kann. Sie vermittelt Betroffene an Fachstellen zur Arbeitsintegration, um ihre Bewerbungsunterlagen zu überarbeiten. Somit steigen ihre Chancen, erneut eine Anstellung zu fin‐ den. 4. Schlussfolgerungen Die Balance zwischen den verschiedenen sozialen Ressourcengrundpfei‐ lern ist für jeden Menschen essentiell. PatientInnen mit einer Suchterkran‐ kung sind besonders gefährdet, sozial ausgegrenzt zu werden. Sie leiden oft unter einer Mehrfachbelastung und benötigen dadurch häufig eine so‐ zialdienstliche Unterstützung. Die Soziale Arbeit ist in ihrem Grundver‐ ständnis darauf ausgerichtet, die Wechselwirkungen zwischen den ver‐ schiedenen Lebensbereichen zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen. Problemsituationen müssen erkannt und professionell bearbeitet werden. Es ist wesentlich, die soziale Komplexität zu analysieren und zu verstehen. Daraus können Ziele und entsprechende Massnahmen abgeleitet werden. Während des gesamten Beratungsprozesses können für und mit den be‐ troffenen Menschen Ressourcen erschlossen werden, die sie in ihrer Le‐ bensbetrachtung und Handlungsfähigkeit weiterbringen. Dies wirkt sich auch positiv auf die Gesundheitssituation aus (vgl. Staub‐Bernasconi et al. 2012). 84 Arbeitsfeld Entzug und Entwöhnung Es ist die Aufgabe des Sozialdienstes, in den Rapporten Aspekte der sozialen Lebenssituation der KlientInnen einzubringen und die Therapeu‐ tInnen auf deren Ressourcen bzw. Problemfelder aufmerksam zu machen. Wie bereits erwähnt, wird die Soziale Arbeit sehr geschätzt, da sie dem Behandlungsteam wichtige Hinweise gibt, welche sozialen Rahmenbedin‐ gungen Einfluss auf das aktuelle Krankheitsbild haben. Es ist aber notwen‐ dig, dass diese Mitarbeit stärker als bisher strukturell verankert wird, durch einen systematischeren und umfassenderen Einbezug der Sozialen Arbeit. Dieser Einbezug bedeutet auch, dass die Soziale Arbeit in Zukunft stärker in die psychiatrische Behandlung einbezogen werden muss. Mit grösserer zeitlicher Präsenz würden mehr Möglichkeiten bestehen, die Kli‐ entInnen zu befähigen, Schwierigkeiten besser zu meistern. So könnte es eine zentrale Aufgabe der Sozialen Arbeit sein, PatientInnen zu befähigen, ihre neu erlernten sozialen Kompetenzen in ihr Leben integrieren zu kön‐ nen. Damit dieser stärkere Einbezug der Sozialen Arbeit erreicht werden kann, ist es jedoch notwendig, dass die Leistungsträger sich finanziell an den Kosten der Dienstleistungen der Sozialen Arbeit beteiligen. Dadurch könnten Kliniken den KlientInnen die Dienstleistungen der Sozialen Ar‐ beit in einem grösseren Umfang anbieten. Langfristig kann sich dies nur positiv für die PatientInnen auswirken. In einigen Situationen reichen aber auch mehr Ressourcen des Sozial‐ dienstes nicht aus, die sehr komplexe Lebenssituation eines betroffenen Menschen während der Klinikbehandlung zu regeln. Es können Notlagen bestehen wie z. B. unklare Gemeindezuständigkeit für wirtschaftliche So‐ zialhilfe, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, kein oder ein zu geringes Ein‐ kommen, mangelnde soziale Kontakte, beeinträchtigter Allgemeinzustand usw. Die während des Klinikaufenthaltes ergriffenen Massnahmen genü‐ gen nicht, damit KlientInnen mit einer Suchtproblematik ihr Lebensskript in so kurzer Zeit umschreiben können und u. a. auch die Fähigkeit zur Res‐ sourcenerschliessung zu erlangen. Aus diesem Grunde ist es notwendig, KlientInnen nach Therapieabschluss extern mit suchtspezifischen Hilfsan‐ geboten zu vernetzen. Markus Kaufmann 85 Literatur Avenir Social (2010): Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz. Ein Argumentarium für die Pra‐ xis der Professionellen. www.tinyurl.com/sbz7hmf, Zugriff 23.12.2019. Bergner, J. (2017): Konzept zur Entzugsbehandlung von illegalen Substanzen. Internes Dokument der Klinik Zugersee. Goschke, T./Kuhl, J. (1993): The representation of intentions: Persisting activation in memory. Journal of Experimental Psychology, Learning, Memory, and Cognition, 19: 1211 ‐ 1226 Koch, Christof (2005): Bewusstsein ‐ ein neurobiologisches Rätsel. Heidelberg: Spektrum. Staub‐Bernasconi, S./Baumeler, M./Bornemann, C./Harder, U./Hierlemann, F./Mäder, E./Philipp P./Rüegger, C./Wegmann, M. (2012): Soziale Arbeit und Psychiatrie. Positi‐ onspapier zum professionellen Beitrag der Sozialen Arbeit bei Menschen mit psychi‐ schen Störungen und Erkrankungen im stationären, teilstationären und ambulanten Ge‐ sundheitsbereich. www.tinyurl.com/slus2zn, Zugriff 23.12.2019. Sommerfeld, P./Dällenbach, R./Rüegger, C./Hollenstein, L. (2016): Klinische Soziale Arbeit und Psychiatrie. Entwicklungslinien einer handlungstheoretischen Wissensbasis. Wies‐ baden: Springer VS. Winkler, G. (2013): Konzept zur Behandlung von Patienten mit Alkoholabhängigkeit sowie Konzept zur Entzugsbehandlung von illegalen Substanzen. Internes Dokument der Kli‐ nik Zugersee. Wunsch, A. (2013): Mit mehr Selbst zum stabilen ICH! Resilienz als Basis der Persönlich‐ keitsbildung. Berlin: Springer Spektrum. Zuckermann, M. (1994): Behavioral expressions and biosocial bases of sensation seeking. New York: Cambridge University. Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Soziale Arbeit: Eine wichtige Profession in der sucht‐ medizinischen Tagesklinik Arbeitsfeld Teilstationäre Therapie Rahel König‐Hauri1 1. 1.1 Soziale Arbeit in der teilstationären Suchttherapie Ausgangslage Die Tagesklinik Lenzburg gehört zur Klinik im Hasel AG und bietet ein teilstationäres Therapie‐ und Beratungsangebot für erwachsene Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung an. Der Kompetenzschwerpunkt liegt auf der integrierten Behandlung von Sucht‐ und Traumafolgestörungen. Es werden sowohl substanzgebundene als auch Verhaltenssüchte behan‐ delt, wobei erstere deutlich überwiegen. Voraussetzung für einen Aufent‐ halt in der Tagesklinik sind eine stabile Wohnsituation und bei Bedarf ein Entzug. Die PatientInnen nehmen von Montag bis Freitag an einem tages‐ füllenden und strukturierten Programm teil, bestehend aus Psycho‐, Gruppen‐, Kunst‐ und Körpertherapie, Bezugspflege und sozialer Bera‐ tung. Der teilstationäre Aufenthalt ermöglicht ihnen, die neuen Erkennt‐ nisse und Verhaltensweisen in ihrem Alltag und persönlichen Umfeld um‐ zusetzen, mit enger Begleitung durch Fachpersonen. Sie sollen das sucht‐ mittelfreie Leben kennenlernen und die nötigen Massnahmen treffen, um eine nachhaltige Verbesserung der individuellen Lebensqualität zu errei‐ chen. Dies durch eine möglichst selbständige Lebensführung, die Wieder‐ herstellung und Verbesserung des persönlichen Leistungsvermögens und die dauerhafte Eingliederung bzw. Wiedereingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft. Die Lebenssituationen der einzelnen Personen sind sehr unterschied‐ lich: Vom Langzeitarbeitslosen mit ungesicherten finanziellen Mitteln bis 1 Sozialarbeiterin, Sozialdienst, Tagesklinik Lenzburg. © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_5 88 Arbeitsfeld Teilstationäre Therapie zum Geschäftsmann mit einer Anstellung und grossem finanziellem Rück‐ halt ist die ganze Bandbreite vorhanden. Besonders bietet sich das Setting auch für Mütter mit Kindern an, da sie ihre Kinder oftmals nicht für län‐ gere Zeit in andere Obhut geben wollen und können. Das Angebot wird medizinisch geleitet, über die Krankenkasse abge‐ rechnet und durch Beiträge des Kantons mitfinanziert. Die Leistungen der Sozialen Arbeit werden über die Tagespauschale der Tagesklinik finan‐ ziert. Sie gehören zum Gesamtpaket und werden nicht einzeln ausgewie‐ sen. Der Arbeit in allen Bereichen der Klinik liegt ein humanistisches, von Empathie geprägtes Menschenbild zugrunde. Die empathische Grundhal‐ tung betrachten wir als wichtige Voraussetzung für Veränderungspro‐ zesse und als Grundlage für eine gelingende Zusammenarbeit mit der Kli‐ entel. Die PatientInnen werden als vollständiges und gleichwertiges Ge‐ genüber respektiert und der sensible Umgang mit den oftmals von Opfer‐ und Gewalterfahrung geprägten Lebensgeschichten wird bei allen Mitar‐ beitenden vorausgesetzt. Der Vielfalt der Weltanschauungen, der religiö‐ sen Ausrichtungen, der Werte und Lebensziele wird mit Respekt und To‐ leranz begegnet. Die Beziehungsarbeit versteht sich in der Klinik als zentrales Element einer gelingenden Therapie. Jede Patientin und jeder Patient hat eine Ein‐ zeltherapeutin oder einen Einzeltherapeuten und eine Pflegebezugsper‐ son, mit welcher regelmässige Einzelgespräche stattfinden. Auf Indikation kommen weitere Bezugspersonen aus der Komplementärtherapie oder dem Sozialdienst dazu. Der Sozialdienst entscheidet aufgrund des Erstge‐ spräches in Rücksprache mit dem gesamten Team, ob die Indikation für den Bereich Soziale Arbeit gegeben ist. Was in der Regel der Fall ist. Die räumlichen Verhältnisse in der Tagesklinik und die Offenheit und hohe Präsenz der Mitarbeitenden ermöglichen auch regelmässige Kurzkontakte im Gemeinschaftsraum oder Treppenhaus, welche für die Vertrauensbil‐ dung ebenfalls sehr wichtig sind. 1.2 Erklärungsmodell zur Suchterkrankung Der Arbeit in der Tagesklink liegt ein integratives, bio‐psycho‐soziales Suchtmodell (vgl. Beiträge in Feuerlein 1986) zugrunde. Rahel König‐Hauri 89 Auf biologischer Ebene spielen genetische Faktoren eine erhebliche Rolle bei der Suchtmitteleinwirkung, der Entstehung und Aufrechterhal‐ tung süchtigen Verhaltens. Gemachte Erfahrungen werden im Suchtge‐ dächtnis abgespeichert und können auch Jahre später noch Einfluss neh‐ men. Auf intrapsychischer Ebene werden Suchtmittel als Regulatoren von Affekten und bei der Reduktion von Stresserleben beschrieben. So dienen Suchtmittel oftmals dazu, unangenehme Gefühle erträglicher zu machen oder das Gefühl von Leere und Langweile zu füllen. Die sozialen Systeme haben einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Selbstbildes und der Selbstwirksamkeitserwartung. Dies und weitere gesellschaftliche Faktoren, wie Verlust einer Arbeitsstelle, Zugehörigkeit zu einer Peer‐ Group, Verfügbarkeit des Suchtmittels etc. haben auf sozialer Ebene Ein‐ fluss auf das Suchtverhalten eines Menschen. In der Klinik im Hasel wurde in Anlehnung an die Schematherapie bei Abhängigkeit (vgl. Roedinger 2011: 183‐197) ein eigenes Erklärungs‐ modell zur Suchterkrankung etabliert und aufbauend dazu der Therapie‐ ansatz der Leistungssensiblen Suchttherapie entwickelt. Das Erklärungsmodell geht von drei inneren Anteilen aus: dem Er‐ wachsenen‐Ich, dem Süchtigen‐Ich und dem bedürftigen Kind‐Ich. Ziel ist es, die einzelnen Anteile zu erkennen und durch innere Achtsamkeit und Kommunikation das gesunde Erwachsenen‐Ich zu stärken, dem bedürfti‐ gen Kind‐Ich den nötigen Schutz vor ungesunden Strategien zur Bedürf‐ nisbefriedigung zu bieten und das Süchtige‐Ich zu kontrollieren und be‐ grenzen. Das Süchtige‐Ich kann als Bewältigungsmodus verstanden wer‐ den und oftmals treten an die Stelle des Suchtmittelkonsums andere dys‐ funktionale Bewältigungsanteile. Das Erwachsenen‐Ich soll zudem ge‐ stärkt werden, um die Verantwortung für die Gesamtsituation zu über‐ nehmen. Die Leistungssensible Suchttherapie vertritt die Haltung, dass Perso‐ nen mit Abhängigkeitserkrankung permanent eine sehr grosse Leistung erbringen für die Aufrechterhaltung der Abstinenz. Daher ist das adä‐ quate Gefühl dazu Stolz und nicht Scham. Diese neue Grundhaltung bei Betroffenen und Angehörigen führt, wie wissenschaftlich belegt, zu einer signifikanten Reduktion von Rückfällen bei abstinenzmotivierten Perso‐ nen in der Entwöhungstherapie (vgl. Fleckenstein et al. 2019). 90 1.3 Arbeitsfeld Teilstationäre Therapie Aufgaben der Sozialen Arbeit Die Soziale Arbeit ist zuständig für die Bereiche Arbeit, Tagesstruktur, Wohnen, Finanzen, Versicherungen, rechtliche und administrative Ange‐ legenheiten und die Vernetzung mit weiteren involvierten Stellen wie IV, RAV, Krankentaggeldversicherungen, Sozialamt etc. Das Setting der Tagesklinik ermöglicht es den Betroffenen, ihre Abende und Wochenenden in ihrem persönlichen Umfeld zu verbringen. Dadurch sind sie allerdings täglich mit den Schwierigkeiten ihres Alltags konfrontiert. So müssen sie zum Beispiel wieder regelmässig zum Sozial‐ amt, sehen den Berg ungeöffneter Post zu Hause liegen oder sie fühlen sich in ihrer Wohnung einsam oder unwohl. Dies ist oftmals die Grundlage für einen Veränderungswunsch in den sozialarbeiterischen Themen. Ist bei einer Person die finanzielle Situation unklar, kommen schnell Existenzängste auf. Hier ist der Sozialdienst oft die erste Anlaufstelle, um zu klären und Unterstützung zu leisten. In erster Linie bietet der Sozialdienst Beratungsgespräche an. Inner‐ halb der ersten drei Wochen nach Eintritt wird mit jedem Patienten und jeder Patientin ein sozialarbeiterisches Erstgespräch geführt, in welchem die sozialen Dimensionen Arbeit, Finanzen, Wohnen, familiäre Situation und involvierte Fachpersonen erhoben werden. Aufgrund dieser Anam‐ nese wird gemeinsam mit dem Patienten eruiert, in welchen Bereichen er Unterstützung wünscht und braucht; daraus werden gemeinsame Ziele formuliert. Bei Bedarf werden auch Angehörige und bereits involvierte Personen und Fachstellen aus dem Umfeld des Patienten mit einbezogen und zu Systemgesprächen eingeladen. In den Beratungsgesprächen wird die motivierende Gesprächsführung nach Miller und Rollnick (2015) ein‐ gesetzt. Erfordert es die Situation, kann die Sozialarbeiterin die Person auch zu Terminen bei Ämtern, Gericht, Beratungsstellen oder anderen In‐ stitutionen begleiten. Auch durch den interdisziplinären Austausch im Team bekommt die Sozialarbeiterin in kurzer Zeit ein sehr umfassendes Bild der Person und der Problemlage. Dabei helfen zusätzlich die Eindrücke aus der Arbeit in der Gruppe sowie Beobachtungen und Begegnungen im Gemeinschafts‐ raum. Dies alles rundet das Bild aus den Beratungsgesprächen ab und hilft Rahel König‐Hauri 91 vor allem eine gute Beziehung aufzubauen, als zentrale Grundlage für das Gelingen der Arbeit. Eine Suchterkrankung geht oftmals mit grosser Scham einher, was für die Betroffenen die Kontaktaufnahme mit Behörden, Arbeitgeber etc. mas‐ siv erschwert. Ziel der gesamten sozialarbeiterischen Begleitung ist, so weit wie möglich, immer die Hilfe zur Selbsthilfe. Da die Aufenthaltsdauer in der Tagesklinik acht bis maximal sechzehn Wochen beträgt, ist die Tri‐ age zu weiterführenden Beratungsstellen ganz wichtig, um eine längerfris‐ tige Begleitung installieren zu können. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die PatientInnen die Angebote in ihrer Region kennen und wenn immer möglich bereits ein Erstkontakt während des Aufenthalts in der Ta‐ gesklinik stattfindet. 2. 2.1 Interdisziplinäre Zusammenarbeit Anerkennung der Sozialen Arbeit Beim Aufbau der Tagesklinik im Jahre 2013 wurde konzeptionell ein Sozi‐ aldienst verankert. Die Soziale Arbeit hat seit Beginn des Angebots einen hohen Stellenwert und geniesst ein hohes Mass an Autonomie. Das Kon‐ zept und den Stellenbeschrieb erarbeitete die Sozialarbeiterin im ersten halben Jahr ihrer Tätigkeit selber. Die Beratungsgespräche mit dem Sozi‐ aldienst sind heute ein fixer Bestandteil des Therapieprogrammes, nach‐ dem sie anfänglich auf freiwilliger Basis angeboten worden waren. Im Sozialdienst der Tagesklinik werden nur Fachpersonen mit einer Ausbildung in Sozialer Arbeit angestellt, als spezifische Ergänzung zum therapeutischen Team. Finanzielle Sicherheit, eine stabile Wohnform und geregelte Tages‐ struktur sowie weitere Aspekte des Alltags, werden als wichtige Voraus‐ setzung dafür gesehen, dass sich eine betroffene Person auf einen thera‐ peutischen Prozess einlassen kann und den Ausstieg aus der Sucht an‐ strebt. Das Wissen und die Sichtweise der Sozialen Arbeit werden in der Kli‐ nik im Hasel als Fachbereich anerkannt und als wichtiger Bestandteil der 92 Arbeitsfeld Teilstationäre Therapie Behandlung geschätzt. Zudem wird die soziale und berufliche Wiederein‐ gliederung als zentrales Element für die Stabilisierung des erreichten The‐ rapieerfolges nach Austritt aus der Tagesklinik angesehen. Im Frühjahr 2017 mussten aufgrund von finanziellen Kürzungen des Kantons Aargau die Pensen aller Berufsgruppen reduziert werden. Der Sozialdienst wurde mit nur 5% Reduktion am wenigsten gekürzt, ein Aus‐ druck der grossen Wertschätzung gegenüber der Sozialen Arbeit. 2.2 Identität der Sozialen Arbeit Die Soziale Arbeit versteht sich als eigenständige Profession und zeigt im interdisziplinären Austausch ihre Sichtweise der jeweiligen Situation klar auf. Sie wird von den anderen Professionen als gleichberechtigte Disziplin angesehen und respektiert. Seit Bestehen der Tagesklink hat sich die Identität der Sozialen Arbeit gefestigt. Heute bezeichnet sich die Sozialarbeiterin als solche, nachdem sie zu Beginn als Sozial‐ und Arbeitstherapeutin bezeichnet wurde. Es be‐ steht ein breites Verständnis, in dem Sucht auch als soziales Problem an‐ erkannt wird und damit die Wichtigkeit der Profession der Sozialen Ar‐ beit. Die anderen Professionen anerkennen die Komplexität der sozialar‐ beiterischen Sichtweise und die damit verbundene nötige Professionalisie‐ rung wird von der Klinikleitung durch fachspezifische externe Weiterbil‐ dungen gefördert. Der Sozialdienst der Tagesklinik verfügt über ein 35%‐Pensum, wel‐ ches durch die aktuelle finanzielle Situation im Gesundheitswesen mass‐ geblich definiert wird. Die Stelle ist seit Beginn von ein und derselben Per‐ son besetzt, daher muss von einem personenbezogenen fachlichen Fokus ausgegangen werden. Das zur Verfügung gestellte Pensum reicht für das Alltagsgeschäft, lässt aber daneben keine grösseren Projekte zu, sodass zum Beispiel ein politisches oder fachliches Engagement über den Klinik‐ alltag hinaus nicht möglich ist. Die Klinik unterstützt Projekte, indem sie zusätzliche Arbeitsstunden zur Verfügung stellt, wie zum Beispiel für die Mitarbeit an diesem Buch. Mit zunehmender Arbeitsdauer vermisst die Sozialarbeiterin die wis‐ senschaftliche Basis, um fachlich und fundiert zu argumentieren, wieso Rahel König‐Hauri 93 Soziale Arbeit ein wichtiger und unentbehrlicher Teil des Therapiekonzep‐ tes ist. Die Klinik vertritt in öffentlichen Auftritten klar die Wichtigkeit der sozialen und beruflichen Reintegration. Die fachliche Argumentation aus sozialarbeiterischer Sicht ist dabei aber wie oben erwähnt noch zu unspe‐ zifisch und wenig greifbar. Von der Sozialarbeiterin werden Daten erho‐ ben über alle Klienten und Klientinnen, um genauere Aussagen zu den einzelnen Aufgabenbereichen der Sozialen Arbeit, zur beruflichen Wie‐ dereingliederung und auch deren Nachhaltigkeit machen zu können. Im Katamnesefragebogen der Klinik wird gezielt auch der sozialarbeiterische Bereich abgefragt. 2.3 Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen Die Zuständigkeiten der einzelnen Disziplinen sind in den Stellenbeschrie‐ ben klar definiert und werden im Einzelfall falls nötig angepasst. Durch den regelmässigen interdisziplinären Austausch im täglichen Rapport und in den wöchentlichen Fallbesprechungen können die Interventionen der verschiedenen Berufsgruppen gut und zeitnah aufeinander abgestimmt werden. Durch die Grösse der Tagesklinik mit maximal 15 PatientInnen und einem interdisziplinären Team bestehend aus elf Personen mit insgesamt 525 Stellenprozenten (Arzt 30%, Psychotherapie inkl. Leitung Tagesklinik 220%, Körpertherapie 30%, Kunsttherapie 30%, Pflege 180%, Sozialarbeit 35%), ist eine sehr enge Zusammenarbeit möglich. Positiv auf die Zusam‐ menarbeit wirkt sich aus, dass die Psychotherapeutinnen und der Arzt nebst dem Pensum für die Tagesklinik alle in denselben Räumlichkeiten auch für das Ambulatorium der Klinik im Hasel tätig sind. Dies bedeutet, dass alle trotz der kleinen Pensen an vier Tagen pro Woche in der Klinik anwesend sind. Durch die zusätzliche Flexibilität bei der Einteilung der eigenen Arbeiten, ist die Möglichkeit eines kontinuierlichen Informations‐ austausches gewährleistet, was die enge Zusammenarbeit der einzelnen Professionen fördert und sichert. So sind zum Beispiel in Standortgesprä‐ chen nebst der Leitung immer zwei verschiedene Professionen vertreten. Meist sind die Pflege und die Therapie dabei. Die Soziale Arbeit wird bei‐ gezogen, wenn sie im betreffenden Fall eine aktive Rolle spielt. 94 Arbeitsfeld Teilstationäre Therapie Durch die konzeptionelle Verankerung und den engen Austausch im Alltag funktioniert die interdisziplinäre Zusammenarbeit gut. Alle Profes‐ sionen sind wichtige und gleichwertige Akteure zur Umsetzung des The‐ rapiekonzeptes. Obwohl dies konzeptionell verankert ist, geht die Sozial‐ arbeiterin davon aus, dass die gelebte Teamkultur und die Führungsper‐ sonen viel dazu beitragen, dass sich die VertreterInnen aller Professionen gleichwertig und geschätzt fühlen. 3. 3.1 Chancen und Herausforderungen Effizient und kostengünstig und doch gefährdet! Die Finanzierung von Tageskliniken ist leider schweizweit noch nicht um‐ fänglich gesetzlich geregelt. Die Behandlung in einer Tagesklinik wird zu den ambulanten Therapieangeboten gezählt, deren Kosten die Kranken‐ versicherungen übernehmen. Da aber Tageskliniken innerhalb ihres Pro‐ grammes ähnliche Leistungen erbringen wie stationäre Kliniken (hierzu zählen z. B. die Leistungen des Sozialdienstes), decken die Beiträge der Krankenversicherungen die Kosten nicht. Daher werden tagesklinische Behandlungen vom Kanton über gemeinwirtschaftliche Leistungen mitfi‐ nanziert. Diese Beiträge des Kantons sind nicht gesetzlich verankert, son‐ dern freiwillig. Durch den steten Kostendruck im Gesundheitswesen un‐ terliegen diese Beiträge im Kanton Aargau seit dem Jahr 2016 Kürzungen, welche ein kostendeckendes Arbeiten in Tageskliniken verunmöglicht. Dies führt zu Angebotsanpassungen und ‐kürzungen (zum Beispiel die Reduktion der Pensen in der Tagesklinik Lenzburg) bis hin zu Schliessung von Tageskliniken. Die unsichere Finanzierung ist eine grosse Herausforderung. Der schon grundsätzlich vorhandene Druck zu einer guten Auslastung wird dadurch noch verstärkt. Dies ist in der täglichen Arbeit spürbar, wenn es zu Über‐ oder Unterbelegung kommt. Bei Überbelegung stossen alle Dis‐ ziplinen an die Grenzen ihrer zeitlichen und teils auch räumlichen Res‐ sourcen, da diese sehr knapp bemessen sind. Rahel König‐Hauri 95 Eine grosse Herausforderung ist es damit umzugehen, einerseits von der Notwendigkeit und dem Nutzen des teilstationären, interdisziplinä‐ ren Settings überzeugt und dabei anderseits von politischen Entscheidun‐ gen abhängig zu sein. Für die PatientInnen ist die Mischung aus intensiver Therapie und gleichzeitiger Nähe zum Alltag und den damit einhergehen‐ den Problemen eine der grossen Chancen der tagesklinischen Behandlung. Dabei ist eine teilstationäre Therapie im Vergleich zu stationären Angebo‐ ten auch wesentlich kostengünstiger. Aus Sicht der Sozialen Arbeit ist das Setting der Tagesklink ein gros‐ ser Gewinn, da das Fachwissen der einzelnen Professionen in kurzer Zeit ein sehr umfassendes und multiperspektivisches Bild der Klientel ermög‐ licht. Dadurch können Interventionen zielgerichtet und den Möglichkeiten der Person angepasst erfolgen. Durch die Nähe zum Alltag können sozial‐ arbeiterische Interventionen mit den richtigen Stellen koordiniert und im Alltag mit den PatientInen geübt werden. Da die Soziale Arbeit auf die Mitfinanzierung durch den Kanton an‐ gewiesen ist, ist die Sicherung der Finanzierung solcher Angebote und da‐ mit auch die Anerkennung der einzelnen involvierten Disziplinen sehr wünschenswert. 3.2 Kontinuität für gelingende Soziale Arbeit Als grosse Herausforderung zeigt sich immer wieder die Errichtung einer sozialarbeiterischen Weiterbegleitung der PatientInnen nach ihrem Aus‐ tritt aus der Tagesklinik. Oftmals reicht der Klinikaufenthalt, um sich eine Übersicht über die aktuelle Situation zu verschaffen, aber die Menschen sind oft noch nicht in der Lage, ihre administrativen Angelegenheiten wie‐ der völlig selbständig erledigen zu können. Grösstenteils braucht es punk‐ tuell noch Unterstützung, vor allem in der Kommunikation mit involvier‐ ten Behörden und Ämtern. Während es ein sehr breites Angebot von am‐ bulanten Therapieangeboten gibt, ist es meist schwierig, Anlaufstellen für sozialarbeiterische Weiterbegleitung zu finden. Erschwerend kommt dazu, dass die PatientInnen aufgrund ihrer Geschichte und des Krank‐ heitsbildes häufig grosse Mühe haben, sich auf neue Personen einzulassen. Um den Übergang so gut wie möglich zu gestalten, werden schon während des Aufenthalts in der Tagesklinik geeignete Anlaufstellen in der 96 Arbeitsfeld Teilstationäre Therapie jeweiligen Region gesucht und ein Erstgespräch in Begleitung des Sozial‐ dienstes der Tagesklinik gemacht. Dies ist für viele Patienten hilfreich, um Vertrauen in die neue Institution und Fachperson zu gewinnen. Ich wünschte mir, dass es mehr Angebote der Sozialen Arbeit gäbe, welche Menschen langfristig unterstützen, unabhängig von deren aktuel‐ ler Situation. Sozialarbeiterische Unterstützung ist oftmals an bestimmte Lebenssituationen geknüpft. Als Beispiel möchte ich die Sozialhilfe anfüh‐ ren, die nebst materieller auch immaterielle Hilfe anbietet; dies aber oft nur solange der Anspruch auf materielle Hilfe gegeben ist. Erlischt der An‐ spruch, erlischt oft auch die Unterstützung. Ein weiteres Beispiel wäre die Invalidenversicherung, welche involviert ist und unterstützen kann, so‐ lange die Auflagen erfüllt werden. Aber gerade in der Suchtarbeit erachte ich eine kontinuierliche Begleitung und ein beständiges Beziehungsange‐ bot, welches auch in Krisenzeiten genutzt werden kann, als sehr wichtig. Denn nicht selten gehen Rückfälle und Krisen mit einer Destabilisierung auch in den Bereichen Arbeit oder Finanzen einher. Literatur Feuerlein, W. (Hrsg) (1986): Theorie der Sucht. Heidelberg: Springer. Fleckenstein, M./Heer, M./Leiberg, S./Gex‐Fabry, J./Lüddeckens, T. (2019): Leistungssensible Suchttherapie: Vorstellung und Wirksamkeitsprüfung einer neuen Kurzintervention. Suchttherapie 20(02): 68–75. Miller, W.R./Rollnick, S. (2015): Motivierende Gesprächsführung. Freiburg i.B.: Lambertus. Roedinger E. (2011): Schematherapie bei Abhängigkeit. 183‐197 in: E. Roedinger/G. Jacob (Hrsg.), Fortschrittte der Schematherapie – Konzepte und Anwendungen. Göttingen: Hogrefe. Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Soziale Arbeit – Dreh‐ und Angelpunkt der stationären Suchttherapie Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie Peter Forster1, Fabian Müller2, Michel Villard3 1. casa fidelio – die einzige rein männerspezifische stationäre Such‐ tinstitution in der Schweiz Die casa fidelio – Institution für männerspezifische Suchtarbeit – wurde im Jahr 1993 gegründet. Träger der therapeutischen Gemeinschaft ist der po‐ litisch und konfessionell unabhängige, neutrale und gemeinnützige Ver‐ ein «casa fidelio» mit Sitz in Niederbuchsiten (SO). Wir bieten maximal 25 suchtmittelabhängigen (Drogen‐, Alkohol‐, Medikamenten‐ und Spiel‐ sucht) erwachsenen Männern die Möglichkeit, ihre Sucht in einer stationä‐ ren Therapie anzugehen. Der Aufenthalt dauert in der Regel ca. 12 Monate, kann aber auch je nach Entwicklungstand des Klienten wesentlich kürzer oder länger dauern. Das Ziel der Therapie ist, die Hilfesuchenden dabei zu unterstützen, sich ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Le‐ ben aufzubauen und die neuen Verhaltensformen sowie die Wohn‐ und Arbeitssituation langfristig zu erhalten. Die Klienten wohnen in drei Wohngemeinschaften mit je max. 5 Plätzen und einer Wohngemeinschaft mit max. 10 Plätzen. Das Angebot ist abstinenzorientiert, es ist aber unter gewissen Voraussetzungen möglich, dass auch Männer mit Substitutions‐ behandlung eine Therapie in der casa fidelio machen können. Das heisst, dass Abstinenz zwar ein grundsätzliches Ziel der Therapie ist, dennoch ist klar, dass nicht alle Bewohner dieses Ziel erreichen können. Den meisten Klienten ist es so möglich, die Dosierung soweit herabzusetzen, dass sie arbeiten können, aber dennoch einen gewissen Schutz haben. Psychiatriepfleger HF, klassischer Homöopath, Naturtherapeut, Leiter Therapie. Lic. Phil. I, Soziale Arbeit, Geschäftsführer. 3 Sozialpädagoge HFS, Leiter Sozialdienst. 1 2 © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_6 98 Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie Wir unterstützen die Bewohner darin, vorhandene Ressourcen einzu‐ bringen, fehlende Fähigkeiten aufzubauen und ihre Lebensinfrastruktur neu aufzugleisen. Dies geschieht mit der Unterstützung eines interdiszip‐ linären, gut ausgebildeten Teams mit 13 Mitarbeitern. Dazu gehören Sozi‐ alarbeiter, Sozialtherapeuten, Arbeitsagogen, ein Jobcoach und der interne Sozialdienst, der für Schuldenmanagement und das Erlernen administra‐ tiver Fähigkeiten zuständig ist. Bei unseren fallführenden Therapeuten, die die Bewohner während der ganzen Zeit in der casa fidelio begleiten, ist eine Ausbildung als Sozialarbeiter, Sozialpädagoge, Psychologe oder Psychiatriepfleger Grundvoraussetzung. Darüber hinaus haben unsere therapeutischen Mitarbeiter eine oder mehrere suchtspezifische, psycho‐ therapeutische oder beraterische Weiterbildungen absolviert. Wir sehen uns in erster Linie als Sozialtherapeuten, bieten aber auch psychothera‐ peutische Einzel‐ und Gruppensettings an. Als fallführender Therapeut füllt ein Mitarbeiter eine ganze Reihe verschiedener Rollen aus. Er muss in der Lage sein, den Klienten sehr niederschwellig abzuholen, und gleich‐ zeitig sollte er über fundiertes psychopathologisches und psychotherapeu‐ tisches Wissen verfügen, damit die Übergänge von der Stabilisierungs‐ phase zur therapeutischen Arbeit möglichst fliessend erfolgen können. Die Arbeit in der casa fidelio beruht also auf einer breiten fachlichen Herkunft der einzelnen Mitarbeiter. 1.1 Männerspezifische Suchtarbeit «Jungen und Männer sind bei Problemen, resultierend aus Alkohol‐ und Drogenabhängigkeit, besonders stark betroffen. Gleichzeitig sind ihre Fä‐ higkeiten, Ressourcen und Aussichten diese Problematik zu bewältigen, unterentwickelt – angefangen bei der geringeren und oft sehr späten Inan‐ spruchnahme von Hilfeangeboten bis hin zu der gefühlten und gefürchte‐ ten Erosion des eigenen Männlichkeitskonzeptes. Drogen spielen in diesen Konzepten eine herausragende Rolle als Demonstrationsmittel von Stärke, als Anti‐Stressmittel, als Symbol von Grenzüberschreitung und Gefähr‐ lichkeitssuche, als Kommunikations‐ oder Rückzugsmittel oder als sozia‐ les Schmiermittel überhaupt» (Stöver 2006: 3). Das Bedürfnis nach einer geschlechtsspezifischen Suchtarbeit hat bei Männern andere Gründe als bei Frauen. Es ist auch nicht so vordergründig Peter Forster, Fabian Müller, Michel Villard 99 und offensichtlich. Männer brauchen konkrete männliche Vorbilder im Alltag. Da diese Vorbilder oft fehlen (Arbeitsabwesenheit des Vaters, Tren‐ nung der Eltern, emotionale Abwesenheit des Vaters) orientieren sich Jun‐ gen sehr häufig an unrealistischen Männerbildern aus Filmen, Werbung und seit einiger Zeit auch an Bildern und Videos aus dem Internet. Das Verlangen, ein Mann zu werden, ist für Jungen gleichbedeutend mit er‐ wachsen werden und akzeptiert werden. Die in den Medien gezeigten Männerbilder sind häufig unerreichbar und unrealistisch, was bei einer zu starken Identifikation mit diesen Vorbildern irgendwann zum Konflikt mit sich selbst führt. Gemeinsame Erfahrungen und Orientierung an männlichen Vorbil‐ dern ist der Boden für die Männerarbeit in der casa fidelio. Dies hilft den Männern, immer mehr Ausdrucksformen für ihr Innerstes zu finden, um sich ganzheitlich entwickeln zu können. Um die Suchtarbeit mit Männern bewusster und gezielter anzugehen, wurde für die casa fidelio ein Konzept für männerspezifische Suchtarbeit entwickelt (Müller 2015). 1.2 Menschenbild «Der Mensch ist ein leibliches Wesen, das in, mit, und durch seine Lebens‐ welt existiert» (Rahm 1993). Jeder Mensch steht auf seine ganz persönliche Art und Weise mit seiner Umwelt in Beziehung, wobei sich Mensch und Umwelt gegenseitig fortwährend beeinflussen. Gemeint ist hier in erster Linie die soziale Umwelt, aber nicht nur. Wenn ein Mensch den Bezug zu sich selbst verliert, und das ist bei sehr vielen suchtkranken Menschen der Fall, verliert er auch den Bezug zur Natur und damit zum eigenen Ur‐ sprung. Kommt es zu einer chronischen Störung dieses In‐Beziehung‐ Seins mit der Umwelt, entsteht eine Entfremdung, was eine ganze Reihe von Problemen im täglichen Leben nach sich zieht. Zentral ist es, die Persönlichkeit des Menschen nicht nach einem be‐ stimmten, möglicherweise gesellschaftlich anerkannten Bild zu formen, sondern vielmehr den Kontakt zum eigenen Potenzial und der eigenen selbstreflexiven Wahrnehmung wiederherzustellen. Die Gefahr der Mani‐ pulation ist in jedem von aussen begleiteten oder angeregten Verände‐ rungsprozess gegeben und viele Klienten haben genau davor Angst. Sie fürchten, nach der Therapie nicht mehr sich selbst zu sein, und sperren 100 Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie sich gegen kleinste Veränderungen. Ein offener, vorurteils‐ und wertfreier Umgang bildet daher die Basis des Vertrauens, welches für einen thera‐ peutischen Prozess unerlässlich ist. Nicht der fallführende Therapeut setzt ein Ziel und versucht anschliessend den Klienten dafür zu gewinnen, son‐ dern der Therapeut hilft dem Klienten, Wünsche zuerst einmal wahrzu‐ nehmen, daraus Ziele zu formulieren und diese nach Möglichkeit zu errei‐ chen. Ohne dieses Einverständnis kann es keine nachhaltige Veränderung geben. Grundlegendes Ziel der Therapie ist es daher, dem Klienten ein besseres Verständnis seiner selbst, eine Verbesserung seiner Beziehungs‐ fähigkeit und damit eine Verbesserung seiner Handlungsfähigkeit zu er‐ möglichen. 1.3 Beziehungsarbeit ist das A und O der stationären Therapie Beziehung ist der zentrale Punkt in jedem therapeutischen Prozess: «Be‐ ziehungsarbeit beinhaltet hauptsächlich den Aufbau von Vertrauen zu mir selbst und meinen Fähigkeiten. Erst als Folge davon kann Vertrauen zum Leben und zu den Mitmenschen entstehen. Eine wertschätzende, ressour‐ cenorientierte Grundhaltung gegenüber den Bewohnern und eine proak‐ tive Beziehungsaufnahme sind in dieser Arbeit die wichtigsten Werkzeuge des fallführenden Therapeuten» (Forster 2018: 5). Wer sich für eine statio‐ näre Suchttherapie entscheidet, entscheidet sich in der casa fidelio immer für ein therapeutisches Setting in einer Gemeinschaft und für einen Verän‐ derungsprozess, der nicht nur auf der bewussten Ebene abläuft. Zum Teil sind diese Prozesse tiefgreifend, oft auch schmerzhaft oder angstbesetzt (wenn es gilt, sich mit Überzeugungen oder Erinnerungen auseinanderzu‐ setzen, die zu dem zu verändernden Verhalten beigetragen haben). Der Klient setzt sich mit Gefühlen und Zuständen auseinander, die bisher ge‐ mieden oder verdrängt wurden. Das fühlt sich in der Regel nicht gut an und in dieser Phase hilft meist nur das Vertrauen, das der Klient in den wöchentlichen Einzelgesprächen zum fallführenden Therapeuten auf‐ bauen konnte. Die meisten Klienten haben in ihrem Leben die Erfahrung von Ausgrenzung und Ablehnung machen müssen. Manche erst durch ihre Sucht, andere schon vorher. Sie gehen wie selbstverständlich davon aus, dass auch der Therapeut sie verurteilen und fallen lassen wird, wenn Peter Forster, Fabian Müller, Michel Villard 101 sie sich zeigen, wie sie sind. Eine solche Beziehung aufzubauen braucht Zeit, Wertschätzung und Ehrlichkeit. 1.4 Interventionsmodell Unserem Behandlungsansatz in der casa fidelio liegt das bio‐psycho‐sozi‐ ale Modell der Suchtentstehung zugrunde. Zusätzlich arbeiten wir gemäss dem systemisch‐lösungsorientierte Ansatz. Darin gibt nicht einfach der fallführende Therapeut die Richtung vor und trägt die alleinige Verant‐ wortung über den Prozess. Vielmehr werden die Therapieziele mit dem Klienten besprochen und Verantwortungsbereiche ausgehandelt. Der Therapeut steht sodann dem Klienten als Helfer zur Selbsthilfe zur Seite. Die Suchterkrankung ist in ihrer Entstehung und Ausprägung multi‐ faktoriell und hat Auswirkungen auf verschiedenste Bereiche der Person und ihrer Lebenswelt. Dementsprechend müssen wir auch bei der Rehabi‐ litation suchtkranker Menschen auf verschiedenen Ebenen handeln. Im Bereich des Beratungsgesprächs bedeutet das zunächst einmal eine Ana‐ lyse des Ist‐Zustandes. So reflektiert der Bewohner zusammen mit dem fallführenden Therapeuten bspw. seinen Lebenslauf und stellt diesen in der Klientengruppe vor. Dazu gehören ebenfalls seine Suchtvergangenheit und die berufliche Entwicklung. Grundlage unserer Arbeit ist der Veränderungswille des Klienten. Allfällig auftauchende Probleme besprechen wir in den Gruppen‐ und Einzelberatungsgesprächen. Fortschritte genauso wie Probleme werden den Therapeuten auch von den Fachpersonen der anderen Disziplinen wie zum Beispiel der Agogik gemeldet. In sogenannten Fallteams, bestehend aus dem fallführenden Therapeuten, dem Arbeitsagogen, dem Sozial‐ dienst und dem Integrationsverantwortlichen, werden gemeinsam mit dem Klienten die bisherigen Ziele evaluiert sowie allenfalls neue bespro‐ chen und schriftlich festgehalten. Diese Ziele reichen vom alltäglichen Zu‐ sammenleben mit den anderen Klienten über die Arbeit und die Therapie bis hin zu spezialisierten Interventionen im Bereich der Trauma‐Aufarbei‐ tung bei einem externen Spezialisten. Die schriftlich fixierten Ziele werden anschliessend in den verschiedenen Bereichen (Therapie, Arbeit, Freizeit etc.) angegangen. Die Fallteams können grundsätzlich von allen Beteilig‐ ten einberufen werden. In der Regel finden die Sitzungen der Fallteams 102 Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie alle drei Monate statt. Ausserordentliche Fallteamsitzungen werden ein‐ berufen, wenn es etwas Grundlegendes zu entscheiden gibt oder wenn ei‐ ner der Beteiligten das Gefühl hat, nicht weiterzukommen. Das kann auch der Bewohner sein, obwohl das eher selten ist. 1.5 «Freiwillige» und strafrechtlich verurteilte Klienten Rund die Hälfte unserer Klienten werden durch die jeweiligen kantonalen Vollzugs‐ und Massnahmebehörden bei uns eingewiesen. Die stationäre Therapie dient in diesem Fall zum Vollzug einer Massnahme gemäss Art. 60 StGB. Die Kosten der Therapie werden von den kantonalen Justizbehör‐ den übernommen. Die Aufenthaltskosten der restlichen Klienten werden durch die entsprechenden kommunalen oder kantonalen Sozialdienste ge‐ tragen. Für beide Kategorien von Klienten bedeutet aber die stationäre Therapie in der casa fidelio meist die letzte ihnen gebotene Chance. Für die einen die letzte Chance vor einer unbedingten Haftstrafe im Gefängnis, für die anderen die letzte Chance, um sich vom staatlich finanzierten Pre‐ kariat der Sozialhilfe zu befreien. 2. 2.1 Soziale Arbeit in der casa fidelio Funktion der Sozialen Arbeit Die Klienten in der casa fidelio sind vor ihrem Eintritt entweder süchtig und abhängig von der Sozialhilfe oder konsumieren Suchtmittel und sind delinquent. Dies bedeutet, dass die Klienten bis zu ihrem Eintritt in unsere Institution schon seit geraumer Zeit in gesellschaftlich marginalisierten Nischen gelebt haben. Selten tritt ein Klient in der casa fidelio schuldenfrei ein. Meist besitzen sie kaum mehr ein amtliches Dokument. Es gilt oft, den Klienten zuallererst davon zu überzeugen, dass es um ihn geht. Er muss Verantwortung übernehmen für sein eigenes Leben. Der interne Sozialdienst wird in der casa fidelio von einem ausgebil‐ deten Sozialarbeiter geleitet. Seine Aufgaben sind vielschichtig. Er muss dem Klienten unter anderem Wege aufzeigen, wie er aus seiner prekären Peter Forster, Fabian Müller, Michel Villard 103 Situation hinausgelangen kann. Dies beinhaltet die Regelung der admi‐ nistrativen und finanziellen Angelegenheiten des Klienten. Die liegenge‐ lassenen Briefe und Rechnungen werden mit ihm zusammen sortiert und abgearbeitet. Fragen bzgl. Steuererklärungen werden geklärt und erledigt und es wird eine Liste der Schulden erstellt. Das Ziel ist, dass der Klient am Ende der Therapiezeit in der casa fidelio seine administrativen Belange geregelt hat. Der Sozialdienst ist innerhalb der Institution durch seinen Einbezug in das Fallteam eng mit den anderen Disziplinen vernetzt. 2.2 Angebote des internen Sozialdienstes Ziel der stationären Therapie in der casa fidelio ist, dass der Klient wieder ein selbstbestimmtes Leben führen kann, einen Beruf und eine geregelte Freizeitbeschäftigung hat. Je nach Klient und dessen Situation bietet der interne Sozialdienst, Einzelgespräche an. Entscheidend in der sozialarbei‐ terischen Tätigkeit mit dem Klienten bleibt die Funktion des «fordernden Förderers», der den Überblick behält und dranbleibt, speziell dann, wenn der Klient dazu neigt, die Dinge etwas zu vergessen. Neben den administrativen und finanziellen Aufgaben, bei denen der Sozialdienst die Bewohner begleitet, stehen beratende, koordinierende und therapeutische Aufgaben, für die der fallführende Therapeut zustän‐ dig ist. Damit die Verantwortlichkeiten definiert sind und Doppelspurig‐ keiten vermieden werden, ist festgelegt, dass der fallführende Therapeut den gesamten Prozess des Aufenthalts des Klienten begleitet und koordi‐ niert. Dies ist ein Prozess, der schon vor dem Eintritt in die Institution be‐ ginnt und meist noch nicht abgeschlossen ist, wenn der Klient austritt. Der fallführende Therapeut koordiniert die Zusammenarbeit mit dem exter‐ nen Netz des Klienten, aber auch die Aufgaben der Mitarbeiter des inter‐ nen Fallteams. 2.3 Strategische und konzeptionelle Verankerung der Sozialen Arbeit in der casa fidelio Die Inhalte der Ausbildung in Sozialer Arbeit sind für das Verständnis ei‐ ner sozialen Institution wichtig und nützlich. So ist der Bereich der Sozia‐ len Arbeit konzeptionell im Betreuungskonzept verankert, in dem der 104 Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie ganzheitliche Ansatz der Therapie beschrieben wird. Der fallführende Therapeut ist Dreh‐ und Angelpunkt der Arbeit in der casa fidelio. Er ver‐ netzt, koordiniert und gestaltet den gesamten Therapieprozess eines Kli‐ enten. Der direkte Vorgesetzte des fallführenden Therapeuten in unserer Institution ist der Leiter Therapie. In der casa fidelio hat unter anderem der aktuelle Geschäftsführer eine Ausbildung in Sozialer Arbeit. Dies ist allerdings nicht zwingend notwendig. 3. 3.1 Interprofessionelle Zusammenarbeit Wichtigkeit der Interdisziplinarität für die gelingende therapeutische Arbeit Schaut man sich die Zielsetzungen der meisten Klienten und die der Kos‐ tenträger an, geht es im Wesentlichen darum, dass die Klienten nach der Therapie wieder möglichst weit in die Gesellschaft integriert sind. Oft ge‐ nannte Ziele sind: guter Job, genug verdienen, schöne Wohnung, Auto, Freundin – meist sogar in dieser Reihenfolge. Wer arbeitet, ist ein vollwer‐ tiges Mitglied der Gesellschaft. Da sind sich Suchtmittelabhängige und die bürgerliche Mehrheit offenbar einig und so mancher Süchtige meint, dass er einfach einen Job braucht, der Rest ergibt sich von allein. Auch wenn die Fähigkeit zu arbeiten und sich den eigenen Lebens‐ unterhalt zu verdienen der wesentliche Stützpfeiler eines selbstbestimm‐ ten Lebens ist, liegt der Fokus der Suchtbehandlung auf der Bearbeitung problematischer Denk‐ und Handlungsmuster, die zur Suchtentwicklung geführt haben. Ohne eine Veränderung in diesem Bereich werden alle an‐ deren Veränderungen keine Nachhaltigkeit aufweisen. Es kann zwar ge‐ lingen, das Arbeiten wieder zu erlernen oder Skills im Bereich der Rück‐ fallprävention zu erwerben, jedoch wird beides nach einer gewissen Zeit im Alltag wieder zusammenbrechen, wenn der Klient nicht gelernt hat, anders mit seiner persönlichen Problematik umzugehen. Ein anderer Um‐ gang mit sich selbst ist also die Grundlage, auf der Veränderungen im All‐ tag aufbauen. Wir stehen in einem Therapieverlauf demnach vor der Her‐ ausforderung, die Fortschritte in der Persönlichkeitsentwicklung mit den Fortschritten in den Alltagskompetenzen möglichst zu synchronisieren. Peter Forster, Fabian Müller, Michel Villard 105 Dafür braucht es eine enge Zusammenarbeit der beiden Disziplinen Ago‐ gik und Therapie. Gleichzeitig braucht es einen Fallverantwortlichen, der die notwendigen Schritte koordiniert und über eine vielschichtige Ausbil‐ dung verfügt. Dazu kommen medizinische und psychiatrische Probleme der Klien‐ ten, die ebenfalls in den Therapieprozess einfliessen und berücksichtigt werden wollen. Fallführend muss also jemand sein, der sich in all den ge‐ nannten Aspekten auskennt und weiss, wie sich innere und äussere Pro‐ zesse gegenseitig beeinflussen. Absprachen und gute Zusammenarbeit al‐ ler involvierter Disziplinen sind daher essentiell. 3.2 Herausforderungen der interdisziplinären Zusammenarbeit In der interdisziplinären Zusammenarbeit gibt es immer wieder Verstän‐ digungsprobleme und Konflikte. Die Art wie kommuniziert und gehan‐ delt wird, ist in den Bereichen Therapie, Soziale Arbeit und Agogik doch recht verschieden. Der grundlegende Unterschied ist, dass sich die Agogik um äussere und die Therapie um innere Prozesse kümmert, während dem die Soziale Arbeit Berührungspunkte mit inneren und äusseren Prozessen hat. Eine Abgrenzung der Bereiche ist zwar grundsätzlich gegeben, den‐ noch sind die Übergänge oft fliessend. Der agogische Bereich mit seinen verschiedenen Tätigkeitsfeldern (Bau‐ und Sanierungsarbeiten, Hauswirt‐ schaft, Umgebungsarbeiten und Abwartstätigkeiten) ist grundsätzlich handlungsorientierter als der therapeutische Bereich. Dies machte sich lange Zeit vor allem in Sitzungen dadurch bemerkbar, dass die redege‐ wohnten Therapeuten miteinander diskutierten und die Arbeitsagogen zuhörten. Inzwischen kommen häufigere Wortmeldungen von Seiten der Agogik, was zu viel Diskussionsstoff führt, da die Arbeitsagogen einen an‐ deren Blickwinkel auf eine bestehende Problematik haben und von daher zu anderen Lösungsmöglichkeiten gelangen. Hier sind viel gegenseitiger Respekt und Vertrauen nötig, um nicht in Rechthaberei zu geraten. Wir lernen immer wieder, einander zuzuhören, zu hinterfragen und manch‐ mal auch einfach zu akzeptieren. Absprachen und ein grundsätzliches Vertrauen zwischen den Mitarbeitern der Bereiche sind für eine den Kli‐ enten unterstützende Zusammenarbeit zentral. Je mehr jeder den Bereich und die Denkweise des anderen versteht, desto weniger kommt es zu 106 Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie Grenzüberschreitungen und Konflikten. Auch wenn der fallführende Therapeut den Lead über den gesamten Therapieprozess hat, befiehlt er nicht im Alleingang, sondern bespricht Interventionen, die Auswirkungen auf andere Bereiche haben, mit den zuständigen Mitarbeitern. 4. 4.1 Stand der Professionalisierung der Sozialen Arbeit in diesem Ar‐ beitsfeld Positionierung der Sozialen Arbeit In der casa fidelio sind im therapeutischen Bereich verschiedene Berufs‐ gruppen angestellt. Neben Sozialarbeitern sind dies auch Sozialpädago‐ gen oder Psychologen mit einer entsprechenden suchtspezifischen Weiter‐ bildung. Wir orientieren uns grundsätzlich an sozialwissenschaftlichen Modellen. Aufgrund der Vielfältigkeit der Arbeiten im Arbeitsfeld der sta‐ tionären Suchttherapie ist nicht prioritär die Soziale Arbeit gefragt, son‐ dern Personen, die Beziehungen aufbauen können und entsprechendes Know‐how für das Einzelgespräch sowie für die Gruppenarbeit haben. Diese Qualitäten finden sich u. a. bei Sozialpädagogen, Psychologen oder Psychiatriepflegern als möglichen Grundberufen neben Sozialer Arbeit. Die stationäre Arbeit im Suchtbereich stellt mit 1300 Klienten schweizweit pro Jahr nur einen kleinen Teil des gesamten Suchtbehand‐ lungsangebotes (im legalen und illegalen Suchtmittelbereich) dar. Wäh‐ rend die abstinenzorientierte stationäre Drogentherapie früher das Be‐ handlungsangebot schlechthin war, ist dieser Bereich heute eine Nische für all diejenigen, denen es trotz des umfassenden Angebotes im ambulan‐ ten Bereich nicht gelingt, von der Sucht wegzukommen oder sich in mini‐ malen Alltagsstrukturen zurechtzufinden. Klienten aus dem Straf‐ und Massnahmenvollzug stellen einen grossen Teil unserer Klientel dar. Sie weisen meist schwere, langjährige Suchterkrankungen auf, häufig mit psy‐ chischen oder somatischen Zusatzerkrankungen. Die fundierte suchtspe‐ zifische Expertise der Mitarbeiter in den stationären Suchttherapieeinrich‐ tungen ist zwar vorhanden, jedoch eher aufgrund langjähriger Erfahrung im stationären Bereich und aufgrund psychotherapeutischer Zusatzausbil‐ dungen als aufgrund spezifischer Weiterbildungsmöglichkeiten für diese Peter Forster, Fabian Müller, Michel Villard 107 Klientengruppe. Das Weiterbildungsangebot spezifisch für das Arbeits‐ feld der Sozialen Arbeit in stationären Therapieinstitutionen ist sehr be‐ schränkt. Andererseits bieten sich natürlich auch Weiterbildungen an, die nicht spezifisch für den Arbeitsbereich der Sozialen Arbeit im stationären Setting ausgelegt, aber dennoch sehr sinnvoll sind, wie z. B. Weiterbildun‐ gen zu Motivational Interviewing, Emotionsregulation oder systemisch– lösungsorientierter Beratung. Nebst dem Weiterbildungsangebot an der Fachhochschule Nordwestschweiz (CAS und MAS zu Sucht) gibt es neu‐ erdings auch ein CAS zu Sucht an der Berner Fachhochschule. Diese Ent‐ wicklung zeigt, dass sich die Suchtarbeit als eigenes Feld etabliert und sich ein eigenes Berufsbewusstsein im Bezug auf die Soziale Arbeit im Sucht‐ bereich entwickelt. 4.2 Identität der Sozialen Arbeit Aufgrund der verschiedenen Möglichkeiten einer Suchtentwicklung und der verschiedenen Verläufe ist es schwierig zu sagen, wo sich ein Sozial‐ arbeiter, der in der stationären Drogentherapie arbeitet, zugehörig fühlt. In der Regel haben die fallführenden Therapeuten eine systemische The‐ rapieausbildung, es fliessen jedoch auch pädagogische oder verhaltensthe‐ rapeutische Interventionen in die Behandlung ein. Wir versuchen, indivi‐ duell auf die Klienten und ihre Problematik einzugehen und je nach Fall und Prozessabschnitt die richtige Interventionsform zu finden. Sich auf eine Methode oder Therapierichtung festzulegen, funktioniert nicht, wir müssen auf die verschiedenen Merkmale wie Lebensgeschichte, Charak‐ ter, Migration, Kultur, Gender eingehen. Oft arbeitet ein fallführender Therapeut nicht nur therapeutisch, sondern betreuerisch und unterstüt‐ zend, indem er einfach Alltagshilfe, leistet die der Sozialen Arbeit zuge‐ rechnet werden kann. Diskussionen über Professionalität und Berufsethik werden in die‐ sem Zusammenhang geführt. Oft haben die Therapeuten mehr therapeu‐ tisches Know‐how, als sie anwenden können. Gleichzeitig sind eine gute therapeutische Ausbildung und viel Erfahrung notwendig, um nicht über die diversen Fallstricke zu stolpern, die ein Klient, wenn auch unbewusst, während der Therapie auslegt: Projektionen, Übertragungsphänomene, Grenzüberschreitungen usw. In der stationären Therapie liegen Über‐ und 108 Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie Unterforderung nahe beieinander. In beiden Situationen ist professionel‐ les Handeln gefragt, das sowohl dem Klienten wie auch dem Therapeuten zugutekommt und vor möglichem Therapieabbruch und Burnout schützt. 5. 5.1 Herausforderungen und Ausblick Steigender finanzieller Druck Sparmassnahmen und Steuersenkungen sind seit längerem Thema im po‐ litischen Diskurs, dies auf allen Ebenen – Bund, Kantone und Gemeinden. Unter anderem die Aufwendungen im Sozialwesen sind in den letzten Jah‐ ren von rechtsbürgerlicher Seite kritisiert und angeprangert worden. Zu‐ sätzlich erleben wir in unserem Alltag eine schleichende Veränderung der gesellschaftlichen Akzeptanz der suchtmittelabhängigen Menschen. Aus‐ sagen wie «Der Süchtige ist selber schuld an seiner Sucht, wieso müssen wir Steuerzahler die Therapiekosten für die Süchtigen bezahlen?» werden salonfähig. Diese Entwicklungen blieben auch im Bereich der stationären Suchttherapie nicht folgenlos. Aktuell ist dies insbesondere bei Klienten, die freiwillig mit einer Kostengutsprache eines Sozialdienstes in eine sta‐ tionäre Suchttherapie eintreten, spürbar. Die Bereitschaft der von den Ge‐ meinden finanzierten Sozialämtern sinkt, die Finanzierung dieser Kosten zu übernehmen. Wenn man bedenkt, dass ein stationärer Aufenthalt in der casa fidelio durchschnittlich ein Jahr dauert, werden von Seiten der Sozi‐ alämter häufig andere, kurzfristig günstigere Lösungen gesucht. Dies kann ein stationärer Klinikaufenthalt sein, dessen Kosten über die Kran‐ kenversicherung und den Kanton abgerechnet werden kann, oder die Fo‐ kussierung auf eine Kurzzeittherapie, in welcher der Klient durchschnitt‐ lich drei Monate in einer stationären Therapie verbringt. Der Erfolg solcher Massnahmen ist dann jedoch häufig sehr beschränkt und nicht dauerhaft. Von Seiten der casa fidelio reagieren wir auf diese Entwicklung, indem wir vermehrt den persönlichen Kontakt zu den Kliniken und Sozialämtern su‐ chen und unsere Institution und deren differenziertes Angebot vorstellen. Ein gutes, geplantes Marketing ist heute auch für die sozialen Institutionen zwingend. Peter Forster, Fabian Müller, Michel Villard 109 Im Gegensatz zu den Sozialämtern, deren Kosten von den Gemein‐ den getragen werden, ist im Bereich der stationären Massnahmen, wo der Kanton Kostenträger ist, dieser finanzielle Druck weniger zu spüren. Bei der Finanzierung der stationären Suchttherapie in den Gemeinden besteht zudem immer noch, vor allem dann, wenn kein Lastenausgleich vorhan‐ den ist, die Situation, dass diese Kosten das Budget der Sozialhilfe einer Gemeinde spürbar belasten. Dass dies Auswirkungen auf einen fachlichen Entscheid hat, ist nachvollziehbar. Dadurch versagt das System speziell im Bereich der Sozialhilfe zunehmend, da nicht die langfristig volkswirt‐ schaftlich günstigste und wirkungsvollste Variante zur Behandlung von suchtmittelabhängigen Menschen gewählt wird, sondern häufig diejenige, die das eigene Budget auf der Sozialhilfe kurzfristig am wenigsten belas‐ tet, währendem die langfristige Kostenperspektive ausser Acht gelassen wird. Die Uneinheitlichkeit der Finanzierung, aber auch die suboptimale Indikation und Platzierung mangels Fachwissen speziell in kleineren So‐ zialdiensten wurden in einem Expertenbericht des Büro Bass (vgl. 2012) aufgezeigt. Dass die stationäre Therapie insbesondere im Vergleich zur ambulanten Substitution langfristig volkswirtschaftlich die kostengüns‐ tigste Therapieform ist, wurde in der Kostenauswertung von suchtmittel‐ abhängigen Menschen bestätigt (vgl. Blaser 2006). Gemäss dieser Studie sind stationäre Interventionen aus ökonomischer Sicht der ambulanten Substitution vorzuziehen. Dies insbesondere deshalb, da die Substitution länger finanziert werden muss und mit einer erhöhten Komorbidität zu rechnen ist. 5.2 Veränderung der Klienten Diejenigen Klienten, denen eine stationäre Therapie ermöglicht wird, ha‐ ben fast ausnahmslos Doppeldiagnosen. Dies ist eine wesentliche Verän‐ derung zu früher. Neben dem sozial‐therapeutischen Setting, der Arbeits‐ integration sowie der Unterstützung bei der Freizeitgestaltung und den administrativen Tätigkeiten ist zusätzlich vorgängig oder integriert in die stationäre Therapie eine psychiatrische Behandlung notwendig. Zudem nehmen die Klienten zu Beginn der stationären Therapie häufig eine grosse Menge an verschiedenen Medikamenten ein, häufig auch Benzodi‐ 110 Arbeitsfeld Stationäre Sozialtherapie azepine, die die therapeutische Arbeit erschweren. Die stationären Institu‐ tionen müssen dementsprechend ihr Angebot überdenken. Sei dies, dass mit einem oder mehreren externen Psychiatern zusammengearbeitet wird oder dass die Zusammenarbeit mit den psychiatrischen Kliniken verstärkt wird, sodass allfällige psychische Probleme vor dem Eintritt in die statio‐ näre Therapie in der psychiatrischen Klinik behandelt werden. Beim Ein‐ tritt in die stationäre Therapie können dann deren Stärken zum Tragen kommen. In der casa fidelio arbeiten wir gemäss diesem Modell. Wir ha‐ ben eine Zusammenarbeit mit einem externen Psychiater installiert und arbeiten mit den Suchtkliniken zusammen. Es kommt immer wieder vor, dass ein Klient auch während der stationären Therapie nochmals für einen bestimmten Zeitraum zurück in die Klinik geht, um die Medikamente bes‐ ser einzustellen oder eine auftretende Depression anzugehen, sodass er anschliessend die stationäre Therapie fortsetzen kann. Mit diesem abge‐ stimmten Vorgehen konnten wir bereits mehreren Klienten eine zusätzli‐ che Perspektive bieten. 5.3 Herausforderungen für die Institutionen Die Anforderungen an die fallführenden Therapeuten in der stationären Suchttherapie sind vielfältig. Dies geht von therapeutischen Aufgaben und der sozialpädagogischen Begleitung bis hin zu diversen administrativen Arbeiten. Fachpersonal mit diesen äusserst komplexen Fähigkeiten zu er‐ halten, ist schwierig und erfordert eine kontinuierliche Weiterbildung. Die Institutionen sind gefordert, ihren Mitarbeitern solche Weiterbildungen zu ermöglichen und sie zu diesen zu ermutigen. Zusätzlich sind aufgrund der Veränderung der Klientel die stationä‐ ren Suchtinstitutionen damit konfrontiert, ihr Angebot vermehrt zu diffe‐ renzieren, d. h. bspw. psychiatrische Unterstützung durch einen externen Psychiater in Anspruch zu nehmen und die Zusammenarbeit mit weiteren Fachexperten zu stärken. Weiter ist es wichtig, dass wir das Angebot im‐ mer wieder gegen aussen bekannt und sichtbar machen. Die Verstärkung der Zusammenarbeit mit den Suchtfachkliniken und den Suchtmedizinern aufgrund der zunehmenden Komplexität der Problematiken wird unab‐ dingbar. Sich den Veränderungen der Klientel kontinuierlich anzupassen, Peter Forster, Fabian Müller, Michel Villard 111 ist und bleibt eine stetige Herausforderung für die stationären Suchtinsti‐ tutionen. Literatur Blaser, R. (2006): Kostenauswertung von Abhängigen. Olten. Büro Bass (2012): Expertenbericht Finanzierung stationäre Suchthilfe – Handlungsbedarf und Handlungsoptionen. Bern. Stöver, H. (2006): Leitfaden zur männerspezifischen Sucht und Drogenarbeit. Nordrhein‐ Westfalen, Deutschland. Rahm, D./Ruhe‐Hollenbach, H./Bosse, S./Otte, H. (1993). Einführung in die integrative The‐ rapie: Grundlagen und Praxis. Paderborn. Forster, P. (2018). Therapiekonzept casa fidelio. Niederbuchsiten. Müller, H. (2015). Männerspezifisches Konzept casa fidelio. Niederbuchsiten. Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Soziale Arbeit in einem stationären therapeutischen Reintegrationsprogramm Arbeitsfeld Betreutes Wohnen Fabienne Bingler1, Hans Peter Engler2 1. Der Stadtlärm Der Stadtlärm ist ein über Gemeinden und Kantone finanziertes Angebot der Suchthilfe Region Basel und bietet Menschen mit einer Suchterkran‐ kung (Alkohol, illegale Substanzen und/oder Verhaltenssucht) im An‐ schluss an eine stationäre Therapie oder in Ausnahmefällen auch direkt nach dem Entzug die Möglichkeit, ihre Alltags‐ und Lebenskompetenzen in einem abstinenten Umfeld zu stärken, weiter auszubauen und sich auf das selbstständige Wohnen vorzubereiten. Da im drogen‐ und alkohol‐ freien Stadtlärm‐Haus bereits ein hohes Mass an Eigenverantwortung und Suchtverständnis gefordert ist, wird eine fundierte Auseinandersetzung mit der persönlichen Suchtgeschichte im Sinne einer Therapie als sehr empfehlenswert erachtet. Diese kann entweder in der Suchthilfe Region Basel oder in einer der zahlreichen schweizweiten Angebote erfolgen. Auch Personen mit einem straf‐ und/oder massnahmerechtlichen Hinter‐ grund (StGB Art.59‐61) können aufgenommen werden und ihre Auflagen im Stadtlärm erfüllen. Zentral in Basel gelegen, stellt der Stadtlärm zehn Frauen und Män‐ nern ab 18 Jahren je nach Bedarf ein möbliertes oder unmöbliertes Einzel‐ zimmer im Regelfall für eine Dauer von vier bis acht Monaten zur Verfü‐ gung. Jeweils fünf KlientInnen teilen sich eine Wohneinheit mit Badezim‐ mer, Küche und Wohnzimmer. 1 Sozialarbeiterin BA, Resortverantwortung Casemanagement und stellvertretende Teamlei‐ terin im Stadtlärm. 2 Executive MBA und Executive Master in General Management, Diplom Supervisor BSO. Gesamtleiter Klinik ESTA, Reintegrationsprogramm Stadtlärm und Spektrum Familienplat‐ zierung, Mitglied der Geschäftsleitung der Suchthilfe Region Basel. © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_7 114 Arbeitsfeld Betreutes Wohnen Dazu kommen drei externe Wohnungen im Quartier für KlientInnen, welche diese Option als weitere Zwischenstufe vor dem kompletten selbst‐ ständigen Wohnen für sich nutzen möchten. 1.1 Suchtverständnis Durch eine chronische Suchterkrankung können die Grundvoraussetzun‐ gen für ein zufriedenes und gesundes Leben beeinträchtigt sein. Der Stadt‐ lärm definiert Sucht als eine Krankheit im Verständnis des ICD 10 (vgl. WHO 2015). Personen mit einer Suchterkrankung haben erhebliche Mühe, selbstgesetzte und/oder gesellschaftliche bzw. gesetzliche Grenzen einzu‐ halten. Es kommt immer wieder zu Grenzüberschreitungen und letztend‐ lich Selbstschädigung, Selbstabwertung und zur Verfestigung des Sucht‐ verhaltens. Die Erfahrungen zeigen, dass der Ausstieg aus diesen Mustern ab einem bestimmten Grad der Suchterkrankung Prozesse und Entwick‐ lungen erfordert, die in einem stationären Rahmen idealerweise gegeben sind. Zum einen wird die Symptomfreiheit (Suchtmittelfreiheit) sehr eng überprüft und thematisiert. Zum anderen werden ausgehend vom Ver‐ ständnis des biopsychosozialen Krankheitsmodells (vgl. von Uexküll & Wesiack 2011) die Ursachen, die zur Suchtentwicklung beigetragen haben oder diese unterstützen, psychotherapeutisch, sozialarbeiterisch und auf arbeitsagogischer Ebene bearbeitet. Davon ausgehend, dass diese Prozess‐ schritte zumindest zum Teil in einer vorherigen Therapie erfolgt sind, geht es im Stadtlärm um die praktische Anwendung des Erlernten im Alltag in Bezug auf das Wohnen, die Arbeit und das Sozialleben. Der Stadtlärm bie‐ tet die Möglichkeit, sich selber anhand von Gruppen‐ und/oder Einzelge‐ sprächen in diesen Bereichen zu überprüfen, zu reflektieren und neue Ver‐ haltensmuster anzuwenden mit dem Ziel, Sicherheit zu gewinnen und im Anschluss an den Aufenthalt im Stadtlärm mit neuen Kompetenzen und Ressourcen ein suchtmittelfreies Leben zu führen. 1.2 Das Team Das Team des Stadtlärms setzt sich aus einer Sozialpädagogin (Teamlei‐ tung), einem Psychologen, einem Sozialarbeiter in der Funktion eines Ar‐ Fabienne Bingler, Hans Peter Engler 115 beitscoaches und einer Sozialarbeiterin (Fallführung) zusammen (insge‐ samt 380 Stellenprozente). Dazu kommen eine weitere Sozialarbeiterin und eine Therapeutin, welche punktuelle Vertretungen und Angebote (beispielsweise Leitung der zweimal wöchentlich stattfindenden Thera‐ piegruppen) machen. Das Team des teilstationären Angebotes des Stadtlärms ist unter der Woche aus konzeptionellen Gründen nur zu Bürozeiten anwesend und er‐ reichbar. Am Abend und am Wochenende findet abgesehen von den ver‐ pflichtenden Strukturen für die KlientInnen keine Betreuung durch das Team statt. Es steht grundsätzlich ein 24‐Stunden‐Pikettdienst zur Verfü‐ gung. 1.3 Strukturen und Regeln Von Montag bis Freitag findet zweimal wöchentlich eine gemeinsame zweistündige Gruppentherapie mit allen KlientInnen und zwei Mitarbei‐ tenden statt. Die Gruppentherapie orientiert sich primär an den Bedürfnis‐ sen der KlientInnen, beinhaltet aber auch vorgegebene Themen wie Admi‐ nistration, suchtspezifische und genderspezifische Fragen, spezifische Suchtgruppe, Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsförderung/Krank‐ heitsprophylaxe. An einem Samstag pro Monat wird eine gemeinsame Aktivität mit unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt (Therapie, Sport, Kultur, Hausputz, Klettern, Wandern u. a.). Am Sonntag findet ein gemeinsamer obligatorischer Brunch statt. In diesem Setting besteht die Möglichkeit zur Aufarbeitung des Vortages und/oder zur Besprechung und Planung des restlichen Tages. Die Aktivitäten werden rotierend von allen Teammitglie‐ dern durchgeführt, unabhängig von deren beruflichem Hintergrund. Neben diesen Gruppenanlässen finden individuell geplante Einzel‐ gespräche statt. Bezüglich der Tagesstruktur setzt der Stadtlärm die Bereitschaft vo‐ raus, mindestens mit einem Pensum von 50 % an einer Arbeitserprobung teilzunehmen. Diese wird in einem externen Unternehmen des ersten oder zweiten Arbeitsmarktes durchgeführt und unterstützt dadurch die lang‐ 116 Arbeitsfeld Betreutes Wohnen fristige Reintegration der KlientInnen ins Berufsleben. Die Arbeitserpro‐ bung wird in den meisten Fällen durch den Stadtlärm organisiert, kann aber auch in einem von den KlientInnen selber vorgeschlagenen Betrieb stattfinden. Die in Kooperation stehenden Firmen bieten Arbeiten im Be‐ reich Küche, Handwerk, Bau, Soziales, Hausunterhalt, Verkauf und Tier‐ pflege an. Anhand der Arbeitserprobung sollen einerseits strukturelle As‐ pekte wie Pünktlichkeit, Absprachefähigkeit und Zuverlässigkeit geübt werden. Andererseits dient die Arbeitserprobung auch als Referenz für eine mögliche Festanstellung im Anschluss an den Aufenthalt im Stadt‐ lärm. Begleitet wird der ganze Prozess durch den Arbeitscoach im Team. Er steht sowohl mit den KlientInnen als auch mit den ArbeitgeberInnen in engem Kontakt und unterstützt sie, wo es nötig ist. Ihre Freizeit können die KlientInnen individuell und frei gestalten, auf Wunsch erhalten sie vom Team Inputs dazu. Auch bei der persönli‐ chen Versorgung ist Eigenverantwortung gefordert. Um eine möglichst optimale Vorbereitung auf das selbstständige Leben zu gewährleisten, wird der Grundbedarf (CHF 32.00 pro Tag gemäss SKOS‐Richtlinien3) di‐ rekt auf das persönliche Konto der KlientInnen ausbezahlt. Davon müssen Lebensmittel gekauft und der sonstige persönliche Unterhalt (Handykos‐ ten, Zigaretten, Kleider, Hygiene etc.) bestritten werden. Die Soziale Ar‐ beit unterstützt die Klientel bei der Budgeterstellung und in der prakti‐ schen Umsetzung. Der Stadtlärm ist drogen‐ und alkoholfrei. Jeglicher Konsum von Al‐ kohol, illegalen Drogen und nicht ärztlich verschiebenden Medikamenten im Haus führt zum sofortigen Ausschluss. Als Rückfälle definierte Ereig‐ nisse, die ausserhalb des Hauses stattfinden, werden nach Möglichkeit und Motivation in Form von Einzelgesprächen aufgearbeitet. Verordnete Medikamente (auch Substitution) werden deklariert und durch die Klien‐ tInnen selbstständig verwaltet und eingenommen. Der Tabakkonsum wird im Stadtlärm regelmässig mit den KlientInnen thematisiert. Entspre‐ chende Reduktions‐ oder Abstinenzhilfen werden angeboten. Von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS empfohlene Beiträge für den Grundbedarf für den Lebensunterhalt (ab 2017): www.tinyurl.com/y3nou28v, Zugriff 30.07.2019. 3 Fabienne Bingler, Hans Peter Engler 1.4 117 Ziele Wie bereits einleitend erwähnt, ist es Ziel und Auftrag des Stadtlärms, die KlientInnen mit Hilfe der eben beschriebenen Strukturen auf dem Weg zu‐ rück in ein selbstständiges Leben zu begleiten und sie wo nötig zu unter‐ stützen. Im durchschnittlich vier‐ bis achtmonatigen Aufenthalt im Stadt‐ lärm liegt der Fokus neben dem Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess mehrheitlich auf alltagsbezogenen Themen wie Freizeitverhalten, Um‐ gang mit Geld, Abstinenzsicherung, Wohnungssuche, Schuldenregulie‐ rung und Alltagscoaching. Anhand eines Online‐Fragebogens bei Austritt wird unter Selbsteinschätzung eine Katamnese erstellt, welche unter an‐ derem Auskunft über die Abstinenz, die soziale Situation und den Ge‐ sundheitszustand der austretenden KlientInnen gibt. Die Katamnese wird mit den Eintrittserhebungen verglichen, um den Prozess zu evaluieren. Im Optimalfall verfügen die Leute am Ende des Aufenthaltes über eine eigene Wohnung, wissen, wie es bezüglich allfälliger Schulden wei‐ tergeht resp. welche Schritte sie einleiten müssen, haben Sicherheit im Um‐ gang mit administrativen Angelegenheiten und Umgang mit Behörden ge‐ wonnen, sind gemäss individuellem Ziel sozial integriert und haben eine Festanstellung. 2. Soziale Arbeit im Stadtlärm Die Soziale Arbeit im Stadtlärm orientiert sich an einem biopsychosozialen Menschenbild, welches für die gesamte Organisation leitend ist. Auf der praktischen Ebene übernimmt die Soziale Arbeit die Fallführung, die nach der Methode des Case Managements geführt wird. 2.1 Case Management Aufgabe und Ziel des Case Managements ist es, den KlientInnen den Zu‐ gang zu Angeboten und Dienstleistungen zu ermöglichen, welche zu einer Veränderung und Verbesserung ihrer Situation beitragen. 118 Arbeitsfeld Betreutes Wohnen Die fallführende Fachperson trifft eine Vorauswahl aus der Vielzahl von Hilfsangeboten, mit welcher die KlientInnen alleine oftmals überfor‐ dert wären, sodass sie erst gar nicht anfangen, sich damit auseinanderzu‐ setzen. Dies kann zu einer Stagnation ihrer Entwicklung führen und äus‐ sert sich schliesslich in einem fortwährenden Kreislauf aus sich kumulie‐ renden Überforderungen. Oft erscheint hier der Konsum als einzige Lö‐ sungsstrategie. Um dem entgegenzuwirken, ist es von grosser Wichtigkeit, dass sich der/die SozialarbeiterIn mit den gegebenen Grundvoraussetzungen und Lebenswelten der KlientInnen auseinandersetzt, um möglichst passende Hilfsanagebote anbieten zu können. Nach Möglichkeit sollten lokale, öko‐ nomische, politische und kulturelle Bezüge berücksichtigt werden (vgl. Galuske 2009: 197). Im Fokus des Case Managements steht nicht eine grundsätzliche Ver‐ haltensänderung der KlientInnen, sondern vielmehr die Stärkung der Selbstwirksamkeit und die Befähigung zur (Re‐)Aktivierung eigener Prob‐ lemlösestrategien, welche sich nicht auf den Substanzmittelkonsum be‐ schränken. Dazu gehört «die Ermittlung, Konstruktion und Überwachung eines problemadäquaten Unterstützungsnetzwerkes, zu dem sowohl die informellen sozialräumlichen Ressourcen (Familie, Nachbarn, Freunde, vorhandene Infrastruktur etc.) gehören, wie auch die formellen Angebote des (sozialen) Dienstleistungssektors» (Galuske 2009: 199). Case ManagerInnen fungieren in beratender und koordinierender Funktion. Sie erstellen unter anderem Zeitpläne und achten auf deren Ein‐ haltung. 2.1.1 Case Management im Stadtlärm Bis vor ungefähr drei Jahren erfolgte die KlientInnen‐Aufteilung im Team gemäss dem Bezugspersonensystem. Bei Eintritt wurde im Team entschie‐ den, wer welche freien Kapazitäten hat und einen/eine neue KlientIn auf‐ nehmen kann. Dies führte dazu, dass es für die KlientInnen eher zufällig war, ob sie nun primär durch den Psychologen, den Arbeitscoach oder die Sozialarbeiterin begleitet wurden. Je nach persönlicher Problematik kam das eine oder andere Thema zu kurz, obwohl innerhalb des Teams ein Austausch stattfand und so spezifische Themen auch adäquat behandelt werden konnten. Fabienne Bingler, Hans Peter Engler 119 Bedingt durch Wechsel im Team und einer damit verbundenen Ver‐ stärkung der Professionalisierung der einzelnen Berufsfelder ergab sich die Möglichkeit, vom Bezugspersonensystem zum Case Management zu wechseln. Die Soziale Arbeit erwies sich dafür als geeignetste Profession und übernimmt seither die Fallführung aller KlientInnen. 2.1.2 Warum die Soziale Arbeit Neben dem für viele KlientInnen sehr zentralen Aspekt der beruflichen Reintegration sind es vor allem Themen der Sozialen Arbeit, mit welchen KlientInnen im Stadtlärm häufig konfrontiert sind und bei denen sie Un‐ terstützung brauchen. Liegt der Fokus während der stationären Therapie vor allem auf der Aufarbeitung der Suchtgeschichte, begleitet durch The‐ rapeutInnen, verschiebt sich dieser Schwerpunkt im Stadtlärm immer mehr hin zu administrativen und lebenspraktischen Themen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Wohnungssuche. Diese bringt zwar sicherlich auch therapeutische Themen mit sich (Ablösungsprozess von der stationären Therapie, Umgang mit Ablehnung, frühere Wohnerfahrungen etc.), hauptsächlich fallen aber viele administrative Aufgaben an, bei denen Kli‐ entInnen in unterschiedlicher Form Unterstützung benötigen. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch die Stärkung ihrer Selbstwirksamkeit, welche durch den ganzen Prozess hindurch gefordert und gefördert wird, ange‐ fangen bei der Abklärung der zur Verfügung stehenden Wohnkosten, wei‐ ter zur Wohnungssuche und Besichtigung bis schliesslich hin zum Ausfül‐ len der Formulare, Verfassen eines Begleitschreibens und zum Bewer‐ bungsverfahren. Dieser ganze Prozess dauert teils mehrere Monate und ist mit vielen Rückschlägen und Enttäuschungen verbunden. Da viele Klien‐ tInnen Schulden und Betreibungen haben und aktuell noch von der Sozi‐ alhilfe unterstützt werden, sind ihre Chancen verhältnismässig schlecht und es braucht viel Geduld. Ist dann schliesslich eine Wohnung gefunden, geht es um die Organisation des Umzuges und möglicherweise die Bean‐ tragung von Einrichtungsgegenständen. Trotz der Vorbereitung und dem Einüben der Eigenverantwortung zeigt sich, dass gerade in diesen sensib‐ len Entscheidungsphasen die Unterstützung durch die Soziale Arbeit wertvoll ist. Die Mitarbeitenden übernehmen oft eine vermittelnde Funk‐ tion zwischen KlientInnen und externen Stellen wie Behörden und Woh‐ nungsanbieterinnen und werden als ExpertInnen geschätzt. 120 Arbeitsfeld Betreutes Wohnen Das Case Management soll zu einer Ablösung aus der stationären Be‐ handlung und zur Vermeidung einer Hospitalisierung beitragen. Davon ausgehend, dass die KlientInnen mit der Zeit mehr und mehr Eigenver‐ antwortung übernehmen können und auch wollen, soll sich die Aufgabe des Helfersystems vermehrt auf sachbezogene Unterstützung beschrän‐ ken, was auch der Lebensweltrealität nach der Behandlung entspricht. Massgeblich dafür ist der psychosoziale Ist‐Zustand der KlientInnen, wel‐ cher zu Beginn des Behandlungsprozesses erfasst und im Verlauf immer wieder überprüft und positiv weiterentwickelt werden soll. So stellt sich unter anderem die Frage nach der Wohnform im Anschluss an den Stadt‐ lärm. Die meisten KlientInnen streben eine eigene Wohnung an, was auch in vielen Fällen realisiert werden kann. Bei anderen zeigt sich aus der im Stadtlärm gemachten Erfahrung mit der Gruppe, dem Team und dem ge‐ samten Setting, dass weiterhin eine Form von betreutem Wohnen erfor‐ derlich ist. Dazu trägt massgeblich der psychische Zustand der KlientIn‐ nen bei, welche neben der Abhängigkeit oft Komorbiditäten wie Depres‐ sionen und Persönlichkeitsstörungen aufweisen. 2.1.3 Auswirkung auf das Team und die Zusammenarbeit Natürlich bedarf eine Umstellung vom Bezugspersonensystem zum Case Management Zeit, regelmässige Überprüfung und Anpassung. Unterdes‐ sen bewährt sich das System aber sowohl für die Zusammenarbeit im Team als auch für die KlientInnen. Jeder Berufsbereich (Psychologie, Ar‐ beitscoaching, Sozialpädagogik und Soziale Arbeit) kann sich primär auf seine Rolle und Aufgabe gegenüber und mit den KlientInnen konzentrie‐ ren. Und für KlientInnen ihrerseits ist klar, mit welchem Anliegen sie sich an wen wenden müssen. Der Sozialdienst hatte bereits auch vor dem Wechsel zum Case‐Management‐System am meisten mit Behörden und zuweisenden Institutionen im Kontakt gestanden, die Koordination und Organisation von gemeinsamen Standortbestimmungen der massgeblich beteiligten Institutionen und/oder Personen gehört auch weiterhin zur Aufgabe der Fallführung. Dass hier jemand die Verantwortung hat und es so wenig bis keine Überschneidungen oder Absagen von Terminen gibt, wird vom Team als Entlastung erlebt. Fabienne Bingler, Hans Peter Engler 3. 121 Integrierte Behandlung in der Suchthilfe Region Basel Es ist nicht realistisch und auch nicht sinnvoll, das im Stadtlärm gelebte Modell auf alle Bereiche der Suchthilfe Region Basel zu übertragen. Die Soziale Arbeit nimmt zwar in allen Bereichen von Beginn des Behand‐ lungsprozesses an eine wichtige Rolle ein, ist aber noch nicht federfüh‐ rend, da am Anfang einer Behandlung suchtmedizinische Aspekte im Vor‐ dergrund stehen. Entsprechend sind es während der Zeit im Entzug und der stationären Therapie auch ÄrztInnen und TherapeutInnen, welche die Fallführung übernehmen. Die Aufgaben der Sozialen Arbeit beziehen sich mehr auf administrative Abklärungen bezüglich Kostenübernahme, Stun‐ dung offener Rechnungen und Organisatorisches im Allgemeinen. Auf Teamebene jedoch findet eine fortlaufende, bereichsübergrei‐ fende Kommunikation zu grundlegenden Thematiken statt. Sowohl die TherapeutInnen wie auch die SozialarbeiterInnen aller Therapiebereiche treffen sich regelmässig zum Austausch, machen Konzeptanpassungen o‐ der versuchen Abläufe bei Übertritten zu optimieren. So ergibt sich auch eine professionsübergreifende Zusammenarbeit, wenn beispielsweise die SozialarbeiterInnen einen Vorschlag zur therapeutischen Abklärung ma‐ chen und dieser dann durch das TherapeutInnenteam überprüft werden muss. Erfreulicherweise zeigen sich dabei wenig bis keine hierarchischen Tendenzen, sondern im Vordergrund steht der bestmögliche Prozess für die PatientInnen/KlientInnen. Die in der Suchthilfe Region Basel umgesetzte integrierte Behandlung (bezogen auf den PatientInnenprozess als Ergänzung zum eben beschrie‐ benen Teamprozess) wird nachfolgend dargestellt. 3.1 Integrierte Suchtbehandlung Die integrierte Suchtbehandlung in der Suchthilfe Region Basel wird im Regelfall in einem Zeitrahmen von bis zu 18 Monaten angeboten (die Ent‐ zugsbehandlung ist hierin nicht enthalten). Die sechsmonatige Intensiv‐ phase in der Villa der Klinik ESTA sowie in der Familienplatzierung Spekt‐ rum legt den Grundstein der Suchttherapie. Im Vordergrund der therapeutischen Behandlung stehen Themen wie Motivation, Ich‐Stärkung, Suchtverständnis, Schuldenabklärung, 122 Arbeitsfeld Betreutes Wohnen Krankheitseinsicht, soziale Interaktionen, Einhaltung von Grenzen (z. B. Pünktlichkeit) und Erkennen der eigenen Suchtmuster. Davon ausgehend, dass nicht jeder Prozess linear verlaufen kann, gibt es die Möglichkeit innerhalb der Behandlung den Bereich auch wieder zu wechseln. Bei Krisen, grösseren Problemen und Überforderungen kann in‐ nerhalb von Stunden ein schneller Wechsel in eine andere Institution des Therapiebereichs vorgenommen werden. Die Betreuungspersonen für die Weiterbehandlung bleiben in diesem Fall identisch. Auf diese Weise kön‐ nen Therapieabbrüche oder disziplinarische Entlassungen meistens ver‐ hindert werden. Koordiniert werden solche Wechsel in enger Zusammen‐ arbeit zwischen den SozialarbeiterInnen, welche vor allem für den admi‐ nistrativen Teil verantwortlich sind, und den TherapeutInnen, welche für die konstante Betreuung der PatientInnen/KlientInnen zuständig sind. Im Modell der integrierten Behandlung werden der Prozess und die Verant‐ wortlichkeiten durch die Zieldefinition der KlientInnen bestimmt. Abbildung 1: Integrierte Suchtbehandlung Suchthilfe Region Basel (eigene Darstellung) Nach Beendigung der Reintegrationsphase wird eine zeitlich be‐ grenzte (im Tagessatz inbegriffene) ambulante Nachbetreuung durch den Fabienne Bingler, Hans Peter Engler 123 Stadtlärm angeboten. Zur weiteren Unterstützung der Nachhaltigkeit der erreichten Ziele wird eine Anbindung an eine adäquate Beratungsstelle empfohlen und vermittelt. 4. Die Rolle der Sozialen Arbeit über den Stadtlärm hinaus Im Zusammenhang mit den Aufgaben der Sozialen Arbeit in der Sucht‐ hilfe ergeben sich immer wieder auch politische Fragen und Herausforde‐ rungen, vor allem bezüglich Finanzierung. Eine Lobby, die sich abgesehen vom Berufsverband Avenir Social und Arbeitsgruppen des Fachverbandes Sucht in dieser Beziehung engagiert, existiert unseres Wissens jedoch nicht. Um mit anderen Institutionen zu übergeordneten Themen (wie the‐ rapeutische Konzepte, Finanzierung, Öffentlichkeitsarbeit) im Austausch zu bleiben, nehmen VertreterInnen des Stadtlärms regelmässig an Vernet‐ zungstreffen mit anderen Institutionen aus dem Raum Basel und Basel‐ land teil, welche in den Bereichen Wohnen, Wohnintegration und Nach‐ betreuung tätig sind. Die Treffen vermitteln ein aktuelles Stimmungsbild im Bereich Therapie/Reintegration über die eigene Institution hinaus. Auch kurze Weiterbildungsinputs zu fachspezifischen Themen sind in diesem Rahmen möglich, ebenso wie der Austausch über (sozial‐)politi‐ sche Themen und Entscheide. Vereinzelt entstehen daraus auch Arbeits‐ gruppen, welche sich noch einmal intensiver mit einer Thematik auseinan‐ dersetzen. 5. 5.1 Strukturelle Aspekte und damit verbundene Herausforderungen Veränderung der Zielgruppe Die meisten der heutigen Entzugs‐ und Therapieinstitutionen, so auch der Stadtlärm, sind als Behandlungseinrichtungen für heroinsüchtige Men‐ schen gegründet worden. Die Zahl der HeroinkonsumentInnen ist in der Schweiz seit den 1990er Jahren kontinuierlich gesunken (Notari et al. 2014). Wenn Heroin als Suchtmittel in den aktuellen Behandlungen auf‐ 124 Arbeitsfeld Betreutes Wohnen taucht, dann in den allermeisten Fällen als Bestandteil einer Polytoxiko‐ manie, d.h. eines multiplen Substanzgebrauchs. Der abhängige Konsum von Alkohol, Cannabis, Kokain und Benzodiazepin hat hingegen zuge‐ nommen. Die Hauptproblematik der suchtkranken Menschen hat sich dement‐ sprechend verändert und damit auch der Auftrag und die Möglichkeiten der Sozialen Arbeit in diesem Bereich. Die Menschen sind teilweise gesell‐ schaftlich gut integriert, sind teilweise noch in einem Angestelltenverhält‐ nis und/oder beziehen vorrübergehend Krankentagegelder. Diese Aus‐ gangslage zu erhalten oder möglichst rasch dort wieder anzuknüpfen, kann dann Auftrag für die Soziale Arbeit sein. 5.2 Aktuelle Finanzierungsproblematiken Leider scheinen Kantone, Gemeinden und die Politik dieser Entwicklung jedoch nicht schnell genug folgen zu können. So ist es aktuell nach wie vor so, dass die Sozialhilfe im Sinne einer subsidiären Finanzierung bei einer Therapie miteinbezogen werden muss. KlientInnen mit Einkommen bzw. Krankentaggeldern oder auch Verheirate sind im Sinne des Sozialhilfege‐ setzes (§ 31) jedoch nicht bedürftig: «Als bedürftig gilt, wer ausserstande ist, die Mittel für den Lebensbedarf für sich und die mit ihm zusammen‐ wohnenden Personen, für die er oder sie unterhaltspflichtig ist, hinrei‐ chend oder rechtzeitig zu beschaffen».4 Entsprechend ist eine Therapiefi‐ nanzierung über die Gemeinde und den Kanton in diesen Fällen nicht möglich. Die einzige Möglichkeit wäre, die Therapie aus eigenen Mitteln zu finanzieren, was jedoch unrealistisch ist. Somit bleibt den betroffenen KlientInnen ‹nur›, ambulante Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen, welche über die Krankenkasse abgerechnet werden können. Die Diskussionen zu der Problematik sind im Gange. Wann sich je‐ doch eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung findet, ist zum ak‐ tuellen Zeitpunkt noch unklar. Vgl. dazu das Sozialhilfegesetz der Stadt Basel: www.tinyurl.com/y52mu58h, Zugriff 30.07.2019. 4 Fabienne Bingler, Hans Peter Engler 125 Literatur Engler, H.P. (2018): Gestaltung des «Intake Prozesses» in der Klinik ESTA der Suchthilfe Re‐ gion Basel, Strategisches Management. Internes Dokument. Galuske, M. (2009): Methoden der Sozialen Arbeit‐ Eine Einführung. Weinheim und Mün‐ chen: Juventa. Notari, L./Le Mével, L./Delgrande J.M./Maffli, E. (2014): Zusammenfassende Ergebnisse der Schweizerischen Gesundheitsbefragungen 2012, 2007, 2002, 1997 und 1992 hinsichtlich des Konsums von Tabak. Alkohol, Medikamenten und illegalen Drogen. Lausanne: Sucht Schweiz. www.tinyurl.com/y5g4npmq, Zugriff 30.07.2019. von Uexküll, T./Wesiack, W. (2011): Integrierte Medizin als Gesamtkonzept der Heilkunde: Ein bio‐psycho‐soziales Modell. München: Elsevier. WHO ‐ Weltgesundheitsorganisation (Hrsg.). (2015): Internationale Klassifikation psychi‐ scher Störungen: ICD‐10 Kapitel V (F) klinisch‐diagnostische Leitlinien. Bern: Hogrefe Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Raus aus der Isolation durch soziale Integration Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration Andrea Kaspar1, Stefan Leimgruber2 1. Der Treffpunkt Azzurro als suchtmittelfreier Begegnungsort Der Treffpunkt Azzurro in Bern wurde 2000 mit dem Ziel eröffnet, einen bedeutenden Beitrag zur sozialen Integration und zur Stabilisierung der psychosozialen Gesundheit von suchtgefährdeten und/oder desintegrier‐ ten Personen zu leisten. Mittels verschiedener Angebote soll zudem die Durchmischung aller Bevölkerungsschichten gefördert und der Entmi‐ schung (Segregation) von unterschiedlichen Personengruppen (religiösen, ethnischen, etc.) entgegengewirkt werden. Träger dieses Angebotes ist das Blaue Kreuz Bern‐Solothurn‐Freiburg, eine Organisation in der Suchthilfe, spezialisiert im Bereich Alkohol. Sie ist tätig in der Prävention/Gesund‐ heitsförderung, Beratung/Therapie und Integration und ist politisch und konfessionell unabhäng. Ziel der Arbeit ist es, Alkohol‐ und andere Sucht‐ probleme zu verhindern, Leid zu lindern sowie die Betroffenen ganzheit‐ lich, professionell und ressourcenorientiert zu unterstützen (Blaues Kreuz 2018a). Die Fachmitarbeitenden im Bereich Integration verfügen über eine dem Aufgabengebiet entsprechende qualifizierte Ausbildung in Sozialar‐ beit, Sozialpädagogik und Arbeitsagogik (Blaues Kreuz 2015). 1.1 Angebotsvielfalt im Treffpunkt Azzurro Der Treffpunkt Azzurro bietet einen suchtmittelfreien Begegnungsort mit gastronomischen Dienstleistungen und steht grundsätzlich allen Men‐ schen offen, unabhängig von Nationalität, Geschlecht oder Religion. Der Dipl. Sozialpädagogin FH, Co‐Bereichsleitung Integration & Betriebe, Blaues Kreuz Bern‐ Solothurn‐Freiburg. 2 Sozialarbeiter BSc, Co‐Bereichsleitung Integration & Betriebe, Blaues Kreuz Bern‐Solothurn‐ Freiburg. 1 © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_8 128 Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration Treffpunkt versteht sich auch als Quartiertreff und fördert die Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Lebenskontexten. Eine 1998 in Bern durchgeführte Umfrage des Blauen Kreuzes bei verschiedenen Institutio‐ nen im legalen Suchtbereich zeigte, dass Bedarf an einem niederschwelli‐ gen Angebot besteht, welches sich den spezifischen Bedürfnissen von Al‐ koholkranken annimmt und der zunehmenden Isolation von Menschen entgegenwirkt, die am Rande der Gesellschaft leben. Der Treffpunkt Az‐ zurro füllt diese Angebotslücke, indem er einen niederschwelligen Frei‐ zeit‐ und einen höherschwelligen Beschäftigungsbereich (Küche, Service, Reinigung etc.) zur Verfügung stellt. Das Angebot richtet sich somit an zwei Zielgruppen: begleitete Mitarbeitende und Gäste (vgl. Blaues Kreuz 2011). Das Angebot zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es an je‐ weils drei Abenden werktags, sowie an allen Sonn‐ und Feiertagen geöff‐ net ist (Montag, Mittwoch und Freitag von 12.00 bis 21.00 Uhr, Donnerstag von 12.00 Uhr bis 16.00 Uhr sowie sonntags von 15.00 bis 21.00 Uhr), also auch dann, wenn andere Institutionen geschlossen haben. Der Treffpunkt leistet einen Beitrag in den Bereichen der Sekundärprävention und der Nachsorge für suchtkranke Menschen und Menschen mit Mehrfachdiag‐ nosen und trägt somit auch zur Minderung der sozialen Folgekosten3 bei. Unter den knapp 7000 Gästen im Jahr 2018 gab es viele Stammgäste, die Kontakt und Zugehörigkeit suchten, aber auch viele gesellschaftlich gut integrierte Personen, welche das Ambiente und das gute Preis‐Leistungs‐ Verhältnis schätzten. Den Gästen und begleiteten Mitarbeitenden stehen eine Vielzahl an Angeboten zur Verfügung: • preisgünstige oder kostenlose Verpflegungsmöglichkeiten (kein Konsumationszwang) • Wasch‐ und Duschmöglichkeiten • Begleitete soziale und berufliche Integrationsplätze (vgl. Kapitel 2.5) 3 Im Jahr 2010 wurden die gesellschaftlichen Kosten des Alkoholkonsums auf rund 4.2 Milli‐ arden Franken geschätzt. Die Kosten setzten sich zusammen aus dem Produktionsausfall in‐ folge Krankheit, Unfall und Tod, aus Behandlungskosten und der Behebung von Sachschä‐ den (vgl. Fischer et al. 2014: 69). Andrea Kaspar, Stefan Leimgruber • • • • 129 Gesprächs‐ und Kontaktmöglichkeiten, niederschwellige Bera‐ tung und Triage Kostenloser Internetzugang (Free‐WiFi) Vermietung der Räumlichkeiten, z. B. für Selbsthilfegruppen Freizeitaktivitäten und gemeinsame Feierlichkeiten Der Treffpunkt Azzurro wird von Fachpersonen aus der Sozialen Ar‐ beit geführt, die von Freiwilligen unterstützt werden. Die Einbindung von Freiwilligen in die Betriebsstruktur ist ein wesentlicher Aspekt des Kon‐ zeptes und dient der Betriebssicherung sowie der Heterogenität. Durch diese Vielfalt an privaten und beruflichen Hintergründen und der semi‐ professionellen Haltung kann den Gästen auf einer anderen Ebene begeg‐ net werden, als dies mit professionellen Angestellten möglich wäre. Während den Öffnungszeiten sind jedoch Fachpersonen jederzeit persönlich vor Ort oder telefonisch erreichbar. 2. Integration als existentielles Bedürfnis Die Menschen, die im Treffpunkt ein‐ und ausgehen, sind bunt gemischt und von grosser Diversität (Gender, Religion, Alter, Nationalität). Umso wichtiger ist es, allen Personen mit Toleranz und Respekt zu begegnen und gemäss dem Berufskodex der «Sozialen Arbeit Schweiz» das Anrecht aller Menschen «auf die Befriedigung existentieller Bedürfnisse sowie auf In‐ tegrität und Integration in ein soziales Umfeld» umzusetzen (vgl. Avenir Social 2010: 6). Das Leitbild des Blauen Kreuzes formuliert zum Thema Grundwerte: «Wir gründen unser Handeln auf christliche Nächstenliebe, Solidarität und Toleranz» (Blaues Kreuz 2018). Ergänzend zu diesen christlichen Grundwerten wird den Menschen zugetraut, dass sie grundsätzlich in der Lage sind, Lösungen für ihre Probleme zu finden. Die Soziale Arbeit hat dabei den Auftrag, gerechte Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stel‐ len und Menschen auch in sehr schwierigen Lebensphasen zu begleiten und ihre Würde und Integrität zu achten (vgl. Blaues Kreuz 2018). 130 2.1 Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit Sucht ist eine psychische Erkrankung (vgl. WHO 2011: 110 ff), die den Menschen in seiner gesamten Integrität betrifft und sich auf alle Lebens‐ bereiche auswirkt. Trotzdem geht es darum, neben den kranken auch die gesunden Anteile zu sehen und den Fokus auf den ganzen Menschen zu richten. Es ist wichtig, Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit festzule‐ gen und darin der Klientel etwas zuzutrauen oder gar zuzumuten. Des‐ halb gibt es zum Beginn der Integrationsprogramme des Blauen Kreuzes eine Arbeitsvereinbarung in welcher arbeitsrechtliche und betriebsspezifi‐ sche Fragen und somit auch Rechte und Pflichten geregelt sind. Zu den Pflichten der begleiteten Mitarbeitenden gehört unter anderem, dass sie eine Erklärung zur Entbindung der Schweigepflicht unterzeichnen, die den Fachpersonen den schriftlichen und mündlichen Austausch mit ande‐ ren involvierten Stellen (andere Fachstellen, Behörden etc.) ermöglicht. Im Gegenzug unterstehen die Fachpersonen der beruflichen Schwei‐ gepflicht, welche über das Anstellungsverhältnis hinaus bestehen bleibt. Gemäss dem Berufskodex «Soziale Arbeit Schweiz» und den Richtlinien der Gesamtorganisation, die sich daran anlehnen, wird ausserdem der Da‐ tenschutz gewährleistet (vgl. Blaues Kreuz 2018b). Das Wahren des Per‐ sönlichkeitsschutzes, die Qualitätssicherung der Prozesse, die ständige Evaluation der Dienstleistungen/Angebote, sowie die Auftragsklärung mit den involvierten Personen, Behörden und Fachstellen sind essentiell, um eine Vertrauens‐ und Beziehungsbasis mit der Klientel aufzubauen. Da im Fokus der Sozialen Arbeit die Beziehungsarbeit steht, haben alle Perso‐ nen, die an einem Angebot der sozialen oder beruflichen Integration im Treffpunkt Azzurro teilnehmen, eine betriebsinterne Bezugsperson. In re‐ gelmässig terminierten sowie bedarfsspezifischen (Kriseninterventionen etc.) und Tür‐ und Angelgesprächen findet der Austausch statt. Es wird eine wertschätzende «Du‐Mentalität» und eine flache Betriebshierarchie gelebt, was einen erheblichen Einfluss auf die Beziehungsgestaltung hat. Indem auf Augenhöhe kommuniziert wird, ist für die Klientel die Hürde kleiner, um Anliegen mitzuteilen und sich kritisch zu äussern. Andrea Kaspar, Stefan Leimgruber 2.2 131 Stellenwert der Sozialen Arbeit bei der Behandlung von suchtkranken Menschen Der Treffpunkt als Ort der sozialen Teilhabe für Gäste, aber auch für die Menschen, die dort Beschäftigung und Tagesstruktur finden, bietet ein wichtiges Umfeld für sozialarbeiterisches Agieren, das in der Behandlung von suchtkranken Personen einen hohen Stellenwert hat. Die Suchtfor‐ schung liefert dafür die Bestätigung: «Wissenschaftlichen Befunden zu‐ folge gibt es zahlreiche selektive und kausale Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Sucht. Über 50 Studien aus nahezu allen OECD‐Län‐ dern belegen, dass unter Arbeitslosen die Suchtprobleme häufiger verbrei‐ tet sind als unter Erwerbstätigen. Die erhöhten Prävalenzraten in dieser Bevölkerungsgruppe sind einerseits darauf zurückzuführen, dass Sucht‐ probleme das Risiko erhöhen, arbeitslos zu werden (selektiver Zusam‐ menhang) oder dass Arbeitslosigkeit die Entwicklung von Suchtproble‐ men begünstigt (kausaler Zusammenhang). Die internationale Forschung zeigt auch, dass die Integration in eine erwerbstätige Beschäftigung wäh‐ rend und unmittelbar nach Beendigung der Suchtbehandlung ein starker rückfallprotektiver Faktor ist, und dass Arbeitslose einen erhöhten Bedarf nach suchtspezifischer Prävention und Behandlung aufweisen» (Henkel 2014: 1). Der erste Arbeitsmarkt bietet für suchtkranke Personen kaum Möglichkeiten, Schritt für Schritt wieder einzusteigen, und lässt auch we‐ nig krankheitsbedingte Rückfälle zu. So ist es Aufgabe der Sozialen Arbeit, durch entsprechende Rahmenbedingungen, Massnahmen und Methoden den Menschen den Weg zurück ins Arbeitsleben (1. oder 2. Arbeitsmarkt) zu ebnen. 2.3 Wirkung von sozialer Integration auf psychische und physische Gesundheit Gregor Hasler schreibt in seinem Buch «Resilienz: Der Wir‐Faktor»: «Der Mensch ist ein Bedeutungs‐, Anerkennungs‐ und Belohnungswesen» (Hasler 2017: XVII), womit er mit anderen Worten beschreibt, was in der Fachwelt als «bio‐psycho‐sozialer» Ansatz in der Suchtarbeit bezeichnet wird. Unser Handeln und Verhalten wird von diesen drei Dimensionen, die nicht trennscharf sind und zwischen denen es Wechselwirkungen und 132 Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration Überschneidungen gibt, massgeblich bestimmt. Dabei betrifft der biologi‐ sche Anteil das Belohnungssystem, das z. B. bei einer Suchterkrankung unter einer Fehlsteuerung leidet. Der psychologische Aspekt zeigt sich da‐ rin, dass wir bestimmten Dingen Bedeutung beimessen und bereit sind, dafür unsere Ressourcen einzusetzen. Die soziale Dimension widerspie‐ gelt sich unter anderem in dem Bestreben, als Individuum Anerkennung zu erfahren. Die Forschung liefert dazu entsprechende Erkenntnisse und hat herausgefunden, dass Menschen, die sozial gut integriert sind, ein um 50 Prozent geringeres Sterberisiko haben, als desintegrierte Personen. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, dass die soziale Integration für die Gesundheit wichtiger ist als Risikofaktoren wie zum Beispiel Rauchen, Alkoholkonsum, Übergewicht etc. (vgl. Holt‐Lunstad et al. zit. in Hasler 2017: 16). Die Suchterkrankung kann verschiedene Ursachen haben und zeigt sich in unterschiedlicher Ausprägung; die Bewältigung der Erkrankung benötigt aber immer die «Verstärkung von sozialen, sinnstiftenden und lustvollen Tätigkeiten» (vgl. Hasler 2017: XVII). 2.4 Interventionsmodelle der Sozialen Arbeit An dem Bedürfnis nach diesen sozialen, sinnstiftenden und lustvollen Tä‐ tigkeiten knüpft das Treffpunktangebot von Azzurro an. Demnach und dem oben genannten bio‐psycho‐sozialen Erklärungsmodell gemäss muss das Suchtproblem in den Bereichen Körper, Geist und Zusammenleben bzw. Beschäftigung und sinnstiftende Arbeit angegangen werden. Als kla‐ res sozialarbeiterisches Arbeitsfeld liefert die Treffpunktarbeit dabei ein «alltags‐ und lebensweltorientiertes Unterstützungssystem» (Thiersch et al., zitiert in Ritscher 2007: 20), in dem folgende Aspekte im Vordergrund stehen: Belastbarkeit, Gesundheitszustand, Sozialkompetenz, Zuverlässig‐ keit, Fähigkeit, im Team zu arbeiten, etc. Ein bedeutendes Interventions‐ modell ist vor diesem Hintergrund der Empowerment‐Ansatz, der nach den individuellen Fähigkeiten, Talenten und Interessen der Klientel sucht. In der konkreten Handlungspraxis soll die Fähigkeit gestärkt werden, «ei‐ gene Wünsche und Interessen wahrzunehmen und in einen realistischen Kontext einzubetten» (Michel‐Schwartze 2009: 82). Neben personalen Res‐ sourcen (Selbstwertgefühl, Beziehungsfähigkeit, Flexibilität etc.) geht es Andrea Kaspar, Stefan Leimgruber 133 darum, auch die strukturellen (Einkommen, Wohnbedingungen, Bindung an ein Wertesystem etc.) und sozialen (Kontakte, emotionale Unterstüt‐ zung etc.) Ressourcen zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 85 ff.). Demnach ver‐ steht sich die Fachperson der Sozialen Arbeit als eine «Bezugsperson, die Ansprechpartnerin für individuelle Fragestellungen und für einen Res‐ sourcen stärkenden Lebensrahmen ist» (ebd.: 90). Um die Zielsetzungen des Empowerments zu gewährleisten, bedarf es als weiteres Interventions‐ modell einer qualifizierten Hilfeplanung. Sie dient in der klärenden und beratenden Phase zur Ermittlung des Hilfebedarfs (Unterstützungs‐, För‐ der‐, Integrations‐, Pflegeplan), in die alle Beteiligten und alle in Frage kommenden Institutionen einbezogen werden und aufgrund derer Aufga‐ ben festgelegt werden. Sie dient somit als Steuerungselement für den ge‐ samten Hilfeprozess (vgl. Neuffer 2009: 114). 2.5 Stufenmodell des Treffpunkt Azzurro Durch regelmässige Informationsveranstaltungen in Kliniken und bei den Zuweisenden erfährt die Klientel von den Integrationsangeboten und mel‐ det sich mehrheitlich im Rahmen der Nachsorgeplanung, also während dem Klinikaufenthalt an. Ihr Ziel ist es, sich über kurz oder lang beruflich und/oder sozial zu reintegrieren. In einem Erstgespräch und nach Prüfung der eingereichten Unterlagen zeigt sich oft, dass dem Klinikaufenthalt nicht nur eine lange Suchtmittelabhängigkeit, sondern auch eine längere Phase der Arbeitslosigkeit voranging. Inwiefern dies zu momentanen oder chronischen Defiziten führte, ist trotz Austrittsbericht und Rücksprache mit den zuständigen Therapeutinnen und Therapeuten während dem Erstgespräch nicht umfassend einschätzbar. Hier kommt das suchtspezifi‐ sche Assessment zum Einsatz, das eine umfassende und vertiefte Beobach‐ tung von Ressourcen und Defiziten im Arbeitsalltag ermöglicht. Die Sozi‐ ale Arbeit berücksichtigt somit möglichst alle Lebensbereiche (Gesund‐ heit, Soziales, Finanzen und Wohnen), die für eine gelingende soziale und berufliche Integration bedeutend sind. Um der individuellen Ausgangslage der Klientel hinsichtlich Arbeits‐ fähigkeit und ‐leistung zu begegnen, wird ein Stufenmodell angeboten. 134 Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration Abbildung 1: Stufenmodell Integration (eigene Darstellung) Das Programmende richtet sich danach, ob das jeweilige Programm eine Befristung vorsieht, die KlientInnen eine Anstellung oder eine An‐ schlusslösung gefunden haben und/oder ob der Kostenträger das Angebot weiterhin finanziert. Bei einem regulären Programmende werden ein Aus‐ und/oder Übertritt sorgfältig vorbereitet. 3. Förderung der Autonomie als Kernkompetenz der Sozialen Arbeit Mit sozialer Integration ist immer die gesellschaftliche Integration ge‐ meint. Das lateinische Wort «integratio» steht für «(Wieder)herstellung ei‐ ner Einheit» oder «Vervollständigung» (Dudenredaktion o. J.). Wörtlich genommen geht es darum, dass die desintegrierte Person wieder Teil einer gesellschaftlichen Einheit wird. Um dahin zu gelangen, müssen Fähigkei‐ ten und Ressourcen wiederentdeckt und mobilisiert werden – ganz im Sinne des Empowerment‐Ansatzes. Im Alltag bedeutet dies für die Soziale Arbeit, die KlientInnen zunächst in ihrer Einzigartigkeit zu sehen und zu verstehen, welchen Weg (beruflicher Werdegang, Fähigkeiten, Erlebnisse und Prägungen durch die Lebensgeschichte) die Person zurückgelegt hat. Die AutorInnen treffen manchmal die Haltung an, dass die Fachpersonen alle KlientInnen gleich behandeln möchten und deshalb gar nicht so viel über deren Vergangenheit wissen wollen. Diese vermeintliche Unvorein‐ genommenheit kann aber dazu führen, dass sich die betroffene Person nicht ernst‐ und wahrgenommen fühlt und unter Umständen auch viele Andrea Kaspar, Stefan Leimgruber 135 Ressourcen nicht entdeckt werden. Die ausführliche Anamnese ist daher ein wichtiges Instrument und die Basis für die Hilfeplanung, in der indi‐ viduelle Ziele gesetzt und in bestimmten Abständen überprüft werden. Aufgabe der Sozialarbeitenden ist es, einen wertschätzenden Rahmen zu bieten, in dem die Klientel Zugehörigkeit und soziale Teilhabe erfahren kann. Die Sozialarbeitenden haben die Gemeinschaft im Blick und sorgen für das Einhalten von Regeln, bieten aber auch die Möglichkeit zur indivi‐ duellen Förderung. Unabdingbar ist ein Übungsfeld, in dem Belastungs‐ grenzen ausgelotet und Copingstrategien entwickelt werden können. Letztendlich hat die Soziale Arbeit in diesem Arbeitsfeld die Funktion, die Lebensqualität und Autonomie der Klientel zu stärken, oder zumindest zu erhalten. 3.1 Interprofessionelle Zusammenarbeit Die Komplexität der Problemlage bei SuchtpatientInnen erfordert die kon‐ sequente Berücksichtigung des bio‐psycho‐sozialen Ansatzes und somit die Zusammenarbeit der entsprechenden Disziplinen. Je nachdem in wel‐ chem Krankheits‐ oder Behandlungsstadium sich die KlientIn befindet, ist es wichtig, ein adäquates, umfassendes und nachhaltiges Netz zu bieten. So steht der suchtkranken Person im günstigsten Fall gemäss ihren Bedürf‐ nissen eine Tagesstruktur, medizinische Versorgung und eine psychosozi‐ ale Begleitung zur Verfügung. Da die Tagesstruktur und die soziale In‐ tegration im Azzurro in den meisten Fällen als Zwischenstationen gedacht sind, ist ein Vorher und ein Nachher von grosser Bedeutung. So gibt es in Bezug auf die begleiteten Mitarbeitenden Zuweisende wie z. B. Beratungs‐ stellen, Kliniken, Sozialdienste, welche die KlientInnen bereits begleitet und einen Bedarf ausgemacht haben. Im Einzelfall muss entschieden wer‐ den, wer das Case Management übernimmt und welche unterstützenden Angebote weiterhin zielführend sind. Als fester Bestandteil des Pro‐ gramms finden im Treffpunkt Azzurro alle drei Monate Standortgesprä‐ che statt, um den Informationsfluss zu gewährleisten und die Zielsetzun‐ gen zu überprüfen. Die Zuständigkeit der verschiedenen Professionen muss zu Beginn jedes Hilfeprozesses und danach fortlaufend geklärt wer‐ 136 Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration den. Entscheidend dafür ist die Lebensphase, in welcher sich die KlientIn‐ nen befinden, der Gesundheitszustand, das soziale Umfeld und die Wohn‐ situation. Die Verantwortlichkeit wird aufgrund der Gewichtung der zu bear‐ beitenden Themen und der Unterstützungsplanung definiert. Die Soziale Arbeit deckt aufgrund ihres breiten Professionswissens viele Themen‐ kreise in der Suchthilfe ab und kann in den meisten Fällen individuelle, situations‐ und bedarfsadäquate Hilfestellungen anbieten. Die psychothe‐ rapeutische und medizinische Versorgung hingegen ist durch die Subjekt‐ finanzierung (Krankenkassenbeiträge) zeitlich und inhaltlich begrenzt und findet vielfach nicht im konkreten Lebensgeschehen der Betroffenen statt. Die Zusammenarbeit mit anderen Professionen wird teilweise eigens über Kooperationsverträge geregelt. Das hier thematisierte Arbeitsfeld im Bereich Tagesstruktur und soziale Integration wird überwiegend über öf‐ fentliche Gelder finanziert (in Einzelfällen über Versicherungsleistungen wie IV und RAV) und muss sich deshalb im Vergleich zu anderen Berei‐ chen in der Suchthilfe nicht stark mit hegemonialen Ansprüchen der me‐ dizinisch‐therapeutischen Disziplinen auseinandersetzen. 3.2 Anforderungen an das Fachpersonal Das Arbeitssetting im Treffpunkt Azzurro verlangt ein breites Wissen und vielseitige Kompetenzen von Fachpersonen verschiedener Berufsgruppen. Für die Angebotsleitung wird ein Grundstudium in Sozialer Arbeit ver‐ langt. Das Knowhow der Sozialarbeitenden wird ergänzt durch das Profil von Personen mit einer Ausbildung in den Bereichen Sozialpädagogik, Heilpädagogik oder Arbeitsagogik, um die Klientel im Arbeitsprozess an‐ zuleiten und zu begleiten. Da das Azzurro ein Gastronomiebetrieb ist, wird zusätzlich eine ausgebildete Köchin oder ein ausgebildeter Koch be‐ nötigt. Idealerweise bringen die Mitarbeitenden jeweils mehrere Berufs‐ ausbildungen mit. Umfassende Weiterbildungen für diesen Bereich gibt es leider nur wenige. Andrea Kaspar, Stefan Leimgruber 4. 137 Stand der Professionalisierung der Sozialen Arbeit in diesem Ar‐ beitsfeld Die Nationale Strategie Sucht 2017‐2024 (BAG 2015:7) beschreibt die vier Säulen (Prävention / Therapie / Schadensminderung / Repression) der Schweizer Suchtpolitik, wobei die Säulen auch gleichzeitig sogenannte Handlungsfelder darstellen. Der Treffpunkt Azzurro bewegt sich in zweien davon. Der Treffpunktbetrieb bietet den Gästen einen konsum‐ freien Raum, in dem jedoch Personen unter Suchtmitteleinfluss toleriert werden, solange sich die BesucherInnen an die Hausordnung halten. Dies sind klare Merkmale des Bereichs der «Schadensminderung/Risikomini‐ mierung». Im Bereich Tagesstruktur hingegen wird erwartet, dass die be‐ gleiteten Mitarbeitenden nüchtern zum Einsatz erscheinen und über adä‐ quate Kompetenzen verfügen (oder sich diese aneignen), um ihren Kon‐ sum so in Grenzen zu halten, dass er ihre Einsatzfähigkeit nicht tangiert. Dies würde eher dem strategischen Ziel aus dem Handlungsfeld «Bera‐ tung und Therapie» entsprechen: «Betroffene Menschen werden darin un‐ terstützt, wieder umfassend körperlich und psychisch gesund und sozial und beruflich wieder integriert zu werden» (BAG 2015: 7). Eine von der Kommission für Technologie und Innovation (KTI) geförderte Studie be‐ stätigt die Wichtigkeit von Massnahmen der sozialen Integration, die of‐ fensichtlich einen «therapeutischen» Effekt haben: Ein spezifisch entwi‐ ckeltes Instrument zur Wirkungsmessung von Integrationsprogrammen in der Sozialhilfe zeigte, dass die Programmteilnehmenden mit dem Ziel der sozialen Integration einen markanten Zuwachs an Zufriedenheit hin‐ sichtlich der eigenen Gesundheit verzeichnen konnten, sowie den subjek‐ tiven Eindruck hatten, im Alltag weniger durch gesundheitliche Be‐ schwerden eingeschränkt zu sein (vgl. Neuenschwander/Oesch/Jörg 2017: 36). Für eine solche Zufriedenheit bedarf es sinnvoller und sinnstiftender Tätigkeiten und Beschäftigungsmöglichkeiten, bei denen das Gefühl ent‐ steht, «gebraucht» zu werden. Künstlich geschaffene «Arbeitswelten» sind wenig hilfreich und wirken demotivierend oder kränkend. In diesem Sinne hat das oben erwähnte Konzept der Lebensweltorientierung, das sich selbst auf mehrere Wissenschaftskonzepte stützt, in der Sozialen Ar‐ beit auch nach Jahrzehnten noch Bestand. Neben theoretischen und philo‐ sophischen Aspekten, sieht es Interventionsformen vor, die sich auf die 138 Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration individuellen sozialen Probleme der Betroffenen im Alltag fokussieren und sich nicht mehr nach medizinischen Konzepten, wie z. B. Anamnese, Diagnose und Therapie ausrichten (vgl. Thiersch 1992). Der Treffpunkt Azzurro bietet die Möglichkeit, sich im «richtigen» Leben zu bewegen und dieses zu erleben. Die Klientel erbringt Dienstleistungen und entwickelt Produkte, für die es einen Markt gibt und die bestimmten Qualitätsstan‐ dards entsprechen müssen. Die Soziale Arbeit gewährt hier einen arbeits‐ marktnahen Rahmen, in der immer wieder auch eine Konfrontation mit der Lebenswirklichkeit (Zeitdruck, Konflikte, Fehler etc.) geschieht. 4.1 Qualitätsmanagement in der Suchthilfe Neben strategischen und wissenschaftlichen Grundlagen gewährleistet das Qualitätsmanagement das Erfüllen der Anforderungen des Arbeitsfel‐ des. So unterliegt die Arbeit des Blauen Kreuzes Bern‐Solothurn‐Freiburg der Qualitätsnorm QuaTheDA (Qualität Therapie Drogen Alkohol).4 Der Treffpunkt ist dem Modul Kontakt‐ und Anlaufstelle (Modul VII) zuge‐ ordnet, welches entsprechende Standards formuliert. Die Erfüllung der Qualitätskriterien wird jährlich durch ein externes Audit überprüft. 5. Strukturelle Aspekte und Rahmenbedingungen Der Auftrag der Sozialen Arbeit im Arbeitsfeld der Integration grün‐ det in der nationalen Suchtpolitik, die die entsprechenden Mittel zur Ver‐ fügung stellen sollte. Artikel 12 der Bundesverfassung formuliert ganz all‐ gemein das «Recht auf Hilfe in Notlagen»; konkretisiert wird dieses Recht in den Grundsätzen der SKOS‐Richtlinien (SKOS‐Richtlinien 04/05, D.2‐1): «Die Sozialhilfeorgane fördern die soziale und berufliche Integration von Hilfesuchenden» (SKOS‐Richtlinien 04/05, D.2‐1). Der Leistungsvertrag des Treffpunktes Azzurro (bzw. des Blauen Kreuzes Bern‐Solothurn‐Freiburg) basiert auf dem Gesetz über die öffent‐ liche Sozialhilfe (SHG) des Kantons Bern. Artikel 69ff regelt dort die Be‐ 4 www.quatheda.ch Andrea Kaspar, Stefan Leimgruber 139 reitstellung der Mittel für die Suchthilfe. Zum einen erfolgt hier eine Fi‐ nanzierung über die individuellen Leistungen der Sozialhilfe (Subjektfi‐ nanzierung) und zum anderen eine des Angebotes selbst (Objektfinanzie‐ rung). Der Leistungsvertrag mit dem Kanton sieht die Erfüllung von defi‐ nierten Sollvorgaben (Platzzahl, Auslastung, Öffnungszeiten, Freizeitan‐ gebote etc.) vor, die halbjährlich in einem Reporting ausgewiesen und vom Geldgeber überprüft werden. Der Leistungsvertrag deckt aktuell ca. 80 % der Kosten; der fehlende Betrag muss über Drittmittel und Spenden er‐ wirtschaftet werden. Der Gesamtverband war schon mehrfach von Spar‐ massnahmen betroffen, wodurch es auch im Treffpunkt Azzurro zu Ein‐ sparungen kam. 5.1 Vernetzung und Austausch Um dem Arbeitsfeld «Tagestruktur und soziale Integration» Gewicht zu verleihen ist es wichtig, sich mit anderen Anbietern in diesem Bereich kan‐ tonal und regional auszutauschen und sich gemeinsam für die Vertretung der Interessen von Klientel, Geldgebern, Institutionen und Professionen einzusetzen. Zusätzlich ist es überaus bedeutend, sich national zu organi‐ sieren und im Rahmen von Mitgliedschaften bei Fachverbänden Lobbying zu betreiben und die Erfahrungen der Basis einzubringen. Das Blaue Kreuz Bern‐Solothurn‐Freiburg ist daher unter anderem Mitglied bei «Ar‐ beitsintegration Schweiz», «Fachverband Sucht» und «Fachverband Sozi‐ ale Arbeit im Gesundheitswesen (sages)». Innerhalb der Organisation sorgt die Bereichsleitung Integration für den fachlichen Austausch mit den genannten Lobbyverbänden und überwacht die definierten fachlichen Standards. 6. Herausforderungen und Ausblick Die Politik bestimmt massgeblich die Ressourcenverteilung und damit die Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit. Da in bestimmten politischen Kreisen leider noch immer davon ausgegangen wird, dass eine Suchter‐ krankung «selbstverschuldet» ist und es den EmpfängerInnen von Sozial‐ hilfe sehr gut gehe, wird bei ihnen gerne der Rotstift angesetzt. Somit ist es Aufgabe der Gesamtorganisation, sich mit möglichst allen politischen 140 Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration Parteien zu vernetzen, um dort Informations‐ und Aufklärungsarbeit zu leisten. In der freien Marktwirtschaft gibt es immer weniger Stellen für un‐ qualifizierte Arbeitskräfte, und die fortschreitende Digitalisierung der Ar‐ beitswelt stellt gerade ungelernte Kräfte vor grosse Herausforderungen. Besonders Menschen mit Suchtproblemen werden vermehrt auf begleitete Arbeits‐ und Integrationsplätze sowie den zweiten Arbeitsmarkt angewie‐ sen sein. Es wäre Aufgabe der Politik, entsprechende nachhaltige Rahmen‐ bedingungen zu schaffen. Konkret würde dies für das hier diskutierte Ar‐ beitsfeld bedeuten, dass es adäquate und vielfältige Anschlussprogramme gibt. Aktuell läuft die Klientel Gefahr, nach Programmende keine An‐ schlusslösung zu finden und dann wieder all das zu verlieren, was an Ta‐ gesstrukturen, sozialer Teilhabe, Copingstrategien etc. vorher sorgfältig aufgebaut worden ist. Ein erneuter sozialer Absturz zieht zudem hohe Fol‐ gekosten nach sich. Die Stadt Bern ist sich dieser Problematik ebenfalls bewusst und hat eigens dafür eine Strategie entwickelt, die vor allem langzeitarbeitslose So‐ zialhilfebeziehende sowie ältere arbeitslose Menschen mit Leistungsein‐ schränkungen berücksichtigt und die Schaffung von Nischen‐Arbeitsplät‐ zen mit einer leistungsangepassten finanziellen Abgeltung fordert. (Direk‐ tion für Bildung, Soziales und Sport 2017: 13). 6.1 Spannungsfeld Soziale Arbeit und Wirtschaftlichkeit Das Arbeitsfeld der sozialen und beruflichen Integration steht immer wie‐ der vor der Herausforderung, im Spannungsfeld zwischen Sozialer Arbeit und Wirtschaftlichkeit zu vermitteln. Die öffentlichen Mittel sind nicht kostendeckend und müssen durch Drittmittel ergänzt werden. Das allein ist schon nicht einfach; wird aber dadurch erschwert, dass die Klientel im Suchtbereich besonders anfällig für Absenzen und Leistungseinbrüche ist und Arbeitsplätze zur Verfügung stehen müssen, die an die individuellen Fähigkeiten angepasst sind. Bei jedem Auftrag muss damit gerechnet wer‐ den, dass ein Teil der begleiteten Mitarbeitenden kurzfristig ausfällt und die Arbeit mit weniger Personal und teilweise von den Festangestellten (Sozialarbeitende, ArbeitsagogInnen, KöchIn) erledigt werden muss. Der enorme Druck auf die Anbieter könnte durch eine volle Kostendeckung Andrea Kaspar, Stefan Leimgruber 141 verringert werden. Auch wenn der Betrieb keine Gewinne abwirft, so «rentiert» er doch, weil er die hohen Folgekosten einer Desintegration ver‐ hindert. 6.2 Schwer erreichbare Zielgruppe Als Grundproblematik zeigt sich im Arbeitsfeld Sucht allgemein, dass es schwierig ist, die Zielgruppe zu erreichen. Nur etwa 10% der suchtkran‐ ken Personen nehmen Angebote des Suchthilfesystems in Anspruch.5 Ein hoher Prozentsatz sucht aber wegen Begleiterkrankungen und Sympto‐ men die Hausärztin oder den Hausarzt auf. Diese sind wichtige Schlüssel‐ personen, welche ihre PatientInnen zu einem ersten Schritt und zum Kon‐ takt mit einem Suchthilfeangebot motivieren können. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die HausärztInnen als Zuweisende eher weniger in Er‐ scheinung treten. Neben den HausärztInnen haben Sozialarbeitende in den Sozial‐ diensten eine wichtige Funktion und können einen erheblichen Beitrag zur Motivation ihrer KlientInnen leisten. Dabei gibt es die Möglichkeit von fi‐ nanziellen Anreizen (Stichwort Integrationszulage) über Sanktionen bis hin zur Ermutigung von betroffenen Personen, die Angebote der Sucht‐ hilfe wahrzunehmen, um langfristig ein gesünderes Leben zu führen. ÄrztInnen und Sozialdienste sind als Türöffner für die Klientel des Arbeitsfeldes Integration unverzichtbar, weil die Desintegration eben ge‐ rade dazu führt, dass eine selbständige Kontaktaufnahme schwierig ist. Abschliessend möchten die AutorInnen die Leserschaft an der Vision teilhaben lassen, dass rechtlich verankert wird, in jedem Betrieb ab einer bestimmten Grösse einen Menschen mit einer sozialen Problemstellung zu beschäftigen. Im Sog des Gewinnstrebens würde dadurch ein Kontra‐ punkt gesetzt, der das Augenmerk auf Sozialkompetenz lenkt und der suchtkranken Person eine echte Chance bietet, in der Gesellschaft wieder nachhaltig Fuss zu fassen und etwas zur Wertschöpfung beizutragen. Vgl. Beitrag in der ÄrzteZeitung vom 17.05.2017: www.tinyurl.com/s879gyp, Zugriff am 20.03.2020. 5 142 Arbeitsfeld Tagesstruktur und Soziale Integration Literatur Avenir Social (2010): Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz. Ein Argumentarium für die Pra‐ xis der Professionellen. Bern: Avenir Social. Blaues Kreuz Kanton Bern‐Solothurn‐Freiburg (2015): Konzept Bereich Nachsorge und In‐ tegration. Blaues Kreuz Kanton Bern‐Solothurn‐Freiburg (2018a): Leitbild. www.tinyurl.com/y6949akn, Zugriff 25.04.2019. Blaues Kreuz Kanton Bern‐Solothurn‐Freiburg (2018b): Personalreglement. Blaues Kreuz Kanton Bern‐Solothurn‐Freiburg (2011): Konzept Azzurro. BAG ‐ Bundesamt für Gesundheit (2012): Das modulare QuaTheDA‐Referenzsystem. Die Qualitätsnorm für die Suchthilfe, Prävention und Gesundheitsförderung. Revision Juli 2012. Bern. BAG ‐ Bundesamt für Gesundheit (2015): Nationale Strategie Sucht 2017‐2024. Bern: BAG. Direktion für Bildung, Soziales und Sport, Sozialamt (2017): Strategie zur beruflichen und sozialen Integration der Stadt Bern. www.tinyurl.com/y2ye4arn, Zugriff 25.04.2019. Dudenredaktion (o. J.): «Integration» auf Duden online. www.tinyurl.com/y4wz2uyq, Zu‐ griff 25.04.2019. Fischer, B./Telser, H./Widmer, P./Leukert, K. (2014): Alkoholbedingte Kosten in der Schweiz. Schlussbericht im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit. Bern. Hasler, G. (2017): Resilienz: der Wir‐Faktor. Gemeinsam Stress und Ängste überwinden. Stuttgart: Schattauer. Henkel, D. (2014): Arbeitslosigkeit und Sucht. Aus wissenschaftlicher Sicht. Vortrag anläss‐ lich des 10‐jährigen Bestehens vom Einsatzprogramm mit integrierter Suchttherapie Tübach/Schweiz 29.10.2014 (Folien). www.tinyurl.com/yyjjjlfj, Zugriff 25.04.2019. Michel‐Schwartze, B. (2009): Methodenbuch Soziale Arbeit. Basiswissen für die Praxis. Wiesbaden: Springer VS. Neuenschwander, P./Oesch, T./Jürg, R. 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Open Access Dies ist ein Open-Access-Kapitel, das unter den Bedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 International License (http://creativecommons. org/licenses/by/4.0/) lizenziert ist. Für weitere Einzelheiten siehe Lizenzinformationen im Impressum. Soziale Teilhabe durch Arbeitsintegration Arbeitsfeld Arbeitsintegration Martin Stalder1, Karin Stoop2 Der nachfolgende Artikel beleuchtet das Thema der Arbeitsintegration suchtmittelabhängiger Menschen. Die Ziele der Arbeitsintegration sind breit gefächert. Beginnend bei der sozialen Integration im Rahmen von Be‐ schäftigungsangeboten von sozialen Einrichtungen bis hin zur Vermitt‐ lung in Arbeitsstellen im ersten Arbeitsmarkt unterstützen Sozialarbei‐ tende ihre Klientinnen und Klienten. 1. Arbeitsfeld Welche Rolle fällt der Sozialen Arbeit in der Arbeitsintegration zu, wel‐ chen Teil übernimmt die Medizin, und welche weiteren Rahmenbedin‐ gungen müssen erfüllt sein, damit als erster Schritt zumindest die Teil‐ nahme an Beschäftigungsprojekten gelingen kann? Was braucht es, um private Arbeitgeber als Partner gewinnen zu können? Erwerbsarbeit sichert in erster Linie die ökonomische Unabhängig‐ keit. Sie dient aber auch der gesellschaftlichen Integration. Arbeit schafft Identität und Zugehörigkeit. Besteht kein Zugang zu einer Erwerbsarbeit, fällt meist nicht nur die finanzielle Autonomie weg, sondern auch die Teil‐ habe an einem wichtigen Teil der Gesellschaft. Fehlt die Erwerbsarbeit oder fehlen Leistungen einer Sozialversiche‐ rung, greift die gesetzliche Sozialhilfe. Diese sichert die finanzielle Exis‐ tenz bedürftiger Personen, fördert die wirtschaftliche und persönliche Selbständigkeit und gewährleistet die soziale und berufliche Integration.3 Sozialarbeiter FH, Soziale Dienste Stadt Solothurn. Sozialarbeiterin FH, Geschäftsleiterin, PERSPEKTIVE Region Solothurn‐Grenchen. 3 Auf diese Weise definiert die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS die Ziele der Sozialhilfe, vgl. www.tinyurl.com/yyts97ye, Zugriff 12.07.2019. 1 2 © Der/die Autor(en) 2021 M. Krebs et al. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31994-6_9 144 Arbeitsfeld Arbeitsintegration Die berufliche Integration – hier Arbeitsintegration genannt – ist so‐ mit ein zentrales Aufgabengebiet der gesetzlichen Sozialhilfe. Durch die Integration in die Arbeitswelt kann die finanzielle Autonomie der Sozial‐ hilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger wieder erreicht werden. Davon ausgenommen sind die Personen, welche durch den Zugang zu Leistungen einer Sozialversicherung (z. B. IV) keine Leistungen der gesetz‐ lichen Sozialhilfe mehr benötigen. 1.1 Ziel und Zweck der Arbeitsintegration Mit Hilfe arbeitsmarktlicher Massnahmen soll den Sozialhilfebezügerin‐ nen und ‐bezügern ein Wiedereinstieg oder teilweise sogar ein erster Ein‐ stieg in die Arbeitswelt ermöglicht werden. Eine berufliche Qualifizierung ist hierbei oft das zentrale Element. Wenn suchtkranke, stellenlose Menschen nach dem Ausschöpfen der Rahmenfrist der Arbeitslosenversicherung ihre Existenz durch Leistungen der Sozialhilfe bestreiten müssen, liegt das Problem aber nicht nur an einer fehlenden Qualifikation oder an einem Mangel an verfügbaren Arbeits‐ plätzen. Vielmehr können diese Menschen zum aktuellen Zeitpunkt die von der Wirtschaft definierten Anforderungen an eine Arbeitskraft nicht erfüllen. Ihre gesundheitlichen Einschränkungen oder ihre durch die Sucht bedingte Instabilität in der Leistungserbringung und die teilweise fehlende Zuverlässigkeit verunmöglichen die Einhaltung der Pflichten ei‐ nes Arbeitnehmers/einer Arbeitnehmerin in einem regulären Arbeitsver‐ hältnis. Für diese Gruppe muss deshalb, zumindest für eine bestimmte Zeit, vor der beruflichen Integration eine soziale Integration im Fokus stehen. Der Begriff soziale Integration umfasst vieles. Es geht dabei um Teil‐ habe am gesellschaftlichen Leben. Durch gezielte Integrationsmassnah‐ men soll eine drohende Desintegration von Suchtkranken eingedämmt werden (SKOS Richtlinien D.2)4. Für akut suchtkranke Menschen, welche sich in Beschäftigungspro‐ jekten der ambulanten Suchthilfe in einer Tagesstruktur befinden, ist die berufliche Integration auf die Schnelle meist unrealistisch. Suchtkranke 4 Vgl. www.tinyurl.com/yxfxxmd3, Zugriff 5.11.2019. Martin Stalder, Karin Stoop 145 Menschen stehen als Folge ihrer Krankheit und der damit verbundenen Stigmatisierung am Rande unserer Gesellschaft. 1.2 Zielgruppen im Arbeitsfeld Gemäss act‐info Jahresbericht 2016 (Delgrande Jordan 2017) sind bei einem Eintritt in eine Suchtbehandlung 32,8 % der KlientInnen in einer Festan‐ stellung und 6,5 % in einer Teilzeitanstellung. Bei diesen 39 % der Klien‐ tInnen, die noch in einem Arbeitsverhältnis stehen, muss der Erhalt des Arbeitsplatzes ein zentrales Ziel der Unterstützung sein. Auf diesen As‐ pekt wird im vorliegenden Artikel nicht weiter eingegangen. Bezogen auf die genannte Statistik verfügen mehr als 60 % der von Sucht betroffenen Menschen, die in eine ambulante Suchtbehandlung ein‐ steigen, nicht über ein regelmässiges Erwerbseinkommen. Der Lebensun‐ terhalt wird vorwiegend durch Sozialhilfe oder einer Rentenleistung be‐ stritten. Der geringere Teil dieser Menschen ist durch eine Rentenleistung der IV und AHV keine prioritäre Zielgruppe für Arbeitsintegrations‐ respek‐ tive Beschäftigungsmassnahmen. 2. Arbeitsintegration in der PERSPEKTIVE Region Solothurn‐Gren‐ chen Die PERSPEKTIVE Region Solothurn‐Grenchen bietet ein umfassendes Angebot in der ambulanten Suchtbehandlung. Die Dienstleistungen um‐ fassen: Prävention, Beratung, Wohnen, Arbeit, Gassenküche und Kontakt‐ und Anlaufstelle. Basierend auf dem kantonalen Sozialgesetz sind die Ge‐ meinden für die Finanzierung dieser Angebote zuständig. Die Leistungen werden in einem Leistungskatalog definiert und sind gemäss diesen Vor‐ gaben umzusetzen. Im Bereich Arbeit wird mit einem stufengerechten Aufbau eine leis‐ tungsabhängige Beschäftigung ermöglicht. Bei den ausgeführten Arbeiten handelt es sich um diverse Hilfsarbei‐ ten wie Räumungen, Umzüge, Reinigungen, Gartenarbeiten und Lit‐ tering‐Aufträge. Sie erfolgen mehrheitlich im Auftrag von Privatpersonen, 146 Arbeitsfeld Arbeitsintegration teilweise aber auch von der öffentlichen Hand. Die Betreuung der Klien‐ tinnen und Klienten während der Arbeiten erfolgt durch Vorarbeiter, wel‐ che teilweise über eine Ausbildung als Arbeitsagogen verfügen. Die sozi‐ alarbeiterische Betreuung wird durch die Case Managerinnen und Case Manager gewährleistet. 2.1 Angebotspalette der PERSPEKTIVE Die drei Programme Gemeindearbeitsplätze (GAP), Tagesbeschäftigung und Gartenbau stellen unterschiedliche Anforderungen an die Teilneh‐ menden und sind auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen verbunden. Die Teilnahme am GAP hat eine regelmässige Tagesstruktur zum Ziel. Die Teilnehmenden sollten, wenn möglich, an fünf Tagen die Woche jeweils einen halben Tag im Programm erscheinen und leichtere Aufgaben ausführen. Diese stellen keine grossen körperlichen Anforderungen (z. B. Unterhaltsarbeiten in der Gemeinde). In der Tagesbeschäftigung dauern die Arbeitstage in der Regel bis acht Stunden. Auch sind die Aufgaben körperlich belastender (Hausräumungen und Zügelarbeiten, Gärtnerar‐ beiten, Holzarbeiten). Für die Teilnahme am GAP oder an der Tagesbe‐ schäftigung muss eine Kostengutsprache der Sozialhilfe vorliegen. Der Gartenbau ist ein Teillohnprogramm. Die Teilnehmenden müs‐ sen eine hohe Zuverlässigkeit bei der Präsenz an den Tag legen. Das Teil‐ lohnprojekt ist für die zuweisenden Stellen kostenlos. Pro geleistete Ar‐ beitsstunde wird den Projekteilnehmenden einen Nettostundenlohn von Fr 8.00 ausbezahlt. Dies ermöglicht es ihnen einen Teil des Lebensunter‐ haltes selber zu finanzieren. In keinem der Programme kann eine neue Rahmenfrist der Arbeitslo‐ senversicherung generiert werden. Die Vermittlung in den ersten Arbeits‐ markt ist kein explizites Ziel. KlientInnen, die aufgrund ihrer Leistung dazu fähig sind, werden in andere dafür ausgerichtete Projekte im Kanton vermittelt. Während der Teilnahme in unseren Programmen werden alle Klien‐ tInnen durch einen Case Manager oder eine Case Managerin betreut. Diese Fachpersonen aus dem Berufsfeld der Sozialen Arbeit sind verantwortlich dafür, dass regelmässig mit allen am Prozess Beteiligten (z. B. Zuweiser, Martin Stalder, Karin Stoop 147 behandelnde ÄrztInnen, Fachpersonen der Beratung, Wohnbegleitung o‐ der Bewährungshilfe, Angehörige etc.) ein Austausch stattfindet und bei Bedarf neue Unterstützungsleistungen erschlossen werden. Die Arbeitsangebote der PERSPEKTIVE sind vom Amt für soziale Si‐ cherheit des Kantons Solothurn akkreditiert. Der Kanton hatte 2016 mittels Angebotsplanung den gesamten Dienstleistungsmarkt der Arbeitsintegra‐ tion nach einer umfassenden Überprüfung neu reguliert. Es können neu nur noch Programmkosten von akkreditieren Angeboten durch die Sozi‐ alhilfe finanziert und über den kantonalen Lastenausgleich abgerechnet werden. Die Angebotsplanung regelt zudem die Anzahl Plätze in den un‐ terschiedlichen Angeboten von Beschäftigung, Qualifizierung und Coaching. 2.2 Inhaltliche Ausgestaltung der Angebote Die Teilnahme an einem unserer Beschäftigungsprogramme soll für die Klientinnen und Klienten sinnstiftend sein. Sinnstiftend nicht nur hinsicht‐ lich der Tagesstruktur oder der möglichen sozialen Kontakte, sondern auch bezogen auf eine erfüllende Beschäftigung oder Arbeit. Mit Angebo‐ ten, die Tätigkeiten in arbeitsmarktähnlichen Arbeitsfeldern insbesondere im handwerklichen oder industriellen Bereich beinhalten, kann dies er‐ möglicht werden. Die Mehrheit der Klienten ist männlich, was sich auch auf die Ausrichtung der Arbeitsfelder auswirkt. Klassische weibliche Tätigkeitsfelder wie z. B. Pflege eignen sich bei akut suchtkranken Menschen weniger. Bei Arbeiten im handwerklichen Bereich ist gut ersichtlich, was ge‐ leistet wurde. Wichtig ist, dass die Programmteilnehmenden in ihrem All‐ tag etwas tun können, das einen Wert darstellt, resp. dass die geleistete Arbeit einen Nutzen für Dritte hat. Sie erledigen einen Auftrag, der von der Kundschaft real nachgefragt wird. Die Auswahl der konkreten Projekte in den einzelnen Programmen muss aber sorgfältig getroffen werden, damit bei der Auftragsakquisition nicht der Vorwurf der Konkurrenzierung des Gewerbes aufkommt. Die Beschäftigung oder Arbeit soll mit Verantwortungsübernahme verbunden sein. Die Klientel soll sich bei der Ausführung der Tätigkeit 148 Arbeitsfeld Arbeitsintegration weder unter‐ noch überfordert fühlen. Eine nahe Begleitung durch die Ar‐ beitsagogInnen erlaubt es, die Arbeiten den Kompetenzen anzupassen und so die für eine positive Entwicklung notwendigen Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Positive Erfahrungen sind Treiber in der persönlichen Weiterentwicklung und für den weiteren Prozessverlauf. 3. 3.1 Funktion und Qualifikation der Sozialen Arbeit im Arbeitsfeld Funktion und Stellenwert der Sozialen Arbeit Die Sozialgesetzgebung, die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Sozial‐ hilfe verbunden mit weiteren finanziellen Mitteln, sind die Grundlage, um Ressourcen für die Arbeitsintegration zu erschliessen. Die Soziale Arbeit unterstützt mit gezielten Massnahmen wie Beratung, Finanzierung von Projekteinsätzen oder Weiterbildungen suchtkranke Menschen in der so‐ zialen Integration. Dafür orientiert sie sich an den gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen der Sozialhilfe sowie des Arbeitsrechts. Soziale Arbeit und damit auch Soziale Arbeit im Kontext der Arbeits‐ integration nehmen potentiell die gesamte Lebensführung ihrer Klientel in den Blick und wirken damit in der gesamten Lebenssituation ihrer Klien‐ tel. Die Komplexität des Alltags und die Wechselwirkung der verschiede‐ nen Lebensbereiche machen es unabdingbar, dass die Fachpersonen in der Sozialen Arbeit mit den KlientInnen deren ganze Lebenssituation fundiert betrachten und darauf aufbauend Schritte der Veränderung und Unter‐ stützung vornehmen. Eine sorgfältige Anamnese ist eine wichtige Grund‐ lage für die anstehende Veränderung und Basis für alle Interventionen. Sozialarbeitende erschliessen notwendige Ressourcen und stossen mit Be‐ ratung Veränderungsprozesse an. Die oft mehrschichtige Problemlage der betroffenen KlientInnen be‐ darf eines Helfernetzwerks unterschiedlicher Professionen. Im Sinne einer effektiven und auch effizienten Dienstleistungserbringung ist es wichtig, dass sich die Akteure austauschen und eine gemeinsame Zielrichtung an‐ streben. Das Case Management bildet hier das wesentliche methodische Element. Wenn klar ist, wer für den Informationsaustausch innerhalb des Martin Stalder, Karin Stoop 149 Helfernetzes verantwortlich ist und welche Informationen im Einver‐ ständnis der Klientinnen und Klienten ausgetauscht werden können, kann gemeinsam an einem Strick gezogen oder eben ein Prozess angestossen werden. Kritisch anzumerken gilt, dass im klassischen Feld der Sozialen Ar‐ beit immer weniger Fachpersonen tätig sind, die über Berufserfahrung in handwerklichen oder gewerblichen Tätigkeiten verfügen. Dies ist eine Folge der aktuellen Bildungslandschaft und für die Soziale Arbeit in der Arbeitsintegration sicher kein Vorteil. Dazu kommen genderspezifische Umstände: Soziale Arbeit ist ein typischer Frauenberuf mit entsprechen‐ der beruflicher Sozialisation, während die Zielgruppe der Arbeitsintegra‐ tion mehrheitlich männlich ist. 3.2 Weiterbildung Die Thematik der Arbeitsintegration resp. des Eingliederungsmanage‐ ments wird in Fachkursen, Fachtagungen oder im Rahmen eines CAS/DAS an verschiedenen Fachhochschulen und vom Dachverband der sozialen und beruflichen Integration5 angeboten. Diese Lehrgänge berufen sich auf vielseitige Methoden, Verfahren und Instrumente für zielgruppenspezifische Bereiche. Die Diversität der Angebote widerspiegelt die fachliche Breite der Arbeitsintegration. Insbe‐ sondere die Fachhochschulen entwickeln laufend weitere Lehrgänge in diesem Bereich. 4. Kooperation im Arbeitsfeld Wie eingangs erwähnt, ist die Lebenssituation der Teilnehmenden in Ar‐ beitsintegrationsprojekten oft durch diverse Probleme belastet. Es ist des‐ halb zentral, dass sich fallführende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit Fachstellen vernetzen und so ein unterstützendes Helfernetz auf‐ bauen. Zentral erachten wir die Zusammenarbeit mit ÄrztInnen, in der Re‐ 5 www.arbeitsintegrationschweiz.ch 150 Arbeitsfeld Arbeitsintegration gel sind dies die HausärztInnen, und mit ArbeitsagogInnen. Die Hausärz‐ tInnen sind für die Festlegung der Arbeitsfähigkeit verantwortlich. Die Ar‐ beitsagogInnen ihrerseits sind die Fachleute, die die KlientInnen im Alltag ganz konkret befähigen, sich aktiv an einem Arbeitsprozess zu beteiligen. 4.1 Zusammenarbeit mit HausärztInnen Die HausärztInnen sind sehr wichtige PartnerInnen in der interpro‐ fessionellen Zusammenarbeit bezogen auf die Arbeitsintegration von suchtkranken Menschen. Den ÄrztInnen ist es vorbehalten, die Arbeitsfä‐ higkeit medizinisch zu bescheinigen, wobei diese aber in der Regel in Be‐ zug auf den ersten Arbeitsmarkt beurteilt wird. Eine eingeschränkte Ar‐ beitsfähigkeit im ersten Arbeitsmarkt ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit im zweiten Arbeitsmarkt. Entsprechend notwendig ist es, dass die Verantwortlichen der Sozia‐ len Arbeit gegenüber ÄrztInnen darlegen, welche Anforderungen in den Arbeitsintegrationsprojekten an die Teilnehmenden gestellt werden. Die ÄrztInnen müssen genau wissen, welche physischen und psychischen Be‐ lastungen mit der Beschäftigung verbunden sind, damit sie die Beschäfti‐ gungsfähigkeit korrekt einschätzen können. 4.2 Einbezug der Arbeitsagoginnen und Arbeitsagogen ArbeitsagogInnen sind dafür besorgt, dass Menschen mit einer Suchtmit‐ telabhängigkeit innerhalb der jeweiligen Arbeitsintegrationsprojekte pra‐ xisnah und unmittelbar gefördert werden. Neue Kompetenzen sollen schrittweise eingeübt und erlangt werden. ArbeitsagogInnen vermitteln ganz praxisnah verhaltensbezogene und fachliche Kompetenzen in den jeweiligen Arbeitsbereichen. Damit bieten sie wichtige Unterstützung bei der Reintegration der KlientInnen in den Arbeitsmarkt. Arbeitsagogik wird als Zweitberuf erlernt. Alle AkteurInnen in die‐ sem Berufsfeld verfügen über einen Herkunftsberuf und kennen damit die Anforderungen der Wirtschaft und des Gewerbes an die Arbeitnehmen‐ den aus eigener Erfahrung sehr gut. Wir erachten diese Kompetenz als zentral für die Tätigkeit in der Arbeitsintegration. Damit wird eine grosse Martin Stalder, Karin Stoop 151 Nähe zum Berufsalltag geschaffen und eine gewisse Normalität vermit‐ teln. Ein Klient beschrieb dies treffend: «Mit meinem Vorarbeiter (Ar‐ beitsagoge) kann ich in einer normalen Sprache reden». Durch die räumliche Nähe und das gemeinsame Arbeiten teilen Ar‐ beitsagogInnen und Klienten und Klientinnen den (Arbeits‐)Alltag. Sie er‐ leben die Fortschritte, aber auch die auftretenden Schwierigkeiten unmit‐ telbar. Dieses Setting ist ein zentrales Element der Prozessgestaltung, d. h. Zielsetzungen können zeitnah und direkt besprochen und umgesetzt wer‐ den. Die Beraterinnen und Berater, das Case Management oder andere Fachstellen wie Berufsberatung oder Soziale Dienste haben hingegen nur punktuell Kontakt zu den Klienten und Klientinnen. 5. Strukturelle Aspekte 5.1 Gesetzliche Vorgaben Viele Kantone in der Schweiz halten sich an die Richtlinien der SKOS. Im Kanton Solothurn wurden diese im Sozialgesetz (SG) des Kantons Solo‐ thurns (SG vom 31.1.2007) verbindlich übernommen (§152 SG).6 Regelun‐ gen in der dazugehörigen Verordnung (SV)7 definieren, welche Abwei‐ chungen von den Richtlinien zulässig sind. Integrationsmassnahmen sind ein Bestandteil des Prinzips von Leis‐ tung und Gegenleistung in der Sozialhilfe (§ 148 Abs. 2 SG). Diese Ver‐ pflichtung zur Erbringung einer Gegenleistung ist damit auch für sucht‐ mittelabhängige Personen verbindlich. Die Ausgestaltung einer solchen Gegenleistung liegt in der Zustän‐ digkeit der fallführenden Sozialarbeitenden und berücksichtigt die viel‐ schichtigen Lebensumstände der betroffenen Person. Es gilt abzuschätzen, inwieweit die suchtmittelabhängige Person trotz ihrer Erkrankung in der 6 Sozialgesetz (SG) Kanton Solothurn vom 31.Januar 2007 (Stand 1. Januar 2013): www.tinyurl.com/y45vqw7c, Zugriff 5.11.2019. 7 Sozialverordnung (SV) Kanton Solothurn vom 29. Oktober 2007 (Stand 1. Januar 2019): www.tinyurl.com/yxkj2oso, Zugriff 5.11.2019. 152 Arbeitsfeld Arbeitsintegration Lage ist, einer Beschäftigung nachzugehen oder welche anderen Massnah‐ men geeignet sind, um die negativen Folgen der Krankheit zu mildern und wenn immer möglich eine Behandlung aufzunehmen. 5.2 Fehlende finanzielle Anreize Die Teilnahme an einer Integrationsmassnahme sollte auch einen finanzi‐ ellen Anreiz beinhalten. Seit einer Revision der Sozialverordnung (SV) 2015 als Folge von politischen Vorstössen werden die Integrationsmass‐ nahmen mit Beschäftigungscharakter im Kanton Solothurn nicht mehr fi‐ nanziell belohnt. Man geht davon aus, dass Teilnehmende dieser Ange‐ bote die minimale gesetzliche Gegenleistung als Verpflichtung erbringen und ihnen deshalb kein finanzieller Anreiz zusteht. Den Sozialarbeiter‐ Innen wurde damit ein unterstützendes Arbeitsinstrument entzogen. Die Motivation muss nun ausschliesslich durch gute Beratungsarbeit und pas‐ sende Beschäftigung hergestellt werden. Nur noch Massnahmen zur Qualifikation werden mit einer Integrati‐ onszulage (IZU) honoriert. Diese gilt ausschliesslich bei Projekten, welche die Integration in den ersten Arbeitsmarkt als Zielsetzung haben. Bei der Angebotsplanung der arbeitsmarktlichen Massnahmen wurde einem mehrstufigem Modell Rechnung getragen. Von nieder‐ schwelliger Beschäftigung hin zu Qualifizierungs‐ und Coachingangebo‐ ten ist eine progressive Entwicklung möglich. Mittels der kantonalen Vorgaben einer zeitlichen Beschränkung und der Pflicht, die erreichten Ziele zu dokumentieren, soll einer langfristigen Platzierung in Beschäftigungsprojekten entgegengewirkt werden. Es be‐ darf allerdings eines sorgfältigen Umgangs mit dieser Befristung der Be‐ schäftigung. Die ganze Arbeitsintegration und Beschäftigung sind auf‐ grund der komplexen Problemsituationen oft ein langfristiger Prozess. Es gilt deshalb für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, diese komple‐ xen Problemsituationen so darzulegen, dass auch von politischer Seite das Verständnis für diese Prozesse wächst. Martin Stalder, Karin Stoop 5.3 153 Möglichkeiten der Sozialversicherungen Für BezügerInnen von Leistungen einer Sozialversicherung gelten beson‐ dere gesetzliche Grundlagen in Bezug auf soziale Integration. Insbeson‐ dere geht man bei einer Berentung nicht von einer Tätigkeit im ersten Ar‐ beitsmarkt aus, zumindest nicht von einer vollzeitlichen. Auch die dem Sozialversicherungsverfahren vorgelagerten Eingliederungsbemühungen sind nicht mit den Bemühungen der Sozialhilfe vergleichbar. Diese zielen auf eine Rückkehr oder auf einen Verbleib in der Erwerbsarbeit ab. Die beruflichen Massnahmen finden oftmals direkt im ersten Arbeitsmarkt statt. Bei einer Berentung besteht für Betroffene ein gut ausgebautes Netz an Möglichkeiten im zweiten Arbeitsmarkt. Die Anforderungen an die An‐ bieter werden vom Bundesamt für Sozialversicherungen definiert. Auch die Finanzierung solcher Angebote ist geregelt. Die Soziale Arbeit orientiert sich in diesem Betätigungsfeld am Regel‐ werk oder an den gesetzlichen Bestimmungen der Sozialversicherungen. Sozialarbeitende können den Wiedereingliederungsprozess durch Beratungs‐ und Beziehungsarbeit begleiten und durch Kenntnisse der Möglichkeiten der Sozialversicherungsleistungen den Zugang zu Weiter‐ bildungen und damit das Erlangen von neuen Qualifikationen erschlies‐ sen. 6. 6.1 Herausforderungen und Chancen Wirtschaftliche Entwicklung, Einbindung des Gewerbes Nebst bestehenden Angeboten von Arbeitsintegrationsmassnahmen sind vermehrt individuelle Lösungen zur Beschäftigung oder zur Arbeitsin‐ tegration notwendig. Dabei sollten mutige Lösungsansätze im ersten Ar‐ beitsmarkt gesucht werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die KlientIn‐ nen als Gegenleistung zu einem Sozialhilfebezug direkt in Industrie und Gewerbe zu vermitteln, ohne dass sofort eine Lohnzahlung erwartet wird. Damit wäre es dem Gewerbe und der Wirtschaft möglich, solche Nischen‐ arbeitsplätze zu schaffen resp. zu reaktivieren. 154 Arbeitsfeld Arbeitsintegration Solche Beschäftigungseinsätze im ersten Arbeitsmarkt können einen Mehrwert auf beiden Seiten schaffen. Die betroffenen KlientInnen erleben ihre Arbeitskraft im realen Umfeld. Die Unternehmen können ihrerseits soziale Verantwortung übernehmen. Eine Tätigkeit in einem solchen Umfeld, wie es z. B. ein Gewerbebe‐ trieb bietet, kann der eigenen beruflichen Einschätzung der Betroffenen ei‐ nen positiven Schub verleihen. In einer Gesellschaft, welche dadurch ge‐ prägt ist, dass Menschen eine Leistung in Form von Arbeit erbringen, ist eine solche Anerkennung elementar. Die in einem Einsatzbetrieb der rea‐ len Wirtschaft erlebbaren Möglichkeiten und Grenzen, d. h. die Einsicht der eigenen Situation, können klärend sein und als Motivation zur Ände‐ rung beitragen oder aber die Akzeptanz der Grenzen fördern. Eine derartige Beschäftigung ist nur für einen Teil der suchtkranken Menschen umsetzbar, aber für die Menschen, die dazu in der Lage sind, ein äusserst wertvolle