Leitthema
Bundesgesundheitsbl 2020 · 63:979–986
https://doi.org/10.1007/s00103-020-03185-w
Online publiziert: 7. Juli 2020
© Der/die Autor(en) 2020
Mazda Adli1,2 · Jonas Schöndorf1
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Campus Charité Mitte, Charité – Universitätsmedizin Berlin,
Berlin, Deutschland
2
Fliedner Klinik Berlin, Berlin, Deutschland
1
Macht uns die Stadt krank?
Wirkung von Stadtstress auf
Emotionen, Verhalten und
psychische Gesundheit
Stadtleben und psychisches
Erkrankungsrisiko
Stadtbewohnerlebenunterdurchschnittlich günstigeren Bedingungen: Günstigere individuelle Entwicklungs- und
Entfaltungsbedingungen, ein dichteres
Bildungs- und Förderangebot, bessere
Chancen auf Wohlstand, eine bessere
Gesundheitsversorgung und ein reiches
kulturelles Angebot, auch wenn diese Ressourcen innerhalb von Städten
wiederum ungleich verteilt sind. Die
Vorteile des Stadtlebens (Urban Advantage) ziehen seit jeher die Menschen in
die Städte. Städte sind in allen Erdteilen
die wirtschaftlichen, die wissenschaftlichen, die kulturellen und die politischen
Zentren der jeweiligen Nationen. Und
sie sind wesentliche Motoren für gesellschaftliche und soziale Integration.
Und dennoch: Das Risiko für stressabhängige psychische Erkrankungen ist
für Stadtbewohner größer als für Landbewohner [1–3]. Dies gilt vor allem für die
Schizophrenie, eine Gruppe psychischer
Erkrankungen, die häufig durch Störungen von Erleben, Wahrnehmung, Denken, Antrieb, und Affekt gekennzeichnet
ist. Sie kommt bei Stadtbewohnern mindestens doppelt so häufig vor wie bei
Landbewohnern, bei in der Stadt aufgewachsenen Menschen sogar nahezu dreimal so häufig [4]. Die Gruppe um den
Schizophrenieforscher Jim van Os berichtete 2010 in der Fachzeitschrift Nature, dass Stadtleben bei Menschen mit einem genetischen Risiko für Schizophre-
nie bezüglich eines Ausbruches der Erkrankung eine ähnliche Effektstärke hat
wie chronischerCannabiskonsum [5]. Eine schwedische Studie an 4,4 Mio. Frauen und Männern zeigte, dass Individuen,
die in dichter besiedelten Gebieten lebten, ein um 68–77 % höheres Risiko für
psychotische Erkrankungen und ein um
12–20 % erhöhtes Risiko für Depression
hatten im Vergleich zu denjenigen, die
in den am dünnsten besiedelten Gebieten lebten. Einzelne Schätzungen gehen
davon aus, dass bis zu 30 % des Schizophrenierisikos auf den Umweltfaktor
„Aufwachsen in der Stadt“ zurückzuführen sind [6]. Interessanterweise gibt es
einen Dosis-Wirkungs-Zusammenhang
zur Dauer des Aufwachsens in der Stadt:
Das Schizophrenierisiko steigt, wenn ein
Mensch während der ersten 15 Lebensjahre vom Land in die Stadt zieht, und
sinkt, wenn er während dieses Zeitfensters von der Stadt aufs Land zieht [4].
Stadtgröße und Dauer des Aufwachsens
in der Stadt spielen hier in einer doppelten Dosis-Wirkungs-Beziehung zusammen [2].
Stadtleben beeinflusst auch das Risiko für weitere psychische Erkrankungen.
So berichteten Peen und Kollegen [2] in
ihrer Metaanalyse aus 20 Einzelstudien
ein um 39 % höheres Erkrankungsrisiko
für affektive Störungen, wie die Depression. Das Risiko für Angsterkrankungen
war um 21 % erhöht. Der Stadt-LandUnterschied bezüglich des psychischen
Erkrankungsrisikos blieb auch nach Korrektur für weitere statistische Störfakto-
ren stabil. So scheint der Risikounterschied zwischen Stadt und Land eher
nicht auf andere Risikofaktoren zurückzuführen zu sein, sondern hängt vermutlich mit dem Faktor „Stadtleben“ zusammen. Erwähnenswert dabei ist, dass diese
Metaanalyse ausschließlich auf Daten aus
einkommensstarken Ländern basiert.
Bei einer 2018 publizierten Metaanalyse, die auf der Basis von WHO-Daten
aus 42 Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen beruht, konnte ein
solcher Unterschied nicht gefunden werden. Ausgewertet wurden hierbei Daten
von über 215.000 Individuen, anhand derer die Risikodifferenz für psychotische
Symptome zwischen Stadt- und Landbewohnern untersucht wurde [7]. Das Ergebnis ist überraschend, da sich in den
hier untersuchten Ländern, wie zum Beispiel Brasilien oder Bangladesch, zahlreiche schnell wachsende Megacitys der Erde befinden. Zumindest für psychotische
Symptome, einschließlich schizophrener
Erkrankungen, scheint das erhöhte Erkrankungsrisiko für Stadtbewohner ein
spezifisches Problem der einkommensstarken Länder mit ihren für sie typischen Gesellschafts- und Sozialstrukturen zu sein. Die Definition von „Stadt“
ist in den bisherigen Studien allerdings
uneinheitlich, so wie sie zum Teil zwischen einzelnen Ländern unterschiedlich
ausfällt. Sehr heterogen sind gleichzeitig
die Charakteristika von Landleben in unterschiedlichen Regionen der Welt. Die
Vereinten Nationen verstehen unter ei-
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979
Leitthema
ner Stadt eine Siedlung mit mindestens
20.000 Einwohnern (Kleinstadt).
Kausalhypothese vs.
Selektionshypothese
Stadtbewohner in den einkommensstarken westlichen Gesellschaften tragen also
ein höheres Risiko für einige bedeutende
psychische Krankheitsgruppen. Welche
Ursachen könnte dies haben? Die Daten, insbesondere der Dosis-WirkungsZusammenhang bei der Schizophrenie,
sowie auch die Daten der Metaanalyse von Peen et al. [2] deuten auf eine Kausalbeziehung zwischen Leben und
Aufwachsen in der Stadt und psychischem Erkrankungsrisiko (Kausalhypothese). Demgegenüber steht die Selektionshypothese. Sie sieht als Ursache für
die Häufung psychischer Erkrankungen
in der Stadt, dass Menschen mit psychischer Labilität eher in die Städte ziehen, weil sie auf eine bessere Gesundheitsversorgung hoffen oder weil sie einer größeren Stigmatisierung im ländlichen Milieu entkommen möchten. Auch
wenn solche Selektionseffekte sicherlich
auftreten, spricht die Dosis-WirkungsRelation zwischen Urbanität und Schizophrenie für einen Kausalzusammenhang.
Eine 2018 publizierte Studie mit genomweiten Assoziationsdaten und polygenen
Risikoscores von über 500.000 Teilnehmern aus britischen, australischen und
niederländischen Kohorten zeigte, dass
mit einem höheren genetischen Risikoscore für Schizophrenie die soziale Dichte
am Wohnort steigt [8]. Die Autoren sehen das Ergebnis als Hinweis auf einen
Zuzug von Menschen mit höherem genetischen Risiko für Schizophrenie in
dichter bevölkerte Gebiete. Aus unserer
Sicht könnten sich in diesem Ergebnis
vor allem die ungleiche Verteilung eines Schizophrenierisikos und die sozialen Gradienten innerhalb von Städten
widerspiegeln. Menschen mit höherem
genetischen Risiko und höherer Krankheitsbelastung leben innerhalb von Städten eher in dicht besiedelten, ärmeren
Stadtteilen und eher nicht in wohlhabenden und weniger dichten Stadtgebieten.
980
Stadtleben und Suizidrisiko
Etwas anders ist das Bild, wenn es um
das Thema Suizid geht. Da Suizide überwiegend Folge psychischer Erkrankungen und hier vor allem von Depressionen sind, könnte man annehmen, dass
mit der Häufung von depressiven Erkrankungen in der Stadt auch Suizide häufiger
vorkommen. Hier zeigt sich jedoch ein
etwas anderes Bild. Die meisten Studien zeigen weltweit eine höhere Suizidrate bei der ländlichen Bevölkerung [9].
Eine Auswertung von Suizidraten zwischen 1999 und 2015 in verschiedenen
Regionen der USA zeigt höhere Suizidraten je ländlicher eine Region ist [9]. Die
Autoren finden zudem, dass dieser Unterschied in Suizidraten zwischen ländlichen und urbanen Regionen seit 2007
zunimmt und führen dies auf die Finanzkrise zurück, die ländliche Regionen der
USA besonders hart getroffen hat. Erwähnenswert ist übrigens, dass die Autoren unabhängig vom Urbanisierungsgrad im Untersuchungszeitraum insgesamt steigende Suizidraten finden, während die Suizidraten in Deutschland in
dieser Zeit rückläufig waren [9]. Die höhere Rate an Suiziden in ländlichen Regionen stellt sich bereits im Jugendalter
dar. Eine amerikanische Studie [10], die
die Suizidraten von 10- bis 24-Jährigen
in ländlichen und städtischen Regionen
der USA zwischen 1996 und 2010 vergleicht, demonstriert den enormen Unterschied zwischen Suizidhäufigkeiten in
ländlichen und städtischen Regionen. So
ist in den USA die Suizidrate unter Jugendlichen und Adoleszenten auf dem
Land doppelt so hoch wie in der Stadt.
Unter den männlichen Jugendlichen gibt
es in den ländlichsten Regionen nahezu
20 Suizide pro 100.000 Jugendliche gegenüber 10 Suiziden in den städtischsten
Regionen. Bei weiblichen Jugendlichen
sind die Zahlen insgesamt deutlich geringer, doch das Stadt-Land-Verhältnis ist
ähnlich: 4,4 Suizide (pro100.000 Einwohner) in ländlichsten Regionen stehen 2,4
Suiziden in den städtischsten gegenüber.
Die Autoren berichten auch einen über
die Zeit zunehmenden Stadt-Land-Unterschied bei männlichen Jugendlichen.
Bei weiblichen Jugendlichen hingegen ist
eine Zunahme der Suizidraten insgesamt
Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 8 · 2020
zu beobachten, während sie bei männlichen Jugendlichen, v. a. in der Stadt,
leicht rückläufig war. Eine Zunahme des
Stadt-Land-Unterschiedes in den Suizidraten aller Altersstufen wurde bereits in
einer Vorgängerstudie gezeigt, die den
Zeitraum zwischen 1970 bis 1997 in den
USA untersuchte [11]. Auch wenn für
Deutschland die Daten nicht ohne Weiteres übertragbar sind, lassen sich auch
in Deutschland in ländlichen Regionen
höhere Suizidraten nachweisen als in der
Stadt [12, 13].
Im Vergleich zum höheren psychischen Erkrankungsrisiko in der Stadt
zeigt sich also bei Suiziden ein inverses
Bild. Hierfür sind in erster Linie drei Ursachen anzunehmen: erstens, die meist
deutlich schwierigere psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung auf dem
Land, einschließlich der zum Teil exzessiv
längeren Wartezeiten auf fachärztliche
Termine und Psychotherapieplätze. Die
Ungleichverteilung der Versorgung trifft
grundsätzlich auf alle globalen Regionen
zu. Zweitens, die höhere Stigmabarriere
in ländlichen Gebieten, sich in einer
psychosozial angespannten Situation,
einer Konfliktsituation oder mit einer
psychischen Erkrankung jemandem anderen gegenüber zu öffnen und Hilfe
zu organisieren. Schließlich drittens, der
leichtere Zugang zu potenziell tödlichen
Werkzeugen auf dem Land. Dazu gehören in den ländlichen Regionen der
USA vor allem Schusswaffen. Durch
Erschießen kamen Jugendliche auf dem
Land im Durchschnitt dreimal so häufig
um wie in der Stadt [10]. Bekannt ist,
dass je unkomplizierter der Zugang zu
Schusswaffen in einem US-Bundesstaat
geregelt ist, die Suizidrate durch Erschießen steigt [14]. Weltweit gesehen
ist laut Weltgesundheitsorganisation bei
ländlichen Suiziden die Vergiftung durch
Pestizide die häufigste Todesursache, zu
denen auf dem Land ebenfalls leichterer
Zugang besteht. Für Deutschland liegen
solche Daten nicht vor.
Urbanisierung als globale
Herausforderung
Angesichts der weltweit voranschreitenden Urbanisierung und wachsender
Städte kommt dem höheren psychischen
Zusammenfassung · Abstract
Erkrankungsrisiko von Stadtbewohnern
eine hohe Public-Health-Relevanz zu.
Urbanisierung gehört zu den wesentlichen globalen Veränderungen des 20.
und 21. Jahrhunderts mit mutmaßlich
weitreichenden Folgen für Lebensqualität und psychische Gesundheit. Die
Verteilung von Stadt- und Landbevölkerung hat sich innerhalb der vergangenen
70 Jahre enorm verändert. 1950 lebte
nicht einmal ein Drittel der Weltbevölkerung in der Stadt (29,6 %). Heute
sind es bereits etwa 55 %. Im Jahr 2050
werden laut Projektion der Vereinten
Nationen zwei Drittel der Menschen in
Städten wohnen [15]. Knapp die Hälfte der Weltbevölkerung lebte 2015 in
Städten mit weniger als 500.000 Einwohnern, 10 % in Städten mit 500.000
bis 1 Mio. Einwohnern, 20 % in Städten
mit 1–5 Mio. Einwohnern und weitere
20 % in einer der 73 Städte mit mehr
als 5 Mio. Einwohnern. In Deutschland
leben heute bereits 77 % der Bevölkerung
im städtischen Umfeld. 2050 werden 84 %
der Deutschen Stadtbewohner sein, was
ungefähr mit den Zahlen anderer einkommensstarker Länder vergleichbar ist
([16, 17]; . Abb. 1).
Dabei geht in Ländern mit mittleren
und niedrigen Einkommen die Verstädterung erheblich schneller vonstatten als
in einkommensstarken Ländern. Während Länder des globalen Südens in erster
Linie ein gewaltiges quantitatives Wachstum der städtischen Bevölkerungszahlen
zeigen, sehen wir in Deutschland viel eher
eine qualitative Urbanisierung, die sich
unter anderem in der stärkeren Besiedlung der Speckgürtel von Großstädten,
der Entvölkerung schwächerer Regionen
und der Suburbanisierung von Ballungsräumen zeigt [18]. Insgesamt stellt die
globale Verstädterung alle Regionen der
Welt vor enorme soziale, administrative
und nicht zuletzt auch gesundheitspolitische Herausforderungen.
Stadtleben und Stress
Dass das Leben in der Stadt, zumal in
der Großstadt, mit höherem Stresserleben einhergeht, bedarf in der Regel keiner
langen Erklärungen. Die Betriebsamkeit
und Reizdichte, aber auch Anonymität
in den wachsenden Großstädten wurden
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M. Adli · J. Schöndorf
Macht uns die Stadt krank? Wirkung von Stadtstress auf
Emotionen, Verhalten und psychische Gesundheit
Zusammenfassung
Stadtleben geht mit einem erhöhten Risiko
für eine Reihe an psychischen Erkrankungen
einher. Dabei scheint ein stressabhängiger
Entstehungsmechanismus eine wesentliche
Rolle zu spielen. Bisherige Daten deuten auch
auf eine höhere Responsivität des Gehirns
von Stadtbewohnern auf sozialen Stress hin.
Gleichzeitig leben Stadtbewohner unter
durchschnittlich günstigeren Bedingungen
mit leichterem Zugang zu Bildung, persönlicher Entfaltung, Gesundheitsversorgung und
kultureller Vielfalt. Es ist davon auszugehen,
dass eine höhere chronische soziale Stressexposition in der Stadt gemeinsam mit anderen
Risikofaktoren (soziale, psychologische oder
genetische) zum pathogenen Faktor werden
kann, vor allem wenn der Zugang zu den
resilienzfördernden Ressourcen der Stadt
erschwert ist. Welche sozialen Gruppen
besonders gefährdet sind und welche
stadtplanerischen und stadtpolitischen
Maßnahmen sozialem Stress entgegenwirken
und sich als gesundheitsprotektiv auswirken,
bleibt zu erforschen. Hierzu appellieren wir
zu einem interdisziplinären Forschungsansatz, der Stadtforschung, Medizin und
Neurowissenschaften miteinander verbindet
und transdisziplinär den Wissensaustausch
mit Politik, Zivilgesellschaft und Bürgern
praktiziert. Angesichts einer weltweit
rasant voranschreitenden Urbanisierung
besteht hier dringender Forschungs- und
Handlungsbedarf.
Schlüsselwörter
Neurourbanistik · Sozialer Stress · Depression ·
Urban-Mental-Health-Strategie · Resilienz
Does the city make us ill? The effect of urban stress on emotions,
behavior, and mental health
Abstract
Urban life correlates with a higher risk for
several mental diseases. A stress-dependent
pathomechanism is considered to play
a crucial role. Likewise, current data indicate
a higher responsivity of the brain to social
stress in urban residents. At the same time,
city dwellers live under more advantageous
conditions, encountering better access to
education, personal evolvement, healthcare,
and cultural diversity. It can be assumed
that a higher exposition to chronic social
stress in urban areas – in combination with
other risk factors (social, psychological, or
genetic) – can turn into a pathogenic factor,
particularly in the case of impeded access to
resilience-promoting resources of the city. It
schon früh in der Stadtsoziologie sowie
in frühen nervenheilkundlichen Schriften des 20. Jahrhunderts als Einflussfaktor auf die menschliche Psyche beschrieben [19–21]. Bisher ist jedoch nicht
ausreichend erforscht, welche Art und
welche Bedingungen von Stadtstress die
psychische Gesundheit besonders beeinflussen. Die bisherige Studienlage weist
dabei auf die besondere Rolle von so-
urgently remains to be explained which social
groups are at increased risk and which urban
planning and political measures to counteract
social stress prove to be health protective.
Therefore, we call for an interdisciplinary
research approach, which incorporates urban
research, medicine, and neuroscience and
encourages a transdisciplinary knowledge
exchange with politics, civil society, and
citizens. With regard to the rapid pace of
urbanization worldwide, further research and
action is urgently required.
Keywords
Neurourbanism · Social stress · Depression ·
Urban mental health strategy · Resilience
zialem Stress als pathogenen Faktor hin.
Dabei ist noch ungeklärt, unter welchen
Bedingungen urbane Stressoren zu gesundheitsrelevantem Stress werden und
wann sie vielmehr zur sozialen Entwicklung des Individuums beitragen.
Stress ist eine grundsätzlich normale physische und psychische Reaktion
auf eine Anforderung oder Belastung,
die man vor sich hat. Sie bewirkt die
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Prozent der Gesamtweltbevölkerung
Leitthema
70
60
50
40
30
20
10
0
1950
1970
1990
2010
2030
2050
Jahr
Abb. 1 8 Entwicklung der Weltbevölkerung in urbanen und ländlichen Räumen bis 2050. (Nach Kennedy und Adolphs [15])
+
Soziale IsolaƟon
=
SOZIALER STRESS
Soziale Dichte
+ gering ausgeprägte Environmental Mastery
Abb. 2 8 Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation als Unterformen von stadttypischem, sozialem Stress. Die Stresserfahrung steigt mit gering ausgeprägter Environmental Mastery
(Umweltwirksamkeitserleben)
Mobilisierung von körperlichen und
psychischen Ressourcen zur Bewältigung einer Situation und ist damit eine
wichtige Voraussetzung dafür, einer ungewohnten oder bedrohlichen Situation
adäquat begegnen zu können. Variablen
wie Stärke, Dauer, Kontrollierbarkeit und
Vorhersagbarkeit sind bekannte Moderatorvariablen, die Stress zum pathogenen
Agens werden lassen. Besonders eine
chronische und als subjektiv unbeeinflussbar erlebte Exposition an sozialem
Stress scheint eine psychische Gesundheitsbelastung auszumachen und erklärt
möglicherweise auch die höhere Präva-
982
lenz von psychischen Erkrankungen in
der Stadt [22]. Dabei ist Stress im städtischen Kontext nicht grundsätzlich gesundheitsschädlich, sondern kann auch
zum positiven psychologischen Faktor
werden. Der amerikanische Stadtsoziologe Richard Sennett beschreibt, wie die
Komplexität der Stadt auch zu stimulierendem Stress werden kann, der es
Kindern und Jugendlichen eher erleichtert, zu sozial kompetenten Individuen
heranzuwachsen [23].
Sozialer Stress ist Stress, der aus der
Beziehung zwischen Individuum und sozialer Umwelt entsteht. Er zählt zu den
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wirkstärksten Stressoren beim Menschen
[24], weswegen er auch experimentalpsychologisch häufig in der Stressforschung
eingesetzt wird, [25, 26]. Hierzu wird,
wie etwa beim Trierer Sozialen Stresstest
(TSST), eine Aufgabe verwendet, bei der
eine sozial bedrohliche Situation simuliert wird und dabei subjektive und objektive Stressmaße erfasst werden. Nach
der Auffassung der Autoren ergibt sich
sozialer Stress im Kontext von Stadtleben
vor allem aus der Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte (im Sinne von Enge) und
sozialer Isolation (zum Beispiel durch
Einsamkeit oder soziale Ausschlusserfahrungen; . Abb. 2). Sozialer Dichtestress und sozialer Isolationsstress können
dabei als Subformen von sozialem Stress
angesehen werden. Wirken beide gleichzeitig und chronisch – also ohne Aussicht auf Entlastung – auf ein Individuum ein, kann es zu relevanten Folgen für die psychische Gesundheit kommen. Eine besondere Moderatorvariable
ist dabei ein gering ausgeprägtes Umweltwirksamkeitserleben (Environmental Mastery; [27]). Darunter versteht man
das Gefühl, die Umwelt den eigenen Bedürfnissen entsprechend beeinflussen zu
können und folglich belastenden Erfahrungen nicht ausgeliefert zu sein. Häufig
geht sozialer Stress einher mit der Angst
vor Statusverlust und existenzieller Bedrohung.
Sozialer Stress ist aus Experimenten
mit Menschen und Tieren als starker pathogener Einflussfaktor bekannt. Sozialer Dichtestress führt zu Verhaltensänderungen, Reizbarkeit, höherer Krankheitsrate und vorzeitiger Mortalität bei
vielen Spezies [28, 29]. Soziale Isolation ist einer der wirkstärksten negativen
Gesundheitsprädiktoren. Eine Metaanalyse von Julianne Holt-Lunstad und Kollegen an über 300.000 Individuen zeigte, dass soziale Isolation mehr vorzeitige Mortalität erklärt als Übergewicht,
Alkoholmissbrauch oder mäßiges Rauchen [30]. Dieselbe Autorengruppe zeigte
in einer weiteren, umfassenderen Metaanalyse mit über 3,4 Mio. Individuen aus
70 Studien, dass die Mortalität bei subjektiver Einsamkeit um 26 % stieg, bei
objektivierbarer Isolation um 29 % und
bei Alleinlebenden sogar um 32 % [31].
Das Ergebnis war dabei unabhängig vom
sozialen Status und vom Alter sowie weiteren sozialen Faktoren, die eine Rolle
spielen könnten.
Eine Studie von Lederbogen et al. [32]
aus dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim hat wegweisende
Einsichten zum Einfluss von städtischem
Lebensraum und der Responsivität des
Gehirns auf sozialen Stress erbracht. Die
Autoren untersuchten gesunde Probanden, die auf dem Land, in Kleinstädten
oder Großstädten lebten. Während sich
die Probanden einem sozialen Stresstest
unterzogen, wurden mittels funktioneller Magnetresonanztomographie Hirnregionen untersucht, die für die stressabhängige Emotionsverarbeitung relevant
sind. Die Aktivität der Amygdala, einer
Region, die vor allem Bedrohungsreize
verarbeitet, war umso größer, je größer
die Stadt war, in der die Versuchsperson
gegenwärtig lebte. Die Aktivität im perigenualen anterioren zingulären Kortex
(pACC) war hingegen davon abhängig,
wie lange die Versuchsperson in einer
Großstadt aufgewachsen war. Urbanes
Aufwachsen korrelierte außerdem mit
der Stärke der Verbindung zwischen den
beiden Arealen.
Dieselbe Arbeitsgruppe zeigte 2015
einen Zusammenhang zwischen städtischem Aufwachsen und strukturellen
Merkmalen in zwei stressverarbeitenden
Hirnarealen: Der dorsolaterale präfrontale Kortex (DLPFC) sowie – bei männlichen Probanden – der pACC zeigten
bei in der Stadt aufgewachsenen gesunden Probanden kleinere Volumina.
Die Volumenminderung korrelierte dabei mit der Anzahl der Jahre, die ein
Proband in der Stadt aufgewachsen war
[33]. Der DLPFC ist in der Literatur
als besonders stresssensitives Hirnareal
sowohl tierexperimentell [34] als auch
beim Menschen (vor allem durch frühkindliche Stressbelastung) beschrieben
[35]. Diese Befunde weisen darauf hin,
dass Stadtbewohner im Durchschnitt
zumindest sensibler auf sozialen Stress
reagieren und diese Sensibilität in einer Dosis-Wirkungs-Beziehung mit der
Stadtgröße steht.
Dabei bedeuten diese Befunde nicht,
dass Stadtleben das Gehirn „schädigt“.
Vielmehr scheint es so, dass städtisches
Aufwachsen und Stadtleben zu einer
erhöhten Stressempfindlichkeit des Gehirns führen können und dies dann
zusammen mit anderen Risikofaktoren für psychische Erkrankungen – wie
zum Beispiel genetischen, sozialen oder
persönlichkeitsbedingten Faktoren – interagiert und erst in der Summe ein
erhöhtes Krankheitsrisiko bedeutet.
Eine Studie von Rapp und Kollegen
[36] zeigte diesen Summeneffekt besonders gut. Die Autoren berichteten, dass
bei türkeistämmigen Bewohnern zweier
Berliner Innenstadtbezirke (Wedding,
Moabit) die Armut in der Nachbarschaft mit erhöhter psychischer Gesundheitsbelastung einhergeht. Besonders
interessant sind dabei zwei Aspekte:
Ein solcher Zusammenhang zeigt sich
zur eigenen wirtschaftlichen Situation
nicht. Und: Die Korrelation zwischen
Nachbarschaftsarmut und psychischer
Belastung ist sehr viel deutlicher bei den
türkeistämmigen Bewohnern zu finden.
Man kann vermuten, dass die erlebte
Armut in der Nachbarschaft zu sozialer
Abstiegsangst führt, die als schlecht kontrollierbarer sozialer Stressor erlebt und
damit gesundheitsrelevant wird. Während die deutschstämmigen Nachbarn
durch den einfacheren Zugang zu den
gesundheitsprotektiven Ressourcen der
Stadt einen solchen Stressor wahrscheinlich besser kompensieren können, ist die
türkeistämmige Minderheit im Zugang
zu diesen Ressourcen durchschnittlich
benachteiligt und hat gleichzeitig ein
größeres Risiko für soziale Ausschlusserfahrungen.
Forschungsbedarf
Gehen wir davon aus, dass die Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation als soziale Stressoren zur
wichtigsten gesundheitsrelevanten psychischen Belastung in der Stadt wird,
so ergeben sich daraus Konsequenzen
für Gesundheitsforschung und Stadtplanung sowie für Präventionsansätze in der
öffentlichen Gesundheitsvorsorge. Dringend zu fordern ist eine auf das psychische Wohlbefinden von Stadtbewohnern
ausgerichtete Forschung, die den Einfluss
von Stadtleben auf Emotionen, Verhalten und psychische Gesundheit untersucht. Insbesondere brauchen wir bessere
Kenntnisse dazu, unter welchen Bedingungen urbanes Leben soziales Stresserleben verstärkt, welche Stadtbewohner in
besonderem Maße davon betroffen sind
sowie ein valides Maß für den Zugang
zu den gesundheitsprotektiven und resilienzfördernden Ressourcen der Stadt,
zum sogenannten Urban Advantage.
Es ist anzunehmen, dass soziale Gruppen mit erhöhtem Risiko für soziale
Isolation zu den Risikogruppen für erhöhte soziale Stressexposition zählen.
Hierzu gehören Menschen mit Migrationsgeschichte. Eine Metaanalyse von
Cantor-Graae und Selten, die Studien
aus dem Zeitraum zwischen 1977 und
2003 auswertete, bestätigt diese Annahme. Sie zeigte bei Migranten der ersten
Generation ein 2,7-fach erhöhtes Schizophrenierisiko, bei Zuwanderern der
zweiten Generation ein sogar 4,5-fach
erhöhtes Erkrankungsrisiko [37]. Dabei
traf das höchste Risiko Menschen mit
dunkler Hautfarbe, die aus ärmeren Ländern stammten und damit in sichtbarer
Weise Angehörige einer Minderheit waren. Zudem konnte gezeigt werden, dass
Angehörige ethnischer Minderheiten
vor allem dann ein größeres Risiko für
psychotische Symptome haben, wenn sie
in einer städtischen Umgebung mit geringer ethnischer Diversität und mit nur
wenig anderen Angehörigen der eigenen
Minderheitengruppe leben. Damit steigt
vermutlich die Erfahrung von sozialem
Ausschluss und somit sozialer Isolation
[38, 39].
Weitere mutmaßliche Risikogruppen
sind ältere Stadtbewohner, die durch
Mobilitäts- und Gesundheitseinschränkungen ihren Aktionsradius einbüßen
und allein lebende Menschen, die besonders in Großstädten zu Hause sind.
Die Zahl der Singlehaushalte ist seit
den 1990er-Jahren in Deutschland von
11,5 Mio. auf knapp 16 Mio. gestiegen.
Jeder 5. Mensch in Deutschland lebt
damit in einem Singlehaushalt. Alleinlebende machen einen relevanten Anteil
der Großstadtbewohner aus. In Städten
mit mehr als 500.000 Einwohnern wohnen 29 % der Menschen allein, während
es in Orten mit weniger als 5000 lediglich
14 % sind. Bis 2030 werden nach Einschätzung des Statistischen Bundesamtes schätzungsweise 23 % der Deutschen
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983
Leitthema
allein leben. Berlin ist mit einer Alleinwohnerrate von 31 %, die sich wiederum
auf die Hälfte der Haushalte verteilen,
Spitzenreiter unter den Bundesländern.
Entgegen der verbreiteten Annahme
sieht die Lebensrealität der urbanen Alleinlebenden in Deutschland ungünstig
aus: Sie sind überdurchschnittlich häufig
arm und auf Transferleistungen angewiesen. Rund 30 % der Alleinlebenden – und
damit doppelt so viele wie im deutschen
Durchschnitt – sind laut Statistischem
Bundesamt von Armut gefährdet [40].
Wir brauchen mehr Wissen über weitere stadttypische Stressoren und deren
Relevanz für die psychische Gesundheit.
Wir gehen derzeit davon aus, dass physikalische Stressoren besonders dann die
psychische Gesundheit beeinträchtigen,
wenn sie zu sozialen Stressoren werden.
Unsere Gruppe hat gerade eine Studie
mit dem Umweltbundesamt abgeschlossen, die den Einfluss von Feinstaub auf
die Stressresponsivitätdes Gehirns beigesunden Großstadtbewohnern untersucht
hat und deren Ergebnisse in Kürze berichtet werden. Es ist anzunehmen, dass
ein relevanter Teil der psychischen Belastung durch physikalische Umweltfaktoren sich auch über sozialen Stress vermittelt. Beispielsweise kann Lärm, wenn er
ungehindert in die eigene Wohnung eintritt, Territorialstress und damit sozialen
Stress erzeugen. Dabei ist die subjektive
Kontrollierbarkeit einer Lärmquelle für
deren psychische Belastung ausschlaggebend. Die Psychologen Glass und Singer
führten hierzu Anfang der 1970er-Jahre
ein wegweisendes Experiment durch. Sie
setzten Versuchspersonen lautem Großstadtlärm aus und beobachteten, dass sich
ihre Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistung deutlich verschlechterte. Jedoch verbesserte sich ihre Leistung, sobald die Probanden einen Knopf bekamen, mit dem sie den Lärm hätten abschalten können, selbst wenn sie den
Knopf gar nicht betätigten [41].
Auch die soziale Transformation der
Städte kann die soziale Stressexposition
erhöhen. Die Innenstädte in Deutschland
verändern sich rasant. Steigende Mieten und Grundstückspreise, Sparmaßnahmen in öffentlichen Haushalten, umkämpfte öffentliche Räume und globale Umweltveränderungen, die zu städti-
984
schen Hitzeinseln führen, setzen Stadträume und deren Bewohner unter Druck
[42]. Besonders Menschen mit einem erhöhten Risiko für sozialen Stress bekommen diese Veränderungen früh zu spüren, wenn Rückzugsräume fehlen und
sich Raumaneignung im Alltag und Zugang zu den Ressourcen der Stadt unter wachsendem ökonomischen Druck
schwieriger gestalten [43].
Es bleiben bislang viele Fragen zum
Einfluss von Stadtleben auf die psychische Gesundheit offen, die dringend der
wissenschaftlichen Bearbeitung bedürfen. Nichtsdestotrotz besteht angesichts
der Zunahme der städtischen Bevölkerung einerseits und dem erhöhten psychischen Erkrankungsrisiko für Stadtbewohner andererseits unaufschiebbarer
Handlungsbedarf. Welche Rückschlüsse
lassen sich aus den bisherigen Erkenntnissen ziehen, die bereits heute in die
Praxis umsetzbar wären?
Urban-Mental-Health-Strategie
für die Stadt der Zukunft
Gehen wir davon aus, dass die Sozialstresshypothese zum psychischen
Erkrankungsrisiko in der Stadt zutrifft
– und dafür spricht ein Großteil der
vorhandenen Daten –, folgt für die
Stadtplanung, dass die Erfahrung von
unkontrollierbarer Dichte für den Einzelnen minimal gehalten werden sollte.
Angesichts von Verdichtungsmaßnahmen in nahezu allen Großstädten ist
dies eine besondere Herausforderung.
Dabei ist nicht Dichte per se gesundheitsbelastend, denn die Kompaktheit
der Stadt und die kürzeren Alltagsdistanzen machen auch einen Teil des
urbanen Vorteils aus. Es ist vielmehr zu
vermeiden, dass die Dichtererfahrung
als unkontrollierbar wahrgenommen
wird, etwa durch dünne Wohnungswände, die den Bewohnern keine guten
Rückzugsmöglichkeiten bieten.
Weiter folgt aus der Sozialstresshypothese, dass das Risiko sozialer Isolation
reduziert werden sollte. Dies gilt in erster
Linie für Menschen, die von vornherein
einem erhöhten Isolationsrisiko ausgesetzt sind. Beispiele für Risikogruppen
wurden oben näher erläutert. Hierzu
können alters- und kultursensible Maß-
Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 8 · 2020
nahmen gehören, die die Beteiligung am
öffentlichen Leben und das Gefühl von
Zugehörigkeit zum städtischen Lebensraum stimulieren. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Verfügbarkeit
von öffentlichen Räumen (Plätze, Parks,
Wege) zu. Öffentlicher Raum stimuliert
soziale Interaktion und die Entwicklung
von sozialer Kohäsion. Voraussetzung
dabei ist, dass die Bewohner Anreiz
zur Nutzung und Aneignung eines öffentlichen Raums, etwa eines Platzes
oder einer Grünfläche, verspüren und
im Zugang zu diesen Räumen nicht beschränkt werden. Hierzu gehört auch die
fußläufige Erreichbarkeit der Alltagsinfrastruktur, wie Geschäfte, Postschalter,
Bibliotheken etc. in Wohngegenden. Als
Kriterien für die Resilienzförderung eines städtischen Ortes können bislang
folgende Voraussetzungen gelten, die
ein Ort (Platz, Nachbarschaft, Quartier
etc.) erfüllen muss: Minimierung sozialer
Stressexposition, Förderung sozialer Kohäsion und Zugehörigkeitsempfinden,
Ermöglichung von Aneignungsprozessen sowie Erhöhung des Erlebens von
Environmental Mastery [44, 45].
Urbane Grünflächen spielen nicht nur
für die körperliche, sondern auch für
die psychische Gesundheit eine besondere Rolle. Der Zusammenhang zu Merkmalen körperlicher Gesundheit ist dabei etwas besser untersucht [46]. Insgesamt sind jedoch kausale Zusammenhänge wegen des vielgestaltigen Einflusses
von Grünflächen auf das Wohlbefinden
schwer zu identifizieren [47]. So wirken
sich Grünflächen etwa positiv auf die
allgemeine und kardiovaskuläre Mortalität aus [48] und tragen zur Reduktion
von Übergewicht bei [49]. In den letzten Jahren haben sich auch Publikationen
gemehrt, die einen Zusammenhang mit
psychischer Gesundheit zeigen. Die Zugänglichkeit zu Grünflächen in Städten
wirkt sich positiv auf die psychische Gesundheit von Stadtbewohnern aus [50].
Sie haben möglicherweise einen protektiven Effekt in Bezug auf das Depressionsrisiko [51]. In einer 2019 publizierten US-amerikanischen Studie wurde gezeigt, dass der 20- bis 30-minütige Aufenthalt in einer grünen Umgebung die
Ausschüttung des Stresshormons Kortisol im Speichel reduziert [52]. Kinder, die
die Volkswagen Stiftung sowie das Umweltbundesamt. J. Schöndorf gibt an, dass kein Interessenkonflikt
besteht.
Philosophie
Medizin
Soziologie
NeurourbanisƟk
Psychologie
Stadƞorschung
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Architektur
Abb. 3 8 Neurourbanistik als interdisziplinäres Forschungsfeld
mitZugang zu einerGrünfläche aufwachsen, haben ein geringeres Risiko für psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter [53]. In der Metropolregion Baltimore (USA) schätzten Bewohner in Umfragen den sozialen Zusammenhalt ihrer
Nachbarschaft stärker ein, wenn die Straßen in ihrer Umgebung einen dichteren
Baumbestand hatten [54]. Allerdings ist
der Zugang zu Grünflächen in Städten
sehr ungleich verteilt [55].
Zusammenfassend: Urbanisierung
gehört zu den wesentlichen globalen
Veränderungen, denen die Bevölkerung
in den nächsten Jahrzehnten ausgesetzt
sein wird. Leben und Aufwachsen in der
Stadt gehen mit einem höheren psychischen Erkrankungsrisiko einher. Dabei
scheint chronischer, d. h. anhaltender,
sozialer Stress eine wesentliche pathogene Rolle zu spielen. Betroffen sind vor
allem soziale Gruppen, die per se ein
erhöhtes soziales Stressrisiko haben und
deren Zugang zu den gesundheitsprotektiven Ressourcen der Stadt gleichzeitig
eingeschränkt ist. Daher benötigen wir
eine „Mental-Health-Strategie“ für Städte, also ein Präventionskonzept, um zum
Schutz der psychischen Gesundheit der
Stadtbevölkerung beizutragen. Hierzu
haben wir in Berlin das Interdisziplinäre
Forum Neurourbanistik gegründet, das
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine
Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt.
Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort
angegebenen ethischen Richtlinien.
aus Neurowissenschaftlern, Psychiatern,
Psychologen, Architekten, Stadtplanern,
Soziologen, Geografen und Philosophen
besteht und sich gemeinsam einer neuen
Disziplin – der „Neurourbanistik“ – widmet (. Abb. 3). 2019 hat das Forum die
„Charta der Neurourbanistik“ (www.
neurourbanistik.de) veröffentlicht, in
der Forschungsschwerpunkte und erste
Handlungsempfehlungen für gesündere
Städte zusammengefasst werden.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Mazda Adli
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Campus Charité Mitte, Charité – Universitätsmedizin
Berlin
Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Deutschland
mazda.adli@charite.de
Danksagung. Die Autoren danken Jule Klockgeter für die hervorragende Unterstützung bei der
Manuskripterstellung.
Funding. Open Access funding provided by Projekt
DEAL.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. M. Adli erhielt Forschungsförderung für das vorliegende Thema durch die AlfredHerrhausen Gesellschaft, die Senatsverwaltung für
Kultur und Europa Berlin, die Berlin University Alliance,
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der
Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/
licenses/by/4.0/deed.de.
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