Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und
Medizinischen Soziologie
3.2.2. Krankenrolle - Patientenrolle
Christopher Kofahl 1
1
Department of Medical Sociology, University Medical Center Hamburg-Eppendorf, Hamburg,
Germany
Wann ist ein Mensch gesund? Wann ist ein Mensch krank? Der weitverbreiteten Definition der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1946 zufolge ist ein Mensch dann gesund, wenn er sich in
einem Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens befindet und nicht allein
Krankheit und Gebrechen fehlen [1].
Wäre demnach jemand krank, der gerade seinen Arbeitsplatz verloren hat oder der gerade massiven
Streit mit seinen Nachbarn hat? Und wäre jemand gesund, der zwar Diabetes mellitus hat, sich aber in
jeglicher Hinsicht rundum wohl fühlt? Die meisten würden hier wohl skeptisch sein, und tatsächlich ging
es der WHO vor 70 Jahren auch nicht um eine simplifizierende Abgrenzung von Krankheit und
Gesundheit, frei nach dem Motto: Unwohlsein=Krankheit, Wohlbefinden=Gesundheit. Vielmehr sollte mit
dieser Definition die Ganzheitlichkeit des Menschen im Kontext seiner Lebensumstände in den Fokus
genommen werden. Gleichzeitig sollte aber auch deutlich werden, dass Gesundheit ein aktiver Prozess
ist, Gesundheit also entwickelt und aufrechterhalten werden muss (s. Kapitel 5.1.).
Menschen nehmen sich selbst und somit auch ihre Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen
unterschiedlich wahr, bewerten diese unterschiedlich und ziehen daraus unterschiedliche
Schlussfolgerungen (s. Kapitel 2.3. und Kapitel 3.2.1.). So, wie sich Krankheit und Gesundheit auf einem
Kontinuum bewegen, befinden sich auch Gesundheits- und Krankheitsempfindungen und deren
Bewertungen auf einem Kontinuum.
Zur Krankenrolle gehört demzufolge auch, sich eine Erkrankung oder ein gesundheitliches Problem
zuzugestehen. Dies ist keineswegs selbstverständlich. Es gibt Menschen, die selbst mit einem heftig
geschwollenen, schmerzenden Handgelenk nach einem Sturz vom Skateboard keinen Arzt aufsuchen
würden. Andere wiederum finden sich am Wochenende nach einem Mückenstich in der Notaufnahme
des nächstgelegenen Krankenhauses ein. Menschen, die medizinische Hilfe gar nicht oder nur im
äußersten Notfall aufsuchen, wie auch Menschen, die wegen jeder scheinbar „kleinen Lappalie“ die
Wartezimmer bevölkern, können für die ärztliche Beratung und die Arzt-Patient-Beziehung eine
Herausforderung darstellen (s. Kapitel 4.).
! Sich krank zu fühlen und eine Krankheit zu haben, ist nicht dasselbe!
Für das Medizinwesen sind Gesundheitsdefinitionen wie die der WHO zu weit und zu allgemein gefasst,
es benötigt besser operationalisierbare Kriterien. Es ist zu regeln, was Ärzte, Pflegedienste und
Therapeuten in welchem Umfang tun dürfen oder müssen und welche Leistungen von den
Krankenversicherungen zu bezahlen sind. In der Gesetzlichen Krankenversicherung wird deshalb nicht
Gesundheit, sondern Krankheit definiert. Derzufolge muss ein „objektiv faßbarer regelwidriger Zustand
des Körpers oder des Geistes oder beider zugleich vorliegen, der von der Norm abweicht und der durch
eine Heilbehandlung behoben, gelindert oder zumindest vor einer drohenden Verschlimmerung bewahrt
werden kann“ [2]. Daraus ergeben sich auch die Kranken- und Patientenrolle.
Der für Deutschland gültige Katalog, in dem Krankheiten operationalisiert sind, ist die International
Classification of Diseases der WHO, zurzeit in der Version 10 ( ICD-10). Die ICD-11 wurde am
18.06.2018 von der WHO in Genf vorgestellt und soll voraussichtlich 2022 zum Einsatz kommen. Für die
Kodierung von Diagnosen im ambulanten und stationären Bereich wird die ICD-10-GM angewendet,
wobei GM für „German Modification“ steht. In der Versicherungslogik wird der Krankheitsbegriff
demzufolge auch aus ökonomischen Gründen eingeengt auf Behandlungsnotwendigkeit und
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit (fehlendes Wohlbefinden alleine reicht also nicht).
Vor diesem Hintergrund stellt sich aus der Perspektive des Medizinsystems also weniger die Frage, wann
ein Mensch krank ist, sondern wann und wie ein Mensch zu einem Patienten wird. Über die Diagnose
wird der betroffenen Person ihre Krankenrolle – hier: ihre Patientenrolle – zugewiesen, d.h. die
10.5680/olmps000063
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entsprechende Person wird etikettiert – oder neudeutsch: gelabelt. Auch wenn in diesem Kapitel die
Begriffe „Krankenrolle“ und „Patientenrolle“ weitgehend synonym verwendet werden: ein Kranker ist
eben nicht ganz dasselbe wie ein Patient!
Wir können uns alle nach verschiedenen, häufig subjektiven Kriterien als krank bezeichnen. Oder andere
Menschen bezeichnen uns als krank, vielleicht sogar dann, wenn wir uns selbst gar nicht so fühlen. (So
etwas kommt z.B. bei psychischen Störungen oder Suchterkrankungen vor.) Ein Patient ist ein Kranker
mit Diagnose, ein „offizieller“ Kranker, wenn man so will. Ein Kranker bewegt sich je nach Befindlichkeit
auf einem stufenlosen Kontinuum zwischen „ein bisschen krank“ und „sterbenskrank“, ein Patient ist in
diesem Sinne dichotom: entweder hat er die entsprechende Diagnose, oder er hat sie nicht.
Wie auch bei anderen sozialen Rollen sind mit der Krankenrolle verschiedene Erwartungen verknüpft,
insbesondere an die Eigenverantwortung und das Selbstmanagement (s.u.) der betroffenen Person.
So wird von einem Kranken bereits im Frühstadium einer Erkrankung erwartet, zu einem Arzt zu gehen.
Dort wird er dann zum Patienten. Die Patientenrolle ist für den Kranken nicht unbedeutend, da sie mit
möglichen, rechtlich verankerten Entlastungen verbunden ist wie z.B. Unterbrechung der beruflichen
Tätigkeit, Lohnfortzahlung, ggf. pflegerische Unterstützung bei den Aktivitäten des täglichen Lebens
(Waschen, Toilettengang etc.).
Die Kranken-/Patientenrolle verbindet als gesellschaftliche Norm die Bezugssysteme der Medizin (die
Behandelnden) mit den Bezugssystemen der Person (in diesem Fall dem Leidenden = Patient) und in
den erweiterten Konsequenzen mit dem Bezugssystem Gesellschaft.
„Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der
Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das
umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der
Versicherten. Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine
gesundheitsbewußte Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen
Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation
dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu
überwinden. Die Krankenkassen haben den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und
Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken.“ (§ 1 Sozialgesetzbuch V,
[3])
Im Falle einer Erkrankung treffen also zwei Rollen aufeinander, die Arztrolle (s. Kapitel 3.3.2.) und die
Patientenrolle. Beide sind untrennbar miteinander verknüpft – die eine gäbe es ohne die andere nicht. Die
Steuerungsmacht und die Legitimationsmacht liegen dabei auf ärztlicher Seite. Neben der originären
medizinischen Behandlung gehört hier zur Aufgabe ärztlichen Handelns auch die soziale Kontrolle. Der
Patient braucht, um „krank sein zu dürfen“, die ärztliche Legitimierung (z.B. in Form einer
Krankschreibung). Diese hilft ihm, sich möglichen Vorwürfen aus enttäuschten Erwartungen anderer
bezüglich seiner weiteren Rollenverpflichtungen zu erwehren. Aber auch dem Kranken selbst kann dies
ganz persönlich helfen, einen Interrollenkonflikt (s. Kapitel 2.5.2.5.) zu bewältigen: „Ich bin krank und
muss zu Hause bleiben, um mich zu erholen“ versus „Ich bin zuverlässig und muss zu meiner Arbeit, um
die Dinge zu schaffen, die ich mir und anderen versprochen habe“. Es kann nicht deutlich genug betont
werden, dass Ärzte hier eine hohe gesellschaftliche Verantwortung haben, die in ihrer Gesamtheit auch
volkswirtschaftlich relevant ist.
Die meisten Arbeitgeber verlangen von ihren Arbeitnehmern im Krankheitsfall die Vorlage einer ärztlichen
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, im Alltagssprachgebrauch auch „ gelber Schein“ genannt. Der
Arbeitnehmer selbst ist verpflichtet, seinem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit (AU) unverzüglich
mitzuteilen (formlos, z.B. telefonisch, per E-Mail etc.) und bei längerer Erkrankung mit der AUBescheinigung spätestens nach dem dritten Tag nachzuweisen. Die AU-Bescheinigung dient gleichzeitig
als Nachweis für die Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber und für das bei mehr als sechswöchiger
Erkrankung eintretende Krankengeld durch die Krankenkasse (i.d.R. 70% des Bruttolohns). Für
Freiberufler und Selbstständige gelten natürlich andere Regeln, und sie müssen sich entsprechend privat
und ggf. zusätzlich versichern.
Übrigens: Es gibt (mit Ausnahme von einzelnen Verträgen mit Privatkrankenkassen) im deutschen
Sozialrecht keine Teilkrankschreibung. D.h., es bleibt letztlich den Patienten überlassen, ob sie
„hundertprozentig“ krank sind und sich aus all ihren Verpflichtungen zurückziehen oder ob sie nach
dem Schlüsselbeinbruch im Ski-Urlaub trotzdem ihr Büro aufsuchen. Krankschreibungen sind kein
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Arbeitsverbot, und so kann ein Patient natürlich auch vor Ablauf der Krankschreibungsfrist wieder
seinen Arbeitsplatz aufsuchen, wenn er sich dazu in der Lage fühlt. Der Bruch des kleinen Fingers
der linken Hand hat für den professionellen Geiger andere Konsequenzen als für den MedizinSoziologen oder eine Studentin!
Der Arbeitgeber erfährt im Übrigen nur, dass der Mitarbeiter aus Krankheitsgründen arbeitsunfähig ist,
jedoch nicht, welche Erkrankung der Arbeitnehmer hat. Ausnahmen bestehen nur dann, wenn mit der
Erkrankung besondere Gefahren für den Arbeitnehmer oder andere Personen in der Ausübung der
beruflichen Tätigkeit verbunden sind. So müssen beispielsweise Piloten, Zugführer oder Ärztinnen und
Ärzte ihren Arbeitgeber informieren, wenn sie an einer Erkrankung leiden, die für sie und andere ein
Risiko darstellt. Wie schwierig und problematisch sich dies in der Praxis darstellen kann, zeigt auf
tragische Weise der Suizid des Germanwings-Piloten am 24. März 2015, der einen Airbus 320 mit 150
Insassen in Frankreich an einem Berg zerschellen ließ. Es folgte eine kontroverse öffentliche Diskussion,
ob und wie dies hätte verhindert werden können.
Die Kranken- oder Patientenrolle beinhalten mehr als rein moralische Verpflichtungen. Diese können
sogar strafrechtlich relevant werden. So macht sich beispielsweise ein Chirurg mit Hepatitis B – je nach
Verlauf und Sachlage – der schweren Körperverletzung oder versuchten Körperverletzung strafbar, wenn
er trotzdem operiert. In gleicher Weise gilt dies auch für einen Menschen mit HIV-Infektion, der bei
ungeschütztem Geschlechtsverkehr seine HIV-Infektion verschweigt und die Übertragung auf seinen
Sexualpartner in Kauf nimmt. Ärztinnen und Ärzte sowie medizinisches Personal können sich – im
Gegensatz zu einer Person mit HIV – nicht einmal darauf berufen, von ihrer Infektion nichts gewusst zu
haben. Sie hätten die obligatorischen Kontrolluntersuchungen und mögliche Impfungen in Anspruch
nehmen müssen.
Bestimmte Erkrankungen oder Verletzungen können zu einer Berufsunfähigkeit führen, welche nicht mit
Erwerbsunfähigkeit zu verwechseln ist. So könnte ein Neurochirurg, der nach einem Unfall eine Hand
verloren hat, zwar nicht mehr als Operateur arbeiten, ggf. aber als Neurowissenschaftler oder als nichtoperierender Nervenarzt. In diesem Falle bliebe er sogar in seinem Beruf „Arzt“. Ein Pianist, den selbiges
Schicksal ereilt, würde wohl seinen Beruf „Pianist“ aufgeben müssen, könnte dann alternativ vielleicht
Musiklehrer werden.
3.2.2.1. Kennzeichen der Krankenrolle
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird die Krankenrolle sozialwissenschaftlich untersucht und beschrieben.
In fast allen medizinsoziologischen Lehrbüchern findet man in ähnlicher Form die bereits 1902 (!)
entwickelte Systematik des amerikanischen Soziologen Talcot Parsons [4]:
Der Kranke ist verpflichtet, gesund werden zu wollen. (Eigenverantwortung; s. als Rechtsnorm für
Deutschland § 1 SGB V)
Der Kranke ist verpflichtet, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. (Rechtfertigung und
Legitimation)
Der Kranke wird für seine Situation nicht verantwortlich gemacht. (Schutz, Entlastung)
Der Kranke wird von seinen regulären Rollenverpflichtungen (Arbeit, Haushaltsführung etc.)
befreit. (Entlastung; Krankschreibung = Legitimation)
Für die heutige Zeit würde man diese Beschreibungen zwar als nach wie vor zutreffend, aber nicht mehr
unbedingt hinreichend betrachten, denn sie beschreiben den Patienten als eher passiv und sich
unterordnend, gehen also von einem paternalistischen Modell der Arzt-Patient-Beziehung aus (s. Kapitel
4.). Des Weiteren implizieren sie eher akute und vorübergehende Erkrankungen als dauerhafte
gesundheitliche Beeinträchtigungen.
Angesichts der deutlichen Verschiebung des Krankheitsspektrums in Richtung chronische
Erkrankungen werden inzwischen weitere Erwartungen an die Krankenrolle gestellt. Mehr als jeder dritte
in Deutschland lebende Mensch hat mindestens eine chronische Erkrankung, die Senioren ab 65 Jahren
im Durchschnitt sogar mindestens drei. Viele dieser Erkrankungen können Behinderungen nach sich
ziehen, z.B. Blindheit als Folge von Diabetes, künstlicher Darmausgang nach einer Darmkrebsoperation,
Gehunfähigkeit in Folge von Multipler Sklerose. Umgekehrt können Behinderungen wiederum das Risiko
für
spezifische
Erkrankungen
erhöhen,
z.B.
Lungenentzündung
oder
Dekubitus
bei
Querschnittgelähmten.
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„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter
typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt
ist.“ (§ 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch IX, [5])
Eine Erkrankung oder Behinderung allein sind keine hinreichenden Gründe für einen dauerhaften
Ausstieg aus der beruflichen Tätigkeit. Die Auflagen für die Anerkennung einer krankheitsbedingten
Erwerbsminderungsrente sind streng. Aber abgesehen davon, dass die meisten Menschen auch mit
ihrer Erkrankung weiter arbeiten wollen, sind zunächst die Möglichkeiten der Rehabilitation und ggf. der
beruflichen Wiedereingliederung auszuschöpfen. Von den Patienten wird erwartet, hierbei mitzuwirken
und die ihnen verbliebene Arbeitsfähigkeit zu nutzen. Das beinhaltet auch, gewisse Zumutungen und
Einschränkungen zu akzeptieren.
Die Bereitschaft, sich in die Krankenrolle zu fügen, hängt auch von sozialen Faktoren ab. So kann z.B.
insbesondere in Zeiten höherer Arbeitslosigkeit oder bei Umstrukturierungsprozessen in Betrieben die
Sorge, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, Menschen zu ihrer Arbeit treiben, obwohl es ihnen gesundheitlich
nicht gut geht. Sie dissimulieren bzw. bagatellisieren, d.h. sie spielen ihre Krankheitssymptomatik
herunter. In der Arbeitsmedizin und -psychologie wird dieses Phänomen als Präsentismus bezeichnet.
Übrigens: Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ist Präsentismus – anders als man vermuten
könnte – nicht begrüßenswert, denn die Fehlerquoten in Produktionsprozessen steigen und ziehen
höhere Folgekosten nach sich, als der Arbeitsausfall des Mitarbeiters. Oder es stecken sich
Kolleginnen und Kollegen an, und die Firma hat zusätzliche, aber im Prinzip vermeidbare AU-Tage
wegzustecken. Welche Risiken Präsentismus für Krankenhäuser, Lebensmittelhersteller oder
beispielsweise Flugsicherheitsdienste mit sich bringt, dürfte auf der Hand liegen.
Das Gegenstück zu Präsentismus nennt sich Absentismus. Absentismus ist allerdings nur schwer
feststellbar, weil kaum prüfbar ist, wie stark die Abwesenheit tatsächlich durch Krankheit begründet ist.
So können auch Menschen, die sich sehr um ihre Gesundheit sorgen und eher übervorsichtig sind, unter
Absentismus-Verdacht fallen.
Es kommt zuweilen auch vor, dass Menschen bewusst und gezielt versuchen, in die Patientenrolle zu
kommen oder hinsichtlich der Art oder Schwere ihrer Erkrankung falsch eingeschätzt zu werden, um
hieraus Vorteile zu ziehen. Sie spielen ihrer Ärztin oder ihrem Arzt eine nicht vorhandene Symptomatik
vor (Simulation) oder übertreiben in ihrer Darstellung eine Symptomatik ( Aggravation), erscheinen mit
wechselnden Symptomen oder geben falsche, aber schlecht überprüfbare Sachverhalte an (z.B.
Schlafprobleme, Schmerzen, Übelkeit, depressive Symptome etc.). Dies darf aber nicht verwechselt
werden mit somatoformen Störungen (s. Kasten), bei denen häufig auch der Eindruck entstehen kann,
die Patienten würden simulieren oder aggravieren.
Somatoforme Störungen und iatrogene Fixierung:
Somatoforme Störungen werden in der International Classification of Diseases (ICD 10) den
Psychischen und Verhaltensstörungen zugerechnet (ICD F45.- [6]). Sie sind dadurch
charakterisiert, dass sich die Patienten wiederholt mit wechselnden körperlichen Beschwerden
vorstellen, für die bzw. für deren Ausmaß keine körperliche Ursache gefunden werden kann. Dabei
sind die subjektiven Leiden der Patienten erheblich. Zu den somatoformen Störungen gehören u.a.
die Somatisierungsstörung (F45.0) und die Hypochondrische Störung (F45.2). Bei somatoformen
Störungen ist es wichtig, frühzeitig ärztlicherseits eine psychogene Ursache der Beschwerden in
Betracht zu ziehen und diese auch den Patienten zu kommunizieren. Geben die Ärzte umgekehrt
den anhaltenden Forderungen der Patienten nach, sie auf körperliche Ursachen hin zu untersuchen
und zu behandeln, erschwert dies die Einsicht der Patienten in die psychische Ursache ihrer
Beschwerden. Es kommt zur sogenannten iatrogenen Fixierung: Die Patienten werden durch das
ärztliche Verhalten (iatrogen) in einer Fehlhaltung bestärkt (Fixierung) - in diesem Fall in der
Fehlhaltung, dass die Beschwerden somatischen Ursprungs seien.
Der Eindruck, als „Krankschreiber“ ausgenutzt zu werden, ist für Ärztinnen und Ärzte eine schwierige
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Situation und verlangt eine hohe Interaktionskompetenz und klare Haltung. Sie müssen unter Umständen
auch damit rechnen, dass im Einzelfall der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) ihre
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen prüft, indem ein Sozialmediziner die Patientin/den Patienten
begutachtet. Dies kann z.B. auf Veranlassung eines Arbeitgebers geschehen, der den Krankheitszustand
seines Mitarbeiters hinterfragt.
3.2.2.2. Selbstmanagement
Ein Großteil der chronischen Erkrankungen erfordert aktives Handeln und Mitwirkung der betroffenen
Patienten, um Progredienz (das Voranschreiten einer Erkrankung) zu verzögern oder zu verhindern und
das Risiko von Folgeerkrankungen zu minimieren. Von Patientinnen und Patienten wird heutzutage
erwartet, dass sie sich um sich selbst kümmern und ihre Erkrankung und die damit verbundenen
notwendigen Maßnahmen weitestgehend selbst organisieren (s. auch § 1 SGB V). Dies stellt für viele
eine große Herausforderung, oft eine Überforderung dar.
Selbstmanagement meint die Befähigung, in nahezu allen Lebensbereichen die eigene persönliche
Entwicklung weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen zu gestalten. Man könnte auch von der
Fähigkeit, sein Leben „in den Griff zu bekommen“, sprechen. Beruf, Familie, Hobbies, aber insbesondere
Krankheit und Gesundheit sind Bereiche, in denen wir uns zu einem großen Teil selbst regulieren
müssen.
D a s gesundheitsbezogene Selbstmanagement besteht in diesem Sinne aus einem ganzen Paket
verschiedener Maßnahmen. Deren Basis sind jedoch weit überwiegend rationale Entscheidungen und
deren Umsetzung, bedürfen also im Sinne des Copings (s. Kapitel 3.2.1.) der beiden psychologischen
Dimensionen Kognition und Verhalten. Diese reichen von der Kontaktierung von Ärzten, Terminierung
von Behandlungen, über regelhafte Einnahme von Medikamenten bis zur Durchführung von
Rehabilitationsmaßnahmen.
Da Menschen unterschiedliche Fähigkeiten haben, sich mit einer sie betreffenden Erkrankung und deren
möglichen Konsequenzen auseinanderzusetzen, ja mehr noch auch eine ganz unterschiedliche
Motivation haben, dieses überhaupt zu tun, existieren hierzu verschiedene Unterstützungsmaßnahmen.
Grundsätzlich ist zunächst die Ärzteschaft gehalten, informierend und beratend auf ihre Patienten
einzuwirken, um Verhaltensänderungen oder -anpassungen herbeizuführen. Die 2003 in Deutschland
eingeführten Disease-Management-Programme (DMP) beinhalten z.B. eine aktive Einbeziehung der
Patienten in die Formulierung von individuellen Therapiezielen sowie ausführliche Patientenschulungen,
was die DMPs von herkömmlichen Behandlungskonzepten unterscheidet.
3.2.2.3. Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen
Kranke und behinderte Menschen können in Deutschland auf ein umfassendes, ausdifferenziertes und
durchreguliertes Angebot von Versorgungsleistungen zurückgreifen. Die Krankenhausstatistik für 2017
verzeichnet über 19,4 Millionen Krankenhausfälle mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 7,3
Tagen. Hinzu kommen knapp 2 Millionen Aufenthalte in Reha- und Vorsorgeeinrichtungen mit
durchschnittlich 25,4 Tagen Verweildauer.
Konsultationen mit Haus- und Fachärzten werden von 90% der Bevölkerung mindestens einmal im Jahr
in Anspruch genommen. Je nach Datengrundlage suchen Menschen in Deutschland durchschnittlich
zwischen 9,2- bis 17-mal im Jahr eine Arztpraxis auf, was im internationalen Vergleich sehr häufig ist.
Dies ist allerdings sehr ungleich verteilt. Laut GKV-Daten entfällt die Hälfte aller Arztkontakte auf nur
16% aller gesetzlich Krankenversicherten. Hierbei handelt es sich überwiegend um ältere und/oder
chronisch kranke Menschen.
Soziale Determinanten der Inanspruchnahme von
Versorgungsleistungen
Die medizin-soziologische Forschung zeigt bezüglich des Inanspruchnahmeverhaltens verschiedener
gesellschaftlicher Gruppen eine ganze Reihe sozialer Indikatoren, die dieses vorhersagen.
Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich darin, dass Frauen gesundheitliche
Leistungen häufiger in Anspruch nehmen als Männer. Insbesondere präventive Angebote werden
von mehr Frauen als Männern genutzt. Zudem nehmen Frauen – laut Krankenkassendaten –
doppelt so häufig wie Männer psychotherapeutische Angebote in Anspruch. Frauen haben eine
größere Offenheit im Umgang mit psychischen Problemen und eine höhere Bereitschaft, Hilfe in
Anspruch zu nehmen. Ihnen werden durch die Ärzteschaft aber auch eher psychische
Erkrankungen zugeschrieben, was man unter anderem daran erkennt, dass Frauen deutlich mehr
Psychopharmaka verordnet werden als Männern.
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Bildung schlägt sich als Indikator vor allem in der deutlich selteneren Inanspruchnahme von
gesundheitlichen Vorsorge- und Früherkennungsleistungen von geringer Gebildeten gegenüber
höher Gebildeten nieder. Dies beginnt bereits bei der Inanspruchnahme von U-Untersuchungen
für Kinder (für die die Eltern verantwortlich sind) und setzt sich bei zahnärztlichen
Vorsorgeuntersuchungen und Krebsfrüherkennungsuntersuchungen bei den Erwachsenen fort.
Bildung ist zudem assoziiert mit einer höheren Gesundheitskompetenz, die sich u.a. im
krankheitsbezogenen Wissen (z.B. zu Risikofaktoren und Symptomen), aber auch in Kenntnissen
über das Gesundheitssystem, Versorgungsangebote, sozialrechtliche Ansprüche und letztlich
auch in der Interaktion mit Ärzten, Therapeuten, Krankenkassenmitarbeitern etc. ausdrückt.
Insgesamt ist der Versorgungsbedarf bei geringer Gebildeten aber höher, da geringere Bildung mit
Krankheit korreliert.
Der Versichertenstatus schafft eine Ungleichheit in den Zugangsmöglichkeiten zu
Gesundheitsleistungen. Privatversicherte haben kürzere Wartezeiten als gesetzlich Versicherte
und tendenziell ein umfangreicheres medizinisches Leistungsangebot, andererseits aber
wiederum Einschränkungen in Rehabilitations- und Pflegeleistungen. Dass sich mehr
medizinische Leistungen positiv auf ihre Gesundheit auswirken würden, ist nicht bewiesen.
Privatversicherte tragen zudem ein gewisses zusätzliches Gesundheitsrisiko durch Überdiagnostik
und möglicherweise unnötige Therapien. Der bessere Gesundheitsstatus von Privatversicherten
erklärt sich aus dem hohen sozio-ökonomischen Status, der für die meisten von ihnen die
Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in einer privaten Krankenversicherung ist.
Die Versorgungsstruktur zeigt in Deutschland trotz Bedarfsplanungsregularien regionale
Ungleichheiten. Dies betrifft zum Teil die Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von Krankenhäusern,
in besonderem Maße aber die von niedergelassenen Ärzten, Psychotherapeuten etc.
Insbesondere in den ländlichen Bereichen der ostdeutschen Bundesländer ist es für viele
Bewohner aufwendiger und schwerer, Versorgungsangebote aufzusuchen. Aber auch die
Durchführung medizinischer Maßnahmen selbst, insbesondere chirurgische Eingriffe, ist in
Deutschland ungleich verteilt.
Für einen Teil der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ist der
Zugang zur Versorgung erschwert, weil sie sich mit dem deutschen Sozial- und
Gesundheitssystem (noch) nicht ausreichend auskennen und/oder aufgrund von Sprachbarrieren
nicht ausreichend kommunizieren können. Die Kinder- und Jugendlichen-Gesundheitssurveys des
Robert Koch-Instituts zeigen dies sehr anschaulich am Beispiel der Familien, in denen beide
Elternteile Immigranten sind, denn in den binationalen Familien mit einem in Deutschland
sozialisierten Elternteil tauchen derartige Probleme deutlich seltener auf [7].
Die Zahl der Menschen mit Behinderungen (einschließlich der Pflegebedürftigen) wird aufgrund
des demografischen Wandels deutlich zunehmen. Für viele von ihnen ist der Weg in die Arztpraxis
oder in ein Krankenhaus aufwendig und beschwerlich. Fast 90% aller Arzt- und
Psychotherapeutenpraxen sind aber nicht barrierefrei.
D i e finanzielle Situation des Einzelnen sollte im deutschen Sozialversicherungssystem keine Rolle
spielen. Nichtsdestotrotz können Zuzahlungen (zwar moderat, aber durchaus vorhanden) oder die
steigenden Angebote von selbst zu zahlenden individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) eine Barriere
für einen Arztbesuch darstellen. In asymmetrischen Beziehungen (s. Kapitel 4.2.) fällt es vielen Patienten
schwer, ihrem Arzt ein klares „Nein“ gegen seine Angebote auszusprechen.
Innerpsychische Determinanten der Inanspruchnahme von
Versorgungsleistungen
Grundsätzlich geht es im Vorfeld der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen um die Frage: Was
muss passiert oder eingetreten sein, damit ein Mensch zu der Entscheidung kommt, sich in Behandlung
zu begeben? In der Regel sind es zunächst unspezifische körperliche Beschwerden und
Befindlichkeitsstörungen wie Schmerzen, Übelkeit, Unwohlsein, manchmal auch eher seelische
Beschwerden wie Ängste, Niedergeschlagenheit, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen. Diese
allein sind jedoch kein hinreichender Grund, sich medizinische Hilfe zu holen. Erst die persönliche
Erklärung (subjektive Krankheitstheorie; s. Kapitel 3.2.1.) und deren Bewertung als ernst oder bedrohlich
bzw. als unbedeutsam oder unkritisch ist handlungsleitend. Diese Entscheidung wird von verschiedenen
psychischen und Persönlichkeitsfaktoren beeinflusst:
Sorge um Gesundheit bis hin zur Hypochondrie (erhöht Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit)
Angst vor Untersuchungen (senkt Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit)
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Symptomwahrnehmungssensitivität
Vorerfahrungen mit Ärzten und Behandlungen
Einstellung gegenüber Ärzten (eher arztaffin oder eher arztavers)
Selbstkonzept („Ich bin stark, grundsätzlich gesund und brauche keine Hilfe“ oder das Gegenteil
davon)
Auch heute noch werden viele Erkrankungen gesellschaftlich stigmatisiert, z.B. Alkoholismus,
Schizophrenie, Depression und viele weitere psychische Erkrankungen, aber auch körperliche
Erkrankungen bzw. Erscheinungen wie z.B. Psoriasis, Adipositas, HIV, Inkontinenz oder
Mundgeruch. Bei den Betroffenen kann dies zu einer Selbststigmatisierung führen, mit der
Folge, dass sie ihr Problem zu verbergen versuchen.
Manche Menschen haben Hemmungen, anderen – selbst Ärzten – ihre „Dummheiten“ mitzuteilen: z.B.
einen Fahrradunfall im volltrunkenen Zustand; den missglückten Versuch, den Kamin mit Benzin
anzumachen; eine Geschlechtskrankheit, die nicht vom Ehepartner stammen kann. Diese
unangenehmen Gefühle von Peinlichkeit und Scham können das Aufsuchen von Hilfe verhindern.
Innerpsychische Faktoren wirken in die Symptomwahrnehmung und in die subjektive Krankheitstheorie
und die daraus resultierenden Entscheidungen hinein. So könnte Ängstlichkeit und Sorge dazu führen,
ein Symptom als bedrohlicher zu bewerten als es wahrscheinlich ist. So wird das (wahrscheinliche)
Hämorrhoidalleiden zum (unwahrscheinlicheren) Darmkrebs. Ängstlichkeit und Sorge können aber auch
in das Gegenteil münden, in ein „Nicht-Wissen-Wollen“, das Symptom wird „verdrängt“, wie dies
beispielsweise sogenannte Represser (Personen, die mit Bedrohung assoziierte Reize vermeiden oder
deren Existenz leugnen) tun (s. Kapitel 3.2.1.).
Auch soziale Aspekte beeinflussen erheblich die Entscheidungen, die aus der Symptomwahrnehmung
resultieren können: „Kann ich mir eine Erkrankung jetzt überhaupt ‚leisten‘?“, „Habe ich Zeit für einen
Arztbesuch?“, „Kann ich es meinen Kindern und meinem Partner oder meinen Kollegen zumuten, gerade
jetzt ‚auszufallen‘?“. Auch die Rückkopplungen aus dem sozialen Umfeld haben einen starken Einfluss:
„Ach, das ist doch gar nichts, stell Dich mal nicht so an!“ versus „Oje, das ist ja schrecklich! Nimm das
nicht auf die leichte Schulter, da sind Leute sogar schon dran gestorben!“ (vgl. auch den Abschnitt zur
sozialen Unterstützung in Kapitel 3.2.1.).
Inanspruchnahme alternativer Heilkunde
Die Nutzung von Behandlungsangeboten jenseits der Schulmedizin steht im Zusammenhang mit den
individuellen Überzeugungen bezüglich Gesundheit sowie den bereits oben genannten subjektiven
Krankheitstheorien. Naturheilverfahren, Akupunktur, Homöopathie und Schulmedizin sind nicht ganz
losgelöst voneinander zu betrachten, denn zum einen werden einige der sogenannten alternativen
Verfahren auch von Schulmedizinern angeboten, und gar nicht mal so wenige werden sogar von
gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Zum anderen gelten sie vielen Menschen tatsächlich als eine
Alternative, vielleicht gar als „Strohhalm“, wenn alle anderen bisherigen Therapien nicht die gewünschte
Wirkung erzielt haben.
Manche Patienten, die schulmedizinisch „austherapiert“ sind, suchen ihr Glück noch einmal bei einem
Heilpraktiker und/oder Homöopathen. Die Wirksamkeit der Homöopathie zu thematisieren ist vermutlich
genauso müßig wie über die Wissenschaftlichkeit der Astrologie zu debattieren. Wissenschaftliche
Evidenz liegt kaum vor, wird von den „Gläubigen“ aber auch nicht verlangt. Doch Vorsicht! Die
Glaubenssysteme von schulmedizinisch enttäuschten Menschen zu hinterfragen, wird diese vermutlich
nur noch mehr in diesen bestärken. Wenn Patienten eine positive Placebo-Wirkung über kleine
wirkstofflose Globuli beziehen, wird man ihnen kaum verdenken können, dass sie Homöopathie für
wirksam halten, zumal weltweit mehrere Millionen Menschen daran glauben und damit als eine Art
spiritueller Verstärkung wirken.
Auch bei der Akupunktur ist es nicht ganz unähnlich. Akupunktur wirkt! Und zwar so gut, dass sie z.B. bei
Knie- und Rückenschmerzen von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt wird – obgleich es kaum
einen Unterschied zwischen der „echten“ Akupunktur durch Ärzte, die in traditionell chinesischer Medizin
(TCM) ausgebildet sind, und einer Scheinakkupunktur durch nicht ausgebildete Behandler (hier praktisch
das Placebo) gibt. Zu wirken scheint hier das wie auch immer geartete Ritual. Der Placebo-Effekt ist aber
so hoch, dass die Krankenkassen bereit sind, dafür zu bezahlen. Eine kleine Ironie am Rande: Der
Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hat damals die Verabschiedung der
entsprechenden Richtlinie kommentiert mit: „Wir legen jedoch Wert darauf, dass hierbei hohe
Qualitätsanforderungen erfüllt werden.“ [8]. Fragt sich dann nur: welche?
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Übrigens: Häufig hört man, dass Naturheilverfahren oder Homöopathie ja nicht schaden könnten.
Das können sie aber sehr wohl; Phytotherapeutika z.B. schlichtweg über die in ihnen enthalten
Wirkstoffe, Homöopathie über deren inhärentes Glaubenssystem. Schädlich können Letztere
werden, wenn Menschen in ihrem Glauben an die Homöopathie wirksame „schulmedizinische“
Medikamente ablehnen und eigentlich vermeidbare gesundheitliche Konsequenzen erleiden oder in
dem Glauben bestärkt werden, dass ihre Beschwerden somatisch bedingt sind, obgleich diese
eigentlich psychischer Natur sind (sog. iatrogene Fixierung).
Modell der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen
Anhand der obigen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, wie vielschichtig und komplex die Frage
der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen ist. Diese Komplexität spiegelt sich auch in den
sozialwissenschaftlichen Modellen hierzu wider. Ein Modell, das in der Medizinischen Soziologie eine
hohe Verbreitung fand und immer wieder angepasst wurde, stammt von dem amerikanischen
Soziologen Ronald Andersen [9]. Verkürzt ausgedrückt versucht es, individuelle persönliche Faktoren
(eng. individual characteristics) mit Umweltfaktoren (eng. contextual chracteristics) zu verbinden, die
dann zu dem jeweiligen Inanspruchnahmeverhalten (eng. health behaviors) führen, dessen Ergebnis
(eng. outcome) dann in einer zirkulären Schleife wieder die persönlichen Faktoren und das Verhalten
beeinflussen. Bezüglich der Umweltfaktoren geht dieses Modell davon aus, dass die Summe der
individuellen Verhaltensweisen und die Ergebnisse der gesundheitlichen Versorgung sich auch auf der
Ebene der sozialen und gesundheitspolitischen Steuerung niederschlagen. Mit anderen Worten: Auch
das Gesundheits- und Versorgungssystem muss sich immer wieder in Abhängigkeit vom
Inanspruchnahmeverhalten der Patienten anpassen.
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Abbildung 1: Verhaltensmodell der Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten – 6. Revision [10]
Eine weitere Besonderheit dieses Modells ist, dass nicht die Bedarfe (eng. needs) allein den eigentlichen
Ursprung von Inanspruchnahmeverhalten darstellen, sondern dass diese sowohl von strukturellen
persönlichen wie auch von Umweltgegebenheiten beeinflusst werden (eng. predisposing), und auch
davon abhängen, ob eine Wahrnehmung dieser Bedarfe überhaupt möglich ist bzw. ermöglicht wird (eng.
enabling).
3.2.2.4. Selbsthilfe
Chronische Erkrankungen und Behinderungen, aber auch soziale Problemlagen, dringen tief in den
Alltag der betroffenen Menschen ein. In der Regel gelingt es den meisten Menschen, solche Probleme in
ihren Primärsystemen, d.h. in ihren Familien und Freundeskreisen, zu lösen oder zumindest zu lindern.
Professionelle Unterstützung erhalten sie durch Ärzte, Therapeuten und weitere Sozial- und
Gesundheitsdienste. Doch in vielen Fällen können diese ihnen (nicht mehr) weiterhelfen, sind oder
werden vielleicht sogar Teil des Problems. Fast neun Prozent der Bevölkerung in Deutschland schließen
sich im Laufe ihres Lebens einer Selbsthilfegruppe (SHG) an. Hier finden sie Austausch mit
Gleichbetroffenen und erhalten für sie (alltags)relevante Informationen, Entlastung und Teilhabe.
Auslösendes Moment und treibender Motor vieler Menschen mit Erkrankungen und Behinderungen eine
SHG zu gründen, waren in der Vergangenheit das unbefriedigte Bedürfnis nach verlässlichen
Informationen und schlechte Erfahrungen mit den entsprechenden Institutionen sowie
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Ohnmachtsgefühle. Patienten und Behinderte rangen um Kontrollgewinn, Selbstbestimmung,
Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit, Recht, Information und Wissen – im Rahmen der
Selbstbefähigung sind dies wesentliche Komponenten der Gesundheitskompetenz.
Folgt man den aktuelleren Definitionen von Gesundheitskompetenz [11], stehen insbesondere die
Aspekte „Wissen“ (über die Erkrankung/das Problem und seine Konsequenzen), „ Interaktion“
(Kommunikation mit Sozial- und Gesundheitsdienstleistern), „Systemorientierung“ (Angebote und
Rechtsansprüche), „Bewältigung“ (Leben mit der Erkrankung/Behinderung/dem Problem), „ Motivation“
und „Verhalten“ (Umgang mit der Erkrankung) sehr deutlich im Zentrum der gemeinschaftlichen
Selbsthilfe.
Das Modell in der nachfolgenden Abbildung zeigt, dass insbesondere der Wunsch nach Kontrollgewinn
und Selbstbestimmung ein sehr ausgeprägtes Motiv sein kann, einer SHG beizutreten [12]. Dazu
gehören aber auch die Befähigung oder zumindest die Vorstellungskraft, anderen Betroffenen begegnen
zu wollen und sich mit ihnen austauschen zu können, sowie gewisse soziale Kompetenzen, wie z.B.
Artikulations- und Kommunikationsfähigkeit.
Abbildung 2: Theoriemodell der Entstehung von Selbsthilfegruppen (eigene Darstellung) [13]
Aus den „wild gewordenen Patientenmeuten“ der Vergangenheit sind inzwischen mehr oder weniger
verlässliche Kooperationspartner der professionellen Sozial- und Gesundheitsdienstleister geworden, die
sich natürlich auch ihrerseits auf ihre Patienten und Versicherten zubewegt haben. Demzufolge dominiert
auch nicht mehr das Gegen-, sondern eher das Miteinander, weshalb heute dem obigen Modell die über
die Gruppe der Gleichbetroffenen hinausgehenden prosozialen Motive wie ehrenamtliche Hilfs- und
Kooperationsbereitschaft zu ergänzen sind.
! Es gibt kaum ein Land auf der Welt, in dem Selbsthilfegruppen und ‑organisationen sowie
deren Unterstützung und Förderung so etabliert sind wie in Deutschland. Derzeit sind geschätzt 3
bis 3,5 Millionen Menschen in fast 100.000 SHG und SHO aktiv. Unterstützt werden sie durch ca.
340 Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen, die überall in Deutschland zu finden sind. Die
finanzielle Förderung von Selbsthilfe durch die gesetzlichen Krankenkassen ist in §20 h SGB V
gesetzlich vorgeschrieben.
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Was ist eine Selbsthilfegruppe?
Selbsthilfegruppen (SHG) sind freiwillige, meist lose Zusammenschlüsse von Menschen, deren
Aktivitäten sich auf gemeinsame Bewältigung von Krankheiten, psychischen oder sozialen Problemen
richten, von denen sie – entweder selbst oder als Angehörige – betroffen sind. Sie wollen mit ihrer Arbeit
keinen Gewinn erwirtschaften. Im Rahmen der Fördermöglichkeiten, z.B. durch die gesetzliche
Krankenversicherung nach Sozialgesetzbuch V § 20 h, ist ihnen eine Gewinnorientierung sogar untersagt
wie auch durch das Vereinsrecht bei den überwiegend als gemeinnützig anerkannten SHG und SHO. Ihr
Ziel ist neben der Problembewältigung im engeren Sinne eine Veränderung ihrer persönlichen
Lebensumstände und häufig auch ein Hineinwirken in ihr soziales und politisches Umfeld. In der
regelmäßigen Gruppenarbeit betonen sie Authentizität, Gleichberechtigung, gemeinsames Gespräch und
gegenseitige Hilfe.
Ein idealtypisches Verständnis der SHG bestimmt als wichtigste Merkmale:
alle Gruppenmitglieder sind gleichgestellt,
jede/r bestimmt über sich selbst,
die Gruppe entscheidet selbstverantwortlich,
jede/r geht um ihrer/seiner selbst willen in die Gruppe,
es herrscht Gruppenschweigepflicht,
die Teilnahme ist kostenlos.
SHG werden nicht von professionellen Helfern geleitet, sondern von den Betroffenen selbst; manche
greifen jedoch auf (kommunikations)psychologische Hilfe bei ihrer Gruppengründung zurück oder ziehen
gelegentlich Expertinnen und Experten zu bestimmten Fragestellungen hinzu (Selbsthilfeförderung und
Unterstützung). Über 80% der SHG streben eine Kooperation mit Ärzten sowie Krankenhäusern an. Zwei
Drittel aller SHG befinden sich im regelhaften Austausch mit Ärzten und anderen medizinischen
Experten. So werden (Fach-)Ärzte für Vorträge und Diskussionen in die SHG eingeladen oder stehen
ihnen auf Selbsthilfetagungen als Berater zur Seite. Dies trägt zur Gesundheitskompetenz der Patienten
erheblich bei.
Was sind Selbsthilfeorganisationen?
Selbsthilfeorganisationen (SHO) sind Vereine oder Verbände mit einem höheren Grad an
organisatorischer Komplexität und Aufgabenvielfalt. Die meisten SHO sind indikationsspezifisch,
verfolgen also die Interessen einer bestimmten Gruppe von Patienten oder Angehörigen von Patienten.
Am ältesten und bekanntesten sind die SHO bzw. Selbsthilfeverbände von Behinderten und chronisch
Erkrankten, von denen einige bereits Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurden und manche heute
über 100.000 Mitglieder ausweisen. Inzwischen gibt es für fast alle chronischen Krankheiten wie z.B.
Allergie und Asthma, Diabetes, Rheuma, Multiple Sklerose oder Zöliakie solche Organisationen bzw.
Verbände. Insbesondere seit den 1990er Jahren entstanden zunehmend mehr, meist kleinere SHO für
seltene Erkrankungen sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene. Gerade im Bereich der seltenen
Erkrankungen gibt es enge Kooperationen zwischen den jeweiligen SHO und der (forschenden)
Ärzteschaft, um gemeinsam das Wissen über diese Erkrankungen für eine bessere Behandlung
voranzutreiben.
Ein weiterer großer Bereich mit langjähriger Tradition ist das Gebiet der Suchterkrankungen. Hier
entstanden Ende des 19. Jahrhunderts Suchthilfebewegungen und Abstinenzvereine wie Guttempler,
Kreuzbund oder Blaukreuz. Sie beruhten anfangs im Wesentlichen auf christlich-humanistischer
Fürsorge für Trinker. Erst nach dem 2. Weltkrieg wandelten sie sich mehr und mehr zu
Selbsthilfeorganisationen, wo (trockene) Betroffene das Sagen hatten. Eine besondere Form der
Suchtselbsthilfe mit grundsätzlich anderer Konzeption stellen die Anonymen Alkoholiker dar (s. Kasten).
Eine besondere Form der gemeinschaftlichen Selbsthilfe: die Anonymen Alkoholiker
Die Alcoholics Anonymous (AA) wurden 1935 in Akron, Ohio, von dem alkoholkranken Chirurgen
„Bob“ und dem ebenfalls alkoholabhängigen New Yorker Börsenmakler „Bill“ ins Leben gerufen.
Sie kamen zu der Erkenntnis, dass ihnen das Sprechen über ihre Probleme und ihre Sucht hilft, und
dass sie ein „spirituelles Programm“ für ihr zukünftiges Leben benötigen. Daraus entstanden die
„Zwölf Schritte“, ein Programm, das weltweit auch von vielen anderen Anonymous-Gruppen im
Suchtbereich zugrunde gelegt wird (z.B. Anonyme Spieler, Narcotics Anonymous etc.). Die
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Gemeinschaftsregeln basieren auf den „Zwölf Traditionen“, die nur ein absolutes Minimum
professioneller Unterstützung für gemeinschaftliche organisatorische Belange der AAs erlauben.
Die erste deutsche AA-Gruppe gründete sich 1953 in München auf Initiative amerikanischer
Soldaten. Seitdem stieg die Zahl der AA-Gruppen in Deutschland auf etwa 2.700 an.
Im Unterschied zu anderen Formen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe sind die AAs (wie auch
andere Anonymus- oder 12-Schritte-Gruppen) radikal unabhängig und nehmen weder
Zuwendungen von außen an noch unterstützen sie andere Interessengruppen, um ihren Namen
neutral zu halten. Ihre Gruppentreffen nennen sie „Meetings“. Hier kann jeder von seinen
Problemen und Erfahrungen berichten und sich diese von der Seele reden. Diese werden nicht
diskutiert oder kommentiert, Ratschläge sind verpönt. Die Teilnehmenden lernen durch die
Geschichten der anderen und fühlen sich durch die Gemeinschaft in einem geteilten Schicksal
entlastet. Sie bleiben dabei anonym und verwenden nur ihre Vornamen. Zur Finanzierung der
Meetings geht ein Hut herum, in den jeder hineingibt, was er zu geben bereit ist. Das Programm ist
spirituell und die Meetings haben einen regelhaften Ablauf. Für viele alkoholkranke Menschen ist
die AA-Konzeption sehr hilfreich, und sie schaffen es durch die alltagsstrukturierenden Ankerpunkte
der Meetings abstinent zu bleiben. Die Zusammensetzung der Gruppen geht durch alle
gesellschaftlichen Schichten
Auf Bundesebene existieren heute über 300 gesundheitsbezogene SHO. Der größte Teil von ihnen ist in
Dachverbänden wie der Bundesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE e.V., beim PARITÄTISCHEN oder in
der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. organisiert. Für den Bereich der seltenen Erkrankungen
ist die ACHSE (Allianz chronischer seltener Erkrankungen e.V.) hervorzuheben, für den Bereich
chronisch kranker und behinderter Kinder und den entsprechenden Eltern-Initiativen das Kindernetzwerk
e.V. Diese Dachverbände haben i.d.R. mehr als hundert Bundesorganisationen der Selbsthilfe als
Mitglieder.
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Abbildung 3: Selbsthilfelandschaft in Deutschland 2017 [14]
Die Kernaufgaben von SHO sind Informations- und Aufklärungsarbeit, Gruppeninitiierung und -betreuung,
Beratung und Schulung der Mitglieder sowie Lobbyarbeit bis hin zur Patientenvertretung, u.a. im
Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und seinen Unterausschüssen (nach § 140 SGB V). Seit
2004 haben von den SHO entsandte Patientenvertreter und -vertreterinnen auf Basis des § 140f dort
Rede- und Antragsrecht , d.h. sie dürfen bei der Entwicklung der im G-BA teils heiß umkämpften
Richtlinien durch die Leistungserbringer (Kassenärztliche Bundesvereinigung, Kassenzahnärztliche
Bundesvereinigung, Deutsche Krankenhausgesellschaft) und die Leistungsträger (die gesetzlichen
Krankenkassen vertreten durch den GKV-Spitzenverband) ihre Perspektive als „Experten in eigener
Sache“ einbringen, mitberaten und die Beschlüsse kommentieren – sie dürfen aber nicht abstimmen.
! Die Kranken- bzw. Patientenrolle wird durch die zunehmende Patientenbeteiligung [15]
anspruchsvoller und politischer. Patienten sind als Experten in eigener Sache auf allen Ebenen der
Gesundheitspolitik, Versorgungsgestaltung und Qualitätssicherung zu berücksichtigen.
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Selbsthilfeförderung und Selbsthilfeunterstützung
Selbsthilfeaktivitäten
und
bürgerschaftliches
Engagement
brauchen
unterstützende
Rahmenbedingungen, um sich entfalten und entwickeln zu können. Für die Förderung von individueller
und kollektiver Selbsthilfe sind rechtliche Regeln, Informationen und Entlastungsleistungen für die
Betroffenen und ihre Angehörigen von besonderer Bedeutung. Für SHG und SHO existieren in
Deutschland verschiedene Unterstützungsinstrumente. Direkte finanzielle Unterstützungsmaßnahmen
werden unter dem Begriff Selbsthilfeförderung zusammengefasst, fachliche und indirekte Hilfen unter
dem Begriff Selbsthilfeunterstützung (s. nachfolgenden Abschnitt).
Im Rahmen des am 1. Januar 2016 in Kraft getretenen Präventionsgesetzes ist die
Selbsthilfeförderung durch die gesetzliche Krankenversicherung von 0,64 Euro pro Versicherten auf
1,05 Euro pro Versicherten gestiegen, d.h. die gesetzlichen Krankenkassen sind verpflichtet, pro Jahr ca.
73 Mio. Euro für die Selbsthilfe auszugeben. Das klingt auf den ersten Blick viel, ist aber tatsächlich
weniger als 0,04% der GKV-Gesamtausgaben von derzeit (2018) ca. 220 Mrd. Euro pro Jahr. Die
Privaten Krankenversicherungen fördern nicht, obgleich auch ihre Versicherten Mitglieder derselben
SHG und SHO sind wie die GKV-Versicherten und davon profitieren.
Auch Kommunen und Länder, das Bundesministerium für Gesundheit, die Deutsche
Rentenversicherung, die Pflegeversicherung und einzelne Stiftungen wie die Deutsche Krebshilfe geben
Mittel für die Selbsthilfeförderung in einer Größenordnung von zusammengefasst zwischen 15 und 20
Mio. Euro.
Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen
In Deutschland existiert ein flächendeckendes Netz von 300 Selbsthilfekontakt- und unterstützungsstellen mit ca. 40 weiteren Zweigstellen. Entstanden sind diese Beratungsstellen seit
Mitte der 1980er Jahre. Finanziert werden sie überwiegend durch die Bundesländer, durch
Wohlfahrtsverbände und durch die Krankenkassen aus Mitteln der Selbsthilfeförderung. Häufige Namen
sind z.B. KISS (Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen), SEKIS (Selbsthilfekontakt- und informationsstelle) o.ä. Zu ihren Kernaufgaben zählen:
Vermittlung von Betroffenen in bestehende SHG,
Unterstützung von Betroffenen bei der Gründung neuer SHG,
Beratung und Supervision von SHG,
Bereitstellung und Organisation von Räumlichkeiten für SHG-Treffen,
Unterstützung bei der Antragstellung für Mittel aus der Selbsthilfeförderung,
Öffentlichkeitsarbeit für die Selbsthilfe insgesamt (Zeitschriften, Kampagnen, Internetpräsenz),
Pflege von Datenbanken über örtliche SHG sowie Herausgabe von Selbsthilfe-Wegweisern,
Regionale und kommunale Vernetzung der Selbsthilfe mit Akteuren des Sozial- und
Gesundheitswesens,
Förderung eine selbsthilfefreundlichen Klimas und der Kooperation zwischen SHG und
Institutionen des Gesundheitswesens,
Entwicklung zielgruppenspezifischer Angebote (z.B. für Migranten, junge Menschen),
…
! Gerade für Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen sind die
Selbsthilfekontaktstellen wichtige Anlauf- und Vermittlungsstellen, an die sie ihre Patientinnen und
Patienten verweisen können, um ihre Erkrankung und deren Folgen besser bewältigen zu können.
Fachlich ist ein großer Teil der Selbsthilfekontaktstellen in der Deutschen Arbeitsgemeinschaft
Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG) organisiert. Die DAG SHG unterhält seit 1984 eine bundesweite
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Selbsthilfe-Clearings-Stelle in Berlin mit dem Namen NAKOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle
zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen). Auf der stets aktuellen Webseite
www.nakos.de ist nahezu alles zu finden, was für Fragen der Selbsthilfe relevant ist.
Internetadressen:
www.achse-online.de (Allianz chronischer seltener Erkrankungen e.V.)
www.bag-selbsthilfe.de (Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe e.V.)
www.dag-shg.de (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.)
www.der-paritaetische.de (Großer Deutscher Wohlfahrtsverband und Träger vieler
Selbsthilfeunterstützungsstellen)
www.dhs.de (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. – DHS)
www.kindernetzwerk.de/ (Dachverband von Eltern-Initiativen und chronisch kranken und
behinderten Kindern und Jugendlichen)
www.nakos.de (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von
Selbsthilfegruppen)
www.patientenbeauftragter.de (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen
und Patienten)
www.selbsthilfefreundlichkeit.de (Netzwerk Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im
Gesundheitswesen)
References
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Corresponding authors: Dr. Christopher Kofahl Dipl.-Psych., University Medical Center HamburgEppendorf, Department of Medical Sociology, Martinistr. 52, W37, 20246 Hamburg, Germany,
Phone: ++49 40 7410 54266, E-mail: kofahl@uke.de
Citation note: Kofahl C. 3.2.2. Krankenrolle - Patientenrolle. In: Deinzer R, von dem Knesebeck O,
editors. Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie. Berlin: German
Medical Science GMS Publishing House; 2018-. DOI: 10.5680/olmps000063
Copyright: © 2020 Christopher Kofahl
This is an Open Access publication distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0
International License. See license information at https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
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