historia
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scribere
scribere
Jahrgang 7
Online Zeitschrift der Institute für Alte Geschichte und Altorientalistik, Geschichtswissenschaften
und Europäische Ethnologie sowie Zeitgeschichte der Universität Innsbruck
studentischer
Mai
2015 zur
Online Zeitschrift
der Arbeiten
Institute für Alte Geschichte und Altorientalistik, Geschichtswissenschaften
Jahrgang
8 Publikation
Juni 2016
Vorwort zur siebten
Ausgabe 2015
und Europäische Ethnologie sowie Zeitgeschichte der Universität Innsbruck
zur Publikation studentischer Arbeiten
Gunda Barth Scalmani, Irene Madreiter, Eva Pfanzelter
I–VI
Vorwort zur achten Gunda Barth Scalmani, Irene Madreiter, Eva Pfanzelter
Julian Degen
9–32
Best-PaperAusgabe
2016
Jakob Kathrein
Linus Konzett
Best-Paper-Awards 2016
Thomas Pattinger
Awards 2015
Philipp Ebell
Dominique Karner
Franz Mathis- Nikolaus Bliem
Julian Degen
Bachelor-Seminare
Preis 2015
Tobias Leo
Maria
Buck Lisa-Marie Gabriel
Seminare
Hannes
Chronst,
Helmut ReinhalterPro-Seminare
I–VI
33–68
69–82
83–94
11–26
27–44
97–120
47–82
83–124
123–142 127–156
Preis 2015
Best-Paper-Award &Franz Kurz
Josef
RiedmannUNO
Center
Austria
Preis
2015
Preis in transatlantischer
Geschichte 2016 Lisa-Marie Gabriel
Rolf SteiningerPreis 2015
Thomas Salzmann
Runner-Up-Awards 2016
Jakob
Kathrein
Bachelor-Seminare
Gross
Sonderpreis
des Landes Simon
Julia Tapfer
VorarlbergSeminare
2015
Anna Lena Eberl
Rubrik
Proseminare &
Runner-Up-Award
Raphael Einetter
Sonderpreis des Landes
Wolfgang Schöpf, Anna Stakanova
Vorarlberg 2016
Clemens Steinweder
Bachelor-Arbeit Thomas Walli
Nele Gfader
Seminare
Nikolaus Bliem
Rubrik Bachelorseminare
Robert Stefan
Lobende
Lienhard Thaler
Erwähnungen 2016
Margreiter
Emanuel
Simonini
Rubrik Seminare Hester
Bachelor-Seminare
Anna Anderlan
Seminare Maximilian Oswald
Varia Sarah Oberbichler
145–166
169–196
159–182
199–220 187–222
225–248
223–236
237–250
251–278
279–294
253–286
289–318
297–330
331–360
361–406
409–432 323–358
359–388
391–408
ISSN: 2073-8927
411–432
ISSN: 2073-8927
historia
scribere
08 (2016)
Vorwort zur achten Ausgabe von historia.scribere (2016)
Historia.scribere geht in die achte Runde – dieses für uns erfreuliche Ereignis ist Anlass
für eine kurze Bestandsaufnahme beziehungsweise Zwischenbilanz. Wir starteten 2009
mit dem Ziel, sehr gute studentische Arbeiten vor dem Vergessen zu bewahren und
sie stattdessen anderen Studierenden und interessierten LeserInnen zugänglich zu machen. Die dadurch entstandene Best-Practice-Sammlung umfasst mittlerweile mehr als
viertausend Druckseiten. Den anfänglichen Vorbehalten der Kollegschaft gegenüber
dem Sinn unseres Unterfangens konnten wir – so hoffen wir jedenfalls – zum Großteil
den Wind aus den Segeln nehmen, nicht zuletzt durch ihre Einbindung in den Reviewprozess. Dieser Aspekt ist uns sehr wichtig, da historia.scribere auch integrierend wirken
und unsere Fächer in ihrer Gesamtheit repräsentieren möchte.
2016 sind die Zitierrichtlinien von historia.scribere Standard an den historischen Instituten und die bisher publizierten Arbeiten finden immer wieder Eingang in verschiedene Lehrveranstaltungen. Die Anzahl der Zugriffe auf unsere Homepage (www.historia.
scribere.at) steigt kontinuierlich, wie die einschlägigen Statistiken belegen: Die unique
visitors haben sich auf über 8.000 erhöht und auch die hits stiegen um ein Viertel auf beinahe 40.000 Zugriffe. Von Seiten der Universität erfuhren wir Wertschätzung, indem die
Zeitschrift mit einem Lehre-Preis ausgezeichnet wurde. Wir haben bislang Vorzeigbares
erreicht – also weitermachen? Die Antwort ist zumindest zweigeteilt: Einerseits wollen
wir weitermachen, weil es (immer noch) Freude bereitet, sich mit den eingereichten Arbeiten beziehungsweise den Themen auseinanderzusetzen, da die studentischen Aufsätze oft auch unseren eigenen intellektuellen Horizont erweitern. Wann beschäftigte
sich sonst etwa eine Althistorikerin mit der historischen Entwicklung des Energieträgers
Gas im Zürich des beginnenden 20. Jahrhunderts? Auf der anderen Seite wollen wir
zumindest noch eine weitere Ausgabe auf den Weg bringen, weil es auch um den Aspekt der Nachhaltigkeit geht: Eine möglichst fundierte Ausbildung unserer Studierenden ist nicht nur eine Investition in deren Zukunft sondern auch in die Zukunft unserer
Fächer. Eines der Ziele der historischen Institute ist es, hoch qualifizierte AbsolventInnen auszubilden, die nicht nur in den Klassenzimmern als Lehrende, sondern auch als
Nachwuchs-WissenschaftlerInnen ihr Wissen weitergeben. In diesem Sinne verstehen
wir historia.scribere auch als ein Medium der Nachwuchsförderung.
All diese Punkte sind es unserer Meinung nach wert, die Steine, die uns manchmal den
Weg versperren, immer wieder wegzuräumen. Einer dieser „Steine“, nämlich das notorische Problem der Finanzierung der Zeitschrift, hat sich insofern entschärft, als wir dank
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.vorwortORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
II
Vorwort
historia.scribere 08 (2016)
des Engagements des Dekans der philosophisch-historischen Fakultät, Klaus Eisterer,
erstmals über mehr als ein Studienjahr hinaus planen können. Dies erleichtert unsere
Arbeit ungemein!
Auf Anregung einiger unserer Emeriti, schien es gerechtfertigt, nach acht Jahren die
Art der Preise und die Höhe der Preisgelder von historia.scribere zu überdenken und
anzupassen. Neben Geldpreisen gibt es außerdem auch dieses Mal Büchergutscheine
der Wagner’schen Buchhandlung. Das Land Vorarlberg stiftete für die achte Ausgabe
einen zweiten, zusätzlichen Preis für eine Arbeit mit Vorarlberg-Bezug. Zudem konnten wir dankenswerterweise drei neu emeritierte KollegInnen als Spender gewinnen:
o. Univ.-Prof. Dr. Brigitte Mazohl, o. Univ.-Prof. Dr. Reinhold Bichler sowie Univ.-Prof. Dr.
Christoph Ulf. Erstmals vergibt das UNO Center Austria zudem einen Preis in transatlantischer Geschichte. Für die spontane Zusage unseres Kollegen an der UNO, Günther
Bischof, für diesen Preis, danken wir besonders herzlich und können schon so viel verraten: Es soll Wiederholungen geben.
Die Änderungen schlugen sich auch in einer Neu-Benennung der bisherigen Kategorien an eingereichten Arbeiten nieder: Neben den Best-Paper-Awards gibt es nun auch
Runner-Up Awards (also zweite Preise bzw. Sonderpreise) und Lobende Erwähnungen.
Diese Dreiteilung, so schien es uns jedenfalls, kommt den feinen aber doch bemerkbaren Unterschieden in der Qualität der Arbeiten entgegen. Dieser Adaptierungsprozess
führte schließlich zur Entscheidung, heuer nur noch die so ausgezeichneten Arbeiten
zu publizieren. Noch sind wir mit den Umgestaltungen nicht am Ende, weiterer Wandel
im nächsten Jahr ist programmiert.
Bevor wir kurz auf die ausgezeichneten Arbeiten eingehen, ein Blick auf die Veränderungen im studentischen Redaktionsteam: Brigitte Albu, die seit der sechsten Ausgabe
dabei ist, wird uns nach der Betreuung der achten Ausgabe aus beruflichen Gründen
verlassen – so sehr wir uns mit ihr freuen, so sehr werden wir ihre kompetente Mitarbeit und ihre Coolness (besonders in stürmischen Zeiten) vermissen! Zum zweiten Mal
konnten wir wieder auf Franz Kurz als studentischen Mitarbeiter bauen, dessen akribischer Blick auf die eingereichten Arbeiten so manch versteckten Fehler ans Tageslicht
brachte. Als studentische MitarbeiterInnen in Form einer auch im Lehrplan Geschichte
vorgesehenen Praxis als Wahlfach waren bei dieser Ausgabe Jakob Kathrein und LisaMarie Gabriel dabei. Bereits zum achten Mal müssen bzw. dürfen wir folgenden jeweils
ähnlich klingenden Satz schreiben: Ohne das Engagement unserer Studierenden hinge
das Erscheinen auch der achten Ausgabe an einem weniger als seidenen Faden. Möge
dieses tolle Engagement so bleiben!
Mit Ende der Einreichfrist im Dezember 2015 gab es 34 Einreichungen, von denen es
die Hälfte nicht über die erste Begutachtungsphase hinaus schaffte. Von den verbliebenen 17 Arbeiten mussten drei noch nach der zweiten Überarbeitungsphase ausscheiden, sodass es schlussendlich 14 Arbeiten sind, die auf den folgenden Seiten publiziert
werden. Dennoch ist der Gesamtumfang der achten Ausgabe im Vergleich zu früheren
historia.scribere 08 (2016)
Gunda Barth-Scalmani, Irene Madreiter, Eva Pfanzelter
III
Ausgaben nur wenig geringer, da hauptsächlich BA-Arbeiten (sechs) und SE-Arbeiten
(fünf ) eingereicht wurden.
Der erste Reviewprozess der Einreichungen wurde wie gewohnt einerseits vom studentischen Redaktionsteam (Brigitte Albu, Franz Kurz, Jakob Kathrein, Lisa-Marie Gabriel), verstärkt durch DissertantInnen und ProjektmitarbeiterInnen (Martin Ager, Karoline Döring, Nele Gfader, Gertraud Margesin, Franziska Niedrist, Sarah Oberbichler, Jack
Schropp, Julia Tapfer, Nikolaus Hagen) und andererseits vom Herausgeberinnenteam
unterstützt durch KollegInnen (Ingrid Böhler, Elisabeth Dietrich-Daum, Stefan Ehrenpreis, Sabine Fick, Margret Friedrich, Ute Hasenöhrl, Patrick Kupper, Hermann Kuprian,
Christian Mileta, Dirk Rupnow, Kordula Schnegg) vorgenommen. Herzlichen Dank an
alle, die uns wieder ihre eigene knapp bemessene Zeit schenkten und uns in dieser
ersten Phase durch fachkundige Reviews unterstützten!
Durch die Neuerungen in der Zuordnung der Preise ergibt sich ein (nicht nur optisch
im Inhaltsverzeichnis ersichtliches) anderes Bild als in den vorangegangenen Ausgaben.
Erstmals werden neben sechs Best-Paper-Awards (davon ein Sonderpreis) auch drei
Runner-Up-Awards (davon zwei Sonderpreise) vergeben. Tendenziell lässt sich erneut
ein inhaltlicher Schwerpunkt in den Bereichen Neuzeit und Zeitgeschichte beobachten,
wobei in dieser Ausgabe besonders lokale sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte dominieren. Werfen wir einen kurzen Blick auf die zehn ausgezeichneten Arbeiten:
Ein Best Paper in der Rubrik Proseminare erhält Philipp Ebell für „Die ‚Wende‘ 1989 in der
Wahrnehmung der Ostdeutschen. Eine Mentalitätsgeschichte.“ Der Autor untersucht
darin anhand von Interviews, wie die Ereignisse in der Zeit der Wende von der DDRBevölkerung empfunden wurden. Positiv hervorzuheben ist die Verwendung von selbst
durchgeführten Interviews und sogar einer quantitativen Befragung, – beides ist für
Proseminararbeiten ungewöhnlich.
Dominique Karner untersucht in „Totale Institutionen – Psychiatrien im 19. Jahrhundert
am Beispiel der k.k. Provinzial-Irren-Heilanstalt Hall in Tirol“ anhand eines vorgegebenen
Kriterienkataloges und auf breiter Literaturbasis die Frage, ob die Anstalt in Hall als totale
Institution zu werten ist. Die ReviewerInnen lobten an dieser Arbeit vor allem auch ihren
hohen Reflexionsgrad, der über dem geforderten Maß einer herkömmlichen Proseminararbeit liegt.
Zwei Best-Papers fallen in die Kategorie der BA-Seminare: Eine vorbildliche Symbiose
von rezeptionsgeschichtlicher und althistorischer Analyse verschiedener Quellengenres
in unterschiedlichen Epochen gelingt Julian Degen in seiner BA-Arbeit „Les Reines de
Perse aux pieds d’Alexandre. Rezeption des exemplum virtutis von Curtius Rufus bis Charles
le Brun.“ Die Arbeit zeichnet sich durch die hohe kritische Analysefähigkeit und außerordentlich differenzierte Quellenarbeit des Autors aus. Zudem zeigt sie die Möglichkeiten
der Anwendung narrativer Konzepte auf historische Phänomene.
IV
Vorwort
historia.scribere 08 (2016)
Ausgehend von Antonio Gramscis Hegemoniebegriff analysiert Tobias Leo in „Der Nazis
neue Kleider“ die Vereinnahmung jugendlicher Subkulturen durch die extreme Rechte
in Deutschland von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart. Der Autor hat sich intensiv
mit dem geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschungsstand zum Rechtsextremismus auseinandergesetzt sowie eigene Quellenstudien zur Nutzung neuer Medien
und der Bedeutung von Musik als Identitätsträger und Werbemittel durchgeführt. Die
Arbeit bietet damit neue Erkenntnisse zum Wandel der rechten Szene und ihrer Handlungsstrategie, der „Eroberung“ des unpolitischen Felds.
In der Kategorie Seminare wird eine Arbeit mit einem Best-Paper ausgezeichnet: Maria
Buck zeigt in ihrer Arbeit „Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas. Der koloniale Blick
in der frühen Porträtfotografie Indiens“ die Möglichkeiten und Grenzen der historischen
Fotografie-Forschung auf. Das gewählte Beispiel Indien verdeutlicht eindrucksvoll den
„kolonialen Blick“ der europäischen Fotografen: Sie inszenierten vor allem Bilder „orientalischer“ Exotik, die mit der zeitgenössischen Realität Indiens im 19. Jahrhundert jedoch
wenig bis nichts gemein hatten.
Den erstmals verliehenen UNO-Center-Austria-Preis in transatlantischer Geschichte
2016 (und zugleich Best Paper Award) erhält Lisa-Marie Gabriel für ihre Seminararbeit
„Neuzeitliche Kolonialismen: Der Aufstieg des spanischen Kolonialreiches an der Wende zur Frühen Neuzeit“. Die Autorin untersucht auf Basis einer beachtlichen Menge an
Literatur die Ursachen für den Erfolg Spaniens als Kolonialmacht. Neben der klar aufgebauten, diachronen Gliederung der Arbeit ist es auch die Definition zentraler, oftmals in
der Forschung strittiger Begriffe, die die Arbeit zu einem Gewinn für die studentischen
LeserInnen dieser Zeitschrift macht.
Drei Runner-Up-Awards 2016 werden für die BA-Arbeit Jakob Kathreins und die SEArbeit von Julia Tapfer vergeben. Jakob Kathrein untersucht unter Einbeziehung eigener Interviews in seiner Arbeit die „Walliser off Gultüre“, die Gründe und Motive der
Wanderungsbewegung der ursprünglich schweizerischen Walser ins Tiroler Galtür. Die
ReviewerInnen lobten besonders die gelungene Struktur der Arbeit, den hohen Reflexionsgrad des Autors und seinen unprätentiösen Stil. Dadurch weckt die Arbeit eindeutig
das Interesse an Lokalgeschichte. Julia Tapfers, „Schloss Hartheim – von der Pflege- zur
Tötungsanstalt: Historischer Abriss und exemplarische Quellenarbeit mit Briefen von
Angehörigen der Ermordeten“ bietet einen guten Überblick über die Geschichte der
NS-Euthanasie mit einem Schwerpunkt auf der Tötungsanstalt Hartheim. Durch die Teilanalyse von ausgewählten Briefen findet hier auch eindeutig eigenständige Forschung
statt.
Auch in dieser Ausgabe findet sich wieder ein Beitrag zur Geschichte der Arbeitsmigration in Österreich, dieses Mal mit Fokus auf Vorarlberg, wofür eine Runner-Up-Award
und Sonderpreis des Landes Vorarlberg vergeben wird. Nele Gfader („Arbeitsmigration
in Österreich mit Blick auf Vorarlberg“) bindet die spezifische Situation in Vorarlberg in
den größeren gesamtösterreichischen Kontext ein, womit ihr ein nuanciertes Bild der
historia.scribere 08 (2016)
Gunda Barth-Scalmani, Irene Madreiter, Eva Pfanzelter
V
Motive und Ursachen dieses Phänomens gelingt. Eine weitere Arbeit, die sich mit dem
NS-Euthanasieprogramm befasst, wird ebenfalls mit einem Runner-Up Award und
zugleich Sonderpreis des Landes Vorarlberg ausgezeichnet. Thomas Wallis BachelorArbeit mit dem Titel „‚Wir kommen unter die Metzger‘. Die Umsetzung des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms im Reichsgau Tirol-Vorarlberg“ bietet eine gute Einordnung des Themas in einen theoretischen Rahmen. Zugleich behandelt der Autor diese
sensible Thematik auf sprachlich und wissenschaftlich angemessene Art und Weise.
Schwer fiel den ReviewerInnen und dem Redaktionsteam die Auswahl, weshalb wir gerne auch noch drei Auszeichnungen in Form von Lobenden Erwähnungen vergeben
für die Arbeiten von Emanuel Simonini, Anna Anderlan, Maximilian Oswald und Sarah
Oberbichler. Was uns zur Hervorhebung dieser Aufsätze bewogen hat, ist leicht durch
ein Hineinschnuppern in die Arbeiten selbst nachzulesen.
Last but not least ein paar Worte zu unseren „Financiers“ und Gönnern: Der Dekan der
Philosophisch-Historischen Fakultät, ao. Univ.-Prof. Dr. Klaus Eisterer sowie die Fakultätsstudienleiterin der Philosophisch-Historischen Fakultät, ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Monika
Fink, ermöglichten auch diesmal die finanzielle Abgeltung zweier StudienassistentInnen. Traditionsgemäß übernahm die Philosophisch-Historische Fakultät das Sponsoring
der Best-Paper-Awards, zwei Preise übernahmen die Vorarlberger Landesregierung und
einen das University of New Orleans Center Austria. Unsere Emeriti haben wie üblich
unkompliziert ihren Beitrag geleistet: Ihnen allen sei noch einmal gedankt für die anhaltende Unterstützung unserer Studierenden und des Faches. Noch einmal dankenswert erwähnt sei die Zusammenarbeit mit innsbruck university press für die Layoutierung
der Beiträge. Damit einher ging auch dieses Mal die finanzielle Unterstützung des Vizerektorats für Forschung in Person von Univ.-Prof. Dr. Sabine Schindler. Von den außeruniversitären Sponsoren blieb uns unter neuer Leitung die Wagner‘sche Universitätsbuchhandlung, Markus Renk, gewogen. Hierfür sei allen herzlich gedankt!
Erneut enden wir mit der symbolischen Bedeutung, dieses Mal der Zahl Acht. In der
christlichen Zahlensymbolik des Mittelalters ist sie Zahl des glücklichen Anfangs, des
Neubeginns nach den sieben Tagen der Schöpfung. In der Mathematik ist sie in liegender Form das Zeichen für Unendlichkeit. Ohne diese Begrifflichkeiten überstrapazieren
zu wollen, sehen wir doch positiv in die Zukunft. Wenn Sie (wenigstens einige) der Beiträge dieser Ausgabe gelesen haben, werden Sie wissen warum!
Gunda Barth-Scalmani, Irene Madreiter, Eva Pfanzelter
historia
scribere
08 (2016)
Best-Paper-Awards 2016
gesponsert von der Philosophisch-Historischen Fakultät und den Emeriti
Reinhold Bichler, Brigitte Mazohl, Helmut Reinalter, Rolf Steininger, Christoph Ulf
sowie der Wagner‘schen Buchhandlung
historia
scribere
Pro-Seminare 2016
08 (2016)
historia
scribere
08 (2016)
Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen.
Eine Mentalitätsgeschichte.
Philipp Ebell
Kerngebiet: Zeitgeschichte
eingereicht bei: Mag.a Dr.in Ingrid Böhler
eingereicht im Semester: WS 2014/2015
Rubrik: PS-Arbeit
Abstract
The „Turning“ 1989 in the Perception of the Eastern Germans. A History
of Mentality
The following paper examines the question of how Eastern German people
perceived the „turn” in the 1980s and 90s. Six people from various social
backgrounds were interviewed. In addition, the interviews were analyzed
and compared to historical data in order to find out how and why people
experienced the „turning point” in different ways. It will be shown that former
citizens of the GDR still have mixed feelings and associations about that great
historical change.
Einleitung
Vor etwas mehr als 25 Jahren beendete die nächtliche Öffnung der Grenzübergänge in
Berlin die damals etwa vierzig Jahre währende Teilung Deutschlands, Europas und der
Welt. Der 11. November 1989 hat sich seitdem tief im historischen Gedächtnis der Weltöffentlichkeit verankert und löst mit seinen Bildern auch im Jahr 2015 noch Gänsehaut
aus.1 Seit 1989 können in den Medien jedes Jahr im Herbst diverse Dokumentationen
zum Thema der friedlichen Revolution verfolgt werden. Tatsächlich befassen sich die
meisten dieser Infotainment-Produktionen ausschließlich mit den bequemeren Inhalten der Wende. Der Begriff Infotainment bezeichnet dabei ein Medianangebot, bei dem
1
Interview mit Egon Bahr, in: Heribert Schwan/Rolf Steiniger (Hrsg.), Mein 9. November 1989, Düsseldorf 2009,
S. 29–34, hier S. 30.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.492ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
12
Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen
historia.scribere 08 (2016)
das Publikum gleichzeitig informiert und amüsiert werden soll.2 Eine differenzierte Sicht
auf die Ereignisse zwischen 1988 und 1990 gibt in den meisten Fällen nur die historische
Fachliteratur. Dieser Bereich zeichnet sich mittlerweile durch eine große Anzahl von Autoren aus, die sich auf das Thema der komplexen Geschichte der Wiedervereinigung
spezialisiert haben. Der größte Teil der wissenschaftlichen Arbeiten befasst sich dabei
mit der Analyse der politischen Geschichte. Im Zuge dieser Forschungen entstand eine
Vielzahl an Zeitzeugeninterviews und Erlebnisberichten, die neben ereignisgeschichtlichen Informationen auch Auskünfte über die unterschiedliche Wahrnehmung des
Umbruchs in Ostdeutschland enthalten. Mit dieser Wahrnehmung beschäftigt sich die
vorliegende Arbeit. Es wird die Frage geklärt, wie die Ereignisse in der Zeit der Wende
von der DDR-Bevölkerung empfunden wurden. Grundsätzlich wird angenommen, dass
die Wirren der Wende zunächst als unkoordiniertes Durcheinander wahrgenommen
wurden und durch den Wandel im Staatssystem Ängste und Hoffnungen entstanden.
Um diese Thesen zu belegen, nimmt der Text Bezug auf bereits veröffentlichte Interviews und Kommentare von Personen, die direkt in die Geschehnisse des politischen
Umbruchs 1988–1990 involviert waren. Außerdem stehen sieben unveröffentlichte
Zeitzeugengespräche zur Verfügung, die vom Autor dieser Arbeit mit ehemaligen DDRBürgerInnen geführt wurden.3 Alle InterviewpartnerInnen hielten sich im untersuchten
Zeitraum auf dem Gebiet des heutigen Freistaates Sachsen auf. Diese Zeitzeugeninterviews ermöglichen eine detailliertere Darstellung der Wendeeindrücke einzelner DDRBürgerInnen.
Zur umfassenden Beschreibung dieser Eindrücke wird in den folgenden Kapiteln zunächst auf den Begriff der Wende an sich eingegangen. Im Anschluss daran widmet
sich die Arbeit den unterschiedlichen Wahrnehmungen der Vorwendezeit, der Hochwendezeit und der Nachwendezeit. Unter der Vorwendezeit ist dabei der Zeitraum vom
subjektiv eingeschätzten Beginn der Revolution bis zum Herbst 1989 zu sehen. Mit der
Hochwendezeit werden die Ereignisse im Oktober und November 1989 verbunden und
in die Nachwendezeit fallen alle Empfindungen, die sich aus der Wiedervereinigung
ergeben haben.
2
3
Bibliographisches Institut GmbH, Duden.de, 2016, [http://www.duden.de/rechtschreibung/Infotainment], eingesehen 3.4.2016.
Bei den Interviews handelt es sich um qualitative Befragungen mit offenen Fragen. Sie wurden vom Autor der Arbeit persönlich durchgeführt. Alle interviewten Personen sind aus dem familiären Umfeld bzw. dem Bekanntenkreis des Autors, weil davon auszugehen war, dass sich dadurch eine gewisse Offenheit einstellt. Es wurde darauf
geachtet, dass InterviewpartnerInnen aus jedem Geschlecht, jedem sozialen Stand und jeder relevanten Altersklasse an der Befragung teilnahmen. Die Interviews fanden in jedem Fall bei den Befragten Personen Zuhause
statt. Andere Personen hielten sich zum Zeitpunkt der Gespräche nicht in den Räumlichkeiten auf. Zunächst
wurde den Interviewten ein Einblick in den Hintergrund des Interviews gegeben und erfragt, ob von Seiten des
Interviewleiters private Fragen erlaubt sind. Anschließend wurden nacheinander die vier Hauptfragen gestellt.
Die erste Frage bezog sich darauf was persönlich unter dem Begriff Wende verstanden wird. Mit der zweiten
Frage wurde die Wahrnehmung der Vorwendezeit, mit der dritten die der Hochwendezeit und mit der vierten
die der Nachwendezeit erfragt. Wenn die InterviewpartnerInnen nichts zu ihren damaligen Lebensumständen
äußerten, wurden diese – sofern zuvor vereinbart – durch detaillierte Fragen zu Beruf, Familienstand und Lebenszufriedenheit in Erfahrung gebracht. Der zeitliche Aufwand eines Gesprächs variierte im Bereich von 26 bis zu 72
Minuten. Alle Interviews wurden mit Hilfe eines Tonbandgerätes aufgezeichnet. Diese Aufzeichnungen dienten
dem Autor als Quelle.
historia.scribere 08 (2016)
Philipp Ebell
13
Als größte Schwierigkeit und gleichzeitig großer Mehrwert dieser Arbeit ist das spärliche
Angebot an Fachliteratur zu sehen. Es finden sich, wie oben schon erwähnt, Unmengen
an Sammelbänden, Aufsätzen und Monographien, die sich generell mit der Thematik
Wende und Wiedervereinigung befassen. Eine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit der
Mentalitätsgeschichte der Wendezeit befasst und mit der die hier erarbeiteten Ergebnisse verglichen werden können, wurde trotz intensiver Recherche nicht entdeckt. Diese
Lücke soll durch die vorliegende Arbeit zum Teil geschlossen werden. Dazu werden in
den nächsten Kapiteln verschiedenste Aussagen und Erkenntnisse aus den bereits erwähnten Interviews in den historischen Kontext gesetzt. Durch diesen Vorgang ergibt
sich im Endeffekt ein schlüssiges Gesamtbild, das die Wendementalität der Ostdeutschen charakterisiert, ohne sich der stereotypischen Bilder des Mauerfalls zu bedienen.
Was ist die Wende?
Befasst sich eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Thema der Mentalitätsgeschichte
im Zeitraum der Wende 1989, ist vorab zu bestimmen, was unter dem Begriff „Wende“
zu verstehen ist. Eine im Zuge dieser Arbeit durchgeführte Stichprobenbefragung unter Studierenden der Universität Innsbruck kommt zu dem Ergebnis, dass dreizehn von
zwanzig befragten Personen mit dieser Begrifflichkeit lediglich die Grenzöffnung vom
9. November verbinden.4 Eine Erklärung für diese Ansicht findet sich in der medialen
Inszenierung des Mauerfalls. Die Medien sind sich der Wirkung der Bilder dieses Ereignisses bewusst und nutzen diese gezielt, um möglichst viele ZuschauerInnen zu erreichen. Durch diese Tatsache entwickelt sich eine einseitige Berichterstattung. Obwohl
das Publikum in manchen Fällen wüsste, dass die Öffnungen der Grenzübergänge in
Berlin nur einen kleinen Teil der Ereignisse dargestellt haben, entwickelte sich im Laufe
der Zeit ein gefilterter Blick auf die Wende.5
Die Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen DDR-BürgerInnen6 offenbarten auf die Frage,
was die Wende für sie sei, eine etwas andere Sichtweise. Aus den Aussagen der InterviewpartnerInnen war ohne Ausnahme herauszulesen, dass der 9. November als etwas
Historisches empfunden wurde. Die systemerschütternde Kraft konnte zu dieser Zeit
aber noch keiner erkennen. Aus diesem Grund wurde der Mauerfall von den Zeitzeugen durchweg als ein zweitrangiges Erlebnis dargestellt. Dies macht zum Beispiel die
Aussage von Grit König deutlich: „Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wie ich den
Mauerfall miterlebt habe. Ich glaube, ich bin abends ins Bett gegangen und hab‘ am
nächsten Morgen erst in der Schule davon erfahren.“7
4
5
6
7
Es handelt sich um eine quantitative Befragung von 20 stichprobenartig ausgewählten Personen. Die Befragung
wurde am 15. Januar 2015 zwischen 10:46 Uhr und 13:04 Uhr auf dem Universitätscampus Innsbruck durchgeführt. Von 20 befragten Personen brachten 13 die Wende in Deutschland direkt mit dem Mauerfall in Verbindung,
vier hatten eine abweichende Vorstellung, was unter der Wende zu verstehen sei und drei enthielten sich gänzlich.
Gerhard Jens Lüdeker/Dominik Orth, Zwischen Archiv, Erinnerung und Identitätsstiftung. Zum Begriff und zur
Bedeutung von Nach-Wende-Narrationen, in: Gerhard Jens Ludeker/Dominik Orth (Hrsg.), Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 7), Göttingen 2010, S. 7–17, hier S. 10 f.
Im Besitz des Verfassers.
Interview mit Grit König, durchgeführt von Philipp Ebell, Siegsdorf, 3.1.2015.
14
Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen
historia.scribere 08 (2016)
Entgegen der oben bereits angeführten Meinung, die Wende sei ein punktuelles Ereignis gewesen, waren sich die Befragten einig, dass die Revolution bereits viel früher
begonnen hatte. Unterschiede gab es nur in der genauen Datierung eines Anfangs
und eines Endes. Für manche begann der Umbruch erst mit den Protesten im Oktober
1989.8 Andere waren der Meinung, bereits 1988 eine wachsende Wut in der Bevölkerung wahrgenommen zu haben.9 Unter dem Begriff der „Wende“ sind in dieser Arbeit
also alle Ereignisse subsumiert, die von den Zeitzeugen emotional mit dem systemischen Umbruch in Verbindung gebracht wurden.
Die Wahrnehmung der Vorwendezeit
Im Zuge der Untersuchung stellte sich heraus, dass die desolate Lage, in der sich die
DDR-Wirtschaft befand, durchaus wahrgenommen wurde. Der damals selbständige
Schlosser und Metallbauer Eberhard König beschrieb die Situation folgendermaßen:
„Wir sind zu DDR-Zeiten eigentlich immer nur schwierig an Material herangekommen.
[…] Umso mehr es auf die Wende zuging, so ab 1986/87, hast du gar nichts mehr
gekriegt.“10 Herr König sah in der Zeit vor dem Umbruch dennoch keine Belastung.
Durch die ländliche Lage seines Unternehmens konnte er auf einen Kundenstamm zurückgreifen, der durch Ausbesserungs- und Reparaturarbeiten weiterhin für eine gute
Auslastung im Dreimannbetrieb sorgte.11 Trotzdem setzte er den Beginn der Wende
mit der Verschlechterung der ökonomischen Lage Mitte der 1980er-Jahre gleich. Aufgrund seiner politischen Neutralität, Herr König bezeichnete sich weder als Anhänger
noch als Gegner des politischen Systems der DDR,12 war die wirtschaftliche Situation
seiner Meinung nach das Einzige, was sich hätte ändern müssen, um Ruhe und Frieden
im Land wahren zu können.
Dem größten Teil der DDR-BürgerInnen offenbarte sich die wirtschaftliche Krise des
Landes nicht durch Engpässe in der Materialbeschaffung, sondern durch eine als unzureichend empfundene Konsum- und Luxusgüterbereitstellung. Hohe Preise, mit denen
die Nachfrage gesteuert werden sollte, machten es den Menschen in der Regel sehr
schwer, am Konsum von Luxusgütern teilzunehmen. Das durchschnittliche Monatsgehalt eines Oberstufenlehrers im Jahr 1989 lag bei etwa neunhundert DDR-Mark. Ein
Farbfernseher, der als Luxusgut eingestuft wurde, konnte im gleichen Jahr für den Preis
von 3.500 Mark erstanden werden.13 Dieses Beispiel zeigt, dass die von Erich Honecker
seit 1971 angestrebte „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des
Volkes“14 nicht realisiert werden konnte. Da sich die Bevölkerung aber über den westlichen Rundfunk mit kapitalistischen Lebensentwürfen auseinandersetzte, entbrannte
8
9
10
11
12
13
14
Interview mit Andreas Friedrich, durchgeführt von Philipp Ebell, Dresden, 19.12.2014.
Interview mit Jan Ebell, durchgeführt von Philipp Ebell, Oberwiesenthal, 27.12.2014.
Interview mit Eberhard König, durchgeführt von Philipp Ebell, Oberwiesenthal, 21.12.2014.
Ebd.
Ebd.
Interview mit Ute Ebell, durchgeführt von Philipp Ebell, Oberwiesenthal, 27.12.2014.
André Steiner, Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der
DDR, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR (Sammlung
Vandenhoeck), Göttingen 1999, S. 153–192, hier S. 155.
historia.scribere 08 (2016)
Philipp Ebell
15
immer mehr der Wunsch nach Konsum.15 Unter den DDR-Bürgern wuchs eine Unzufriedenheit, die sich in einer vermehrten Anzahl an Ausreiseanträgen nieder- bzw. in
Wut gegen das System umschlug.16
Jan Ebell, der Ende September 1989 freiwillig seine Offizierslaufbahn bei den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee beendete, nahm die tief sitzende Frustration über
die schwache Wirtschaft und die Innovationslosigkeit der DDR zum ersten Mal 1988
auf der Leipziger Herbstmesse wahr. Hintergrund dieser Erfahrung war die groß angekündigte und sehnlichst erwartete Präsentation des neuen Wartburgmodells. Den
Ausführungen Ebells zufolge erwartete sich die DDR-Bevölkerung einen wirtschaft–
lichen Aufschwung durch die Produktion und den Export des neuen PKWs. Entsprechend ernüchtert waren die Anwesenden, als sich herausstellte, dass es sich bei dem
neuen Fahrzeug lediglich um die alte Karosserie handelte, die mit einem stärkeren VWMotor ausgestattet war.17 Herr Ebell erinnerte sich im Gespräch daran, wie er nach der
Premiere des Wagens durch das Präsentationszelt auf dem Messegelände gegangen
sei und kein einziger der etwa tausend Besucherinnen und Besucher einen positiven
Gedanken äußern konnte.18 Seit diesem Vorfall, betonte er weiter, hätten die Menschen
in der DDR auf die kleinsten politischen Entscheidungen, wie das Verbot des Magazins
Sputnik, überaus sensibel reagiert.19 Bei ihm löste die Wahrnehmung der Wut in der
Gesellschaft ein Gefühl des Unbehagens aus. Er sah die Gefahr, dass im Falle eines Aufruhrs die Armee und damit er selber zum Einsatz hätte kommen können, um Aufstände niederzuschlagen. Dass Sorgen dieser Art durchaus legitim waren, zeigte sich in der
Reaktion der chinesischen Regierung auf die Studentenproteste 1989. Die Staatsmacht
ließ die Demonstrationen von Peking in der Nacht vom 3. zum 4. Juni blutig niedergeschlagen und auch die Folgetage waren durch brutale militärische Aktionen gegen die
Demonstrierenden gekennzeichnet.20
Das Massaker in Peking entfachte in der DDR eine Diskussion darüber, wie weit ein
Staat gehen darf, um die sozialistischen bzw. kommunistischen Werte zu schützen. Exemplarisch für diese Debatte und den Mentalitätswandel sind die Aussagen von Grit
König und Ute Ebell. Frau König, die 1989 die achte Klasse einer Mittelschule besuchte,
berichtete von Entsetzen und der geschlossenen Ablehnung der Ereignisse in ihrer
Klasse. Sie selbst war empört darüber und empfand die Tatsache, dass eine sozialistische Regierung ihren Machtanspruch mit Waffengewalt durchsetzen musste, als den
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16
17
18
19
20
Stefan Wolle, Der Traum vom Westen. Wahrnehmung der bundesdeutschen Gesellschaft in der DDR, in: Konrad
H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR (Sammlung Vandenhoeck),
Göttingen 1999, S. 195–211, hier S. 197 f.
Herbert Wagner, Die Novemberrevolution 1989 in Dresden. Ein Erlebnisbericht, in: Konrad Löw (Hrsg.), Ursachen
und Verlauf der deutschen Revolution 1989 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschland Forschung 33), Berlin
2
1993, S. 9–15, hier S. 9.
Interview mit Jan Ebell.
Ebd.
Ebd.
Cable, From: U.S. Embassy Beijing, To: Department of State, Wash DC, What Happened on the Night of June 3/4?,
22.6.1989 (Document 31), in: Jeffrey T. Richelson/Michael L. Evans (eds.), Tiananmen Square, 1989: The Declassified
History (National Security Archive Electronic Briefing Book No. 16), 1.1.1999, [http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/
NSAEBB/NSAEBB16/], eingesehen 21.1.2015.
16
Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen
historia.scribere 08 (2016)
Beginn der eigentlichen Wende.21 Auch Frau Ebell, die damals als Gymnasiallehrerin
beschäftigt war, fiel auf, dass ihre SchülerInnen häufiger Fragen stellten. Dabei ging es
meist darum, wie sich die Lehren des Sozialismus und Gewalt gegen das eigene Volk
vereinbaren lassen. Sie selbst war der Meinung, dass „ein Staat der auf seine Jugend
schießt, seine Daseinsberechtigung verspielt hat.“22 Lehrkörper, betonte sie, mussten
bei der Verbreitung einer solchen Einstellung allerdings Vorsicht walten lassen. Grund
dafür war, dass die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz in der DDR nicht öffentlich
geächtet wurden. Lehrpersonen, die wie Frau Ebell eine ablehnende Haltung zur Reaktion der chinesischen Regierung vertraten, hatten sich im Allgemeinen vor höheren
politischen Institutionen zu rechtfertigen und im schlimmsten Fall ein Berufsverbot zu
befürchten.23 Angesichts einer solchen Gewaltverharmlosung entwickelte sich auch
bei ihr eine Grundeinstellung, die das ostdeutsche System in Frage stellte. Gleichzeitig
hatte sie Angst, dass es in der DDR im Zuge der Demonstrationen zu einem ähnlichen
Vorgehen hätte kommen können wie in der Volksrepublik China.24
Die Situation der Vorwendezeit wurde im Großen und Ganzen als eine unruhige Phase des Umbruchs gesehen. Es war spürbar, dass es innerhalb der Bevölkerung gärte,
wodurch Wut und Ablehnung stetig wuchsen. Unterdessen manifestierten sich aber
auch Ängste und eine Ungewissheit über das, was die Zukunft bringen würde. Diese
unterschiedlichen Gefühle und Eindrücke ebneten den Weg für die weiteren Etappen
der friedlichen Revolution.
Die Wahrnehmung der Hochwendezeit
Wie einleitend bereits erwähnt, wird unter der Hochwendezeit in dieser Arbeit der
Herbst 1989 verstanden. Die Mentalitätsgeschichte in dieser Periode setzt sich demzufolge aus der Analyse dreier Aspekte zusammen. Es handelt sich bei diesen Aspekten
um die Wahrnehmung von Demonstrationsbewegungen, die Aufnahme von politischen Entscheidungen und die Beurteilung des Mauerfalls durch die Bevölkerung.
Charakteristisch für den Wendeherbst war das öffentliche Zutagetreten des aufgestauten Unmutes. Während es bis September 1989 kaum öffentliche Oppositionsbewegungen gab, formierten sich in Leipzig, Dresden, Halle an der Saale, Magdeburg und
anderen Städten seit September Großdemonstrationen, die allesamt für eine Veränderung der DDR eintraten. Den ersten Höhepunkt erreichten die Proteste in Dresden.
Dabei kam es in der Nacht des 4. Oktobers im Gebiet des Hauptbahnhofes zu Protesten, bei denen es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und staatlichen Sicherheitskräften kam.25 Ursache für diese Eskalation war ein
Flüchtlingszug, der DDR-BürgerInnen aus der Prager Botschaft nach Westdeutschland
bringen sollte. Aufgrund einer Anweisung des Politbüros der DDR durfte der Zug nicht
21
22
23
24
25
Interview mit Grit König.
Interview mit Ute Ebell.
Ebd.
Ebd.
Wagner, Novemberrevolution, S. 10.
historia.scribere 08 (2016)
Philipp Ebell
17
über Nachbarländer in die BRD fahren, sondern musste den direkten Weg durch die
Deutsche Demokratische Republik wählen.26 Den Aussagen Andreas Friedrichs zufolge
fasste die demonstrierende Bevölkerung diese Machtdemonstration als Provokation
auf. Laut ihm konnten die Menschen nicht verstehen, warum die Flüchtlinge noch einmal durch ostdeutsches Staatsgebiet gefahren wurden. Die DemonstrantInnen waren
der Meinung, die Regierung wolle beweisen, dass sie nach wie vor Herrin der Lage sei
und kein Handlungsbedarf bestünde. Herr Friedrich, ein damals 33-jähriger Ingenieur,
nahm selbst an einigen der Demonstrationen in Dresden teil. Die Zurschaustellung der
Flüchtlinge wurde von ihm und anderen Anwesenden als tiefe Demütigung derjenigen empfunden, die nicht ausreisen konnten. Dadurch entstand eine besorgniserregende Spannung in den Reihen der Demonstranten.27 Hinzu kam, dass Ausreisewillige
aus Dresden und der ganzen Republik im angekündigten Zug ihre letzte Möglichkeit
sahen, das Land in Richtung Westen zu verlassen. Dieser Umstand führte ebenfalls zu
einer Steigerung des Aggressionspotenzials.28 Jan Ebell berichtete im Interview von
den Erfahrungen seines jüngeren Bruders Christian Ebell, der 1989 als Schüler an der
Polizeischule in Dresden tätig war. Den Ausführungen ist zu entnehmen, dass die Absicherung des Bahnhofes und des passierenden Zuges ein traumatisierendes Ereignis
für den jungen Polizisten war. Zur Sprache kamen beispielsweise Briefe, die der Bruder an seine Mutter geschrieben hatte. In diesen Briefen wurden die Ereignisse des
4. Oktobers als anarchistisch und kriegsähnlich beschrieben. Außerdem berichteten
die Schriftstücke von großer Unsicherheit sowie Hilflosigkeit in der Konfliktsituation
mit den DemonstrantInnen.29 Dieser Erlebnisbericht deckt sich sehr gut mit dem Text
von Herbert Wagner, in dem von „zum Teil […] Wehrpflichtigen […], die den Eindruck
von Unsicherheit hinterließen“,30 die Rede ist. Die Ausschreitungen in Dresden sollten
die einzigen Proteste der Wende bleiben, bei denen Gewalt von den Aufständischen
ausging.
In den nächsten Tagen verlagerten sich die Demonstrationen in das Stadtzentrum.
Obwohl sich noch keine Führung der Protestbewegung formiert hatte, gab es den
einheitlichen Wunsch, gewaltfrei zu demonstrieren. Trotzdem, so betonte Zeitzeuge
Andreas Friedrich, wirkten die Menschenansammlungen spontan und unstrukturiert.
Er selbst fühlte sich in der Menge der Protestierenden zwar einigermaßen sicher, doch
drangen immer wieder Informationen durch, wonach die Ordnungskräfte zum Teil
wahllos Menschen verhaften ließen und Versammlungen auflösten.31 Den offiziellen
Berichten zufolge belief sich die Zahl der Verhaftungen zwischen dem 4. und 5. Oktober 1989 auf etwa 1.103 Personen.32
Eine mögliche Interessensvertretung der Dresdner Opposition entstand erst nach den
staatlich verordneten Jubiläumsfeiern zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung. Die Er26
27
28
29
30
31
32
Wagner, Novemberrevolution, S. 10.
Interview mit Andreas Friedrich.
Wagner, Novemberrevolution, S. 10.
Interview mit Jan Ebell.
Wagner, Novemberrevolution, S. 10.
Interview mit Andreas Friedrich.
Wagner, Novemberrevolution, S. 12.
18
Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen
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nennung dieser Interessensvertretung, die später auch „Gruppe der 20“ genannt wurde, ist ein Indiz für die Impulsivität der Wendebestrebungen, da alle zwanzig Mitglieder aus den Reihen der Demonstranten kamen und auf der Straße durch Akklamation
gewählt wurden.33 Durch diese Vorgehensweise konnte sichergestellt werden, dass die
„Gruppe der 20“ eine repräsentative Volksvertretung darstellte. Um diese Repräsentativität belegen zu können, baten die Mitglieder der „Gruppe der 20“ jeden Bürger der
Stadt Dresden um die Spende einer symbolischen Mark, sofern er sie als rechtmäßige
Interessensvertretung akzeptierte. Innerhalb kürzester Zeit kamen auf diese Art und
Weise über 100.000 DDR-Mark und damit über 100.000 Stimmen für die „Gruppe der
20“ zustande.34
Generell waren die Prozesse des Zusammenschlusses in Dresden von einer breiten Einigkeit und dem allgemeinen Wunsch nach Veränderung in der Bevölkerung geprägt.
In Leipzig, der Stadt der „Montagsdemonstrationen“, bei denen ab September 1989
bis zu 500.000 Menschen35 für Freiheit und Demokratie auf die Straße gingen, war die
Situation nicht anders. Die Lage am 9. Oktober, dem nächsten Höhepunkt der Oppositionsbewegungen dieses Herbstes, hätte nicht gespannter sein können, denn „Staatlicherseits [wurde] die ‚chinesische Lösung‘ [für Leipzig] vorbereitet.“36 Trotz des Schießbefehls, der zumindest in einigen Teilen der Bevölkerung bekannt war, gingen an diesem Abend allein in Leipzig etwa 70.000 friedliche Demonstranten auf die Straße. Als
sich die bewaffneten Organe dieser Übermacht gegenübergestellt sahen, wurde klar,
dass eine Auflösung der Demonstration selbst unter dem Einsatz von Schusswaffen
nicht mehr möglich war.37 Wie ungewiss der Ausgang dieses Tages und wie unsicher
die Leipziger Bevölkerung eigentlich war, wird an folgendem Zitat einer unbekannten
Leipzigerin klar: „ Am 9. Oktober haben wir uns von den Kindern verabschiedet und
uns gesagt: Also wir wissen jetzt nicht, wie‘s weitergeht, wir gehen aber.“38 Die Äußerung offenbart, ergänzend zu der bereits angesprochenen Unsicherheit, die enorme
Entschlossenheit Veränderungen im Land herbeizuführen. Die Option, Gewalt am eigenen Leib zu erfahren, wurde dabei in Kauf genommen. Auch führende Persönlichkeiten der Montagsdemos wie Kurt Masur (Gewandhauskapellmeister und Mitglied
der „Leipziger Sechs“39) oder Christian Führer waren trotz ihrer Forderungen nach friedlichen Protesten nicht davon überzeugt, dass der Abend des 9. Oktobers ohne Blutvergießen auskommen würde.40 Umso euphorischer wurden der friedliche Ausgang
33
34
35
36
37
38
39
40
Wagner, Novemberrevolution, S. 13.
Ebd.
o. A., Trotz des neuen Reisegesetzes in der DDR: Der Zorn der Bürger wächst, in: Hamburger Abendblatt, 7.11.1989,
[www.abendblatt.de/archive/1989/pdf/19891107.pdf/ASV_HAB_19891107_HA_001.pdf ], eingesehen 30.3.2016.
Martin Jankoski, Der Tag, der Deutschland veränderte. 9. Oktober 1989 (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen 7), Leipzig 2007, S. 81.
Ebd., S. 111.
Jankoski, 9. Oktober 1989, S. 80.
Die „Leipziger Sechs“ waren eine Gruppe prominenter Leipziger, die für einen friedlichen Weg der Revolution
eintraten. Mitglieder der Gruppe waren Kurt Masur (Gewandhauskapellmeister), Dr. Peter Zimmermann (Pfarrer),
Bernd-Lutz Lange (Kabarettist) sowie Dr. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel (Sekretäre der SEDBezirksleitung). Siehe Erhart Neubert, Leipzig, 9. Oktober 1989. „Wir sind das Volk!“, 7.10.2007, [http://www.spiegel.
de/einestages/leipzig-9-oktober-1989-a-948186.html#], eingesehen 3.4.2016.
Jankoski, 9. Oktober 1989, S. 74, 80.
historia.scribere 08 (2016)
Philipp Ebell
19
und die dadurch bewiesene Macht der Masse aufgenommen: „Die Nachricht, dass die
Demonstration in Leipzig friedlich verlaufen war, löste in der gesamten DDR eine kaum
zu beschreibende Freude aus.“41
Dennoch lösten die Proteste in Teilen der Bevölkerung auch negative Gefühle aus.
DDR-BürgerInnen, die weder unter politischer Verfolgung durch das Regime noch
der wirtschaftlich schwachen Lage der DDR zu leiden hatten, konnten mitunter nicht
verstehen, warum die demonstrierende Masse nach Freiheit und vor allem Einheit
verlangte. Herr Ebell war beispielsweise seit frühester Kindheit Hochleistungssportler
im politischen System der DDR gewesen. Kurze Zeit nach Beendigung seiner Karriere
begann er an der Offiziershochschule in Kamenz ein Studium der Gesellschaftswissenschaften. Für ihn war der Westen, die BRD, schon immer ein Feindbild, was sich durch
intensive Propaganda, der er im Laufe der Jahre ausgesetzt war, weiter verfestigte. Er
selbst sagte zu seiner politischen Einstellung im Interview: „Zu Beginn der Demonstrationen 1989 war ich von den Geschehnissen angeekelt, als dann aber immer mehr
herauskam, was im Hinterstübchen der DDR überhaupt passierte, begann ich meine
Einstellung zu überdenken.“42
Ein weiterer DDR-Bürger, bei dem die Wendezeit und besonders der Abend des 9. November negative Gefühle hervorgerufen hatten, war Oberstleutnant Harald Jäger. Laut
Hertle sorgte er mit seiner Entscheidung, den Schlagbaum am Grenzübergang der
Bornholmer Straße zu öffnen, für den Zusammenbruch der innerdeutschen Grenze.43
Diese Aussage ist jedoch kritisch zu betrachten. Im Gespräch mit der „Tageszeitung“
schilderte er, dass er sich in der Nacht des Mauerfalls von seinen Vorgesetzten und der
militärischen Führung der DDR im Stich gelassen fühlte. Er ist der Meinung, dass sich
Günter Schabowski nicht im Klaren darüber gewesen sei, was seine Äußerungen zur
sofortigen und unverzüglichen Ausreiseerlaubnis an den Grenzübergängen auslösen
würden.44 Der massive Menschenauflauf vor den Grenzanlagen der Bornholmer Straße
setzte Jäger so stark unter Druck, dass er zum Schutze seiner Mitarbeiter und zur Sicherung des Friedens den Schlagbaum öffnen ließ. Unmittelbar nach dem Öffnen der
Grenze stürzte er laut eigener Aussage ins Bodenlose und war von tiefer Trauer erfüllt.
Für ihn war die eigenmächtige Niederlegung der Grenzkontrollen das Schlimmste, was
er je tun konnte und es dauerte einige Zeit, bevor Jäger begreifen konnte, welche
entspannende Wirkung seine Tat auf die Stimmung in der DDR hatte.45 Aus den Aussagen Jägers wird klar, dass es ohne den enormen Menschenauflauf am Grenzübergang
Bornholmer Straße und die damit verbundene Hektik nicht zu einer so unmittelbaren
Grenzöffnung gekommen wäre. Nicht Harald Jäger war es, der die innerdeutsche Grenze zusammenbrechen lies. Die BürgerInnen, die am Abend des 9. Novembers 1989 vor
dem Grenzübergang ihre Reisefreiheit forderten und die Menschen, die in den Tagen
41
42
43
44
45
Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1982, S. 854.
Interview mit Jan Ebell.
Hans Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Bielefeld
200911, S. 166.
Anne Haeming, „Der Grenzer, der die Mauer öffnete“: Interview mit Harald Jänger vom 5.11.2014, in: Die Tages
zeitung, [http://www.taz.de/!148937/], eingesehen 12.1.2015.
Ebd.
20
Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen
historia.scribere 08 (2016)
zuvor in den Städten der DDR protestierten, waren es, die den Fall der Grenze herbeiführten.46
Die Wahrnehmung der Nachwendezeit
Bei der Betrachtung der Nachwendezeit wird deutlich, dass es sich nur theoretisch
um eine abgeschlossene Periode handelt. Der aktuelle deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, der die „Wende“ als DDR-Bürger miterlebte, ist der Ansicht, dass sich in
der Zeit der deutschen Teilung zwei unterschiedliche Kulturen entwickeln konnten.
Diese gelte es zu einer Kultur zu vereinen. Er selbst vertritt den Standpunkt, dass dieser
Prozess mindestens die gleiche Zeit in Anspruch nehmen würde, wie die deutsche
Teilung selbst gedauert habe. Wahrscheinlich müsse sogar mehr Zeit dafür eingeplant
werden.47 Da es im Rahmen dieser Arbeit unmöglich ist, einen Zeitraum von 25 Jahren
Mentalitätsentwicklung darzustellen, bezieht sich der folgende Abschnitt lediglich auf
den Zeitraum vom Mauerfall bis 1992.
Die erste Reaktion, die mit dem Mauerfall in Verbindung zu bringen ist, war ein zahlenmäßiger Rückgang von Demonstrationsteilnehmenden bei den „Montagsdemonstrationen“. Die Bevölkerung spürte, dass sie mit der Öffnung der Grenze erheblich an Einfluss gewonnen hatte. Durch diese neue Kraft war es plötzlich nicht mehr nötig, eine
halbe Million Menschen auf der Straße zu mobilisieren, um gegen undemokratische
Verhältnisse zu demonstrieren. Mit dem Mauerfall war die DDR-Regierung gezwungen, sich der Belange ihrer Bevölkerung anzunehmen. Daraus entstand eine gänzlich
neue Verhandlungsbasis. Der Umbruch, der durch den Druck einiger hunderttausend
Menschen ins Rollen kam, wurde ab dem 9. November 1989 von vergleichsweise wenigen Tausend weitergeführt. Halb scherzhaft, halb ernst führte Herbert Wagner die
Tatsache an, dass die ehemaligen DemonstrantInnen keine Zeit mehr hatten, um zu
demonstrieren, da sie in Westberlin bzw. Hof unterwegs waren um einzukaufen.48
Von der neu erlangten Reisefreiheit profitierte auch Grit König. Sie gab im Interview zu
verstehen, dass sie in der DDR niemals studiert hätte, da die Studienmöglichkeiten einfach nicht ihrer Vorstellung entsprachen. Im wiedervereinigten Deutschland studierte
sie dann doch. Laut eigener Aussage kam die Wende für sie genau zum richtigen Zeitpunkt. Sie hatte sich 1989 noch nicht entschieden, in welche Richtung sich ihr Leben
weiter entwickeln sollte. Dadurch war Frau König flexibel und konnte rasch auf die
veränderte Lebenswelt reagieren.49
Etwas anders erging es den Eltern von Grit König. Frau Heidi König assoziierte mit der
unmittelbaren Nachwendezeit größtenteils negative Erfahrungen. In ihrem Fall bestätigten sich die Befürchtungen, die sie schon im Laufe der „Vorwendezeit“ hatte, denn
sie wurde zum ersten Mal im Leben arbeitslos. Insgesamt empfand Frau König die
46
47
48
49
Antje Hildebrandt, „Der Spitzel macht die Mauer auf“, in: Zeit Online 45 (2011), [http://www.zeit.de/2011/45/
S-Jaeger/komplettansicht], eingesehen 30.3.2016.
Paul Schulmeister, Wende-Zeiten. Eine Revolution im Rückblick, St. Pölten-Salzburg 2009, S. 131.
Wagner, Novemberrevolution, S. 14.
Interview mit Grit König.
historia.scribere 08 (2016)
Philipp Ebell
21
Wiedervereinigung als eine Möglichkeit des Westens, an günstige Arbeitskräfte heranzukommen. Um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, wurde ihr empfohlen, sich in Westdeutschland zu bewerben.50 Sie traf damit das gleiche Los wie viele andere ehemalige
Angestellte, die in DDR-Betrieben beschäftigt waren. Im Zuge der Wiedervereinigung
wurde das DDR-Wirtschaftssystem privatisiert und durch westliche Firmen aufgekauft.
Für die Produktionsstandorte Ostdeutschlands bedeutete das nicht selten eine Automatisierung der Prozesse, eine Standortverlagerung ins Ausland und oftmals eine
gänzliche Stilllegung. Dies führte in den meisten Gebieten der ehemaligen DDR dazu
geführt, dass Industriezentren zu strukturschwachen Regionen verfielen. Teilweise hatten solche Landstriche mit sechzig und mehr Prozent Arbeitslosigkeit zu kämpfen.51 Die
Arbeitsplatzunsicherheit führte in der Folge zu einer starken Arbeitsmigration in die
alten Bundesländer. Allerdings waren es meist junge, ungebundene Personen, die sich
von den vielfältigen Optionen des westlichen Arbeitsmarktes locken ließen. Erwerbslose, die wie Heidi König über Familie oder Wohneigentum stärker an ihren bisherigen
Standort gebunden waren, konnten der schlechten Arbeitsmarktsituation nicht ohne
weiteres entfliehen.52 Diese Situation spiegelt sich in der eher negativen Beurteilung
der unmittelbaren Nachwendezeit durch Frau König wider.53 Ihr Mann Eberhard König
hatte sich mit seinem Schlossereibetrieb auf eine völlig neue ökonomische Situation
einzustellen. Das Geschäft florierte zunächst unter dem Einfluss einer nie zuvor dagewesenen Bautätigkeit privater Investoren, die Zahlungsmoral für erbrachte Leistungen
wurde laut Einschätzung Königs dagegen immer schlechter und teilweise blieb der
Unternehmer auf seinen Kosten sitzen. Mit der Veränderung des Warenangebots und
der Mentalität der Bevölkerung schwanden die Reparatur- und Ausbesserungsaufträge
von Jahr zu Jahr. Als später auch die privaten Bauträger ausblieben, konnte der Kleinbetrieb einem Insolvenzverfahren nur mit Mühe entgehen.54
Jan Ebell, der nach seinem Austritt aus der Nationalen Volksarmee als ökonomischer
Leiter am DTSB-Standort55 in Oberwiesenthal eingesetzt wurde, hatte diesen Wandel
im wirtschaftlichen Prinzip ebenfalls zu vollziehen. Er hatte als Geschäftsführer für Angestellte und Finanzverwaltung dafür Sorge zu tragen, dass ein leistungsbezogener
Lohn durchgesetzt wurde. Die Erinnerungen an diese Umstrukturierung wurden eher
als bedrückend empfunden, da die meisten langjährigen Mitarbeiter mit Lohneinbußen konfrontiert wurden und Herr Ebell sich dadurch extremen Anfeindungen aussetzen musste.56 Auch die Entlassung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Streichung seiner Arbeitsstelle verursachte ein Gefühl der Verunsicherung. Für ihn schlug
diese Verunsicherung allerdings in eine Chance um, da er nach einer Umschulung zum
50
51
52
53
54
55
56
Interview mit Heidi König, durchgeführt von Philipp Ebell, Oberwiesenthal, 21.12.2014.
Ralf Ahrens/André Steiner, Wirtschaftskrisen, Strukturwandel, und internationale Verflechtungen, in: Frank Bösch
(Hrsg.), Geteilte Geschichte, Göttingen 2015, S. 79–116, hier S. 113 f.
Winfried Süß, Soziale Sicherheit und soziale Ungleichheit in wohlfahrtsstaatlich formierten Gesellschaften, in:
Bösch, Geteilte Geschichte, S. 153–194, hier S. 191.
Interview mit Heidi König.
Interview mit Eberhard König.
DTSB = Deutscher Turn- und Sportbund.
Interview mit Jan Ebell.
22
Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen
historia.scribere 08 (2016)
Informatiker mit den Vorkenntnissen eines ökonomischen Leiters eine gern gesehene
Arbeitskraft auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt darstellte. Heutzutage beschreibt
Jan Ebell sein Auftreten bei den ersten Bewerbungsgesprächen in westdeutschen
Unternehmen 1991 als sehr naiv. Um diese Naivität mit einem Beispiel zu belegen,
schilderte er die Erfahrungen seines ersten Bewerbungsgespräches. Überwältigt vom
Eindruck des Großraumbüros, sei er demnach kaum in der Lage gewesen, ein ernst zu
nehmendes Gespräch zu führen.57
Alle vier soeben angesprochenen Personen hatten unterschiedliche Ausgangssituationen, die nach der Wende zu einer individuellen Bewältigung des Strukturwandels
führten. Was jedoch in allen vier Interviews vorkam und sich glich, ist das Erstaunen
über die Produktvielfalt der westlichen Konsumwelt. In den meisten Fällen wurde die
Produktvielfalt als ein positiver Aspekt der Wende gesehen. Mitunter gab es aber auch
Personen, die sich von der riesigen Auswahl erschlagen fühlten.58 Nichtsdestotrotz war
unter den interviewten Personen keine, die nicht direkt am Konsum teilnahm. Diese
Tatsache ist jedoch keineswegs verwunderlich. Das Konsumverhalten von Ost- und
Westdeutschen hatte sich seit den 1960er-Jahren stark in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Während die freie Marktwirtschaft im Zuge des Wirtschaftswunders
im Westen für einen enormen Anstieg des individuellen Wohlstandes und der Gütervielfalt sorgte, stieg das Wohlstandsniveau in Ostdeutschland nur leicht. Auch die
Konsummöglichkeiten hielten sich im östlichen Teil Deutschlands durch die planwirtschaftlichen Produktionsmethoden auf einem vergleichsweise geringen Niveau.59 Die
BürgerInnen der Bundesrepublik entwickelten zwischen 1960 und 1990 ein Bedürfnis
nach Statusgütern und konnten dieses, sofern sie finanziell in der Lage waren, auch
befriedigen. In der DDR wurden knappe Güter bewusst als Luxusartikel eingestuft und
dadurch für die breite Masse der Bevölkerung unerschwinglich.60 Der Wunsch nach
dem Konsum solcher Waren verbreitete sich aber dennoch. Als es im Herbst 1989
möglich wurde, die Grenzen nach Westdeutschland zu passieren, bot sich für die DDRBevölkerung die Möglichkeit, das Bedürfnis nach Konsumgütern zu stillen.61
Schluss
Die einleitend aufgestellte These, dass die Wirren der „Wende“ zunächst als ein unkoordiniertes Durcheinander gesehen wurden, durch das Ängste und Hoffnungen entstanden, konnte im Zuge der Arbeit belegt werden. Es wurde gezeigt, dass es sich bei der
„Wende“ nicht um einen klar definierbaren Zeitraum handelt. Vielmehr wurden unter
dem Begriff Ereignisse zusammengefasst, die einen größeren Wandel im Denken, Handeln und Fühlen der Beteiligten hervorgerufen haben. Mit Blick auf die geführten In-
57
58
59
60
61
Interview mit Jan Ebell.
Interview mit Heidi König.
Christopher Neumaier/Andreas Ludwig, Individualisierung der Lebenswelten. Konsum Wohnkultur und Familienstrukturen, in: Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015,
S. 239–282, hier S. 242.
Ebd., S. 255.
Ebd., S. 281.
historia.scribere 08 (2016)
Philipp Ebell
23
terviews wird klar, dass jeder Mensch ein eigenes Bild von der Wendezeit hat. Die Fachliteratur tritt in diesem Zusammenhang etwas homogener auf. Aus wissenschaftlicher
Sicht geht es meist um die Interaktionen der politischen Akteure. Die Bilder, die sich
aus diesen Untersuchungen ergaben, sahen in der Regel sehr einheitlich und chronologisch aus. Erst durch die Verbindung mit individuellen Erlebnissen und Empfindungen bekamen diese einzelnen Abschnitte der Wende ihre komplizierte Färbung. Kein
Zeitabschnitt der „Wende“ kann dadurch einfach so für sich stehen. Die Komplexität
einer Demonstration vor dem Dresdner Hauptbahnhof im Jahr 1989 wird nicht durch
die schlichte historische Darstellung von Fakten begreifbar. Erst die Gegenüberstellung
unterschiedlicher Erlebnisberichte aus allen Lagern lässt erahnen, wie durcheinander,
angespannt und nervenaufreibend diese Situation war.
Die Arbeit zeigte, wie unterschiedlich ein politischer Umbruch wahrgenommen werden kann. Die damals heranwachsende Grit König sah in der Öffnung der Grenzen eine
Chance, die sie in der DDR nie gehabt hätte. Für ihre Eltern wurde das Leben durch die
„Wende“ zunächst etwas beschwerlicher. Gemeinsam war allen, dass dieser Wandel
Veränderungen herbeirief, die das eigene Leben bis ins kleinste Detail beeinflussen
konnten.
Insgesamt lässt sich der Schluss ziehen, dass es sich bei der „Wende“ um ein schwer
erfassbares Konstrukt der deutschen Geschichte handelt. Um die Geschehnisse dieses
Umbruchs wirklich zu verstehen, genügt es nicht, Fakten aneinander zu reihen. Es ist
von essentieller Wichtigkeit, einen Blick hinter die Chronologie der Ereignisse zu werfen und diese mit Emotionen zu verknüpfen. Nur dann wird es möglich zu begreifen,
warum sich tausende von Menschen teilweise sogar unter Lebensgefahr für den politischen Wandel in Ostdeutschland einsetzten.
Literatur
Ahrens, Ralf/Steiner, André, Wirtschaftskrisen, Strukturwandel, und internationale Verflechtungen, in: Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland
1970–2000, Göttingen 2015, S. 79–116.
Bibliographisches Institut GmbH, Duden.de, 2016, [http://www.duden.de/rechtschrei
bung/Infotainment], eingesehen 3.4.2016.
Hertle, Hans Hermann, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den
9. November 1989, Bielefeld 200911.
Interview mit Egon Bahr, in: Heribert Schwan/Rolf Steininger (Hrsg.), Mein 9. November
1989, Düsseldorf 2009, S. 29–34.
Jankoski, Martin, Der Tag, der Deutschland veränderte. 9. Oktober 1989 (Schriftenreihe
des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen 7), Leipzig 2007.
Lüdeker, Gerhard Jens/Orth, Dominik, Zwischen Archiv, Erinnerung und Identitätsstiftung. Zum Begriff und zur Bedeutung von Nach-Wende-Narrationen, in: Ders. (Hrsg.),
24
Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen
historia.scribere 08 (2016)
Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 7), Göttingen 2010,
S. 7–17.
Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 19982.
Ders., Leipzig, 9. Oktober 1989. „Wir sind das Volk!“, 7.10.2007, [http://www.spiegel.de/
einestages/leipzig-9-oktober-1989-a-948186.html#], eingesehen 3.4.2016.
Neumaier, Christopher/Ludwig, Andreas, Individualisierung der Lebenswelten. Konsum Wohnkultur und Familienstrukturen, in: Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte.
Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 239–282.
Schulmeister, Paul, Wende-Zeiten. Eine Revolution im Rückblick, St. Pölten-Salzburg
2009.
Steiner, André, Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.), Weg in den
Untergang. Der innere Zerfall der DDR (Sammlung Vandenhoeck), Göttingen 1999,
S. 153–192.
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Interview mit Andreas Friedrich, durchgeführt von Philipp Ebell, Dresden, 19.12.2014.
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Philipp Ebell
25
Interview mit Eberhard König, durchgeführt von Philipp Ebell, Oberwiesenthal,
21.12.2014.
Interview mit Grit König, durchgeführt von Philipp Ebell, Siegsdorf, 3.1.2015.
Interview mit Heidi König, durchgeführt von Philipp Ebell, Oberwiesenthal, 21.12.2014.
Interview mit Jan Ebell, durchgeführt von Philipp Ebell, Oberwiesenthal, 27.12.2014.
Interview mit Ute Ebell, durchgeführt von Philipp Ebell, Oberwiesenthal, 27.12.2014.
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burger Abendblatt, 7.11.1989, [www.abendblatt.de/archive/1989/pdf/19891107.pdf/
ASV_HAB_19891107_HA_001.pdf ], eingesehen 30.3.2016.
Philipp Ebell ist Lehramtsstudent der Fächer Geschichte, Sozialkunde und politische
Bildung, Geographie und Wirtschaftskunde und Bewegung und Sport im 11. Semester
an der Universität Innsbruck. philipp.ebell@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Philipp Ebell, Die „Wende“ 1989 in der Wahrnehmung der Ostdeutschen. Eine Mentalitätsgeschichte, in: historia.scribere 8 (2016), S. 11–26, [http://historia.scribere.at], 2015–
2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
historia
scribere
08 (2016)
Totale Institutionen – Psychiatrien im 19. Jahrhundert am
Beispiel der k.k. Provinzial-Irren-Heilanstalt Hall in Tirol
Dominique Karner
Wirtschafts- und Sozialgeschichte
eingereicht bei: ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum
eingereicht im Semester: WS 2014/15
Rubrik: PS-Arbeit
Abstract
Total Institutions – Mental Asylums in the 19 th Century
The following seminar paper is about mental asylums as „total institutions.” It
analyzes the four important aspects of Erving Goffman’s definition of a total
institution. Finally, the paper discusses whether the psychiatry Hall can be
outlined as one.
Einleitung
„Es gibt nichts Schockierenderes als Idiotie in der Hütte eines irischen Landarbeiters […]. Werden ein kräftiger Mann oder eine Frau von den Beschwerden
befallen, bleibt [den Familienmitgliedern] nichts anderes übrig, als ein Loch in
den Boden der Hütte zu graben, nicht so tief, daß ein Mensch aufrecht darin
stehen könnte, mit einem Lattengerüst darüber, damit er nicht herausklettern
kann. Das Loch ist ungefähr einen Meter fünfzig tief; dort hinein reichen sie
dem bedauernswerten Wesen die Mahlzeit, und dort stirbt es im allgemeinen.“1
Dieses aus dem Jahre 1817 stammende Zitat eines Mitglieds aus dem britischen Unterhaus stellt eine Skizzierung der Verwahrung eines psychisch Kranken in Irland dar, der in
keiner Anstalt untergebracht werden konnte, sondern von seinen Familienmitgliedern
zu Hause verwahrt wurde. Man kann sich vorstellen, dass diese oder zumindest eine
1
William P. Letchworth, zit. n. Edward Shorter, Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1999, S. 13 f.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.471ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
28
Totale Institutionen
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ähnliche Art der Verwahrung vor dem Aufkommen der psychiatrischen Anstalten im
19. Jahrhundert auch in anderen Gebieten Europas eine gängige Methode dargestellt
haben könnte, wie aus Edward Shorters Ausführungen hervorgeht. Er nennt diverse
Fälle von Misshandlungen und menschenunwürdiger Behandlung von psychisch gestörten Menschen. Unter anderem berichtet er über einen 16-jährigen Jungen, der
aufgrund seines „Irrsinns“ 1798 von seinem Vater im Schweinestall angekettet und wie
ein Tier gehalten wurde.2 Diese Umstände verdeutlichen zugleich den immensen Wert,
den die Herausbildung von Orten der Verwahrung wie der Irren-Heilanstalt im 19.
Jahrhundert mit sich brachte. Die Menschen fürchteten sich vor dem Anderssein und
ein abnormales, nicht normgerechtes Verhalten wurde mit „autoritäre[r] Intoleranz“3
bestraft. Häusliche Gewalt gegenüber „geisteskranken“ Familienmitgliedern war laut
Shorter bis ins 19. Jahrhundert keine Seltenheit.4 Mit der Gründung der ersten Anstalten gab es schließlich Institutionen mit Pflege- und Wartpersonal, das sich jener Individuen mit einer kranken Psyche annahm. Dennoch bedurfte es weiterer Jahrzehnte,
bis eine optimale und gewaltfreie Behandlung in diesen Institutionen gewährleistet
werden konnte.
Die folgende Proseminararbeit skizziert zunächst die historische Entwicklung der Psychiatrie bis zum 19. Jahrhundert. Im Anschluss daran werden die zentralen Inhalte des
von Erving Goffman (1922–1982)5 beschriebenen Modells der „Totalen Institution“ dargestellt. Im nächsten Kapitel wird überprüft, ob jene vorgestellten Inhalte aus Goffmans
„Asylums“ auch auf das gewählte Beispiel der Provinzial-Irren-Heilanstalt zu Hall in Tirol
zutreffen und in der Praxis Anwendung gefunden haben. Hierbei soll insbesondere auf
den minutiös vorgegebenen Tagesablauf der Insassen und Insassinnen eingegangen
werden. Abschließend soll eine Antwort auf die Frage, wie die InsassInnen selbst die in
der Anstalt herrschenden strengen Reglementierungen wahrgenommen haben, formuliert werden. Der Untersuchungszeitraum umfasst dabei die Jahre 1830 bis 1900.
Goffmans Werk, das 1961 entstanden ist, zählt zu den Klassikern der Soziologie und
ging aus seiner teilnehmenden Beobachtung am St. Elisabeths Hospital in Washington, D.C. von 1955/6 hervor.6 Es umfasst vier eigenständige Aufsätze, die einander
ergänzen. Der erste Aufsatz mit dem Titel „On the Characteristics of Total Institution“
enthält eine allgemeine Untersuchung des Soziallebens in Orten der Verwahrung. Als
veranschaulichende Beispiele setzt Goffman den Fokus auf psychiatrische Kliniken und
Gefängnisse. Im zweiten Essay „The Moral Career of the Mental Patient“ werden jene
Faktoren untersucht, die auf die sozialen Beziehungen eines Individuums nach dessen
2
3
4
5
6
Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 15.
Ebd., S. 14.
Ebd., S. 15.
Erving Goffman, Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates, London 1991.
Falk Bretschneider/Martin Scheutz/Alfred Stefan Weiß, Machtvolle Bindungen – Bindungen voller Macht. Personal und Insassen in neuzeitlichen Orten der Verwahrung zwischen Konfrontation und Verflechtung, in: Falk
Bretschneider/Martin Scheutz/Alfred Stefan Weiß (Hrsg.), Personal und Insassen von „Totalen Institutionen“ zwischen Konfrontation und Verflechtung (Geschlossene Häuser. Historische Studien zu Institutionen und Orten der
Separierung, Verwahrung und Bestrafung 3), Leipzig 2011, S. 8.
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29
Einlieferung in eine totale Institution einwirken. In „The Underlife of a Public Institution“
werden die Insassen einer öffentlichen Institution selbst ins Licht gerückt. Der letzte
Aufsatz „The Medical Model and Mental Hospitalization“ wiederum stellt das Personal
einer psychiatrischen Anstalt in den Mittelpunkt.7
Als Quellengrundlage, die parallel zu Goffmans „Asylums“ zur Herausarbeitung des
Hauptteils dieser Arbeit genutzt wurde, diente die „Beschreibung“8 des ehemaligen
Heilanstaltsdirektors Johann Tschallener (1783–1855) über die Irren-Heilanstalt Hall in
Tirol. Tschalleners Ausführungen waren zielführend hinsichtlich der Beantwortung der
Forschungsfrage, ob Goffmans Aspekte und Merkmale „Totaler Institutionen“ in Bezug
auf die Irren-Heilanstalt Hall in Tirol des 19. Jahrhunderts zutreffend sind. Ausgehend
von dieser Frage wurde die These formuliert, dass die Haller Anstalt als „Totale Institution“ angesehen werden kann.
Zuletzt sei noch auf das Werk „Psychiatrische Landschaften“9 sowie auf den Ausstellungskatalog „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“10 hingewiesen. Im
erstgenannten Buch geht es um Psychiatriegeschichten, die die PatientInnen und das
Personal psychiatrischer Einrichtungen in Tirol, Südtirol und im Trentino in den Mittelpunkt rücken. Die HistorikerInnen sprechen aber auch Einzelaspekte zur Geschichte der
„‘psychiatrischen Landschaft‘ im ‚historischen Tirol‘ von 1830 bis zur Gegenwart“11an.
Das Begleitbuch „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“ zur Ausstellung
zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol, Südtirol und im Trentino richtet den Fokus insbesondere auf die Patientinnen und Patienten der Anstalten, um die „Psychiatriegeschichte aus Patientenperspektive“12 verfolgen zu können. Diese Lebensgeschichten waren
sehr hilfreich, um die Frage zu beantworten, wie die Insassen der Irren-Heilanstalt Hall
den streng reglementierten Anstaltsalltag empfunden haben.
Die historische Entwicklung der Psychiatrie
Bereits vor dem 18. Jahrhundert gab es in Europa Verwahranstalten (Gefängnisse,
Asyle, Spitäler oder Armenhäuser), die nur für die Unterbringung von Geisteskranken
bestimmt waren, aber keineswegs therapeutische Unterstützung boten.13 Das im 13.
Jahrhundert in London gegründete Priory of St. Mary of Bethlem zählte beispielsweise
7
8
9
10
11
12
13
Goffman, Asylums, S. 11 f.
Johann Tschallener (Hrsg.), Beschreibung der k.k. Provincial-Irren-Heilanstalt zu Hall in Tirol mit Rücksicht auf die
Statuten der Anstalt, auf die therapeutischen und psychologischen Grundsätze der Behandlung der Geisteskranken und ihre achtjährigen Resultate; mit 19 Krankengeschichten und verschiedenen Andeutungen zum Wohl
dieser Unglücklichen; nebst einem Anhange über die Anlage von Zimmern für Irre und Tobende, Innsbruck 1842.
Elisabeth Dietrich-Daum/Hermann J.W. Kuprian/Siglinde Clementi/Maria Heidegger/Michaela Ralser (Hrsg.), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit
1830, Innsbruck 2011.
Maria Heidegger/Celia di Pauli/Lisa Noggler/Siglinde Clementi/Michaela Ralser/Elisabeth Dietrich-Daum/Hermann Kuprian (Hrsg.), Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Eine Ausstellung zur Geschichte der
Psychiatrie in Tirol, Südtirol und im Trentino, Bozen 2012.
Dietrich-Daum et al. (Hrsg.), Psychiatrische Landschaften, S. 12.
Heidegger et al., Ich lasse mich, S. 10.
Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 20 f.
30
Totale Institutionen
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zu einem der ersten Krankenhäuser in Europa, das „psychisch Gestörte“ aufnahm und
bis ins Jahr 1948 als städtische Irrenanstalt fungierte.14
Im Zuge der im 18. Jahrhundert aufkeimenden Idee, dass die Anstalt selbst eine therapeutische Funktion innehaben könnte, kam es zur Herausbildung der Psychiatrie.15
Den Behandlungsfokus legte man neben den medizinischen Anwendungen wie Aderlass, speziellen Diäten und der Verabreichung von Abführ- und pflanzlichen Arzneimitteln auf eine pädagogische Vorgehensweise, die Moral durch strikte Reglementierung, Arbeitszwang, Zucht und Ordnung vermitteln sollte, um geheilte PatientInnen
in die Gesellschaft reintegrieren zu können.16 Die Psychiatrie nahm in der „Geschichte
der Disziplin“17 angesichts der in den Anstalten herrschenden strikten Verordnungen
eine entscheidende Rolle ein. Die Historikerin Andrea Chmielewski geht davon aus,
dass die Ablehnung von „gefährlichen Irren“ durch die Hospitäler mitverantwortlich
für die Gründung von Irrenanstalten im 18. Jahrhundert gewesen sei, da in den Spitälern keine spezielle Beaufsichtigung der „gefährlichen Irren“ gewährt werden konnte.18
Michaela Ralser wiederum erachtet die Anstalten als sogenannte „Epiphänomene der
bürgerlichen Revolutionen“,19 die in Europa ihren Lauf nahmen und schreibt die Entstehung der Irrenanstalten im 18. und 19. Jahrhundert zugleich der „Medikalisierung
der Irrenfrage“20 zu.
Mit Beginn des 19. Jahrhunderts entstand schließlich die „moderne Krankenanstalt als
klinisch-therapeutischer Versorgungsraum“,21 die für das Heilen, das Verwahren und die
Pflege psychisch Erkrankter sorgte. Im historischen Tirol übernahmen diese Aufgabe
die beiden „‘Landes-Irrenanstalten‘ in Hall und Pergine“22.
Einen Aufschwung erlebte die Irrenanstalt ab 1860,23 als sowohl die Anzahl an Einrichtungen selbst als auch die Zahl an InsassInnen drastisch zunahm.24 Stellt man den
vielen anderen überfüllten Irrenanstalten25 jedoch die Haller Anstalt gegenüber, fällt
auf, dass in Hall ein übermäßig hoher Patientenansturm durch strikte Maßstäbe positiv
reguliert wurden, sodass es zu keiner Überfüllung kam. Diese bestanden unter ande14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 18.
Ebd., S. 23.
Elisabeth Dietrich-Daum/Maria Heidegger, Menschen in Institutionen der Psychiatrie, in: Dietrich-Daum et al.
(Hrsg.), Psychiatrische Landschaften, S. 51.
Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 61.
Alexandra Chmielewski, Staat und Irrenfürsorge. Badische Psychiatriereformen im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift
für die Geschichte des Oberrheins 146 (1998), S. 437–453, hier S. 440 f.
Michaela Ralser, Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der Krankheit um 1900,
München 2010, S. 152.
Ebd.
Ebd., Im Vordergrund die Klinik. Das Beispiel der Innsbrucker Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik um
1900, in: Geschichte und Region/Storia e Regione 17 (2008), Heft 2, S. 135–145, hier S. 135.
Angela Griessenböck, Zur Geschichte der psychiatrischen Landschaft im Kronland Tirol: Die „Landes-Irrenanstalten“ in Hall in Tirol und in Pergine, in: Eberhard Gabriel/Martina Gamper (Hrsg.), Psychiatrische Institutionen in
Österreich um 1900, Wien 2009, S. 121–134, hier S. 122.
Heinz-Peter Schmiedebach, „Zerquälte Ergebnisse einer Dichterseele“. – Literarische Kritik, Psychiatrie und Öffentlichkeit um 1900, in: Heiner Fangerau/Karen Nolte (Hrsg.), Moderne Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrundert.
Legitimation und Kritik (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 26), Stuttgart 2006, S. 259–281, hier S. 259.
Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 60.
Überfüllung herrschte in vielen deutschen, französischen, aber auch englischen Anstalten: Shorter, Geschichte
der Psychiatrie, S. 80–81.
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31
rem in der Differenzierung von heilbaren PatientInnen und „‚Unheilbaren‘ […] [sowie]
‚blödsinnigen Individuen‘“.26 Die zuletzt genannten Gruppen wurden von vornherein
abgewiesen, um keine „undifferenzierte, massenhafte Wegsperrung der ‚Irren‘“27 zu
praktizieren.
Im 19. Jahrhundert sah sich die Irrenheilanstalt einem Wandel unterzogen: Ausgehend
von einem Ort der reinen Verwahrung transformierte sich die Anstalt zu einem Ort
der Heilung, der für eine soziale Reintegration Sorge tragen sollte.28 Gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte man auf das Modell der Anstalt als hierarchisch
gegliedertes System, das auf den Ideen „von Hausökonomie in der Vormoderne und
schichtspezifische[n] Sozialordnungen“29 beruhte. Die Irrenanstalten wurden nach einem paternalistischen Modell geführt und organisiert.30 Am Ende des 19. Jahrhunderts
folgte man dem „Programm“ der staatlichen Fürsorge der „Geisteskranken“ in geschlossenen Anstalten, das aus einem „sicherheits-politischen Interesse“31 hervorging. Die
Anstaltspsychiatrie wurde somit vermehrt auf die „gefährlichen Irren“ mit dem Zweck
einer zumeist lebenslängen Unterbringung ausgerichtet.32
Die Psychiatrie als Totale Institution
Die Totale Institution – Eine Definition
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem von Erving Goffman geprägten Begriff der
„Totalen Institution“, den er ausführlich in seinem bereits vorgestellten Werk „Asylums“
festgehalten hat. Gemäß Goffman ist die „Totale Institution“ ein Wohn- oder Arbeitsplatz. An diesem führt eine große Anzahl von ähnlich gestellten Individuen, die über
einen längeren Zeitraum von der breiten Gesellschaft abgeschnitten ist, ein geschlossenes und formal kontrolliertes Leben.33 Als charakteristisches Beispiel verweist der Soziologe auf das Gefängnis, in dem einem streng reglementierten Alltag nachgegangen
wird.34 Genauso können aber auch andere totale Institutionen dazugezählt werden,
deren Alltag von diesen Reglementierungen bestimmt sind, wie beispielsweise psychiatrische Kliniken, die den Schwerpunkt von Goffmans Feldforschung bildeten. Mithilfe
der teilnehmenden Beobachtung entwickelte er ein „innerperspektivisches, mikroso26
27
28
29
30
31
32
33
34
Maria Heidegger/Oliver Seifert, „Nun ist aber der Zweck einer Irrenanstalt Heilung...“. Zur Positionierung des „Irrenhauses“ innerhalb der psychiatrischen Landschaft Tirols im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Elisabeth DietrichDaum/Rodolfo Taiani (Hrsg.), Psychiatrielandschaft, Innsbruck-Wien-Bolzen 2008, S. 24–46, hier S. 31.
Heidegger/Seifert, Zweck einer Irrenanstalt, S. 31.
Maria Heidegger, Psychiatrische Pflege in der historischen Anstalt. Das Beispiel der „k.k. Provinzialanstalt“ Hall in
Tirol 1830–1850, in: Erna Appelt/Maria Heidegger u.a. (Hrsg.), Who Cares? Betreuung und Pflege in Österreich.
Eine geschlechterkritische Perspektive, Innsbruck 2010, S. 87.
Heidegger, Psychiatrische Pflege, S. 87–97, hier S. 87.
Ralser, Subjekt, S. 158.
Astrid Ley, Psychiatriekritik durch Psychiater, Sozialreformerische und professionspolitische Ziele der Erlanger Anstaltsdirektors Gustav Kolb (1870–1938), in: Fangerau/Nolte (Hrsg.), Moderne Anstaltspsychiatrie, S. 199.
Ley, Psychiatriekritik, S. 199; Christian Müller, Heilanstalt oder Sicherungsanstalt? Die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher als Herausforderung der Anstaltspsychiatrie im Deutschen Kaiserreich, in: Fangerau/Nolte
(Hrsg.), Moderne Anstaltspsychiatrie, S. 103–115, hier S. 103.
Goffman, Asylums, S. 11.
Ebd.
32
Totale Institutionen
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ziologisch orientiertes Modell von geschlossenen Institutionen, die sich mit der Verwahrung von Personen beschäftigten“.35
Der totale Charakter, mit dem alle Institutionen gekennzeichnet sind, lässt sich durch
einschränkende Faktoren, wie Abschottung zur Außenwelt, geschlossene Türen, hohe
Mauern oder Stacheldraht, etc. versinnbildlichen.36 Institutionen, die diese freiheitsraubenden Einschränkungen aufweisen, betitelt Goffman als totale Institutionen, die
in fünf Gruppen differenziert werden können: Fürsorgeanstalten wie Waisen- oder Armenfürsorgehäuser, Anstalten wie Tuberkulose-Sanatorien oder psychiatrische Kliniken, Institutionen, die zum Wohlergehen der Gesellschaft und des Staates potenziell
bedrohliche Personen in Verwahrung nehmen (z.B. Gefängnisse), aber auch Institutionen, die für einen reibungslosen Arbeitsablauf sowie Zucht und Ordnung sorgen (wie
Kasernen, Internate, Arbeitslager) sowie religiöse Refugien (unter anderem Abteien,
Klöster).37
Des Weiteren sind totale Institutionen geprägt von einem wechselseitigen Verhältnis
zwischen Insassinnen und Insassen sowie Personal. Auch in der psychiatrischen Anstalt
hängt die Rolle einer jeden Gruppe (die Patientengruppe auf der einen und die des
Personals auf der anderen Seite), die in dem System „Totale Institution“ agiert, von der
jeweiligen Verordnung ab. Die Verhaltensweisen sind vorgegeben und müssen strikt
befolgt werden. Dabei stehen die einzelnen Individuen einer Gruppe (Patienten) in Relation zu jenen agierenden Subjekten (Anstaltspersonal) der anderen. Bei diesen Beziehungen handelt es sich meist um zeitlich begrenzte „‚Zwangsbeziehungen‘, in denen
das soziale Gefälle zwischen den AkteurInnen zu asymmetrischen Abhängigkeits- und
Machtbeziehungen [führt]“.38
Zudem geht Goffman davon aus, dass in der modernen Gesellschaft das zentrale Merkmal „Totaler Institutionen“ in der Aufhebung der Barrieren, die die drei Lebensbereiche
(Schlaf-, „Spiel“- und Arbeitsplatz) normalerweise trennen, gefunden werden kann39:
Erstens: Alle Aspekte des alltäglichen Lebens werden am gleichen Ort und unter derselben Autorität durchgeführt.
Zweitens: Die Arbeitsabläufe der Institutionsmitglieder werden in Gesellschaft ihrer
Genossen ausgeführt, wobei alle gleich behandelt werden und dieselbe Arbeit verrichten.
Drittens: Alle täglichen Aufgabenbereiche, die aus vorherigen Tätigkeiten herausfolgen, sind streng geplant, und werden durch formale Reglementierungen genau vorgegeben und durch Obrigkeiten kontrolliert/überwacht.
35
36
37
38
39
Martin Scheutz, „Totale Institutionen“ – missgeleiteter Bruder oder notwendiger Begleiter der Moderne? Eine Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Totale Institutionen (Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/1), Innsbruck 2008,
S. 3–19, hier S. 4.
Goffman, Asylums, S. 15.
Ebd., S. 16.
Dietrich-Daum/Heidegger, Menschen in Institutionen, S. 44.
Goffman, Asylums, S. 17.
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Dominique Karner
33
Viertens: Die unterschiedlich forcierten Arbeitsabläufe werden zu einem einzigen „rationalen Plan“ zusammengefügt, zur Zweckerfüllung der offiziellen Institutionsziele.40
Im nachfolgenden Abschnitt sollen diese vier Merkmale, die nach Goffman eine „Totale
Institution“ ausmachen, am Beispiel der Provinzial-Irren-Heilanstalt Hall in Tirol untersucht werden. Inwieweit lassen sich die Merkmale in Hall wiederfinden, sodass die Anstalt als „Totale Institution“ bezeichnet werden kann?
Aspekte und Merkmale der Totalen Institution am Beispiel der IrrenHeilAnstalt Hall in Tirol
Unter Zuhilfenahme der 1842 publizierten „Beschreibung“ über die Haller Anstalt vom
damaligen Anstaltsdirektor und Primararzt41 Dr. Johann Tschallener sollen als nächstes
die von Goffman herausgearbeiteten Aspekte und Merkmale einer „Totalen Institution“
am Beispiel der Haller Anstalt untersucht werden.
Ihre Pforten öffnete die „k.k. Provinzial-Irren-Heilanstalt“ Hall in Tirol am 1. September
183042 unter der Leitung von Dr. Anton Pascoli (1788–?). Ab 1834 trat Dr. Johann Tschallener (1783–1855) bis zum Jahre 1854 dessen Nachfolge an.43 Diese Zeitspanne umfasst auch den ungefähren Untersuchungszeitraum (1830–1900) des nachfolgenden
Abschnitts.
Bereits mit dem Eintritt des Individuums in das Anstaltsgebäude zeigt sich der totale
Charakter, den die Anstalt aufweist, und erste freiheitsraubende Einschränkungen treten in Kraft: Patientinnen und Patienten werden von der Außenwelt abgeschnitten.
Diese Trennung zur Außenwelt geht mit einem Rollenverlust einher, indem der Patient/die Patientin ein gewisses Aufnahmeprocedere durchlaufen muss und ihm/ihr das
persönliche Hab und Gut genommen wird.44 So heißt es in Tschalleners „Beschreibung“,
dass das ankommende Individuum in Gegenwart des Wartpersonals und des Sekundär- sowie Hauswundarztes untersucht, gewaschen und nach Einkleidung (entweder
mit eigener oder der Anstaltskleidung) und Bestimmung der Diätklasse in die Obhut
des zuständigen Wartpersonals gegeben wird45, wobei angemerkt werden muss, dass
es sich beim Wartpersonal bzw. dem „Irrenwärter“ im 19. Jahrhundert um keinen Ausbildungsberuf handelte.46 Der Aufnahmeprozess kann gemäß Goffman eher als „ ‚trimming‘ or ‚programming‘“47 angesehen werden, denn durch seine Isolierung verliert das
Individuum ein Stück weit seine Identität, und es wird zu einem Objekt der Verwaltungsmaschinerie der Anstalt gemacht.48
40
41
42
43
44
45
46
47
48
Goffman, Asylums, S. 17.
Der Direktor war zugleich Primararzt. Ihm oblag der Oberaufsicht und Leitung der Anstalt: Tschallener, Beschreibung, S. 41, §17.
Heidegger/Seifert, Zweck einer Irrenanstalt, S. 26.
Institut der Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie und Institut für Erziehungswissenschaften
UIBK, Psychiatrische Landschaften, 2009, [http://pschiatrische-landschaften.net/Biografien_der_Direktoren_und_
anderer_Angeh%C3%B6riger_des_Anstaltspersonals], eingesehen 1.2.2015.
Goffman, Asylums, S. 25 f.
Tschallener, Beschreibung, S. 19.
Dietrich-Daum/Heidegger, Menschen in Institutionen, S. 56.
Goffman, Asylums, S. 26.
Ebd.
34
Totale Institutionen
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Auch andere einschränkende Faktoren, die Goffman in seinem Aufsatz aufzählt, lassen sich laut der Beschreibung von Tschallener in Hall wiederfinden. So geht daraus
hervor, dass dem „Irren“ die physische Freiheit in einem gewissen Maße gewährt wird,
sodass er nicht ständig eingesperrt oder angekettet sei. Weiters ist die Rede einer
„verlässlichen[n] Versicherung“,49 die in eine äußere und innere differenziert wurde. Bei
der äußeren handelte es sich zum Beispiel um Einfriedungsmauern, die eine Höhe von
acht Schuh (ca. 2,52 m) aufweisen mussten. Des Weiteren wurde darauf geachtet, dass
es in den Hofräumen keine Gegenstände gab, die ein Emporklettern ermöglicht hätten.50 Unter der inneren Versicherung verstand man die besondere Rücksichtnahme
auf jene PatientInnen, die nicht zur gleichen Zeit mit den anderen „Irren“ ins Freie durften. Ihnen wurde der Ausgang durch eine eigene Tagwache, bestehend aus zwei Wärtern, die im Wechsel Aufsicht hatten, versperrt.51 Ebenso legte man großen Wert auf
die Sicherheit in den „Irrenzimmern“. Die Türen waren mit einem speziellen Schloss und
einer Queröffnung zur Beobachtung der „Irren“ versehen, und die vergitterten Fenster
hatten sogenannte Fenstersperren mit Eisenstäben. Zusätzlich waren schließbare Balken daran angebracht, um ein Einschlagen der Fenster zu verhindern.52
Als nächstes werden die im vorherigen Kapitel beschriebenen vier Merkmale einer
„Totalen Institution“ bezugnehmend auf die Haller Anstalt skizziert: Goffmans Ausführungen zufolge umfasste der Arbeitsbereich des Personals in totalen Institutionen
vielmehr die Funktion des Überwachens als die der Führung.53 Eine Form der Überwachung stellte einerseits die Kommunikationskontrolle54 dar, die auch in der Haller
Anstalt Anwendung gefunden hat, indem vom Stab bestimmt wurde, an und wie oft
PatientInnen Besuch erhalten durften. Es war vorgegeben, dass die BesucherInnen aus
naher Umgebung sein mussten (ergo keinen von der Anstalt weit entfernten Wohnsitz besitzen durften) und erst nach Bekanntgabe der Direktion an der Eingangspforte
der Heilanstalt empfangen und vom Hauswundarzt herumgeführt wurden.55 Die BesucherInnen waren dazu verpflichtet sich in ein sogenanntes „Passantenbuch“56 (Name,
Charakter, Geburtsort) einzutragen, woraufhin der Direktor die Erlaubnis zum Betreten
der Anstalt erteilte.57 Andererseits spiegelte sich die permanente Überwachung in der
Hausordnung der Anstalt wider. Sie hatte eine detaillierte Zusammenstellung von Regeln zum Inhalt, an die sich sowohl InsassInnen als auch Wartpersonal halten mussten.
Diese Verordnung gab den exakten Tagesablauf wieder.58 In ihr lassen sich dabei die
ersten drei Merkmale der totalen Institution (alle alltagsbezogenen Faktoren finden am
gleichen Ort unter derselben Autorität statt, die Arbeitsabläufe der Institutionsmitglieder werden in Gesellschaft ihrer Genossen ausgeführt, und die Aufgabenbereiche sind
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
Tschallener, Beschreibung, S. 12.
Ebd., S. 13.
Ebd.
Ebd., S. 13 f.
Goffman, Asylums, S. 18.
Ebd., S. 19.
Tschallener, Beschreibung, S. 57.
Ebd.
Ebd., S. 58.
Tschallener, Beschreibung, S. 51.
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präzise vorgegeben und werden von einer Obrigkeit überwacht) wiederfinden. Diese
werden im Folgenden anhand der Haller Tagesordnung zusammenfassend erläutert:
Tag
Vormittägige Beschäftigungen
Nachmittägige Beschäftigungen
So
06.00-07.30
Aufstehen, Morgengebet, Aufbetten und
Zimmerfegen
07.30-08.00
Frühstück (Speisesaal)
08.00-08.30
Heilige Messe
08.30-10.00
Ärztliche Ordination
10.00-11.00
Bewegung im Freien
11.00-11.30
Mittagessen (Speisesaal)
13.30-14.00
Rosenkranzandacht
14.30-16.00
Bewegung im Freien
16.00-17.30
Singschule
17.30-18.00
Abendessen (Speisesaal)
18.00-19.00
Spielveranstaltungen (Speisesaal)
Mo
06.00-10.00
Wie am Sonntag
10.00-11.00
Religionsunterricht für Deutsche
Unterricht des Wartpersonals über die
Krankenpflege
11.00-11.30
Mittagessen (Speisesaal)
13.00-14.30
Schneider-, Schuster- und Tischlerarbeiten
(Werkstätte)
Schreibschule (Speisesaal)
14.30-15.30
Bewegung im Freien
15.30-16.00
Rosenkranzandacht
16.00-17.30
Singschule
17.30-18.00
Abendessen (Speisesaal)
18.00-19.00
Spielveranstaltungen (Speisesaal)
Di
06.00-11.30
Wie am Sonntag
13.00-14.30
Wie am Montag
Statt Schreibschule Leseübungen
14.30-16.00
Bewegung im Freien
16.00-17.30
Singschule
17.30-19.00
Wie am Montag
Mi
06.00-11.30
Wie am Sonntag
13.00-14.30
Wie am Montag
Do
06.00-11.30
Wie am Sonntag
13.00-19.00
Wie am Dienstag
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Totale Institutionen
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Fr
06.00-10.00
Wie am Sonntag
10.00-11.00
Religionsunterricht für Italiener
Diverse Hausarbeiten für Deutsche
11.00-11.30
Mittagessen (Speisesaal)
13.00-14.30
Schneider-, Schuster- und Tischlerarbeiten
(Werkstätte)
Schreibschule (Speisesaal)
14.30-15.30
Zimmerreinigung
15.30-16.00
Rosenkranzandacht
16.00-17.30
Zimmerreinigung
17.30-18.00
Abendessen (Speisesaal)
Sa
06.00-10.00
Wie am Sonntag
10.00-11.00
Zimmerreinigung
11.00-11.30
Mittagessen (Zimmer)
13.00-14.30
Schneider-, Schuster- & Tischlerarbeiten
(Werkstätte) Schreibschule (Speisesaal)
14.30-17.00
Zimmerreinigung
17.30-18.00
Abendessen (Zimmer)
Abbildung 1: Tagesordnung für die Männer der ProvinzialIrrenheilanstalt Hall/Tirol (Wintermonate)59
Bei der Tagesordnung unterschied man zwischen männlichen und weiblichen Insassen, da die Anstalt, wie andere Einrichtungen zu dieser Zeit auch, eine geschlechterspezifische Trennung vornahm.60 Die in dieser Arbeit abgebildete Tagesordnung stellt
den Ablauf einer ganzen Woche für die männlichen Insassen der Haller Anstalt während der Wintermonate dar. Wie aus der Tabelle hervorgeht, begann der Tag um 06.00
Uhr morgens, gefolgt vom Morgengebet, dem Aufbetten sowie dem Zimmerfegen.
Nachdem um halb acht das Frühstück im Speisesaal eingenommen wurde, besuchten
die männlichen Insassen samt dem Wartpersonal die Heilige Messe in der anstaltseigenen Kapelle. Daraufhin erfolgte die allvormittägliche Ordination, die bei den Männern im Gegensatz zu den Frauen, die den Arzt auf ihren Zimmern empfingen,61 im
ärztlichen Ordinationsraum stattfand. Der morgendliche Ablauf bis 10.00 Uhr blieb an
allen Tagen gleich. Nach 10.00 Uhr gab es unterschiedliche Aktivitäten, wie beispielsweise die Zimmerreinigung am Samstag oder den getrennten Religionsunterricht von
deutsch- und italienischsprachigen Patienten am Montag sowie am Freitag. Am Nachmittag ging das Beschäftigungsprogramm weiter, indem unter anderem die Teilnahme zur Andacht, Spaziergänge im Garten/Hof und an manchen Tagen Schreib- und
Leseübungen vorgesehen waren. Gerade das Lesen war in den Anstalten eine beliebte
und oft angewandte Methode, die nicht nur als „Beschäftigung, [zur] Bildung [und]
59
60
61
Bei der in Tschalleners Beschreibung abgebildeten Originaltabelle befindet sich kein Datum. Da die Beschreibung
jedoch 1842 publiziert wurde, kann davon ausgegangen werden, dass die Tagesordnung frühestens zu Tschalleners Amtsantritt (1834) und spätestens bis 1842 gültig gewesen ist. Tschallener, Beschreibung, S. 46 f.
Dietrich-Daum/Heidegger, Menschen in Institutionen, S. 58.
Tagesordnung für die Frauen (Wintermonate), in: Tschallener (Hrsg.), Beschreibung, S. 48 f.
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[dem] Vertreiben von ‚morbiden Gedanken‘“62 dienen sollte, sondern den InsassInnen
und dem Wartpersonal auch die Chance bot sich über die Belletristik auszutauschen.
Tschallener selbst verweist in seiner Beschreibung auf die hauseigene Bibliothek der
Anstalt, die, was die Bücheranzahl betrifft, jedoch „zu wünschen übrig lässt“.63 Des
Weiteren mussten sowohl die weiblichen als auch die männlichen Insassen diverse
Arbeiten verrichten. Bei den Frauen handelte es sich um für diese Zeit typische Hausfrauenarbeiten, denen sie im Arbeitszimmer nachgingen.64 Diese Arbeiten reichten
vom „Stricken, Spinnen, Nähen […], [über] [das] Putzen […] [bis hin] [zur] Mithilfe in
der Küche bzw. bei der Wäsche“65 unter Aufsicht des weiblichen Wartpersonals. Die
Männer hingegen mussten in der Werkstatt verschiedene Schneider-, Schuster- und
Tischlerarbeiten ausführen, wie aus der Tabelle zu entnehmen ist. Man ließ die PatientInnen nicht ohne Grund arbeiten, denn Arbeit wurde seit 1800 nicht nur als „Teil
der Therapie“66 angesehen, sondern zugleich mit dem aus der absolutistischen Epoche wurzelnden „Nützlichkeitsgedanken“67 in Verbindung gesetzt. Auch wenn die Patienten und Patientinnen „für ihre Arbeit nach Maßgabe ihrer Verwendung […] belohnt w[u]rden“,68 kann die Vermutung aufgestellt werden, dass der Arbeitseinsatz der
InsassInnen nicht nur als Beschäftigungs- und Heilungsmethode diente, sondern auch
zur Personalkosteneinsparung und Finanzierung der Anstalt, da die PatientInnen eine
weit geringere Entlohnung erhielten als das Personal.69
Abschließend kann gesagt werden, dass anhand der Tagesordnung ersichtlich wird,
dass es durch die minutiös vorgegebenen Abläufe zur Verletzung der Autonomie des
Handelnden selbst kam, dass jeder Schritt der InsassInnen überwacht und bei Verstoß gegen die Regeln durch Sanktionen der Funktionsträger bestraft wurde.70 Man
sprach von disziplinierenden Maßnahmen, die zum Einsatz kamen, um andere Institutionsmitglieder zu schützen und „einen ‚normalen‘ Anstaltsbetrieb […] gewährleisten [zu können]“.71 In der „Beschreibung“ der Haller Irren-Heilanstalt steht beispielhaft,
dass „von den Strafen in einer Irrenanstalt niemals ganz Umgang genommen werden
kann“,72 jedoch oblag dem Direktor als einzigem die Veranlassung von Strafen, „hiebei
[sollte] aber mit aller Klugheit und mit Vermeidung eines jeden Scheines von Leidenschaft vorzugehen [sein], damit diese moralischen Heilmittel ihren Zweck nicht verfehlen, und die Uebel [sic!] nicht ärger machen“.73
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
Ursula A. Schneider/Annette Steinsiek, „Die Lektüre der Pfleglinge“. Ein literaturwissenschaftlicher Blick auf die historische Bibliothek des Psychiatrischen Krankenhauses Hall, in: Dietrich-Daum et al. (Hrsg.), Psychiatrische Landschaften, S. 100.
Tschallener, Beschreibung, S. 7.
Tagesordnung für die Frauen (Wintermonate), in: ebd., S. 48 f.
Maria Heidegger, Maria M. Das Dienstmädchen, in: Heidegger et al, Ich lasse mich, S. 226.
Ebd., S. 210.
Ebd.
Tschallener, Beschreibung, S. 5.
Ebd., S. 6.
Goffman, Asylums, S. 43.
Marietta Meier, Zwang und Autonomie in der psychiatrischen Anstalt. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde aus historischer Sicht, in: Wulf Rössler/Paul Hoff (Hrsg.), Psychiatrie zwischen Autonomie und
Zwang, Heidelberg 2005, S. 69–87, hier S. 76.
Tschallener, Beschreibung, S. 57.
Ebd.
38
Totale Institutionen
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Bevor dieser Teil der Arbeit mit dem letzten Merkmal „Totaler Institutionen“ abschließt,
soll noch kurz auf die Frage eingegangen werden, wie die PatientInnen den durch
Reglementierung streng vorgegebenen Anstaltsalltag empfunden haben. Hierzu lassen sich viele „Egodokumente“ finden, die Aufschluss auf die Gefühlslage der InsassInnen geben.74 Um den Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht zu sprengen, müssen hierfür
drei ausgewählte Beispiele aus dem Begleitbuch zur Ausstellung „Ich lasse mich nicht
länger für einen Narren halten“ genügen.
So berichtet die Historikerin Maria Heidegger von dem Fall des Patienten Franz S. aus
dem Jahre 1834. Dieser litt als Dritte-Klasse-Patient75 in Hall unter ständigem Hunger,
da er nie mehr als eine „Drittel-Portion, bestehend aus Semmelbrot und zum Abendessen einer Suppe“76 erhielt. Erschwerenderweise gab es für Franz S. von Zeit zu Zeit
überhaupt keine Nahrung, um ihn zu maßregeln. Zuerst reagierte er mit Zerstörungswut, später mit einem Hungerstreik, den er weniger schlimm empfand als seinen Freiheitsentzug, respektive das Wegsperren aus Strafe.77 Einen anderen Fall, den Heidegger
untersuchte, stellte die 46-jährige Anna K. dar, die 1855 in die Haller Anstalt eingewiesen wurde, und durch mehrmalige Nahrungsverweigerung Widerstand gegen die
Obrigkeit leistete.78 Ein Grund dafür fand sich unter anderem in ihrem Drang nach Freiheit beziehungsweise Entlassung, die sie nicht nur für sich, sondern ebenso für ihre
„Leidensgenossen“ einzufordern versuchte.79 Das dritte Beispiel handelt von Josef B.,
der aufgrund von chronischem Alkoholismus 1903 zuerst in die Psychiatrische Klinik
Innsbruck und nur einen Monat später wie Franz S. als Dritte-Klasse-Patient nach Hall
kam. Er schimpfte über Hunger sowie Kälte, über das Gefühl zu Unrecht eingesperrt
worden zu sein und verkündete, dass er sich nicht länger für einen Narren halten lassen
würde.80
Anhand dieser drei Auszüge lässt sich bereits erkennen, dass die PatientInnen weit
davon entfernt waren, sich in der Anstalt „zu Hause“ und somit wohl zu fühlen. Der
instinktive Drang nach Freiheit, der den InsassInnen verwehrt wurde, ist allen drei gemeinsam. Dieses Freiheitsgefühl und die in ihrem Verständnis ungerechten disziplinierenden Maßnahmen mündeten in wiederholten Widerstandsaktionen durch die
Patienten und Patientinnen. Zusätzlich beeinträchtigte das Hungerleiden den Gemütszustand von Franz S. und Josef B.
Zum Schluss soll nun das vierte Merkmal „Totaler Institutionen“ beleuchtet werden,
nämlich, dass die unterschiedlich forcierten Arbeitsabläufe zu einem einzigen rationalen Plan zusammengefügt werden, um die offiziellen Institutionsziele bzw. primären
Ziele erfüllen zu können: Das offizielle Ziel der Irren-Heilanstalt Hall bestand einerseits
74
75
76
77
78
79
80
Diverse Beispiele finden sich in: Heidegger et al. (Hrsg.), Ich lasse mich.
Man differenzierte zwischen Erste-, Zweite- und Dritte-Klasse-Patienten, wobei letztere in Hall gratis versorgt
wurden. Tschallener, Beschreibung, S. 10 f.
Maria Heidegger, Franz S. Klagte stets über Hunger, in: Heidegger et al. (Hrsg.), Ich lasse mich, S. 256.
Heidegger, Franz S., S. 258.
Maria Heidegger, Anna K. 12.037 mal künstlich ernährt, in: Heidegger et al. (Hrsg.), Ich lasse mich, S. 266.
Ebd., S. 268.
Andreas Oberhofer, Josef B. Ich lasse mich nicht mehr für einen Narren halten, in: Heidegger et al. (Hrsg.), Ich lasse
mich, S. 144–146.
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in der Pflege und der Heilung von Patienten,81 um sie anschließend wieder in die Gesellschaft eingliedern zu können, andererseits in der Verwahrung von „gefährlichen
Irren“.82 Auch wenn die Prämisse der Heilung geltend gemacht wurde, ging es aber
in erster Linie um die „Abgrenzung“83 zu anderen existierenden psychiatrischen Einrichtungen, die für eine Seelenheilung der Erkrankten weniger zielführend gewesen
wären als die Irrenanstalt selbst.84 Als sekundäres, respektive verdecktes Institutionsziel
kann die Sicherung der Gesellschaft angeführt werden, die insbesondere vor den
„gefährlichen Irren“ beschützt werden sollte.85 Die Historikerinnen Dietrich-Daum und
Heidegger schreiben der Haller Anstalt eine „Zwischenposition zwischen ‚Totaler Institution‘ und paternalistischer Fürsorgeeinrichtung“86 zu. Diese Aussage findet mit
Abschluss dieser Untersuchung auf jeden Fall Zustimmung. Denn wie die herausgearbeiteten Ergebnisse in dieser Proseminararbeit verdeutlichen, trafen sowohl die freiheitseinschränkenden Aspekte als auch die vier Merkmale, die Goffman einer „Totalen
Institution“ zuschreibt, auf die Provinzial-Irren-Heilanstalt Hall zu. Was den paternalistischen Charakter der Fürsorgeeinrichtung angeht, weisen die beiden Historikerinnen
auf die „zahlreichen Formulierungen über die Rolle des Personals oder der ‚Insassen‘“87
hin, die sich an „sprachliche Muster hausväterlicher Familienkonzeptionen“88 anlehnen.
Fazit
Die historische Entwicklung der Psychiatrie hat gezeigt, dass die üblichen Verwahranstalten des 18. Jahrhunderts allmählich durch Einrichtungen, die auf die Verwahrung
und Heilung von „psychisch Kranken“ spezialisiert waren, abgelöst wurden. Den ausschlaggebenden Punkt bildete dabei die Idee, dass die Anstalt eine heilende Funktion
übernehmen sollte. Hinzu kamen die disziplinierende und erzieherische Rolle, die die
Verwahranstalt über ihre PatientInnen ausübte, um Heilung herbeizuführen.
Das, was solche „Orte der Verwahrung“ ausmachte, versuchte Erving Goffman mithilfe
seines Konzeptes der „Totalen Institution“ zu beschreiben. Wie sich während den Untersuchungen in dieser Arbeit herausstellte, lassen sich die von Goffman genannten
Aspekte anhand des Beispiels der Provinzial-Irren-Heilanstalt Hall in Tirol belegen. So
weist die Haller Anstalt beispielsweise einen totalen Charakter durch einschränkende
Faktoren auf, die wiederum durch die Abschottung der InsassInnen von der Außenwelt, die hohen Mauern sowie die gesicherten Türen und Fenster in den „Irrenzimmern“
81
82
83
84
85
86
87
88
Angela Griessenböck, Zur Geschichte, S. 122.
Dietrich-Daum/Heidegger, Die k.k. Provinzial, in: Scheutz (Hrsg.), Totale Institutionen, S. 68–85, hier S. 72.
Heidegger/Seifert, Zweck einer Irrenanstalt, S. 30.
Ebd.
Rainer Fiedl, Von den Irrenanstalten zur modernen Psychiatrie, in: Scheutz (Hrsg.), Totale Institutionen, S. 130–134, hier
S. 133.
Dietrich-Daum/Heidegger, Hall im Vormärz, S. 84 f.
Ebd., S. 85.
Ebd.
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Totale Institutionen
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versinnbildlicht wurden. Durch diese Absonderung von der Außenwelt ging zusätzlich
ein sozialer Rollenverlust einher und das Individuum verlor durch seine Isolierung nicht
nur ein Stück weit seine Identität, sondern wurde zugleich zu einem Objekt der Verwaltungsmaschinerie der Anstalt gemacht.
Zudem treffen auch die vier Merkmale „Totaler Institutionen“ auf die Anstalt zu. Anhand
der vorgestellten Tagesordnung für die Männer in Hall wurde ersichtlich, dass die ersten drei Merkmale in der Anstalt anzufinden sind, nämlich: Alle den Alltag betreffenden
Aspekte finden am gleichen Ort und unter derselben Autorität statt. Die Arbeitsabläufe
der Institutionsmitglieder werden in Gesellschaft ihrer GenossInnen ausgeführt und
die Aufgabenbereiche sind streng geplant, genau vorgegeben und werden von einer
Obrigkeit überwacht sowie kontrolliert. Sobald vom Tagesablauf abgewichen wurde, drohten den PatientInnen verschiedene Straf- und Disziplinierungsmaßnahmen.
Außerdem sah die Tagesordnung verschiedene Arbeitsschritte vor, die die Patienten
und Patientinnen für die Anstalt gegen einen geringen Lohn auszuführen hatten. Auch
wenn die Arbeit als Teil des Heilkonzeptes gesehen wurde, setzte man die InsassInnen
vermutlich als „billige Arbeitskräfte“ ein, um Personalkosten einsparen zu können.
Für die in der Anstalt untergebrachten Individuen bedeutete dies vor allem, ein Leben
unter ständiger Fremdkontrolle führen zu müssen. Die drei Patientenbeispiele, die in
dieser Arbeit genannt wurden, verdeutlichten dies.
Hinsichtlich des letzten Merkmales, das die Institutionsziele betrifft, verstand sich die
Anstalt offiziell als ein Ort der Verwahrung und Heilung. Durch therapeutische und
disziplinierende Methoden wie Zucht und Ordnung, aber auch Arbeit und Strafmaßnahmen sollte das Primärziel der Heilung und somit eine erfolgreiche Reintegration
der geheilten PatientInnen in die Gesellschaft gewährleistet werden. Als sekundäres
Ziel wurde die Sicherung der Gesellschaft gesehen.
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Quelle
Tschallener, Johann (Hrsg.), Beschreibung der k.k. Provincial-Irren-Heilanstalt zu Hall in
Tirol mit Rücksicht auf die Statuten der Anstalt, auf die therapeutischen und psychologischen Grundsätze der Behandlung der Geisteskranken und auf ihre achtjährigen
Resultate; mit 19 Krankengeschichten und verschiedenen Andeutungen zum Wohl
dieser Unglücklichen; nebst einem Anhange über die Anlage von Zimmern für Irre
und Tobende, Innsbruck 1842.
Dominique Karner ist Studentin der Geschichte (MA) im 3. Semester sowie studentische Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. dominique.karner@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Dominique Karner, Totale Institutionen – Psychiatrien im 19. Jahrhundert am Beispiel
der k.k. Provinzial-Irren-Heilanstalt Hall in Tirol, in: historia.scribere 8 (2016), S. 27–44,
[http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
historia
scribere
Bachelor-Seminare 2016
08 (2016)
historia
scribere
08 (2016)
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre. Rezeption des
exemplum virtutis von Curtius Rufus bis Charles le Brun
Julian Degen
Kerngebiet: Alte Geschichte
eingereicht bei: Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Sabine Müller
eingereicht im Semester: SS 2014
Rubrik: Seminararbeit
Abstract
Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre. Reception of the exemplum
virtutis from Curtius Rufus to Charles le Brun
The history of Alexander the Great was from his time on a very popular historiographical medium for facts and also commonly known fictions. Alexander’s
history and its representation thus became particularly interesting for later rulers such as Louis XIV. He ordered Charles le Brun to paint a representative passage of Alexander’s history, which le Brun achieved by reading Cutius Rufus’
historia Alexandri Magni. This paper is about the literary and visual transformation and reception of antique sources and their intentions from the late antiquity to 17th century France.
Einleitung
„Each age makes its own Alexander […].“1 Die literarische Verarbeitung des historischen
Alexanders in der antiken Historiographie führte zu einem variablen Alexanderbild, das
je nach Entstehungskontext der einzelnen Alexanderhistoriographien verändert und
in differenzierter Intensität rezipiert wurde. Auf diese Problematik machte schon der
17-jährige Jacob Burckhardt aufmerksam:
„Es wäre merkwürdig, die Gestaltung der Geschichte Alexanders bei den verschiedenen Völkern und Schriftstellern zu untersuchen; die historische bei Arri1
Richard Stoneman, The Greek Alexander Romance, New York 1991, S. 2.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.459ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
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Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
historia.scribere 08 (2016)
an, die romanhafte bei Curtius, die mythische bei den Persern und Indern und
endlich die der aus dieser Quelle geflossenen Romane und die der deutschen
Geschichte zu vergleichen.“2
Burckhardt thematisierte den zeitlichen Abstand der einzelnen Alexanderhistoriographen als ein entscheidendes Problem für die Rekonstruktion der Geschichte Alexanders III. Besonders durch den weitgehenden Verlust von Primärquellen ist die althistorische Forschung auf deren Bruchstücke angewiesen. Diese Fragmente sind überliefert,
aber „[…] entsprechend der (Darstellungs-)Interessen der späteren Literaten den einstigen Gesamtwerken entnommen […]“3 worden. Gerade die Betrachtung der langen
Tradition der Auseinandersetzung mit dem Alexanderstoff von der Antike bis hin zur
Untersuchung durch die moderne Geschichtswissenschaft kann die Veränderungen
des literarischen Alexanderbildes aufzeigen. Dabei ist der Blickwinkel auf den jeweiligen Umgang mit der Antike als Epoche selbst von großer Bedeutung, was zu der Frage
nach der Wahrnehmung von Narrativität4 im Sinne der kulturellen Sinnstiftungsfunktion Alexanders in den einzelnen Überlieferungen führt. Dies impliziert für den modernen Historiker in weiterer Folge das Suchen nach kultureller Identitätsstiftung – anhand der jeweiligen Alexanderdarstellung – in den verschiedenen Historiographien.5
Solche Fragestellungen wurden seit dem linguistic turn in der Geschichtswissenschaft
vermehrt erörtert.6 Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Darstellung der Rezeption
eines antiken exemplum aus der Alexanderhistoriographie, das als Narrativ der römischen Geschichtsschreibung durch die europäische bildende Kunst rezipiert wurde.
2
3
4
5
6
Jacob Burckhardt, Briefe, 48, zit. n. Florens Deuchler, Heldenkult im Mittelalter, in: Margaret Bridges/Johann Ch.
Bürgerl (Hrsg.), The Problematics of Power. Eastern and Western Representations of Alexander the Great (Schweizer Asiatische Studien 22), Berlin u. a. 1996, S. 15–26, hier S. 19.
Sabine Müller, Alexander, Makedonien und Persien (Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge 18), Berlin 2014,
S. 29.
Der Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften bietet auf seiner Homepage folgende Defintion: „Narratologie (die Wissenschaft vom Erzählen) geht davon aus, dass dieselbe Story auf vielfältige Weisen in Erzählungen
umgesetzt werden kann. Der Inhalt des Erzählten (histoire) und seine Präsentation (discours) stehen dabei in
ständiger Wechselwirkung. Den Mittelpunkt der narratologischen Untersuchung bildet jedoch die Analyse der
Erzählung selbst und die Herausarbeitung ihrer Struktur.“, [http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/lit
theo/methoden/narratologie/index.html], eingesehen 29.3.2016. Von dieser Prämisse geht auch Albert Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 32013, S. 9–13 aus, wenn
er dem Menschen als einen ‚homo narrens‘ bezeichnet.
Philosophisches Forschungscluster der Universität Konstanz, mit dem Titel „Narrativität und der Wissenschaftsanspruch der Geschichtswissenschaft“, [https://scikon.uni-konstanz.de/projekte/890/], eingesehen 20.1.2015.
Ergänzend dazu Anna Heinze, Einleitung, in: Dies./Albert Schirrmeister/Julia Weitbrecht (Hrsg.), Antikes erzählen.
Narrative Transformationen von Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit (Transformationen der Antike 27), BerlinBoston 2013, S. 1–6, hier S. 2: „Jeweils steht die Bestimmung von Prozessen kultureller Sinnstiftung im Mittelpunkt,
innerhalb derer Narrative als kognitive Schemata zu verstehen sind, die Personen, Räumen und Ereignisse ordnen, indem sie temporale und kausale Verknüpfungen stricken. […] Die Konkretisierung solcher Narrative […]
werden im Sinne eines ‚phänomenologische[n] und kognitive[n] Modus der Selbst- und Welterkenntnis [eingeordnet].“
Axel Rüth, Narrativität in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, in: Matthias Aumüller (Hrsg.), Narrrativität
als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung,
Berlin-Boston 2012, S. 21–46, hier S. 22 u. Ernst Hanisch, Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und
Literatur, in: Geschichte und Gesellschaft (1996), Sonderheft 16, S. 212–230, hier S. 212–214.
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49
Einen zentralen Punkt in der Kritik an der antiken Anekdote nimmt die diesbezügliche
Forschungsgeschichte mit ihren unterschiedlichen Bewertungen ein.7
Zum Ausgangspunkt der Betrachtung: Der Maler Charles Le Brun wurde 1661 von Ludwig XIV. beauftragt ein beliebiges Sujet aus der Geschichte Alexanders des Großen zu
malen. Als literarische Vorlage dienten ihm die „Historien“ des Quintus Curtius Rufus. Im
darauffolgenden Jahr stellte er Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre fertig, das erste
Bild des fünfteiligen Alexanderzyklus, den Le Brun für den französischen König schuf.8
Das Gemälde versinnbildlichte die Wertvorstellungen der Aristokratie Frankreichs zur
Zeit des Absolutismus, unter der Heranziehung der königlichen Identifikationsfigur
Alexander.9 Visualisiert wurde diese Maxime durch die so genannte Zeltszene, in der
Alexander am Tag nach der Schlacht von Issos 333 v. Chr. der gefangengenommenen
persischen Königsfamilie begegnete und sich nach Auffassung antiker makedonischer,
griechischer und römischer Moralvorstellungen äußerst tugendhaft verhielt.10 Grundlegend für die positive Konnotation dieser ‚Anekdote‘ war die anschließende selbstlose
Reaktion Alexanders auf die Verwechslung mit seinem Gefährten Hephaistion durch
die persische Königsmutter Sisygambis. Dieses Verhalten wurde in der antiken Historiographie literarisch als ein exemplum virtutis verarbeitet, ein Beispiel durch das die
Wesensart des Makedonen positiv konnotiert werden sollte und das ihn als legitimen
Eroberer des persischen Reiches qualifizieren sollte.11 Wie nach einer weiteren Betrachtung des Entstehungskontextes des exemplum festgestellt werden kann,12 wurde damit ein äußerst positives literarisches Alexanderbild geschaffen, das sich im weiteren
Verlauf der „Historien“ von Quintus Curtius Rufus ins Gegenteil verwandelte.
Im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit sollte das Aufgreifen des Tugendbeweises
Werte vermitteln, die nicht den Darstellungsabsichten der antiken Autoren entsprachen. Ziel dieses Beitrags ist daher die kritische Diskussion der verschieden Narrative
des exemplum von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. Dabei steht die Frage nach den
jeweiligen sozio-kulturellen Implikationen als Gründe für die Rezeption der Zeltszene
7
8
9
10
11
12
Die Kontroversen von Wolfgang Will, Alexander der Große, Berlin-Köln-Mainz 1986; Hans-Joachim Gherke, Alexander der Grosse, München 2009; Franz Hampl, Alexander der Grosse (Persönlichkeit und Geschichte 9), Göttingen/Zürich 1992; Nicholas Hammond, Alexander der Große. Feldherr und Staatsmann, München-Berlin 2001;
Elizabeth D. Craney, Women in Alexanders’s Court, in: Joseph Roisman (Hrsg.), Brill’s companion to Alexander the
Great, Leiden-Boston 2003, S. 227–252; Joseph Roisman, Honor in Alexander’s campaign, in: Joseph Roisman
(Hrsg.), Brill‘s Companion to Alexander the Great, Leiden-Boston 2003, S. 279–321; Pedro Barceló, Alexander der
Große (Gestalten der Antike), Darmstadt 2007; Alexander Demandt, Alexander der Grosse. Leben und Legende,
München 2009; Stoneman, Alexander Romance und Sabine Müller, Der doppelte Alexander der Grosse?, in: Amal
tea. Revista de mitocŕitica 3 (2011), S. 115–138 gelten als maßgebende Literatur zu dieser Debatte und werden im
nachfolgenden Kapitel diskutiert.
David Posner, Charles Lebrun‘s Triumphs of Alexander, in: The Art Bulletin 41 (1959), S. 237–248, hier S. 237–239;
Thomas Noll, Alexander der Große in der nachantiken bildenden Kunst, Mainz am Rhein 2005, S. 36 f.
Bernard Aikema, Exemplum Virtutis: „The Family of Darius before Alexander“ in Renaissance and Baroque Art, in:
Nicos Hadjinicolaou (Hrsg.), Alexander the Great in European Art, Ausstellungskatalog zur Ausstellung Alexander
the Great in European Art, vom 22. September 1997 bis zum 11. Januar 1998, Thessaloniki 1997, S. 162–186, hier
S. 170; Noll, Nachantike Kunst, S. 36 f.; Müller, Doppelter Alexander, S. 127.
Für eine mögliche makedonische Sichtweise sind die Fragmente folgender historiographischen Werke von Makedonen selbst entscheidend: Der Feldzugsteilnehmer und spätere Herrscher über Ägypten Ptolemaios I. (FGrH
138) und Alexanders Hofhistoriograph Kallisthenes (FGrH 124).
Von Moos, Geschichte als Topik, S. 70; Müller, Doppelter Alexander, S. 134.
Das nachfolgende Kapitel der vorliegenden Arbeit widmet sich dieser Erörterung.
50
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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von Curtius und die Ausbildung von jeweils neuen Narrativen im Vordergrund. Durch
die Betrachtung der literarischen und kunsthistorischen Rezeption13 der Episode aus
den „Historien“ des Curtius‘ wird ein Untersuchungsraum geschaffen, in dem folgende Hypothese erörtert werden soll: Die unterschiedlichen Darstellungen der Zeltszene
rühren von dem Bedürfnis14 her, die Erinnerung an Alexander dem jeweiligen mentalitätsgeschichtlichen Kontext als Identifikationsfigur anzupassen. In weiterer Folge war
die Alexandergeschichte die Projektionsfläche von zeitgeschichtlichen Tugend- und
Wertvorstellungen.
Die Zeltszene als antikes exemplum virtutis
Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet hierbei der römische Historiograph
Quintus Curtius Rufus. Dieser schrieb vermutlich im frühen Prinzipat sein aus zehn Büchern bestehendes Geschichtswerk.15 Dabei benutzte er die Alexandergeschichte von
Kleitarchos als Quelle, die vermutlich zeitnah zum Alexanderfeldzug entstand.16 Die
moderne Forschung wirft dem romanhaft geschriebenen Geschichtswerk von Curtius
Rufus jedoch „lapidare“ Objektivität vor.17 Hinzugefügte eigene Empfindungen, Gedanken und Reflexionen des Autors sollten den „Historien“ objektive Gestalt und Gültigkeit
verleihen. Dabei handelt es sich um einen Kunstgriff, der auf die rhetorische Bildung
des Autors hinweist.18 Curtius steht mit dem zentralen Thema seines Werkes, der Erörterung der Relation von fortuna und virtus,19 in der Tradition der römischen Geschichtsschreibung. Durch fortwährendes Glück wurde Alexanders Charakter verdorben, was
der Autor als einen längerfristigen Wandel darstellte: Zu Beginn seiner Herrschaft galt
Alexander als idealistisch und noch unverdorben, der immerwährende Erfolg verwandelte ihn nach Curtius‘ Auffassung zu einem östlichen Herrscher mit zügellosem und
13
14
15
16
17
18
19
Für eine mögliche Definition des breiten Forschungsfeldes Rezeption siehe Lorna Hardwick, Reception Studies
(Greece & Rome 33), Oxford 2003, S. 2: „One strand in classical scholarship has been what was called ‚the classical
tradition‘. This studied the transmission and dissemination of classical culture trough the ages, usually with the
emphasis on the influence of classic writers, artists and thinkers on subsequent intellectual movements and
individual works.“
Um Bedürfnisse der Herrschaftsrepräsentation historisch fassbar zu machen, wird folgende Hypothese aufgestellt, die es im Zuge der Erörterung zu verifizieren gilt: Das Bedürfnis sich als herrschende Persönlichkeit anhand
von historischen Vorbildern zu repräsentieren hängt von individuellen Problemen in der Legitimationsstrategie
ab und soll anhand der Symbolik, Auffassung und Wertigkeit des historischen Vorbildes durch etwaige Angleichung Legitimation stiften.
Auf Grund der fehlenden praefatio und der teilweisen fragmentarischen Überlieferung des Geschichtswerks von
Curtius Rufus ist eine verlässliche Datierung nicht möglich. In den Altertumswissenschaften wird und wurde
darüber sehr intensiv diskutiert. Dietmar Korzewiewsky, Die Zeit des Quintus Curtius Rufus, phil. Diss. Frankfurt a.
M. 1959 führte den bisherigen Forschungsstand an, bereicherte die entbrannte Diskussion und datierte Curtius
Rufus anhand stilistischer Untersuchungen in den frühen Prinzipat, ebd., S. 71. Stoneman, Alexander Romance,
S. 11. Dagegen datiert ihn Will, Alexander, S. 21 auf Grund von Parallelen mit Tacitus in das 2. Jahrhundert. Eine
ausführliche Bibliographie zu diesem Thema bietet John E. Atkinson, Curtius Rufus. Histories of Alexander the
Great Book 10, Oxford 2009, S. 30.
Demandt, Alexander, S. 7 f.; Stoneman, Alexander Romance, S. 11.
Korzewiewsky, Zeit des Curtius, S. 71; Will, 1986, S. 21; Robert Porod, Der Literat Curtius. Tradition und Neugestaltung: Zur Frage der Eigenständigkeit des Schriftstellers Curtius, phil. Diss. Graz 1987, S. 107; Jakob Seibert,
Alexander der Grosse (Erträge der Forschung 10), Darmstadt 1990, S. 25; Stoneman, Alexander Romance, S. 11.
Ebd., S. 71.
Müller, Doppelter Alexander, S. 118.
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dekadentem Wesen, zu einem neuen Xerxes.20 Ein fortwährender Verfall der Charaktereigenschaften diente zur Erhöhung der Spannung des Werkes und konnte kulturelle Wertungen vermitteln. Curtius las wie andere römische Historiographen Herodots
„Historien“ und übernahm Elemente aus dessen Bewertungen des Ostens.21 Grund
für die Stilisierung Alexanders ist die historiographische Tradition des „Furchtmotives“,
über das die römische Geschichtsschreibung den ehemaligen hellenistischen Osten
negativ darstellte.22 Weiters werden in der senatorischen Geschichtsschreibung auch
der intensive Kontakt von Römern mit dem ‚Osten‘ – und die damit verbundene Übernahme von dekadenten Verhaltensweisen – als Beginn des Tugendverfalls angesehen.
Als historische Beispiele fungieren hier die Zerstörung Karthagos und der römische
Sieg in der Schlacht von Pydna 168 v. Chr. gegen die Makedonen.23
Gemäß römischer Moralauffassung waren auch Beispiele für adäquates und tugendhaftes Handeln gemäß des mos maiorum im Alexanderstoff enthalten, die dann ausführlicher beschrieben wurden. Diese so genannten exempla stellen meistens unhistorische Ereignisse dar, die pädagogischen Zwecken dienen oder in verschiedenen
Kontexten eine Beweisführung unterstützen sollten.24 Die Herkunft der exempla ist in
einem Grenzgebiet zwischen Geschichte, Rhetorik und Weltanschauung zu verorten,25
eigneten sich deshalb als „[…] Maßqualitäten, mit denen man, abgelöst von jeder konkreten historischen Situation, operieren und die man deshalb quer durch Zeiten und
Räume, einander gegenüberstellen kann.“26 Im antiken Geschichtsverständnis bildeten
exempla auch wesentliche Elemente der Historiographie, in einem deskriptiv pädagogischen Sinn.27
20
21
22
23
24
25
26
27
Exemplarisch seien zwei markante Stellen genannt, an denen die Tendenzen des Autors erkennbar sind: Die Hinrichtung des verbündeten Griechen Charidemos durch Dareios III. – den Verurteilten ließ Curtius Rufus folgende
Worte an den Perserkönig richten, Curt. 3,2,5: „Tu quidem licentia regni tam subito mutatus documentum eris
posteris, homines, cum de permisere fortunae, etiam naturam dediscere.“ (Übers. v. Olef-Krafft: „Du aber, der du
im Rausch der Macht so plötzlich ein anderer geworden bist, wirst der Nachwelt Exemplum sein, dass Menschen,
wenn sie sich dem blinden Glück in die Arme werfen, damit zugleich ihres angeborenen Charakters entraten.“)
Bei der Folterung von Betis erwähnt Curtius Rufus nochmals das Glück explizit, Curt. 4,6,28: „Ira deinde vertit in
rabiem iam tum peregrinos ritus nova subiciente fortuna.“ (Eigene Übers.: „Jetzt schlug sein Zorn in Wut um, als
schon damals sein vom Glück berauschter Sinn ihn fremden Brauch annehmen ließ.“). Die Verwandlung zu einem
neuen Xerxes beschreibt Müller, Doppelter Alexander, S. 118.
Jürgen Blänsdorf, Herodot bei Curtius Rufus, in: Hermes 99 (1971), Heft 1, S. 11–24, hier S. 23.
Die Forschungsgeschichte ist hinsichtlich des Furchtmotivs und der Dekadenztheorie bei Jakob Seibert, Invasion
aus dem Osten: Trauma, Propaganda oder Erfindung der Römer?, in: Charlotte Schubert/Kai Broderson (Hrsg.),
Rom und der griechische Osten: Festschrift für Hatto H. Schmitt zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1995, S. 237–248,
hier S. 237 sowie in seinem Fazit bei ebd., S. 247 f. einzusehen. Seibert plädiert für eine individuelle Prüfung der
historiographischen Einzelfälle.
Stephan Schmal, Orientvorstellungen bei römischen Historikern, in: Robert Rollinger/Brigitte Truschnegg (Hrsg.),
Altertum und Mittelmeerraum: Die Antike diesseits und jenseits der Levante. Festschrift für Peter W. Haider zum
60. Geburtstag (Oriens et Occidens 12), Stuttgart 2006, S. 749–769, hier S. 753 f. in Bezug auf Sal. Catil. 10,1; Plin.
Nat. 17, 244 u. Liv. 34,6,6.
Peter von Moss, Geschichte als Topik: Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im
„Policraticus“ Johannes von Salisbury (ORDO. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2), Hildesheim-Zürich-New York 1988, S. 70: „Die virtutis exempla sind ihrer Herkunft nach Familienbeispiele und insofern eine wesentliche altrömische Erscheinung. Sie sollen in erster Linie an die hervorragenden
Ruhmestaten großer Ahnen des Geschlechts erinnern.“ Und Ebd., S. 71: „Wie jedes Exemplum konnte natürlich
auch das römische der von Aristoteles allgemeingültig beschriebenen Beweisfunktion dienen.“
Ebd.
Otto Weippert, Alexanderimitatio und römische Politik in republikanischer Zeit, phil. Diss. Augsburg 1972, S. 28.
Cic. De div. 1,50: „[…] plena exemplorum est historia.“
52
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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So wurde von Curtius Rufus die Begegnung Alexanders mit der persischen Königsfamilie als ein erinnerungswürdiges Beispiel für tugendhaftes Handeln eingestuft:
„Erst nach den Leichenzeremonien kündigte Alexander den Gefangenen
durch Boten seinen Besuch an, und schon betrat er ohne sein Gefolge nur
mit Hephaistion das Zelt. Aus der ganzen Freundesschar war jener dem König bei weitem der liebste; er war mit Alexander aufgewachsen, teilte all seine
Geheimnisse und durfte wie kein anderer sonst frei heraus etwaige Zweifel an
dessen Tun äußern; das aber handhabte der so, dass es stets wie eine vom König gewährte Gunst aussah, nicht wie ein von ihm selbst beanspruchtes Recht.
Er war zwar gleichen Alters wie der König, überragte ihn aber an Körpergröße.
Folglich hielten die Königinnen ihn für den Monarchen und bezeigten ihm
nach persischer Sitte ihre Ehrerbietung. Einige gefangene Eunuchen klärten
sie auf, wer hier Alexander war, und da warf sich Sisigambis [sic!] zu dessen
Füßen nieder und entschuldigte sich, sie kenne den König nicht, denn sie habe
ihn zuvor noch nie gesehen. Eigenhändig richtete der sie auf mit den Worten:
‚Du hast dich nicht geirrt, Mutter, denn auch er ist Alexander.‘“28
Die Szene beinhaltet zwei Hauptthemen: die gnädige Behandlung der Gefangenen
durch Alexander und dessen Vergebung für die Verwechslung mit Hephaistion durch
Sisygambis, was als Zurückhaltung oder Selbstüberwindung zu interpretieren ist. Eine
besondere Stellung nimmt die Szene deshalb innerhalb der „Historien“ von Curtius
ein, weil Alexanders moderatio durch seinen später einsetzenden moralischen Verfall
verloren gehen wird.29 Curtius Rufus bietet einige Beispiele zur Behandlung von Gefangenen, beispielsweise die Folterung des Betis aus Tyros30 oder die Kreuzigung des
Ariamazes.31 Die Behandlung der Königsfamilie durch Alexander galt im Fortlauf der
„Historien“ von Curtius als großmütig und tugendhaft, denn noch ließ der Historiograph den charakterlichen Verfall der Hauptfigur aus.32
Im Anschluss an die Zeltszene wurde der Autor bei der Beschreibung der Großzügigkeit Alexanders ausführlicher und benannte die Schönheit der Perserinnen, um Alexanders Tugend der Selbstbeherrschung in ungeahnte Höhen zu stilisieren:
28
29
30
31
32
Curt. 3,12,31
Curtius verwendet bei dieser Beschreibung das Adverb moderate (Curt. 3,12,20), das nur noch ein einziges Mal
bei der Rede des Meders Gobares (Curt. 7,4,12) vorkommt. Als Stilisierungselement benutzte Curtius auch den
Substantiv moderatio, der durch den anhaltenden moralischen Verfall Alexanders nur noch als Kritik an Alexander
verwendet wurde (Curt. 8,8,10 u. 6,6,1). Hierzu richtungsweisend Otto Eichert, Vollständiges Wörterbuch zu dem
Geschichtswerke des Quintus Curtius Rufus über die Taten Alexanders des Großen, Hannover 1893, S. 163.
Curt. 4,6,28.
Curt. 7,11,43.
Um verschiedene Ansätze der Interpretation aufzuzeigen, an welchen Stellen Alexander östliche Handlungsweisen aufnahm: Robert Rollinger, Die Philotas-Affäre, Alexander III. und die Bedeutung der Dexiosis im Werk des Q.
Curtius Rufus, in: Gymnasium 116 (2009), Heft 3, S. 257–273, hier S. 262 sieht die beginnende „Orientalisierung“
Alexanders durch die symbolische Geste der dexiosis, dem Reichen der rechten Hand zum Vertragsschluss, einem
originär altorientalischen Gestus mit Rechtscharakter. Deutlich erwähnt Curtius die „Orientalisierung“ Alexanders
ab der Übernahme der persischen Tracht, Curt. 6,6,2. Interessant ist hierbei die Untersuchung von Diana Spencer,
Perspective and Poetics in Curtius‘ Gorgeous East, in: Acta Classica 48 (2005). S. 121–140, hier S. 132 der den Beginn des charakterlichen Verfall von Alexander bei Curtius genau dort festmacht, als das makedonische Heer die
östlichen Grenzen des späteren Imperium Romanum überschreitet.
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„Die wunderhübschen Prinzessinnen waren für ihn so unantastbar, als wären
sie vom selben Vater wie er selbst gezeugt; der Gattin und zugleich Schwester
des Dareios, der größten Schönheit jener Zeit, tat er nicht nur keinerlei Gewalt
an, er ging noch weiter und sorgte dafür, dass niemand sich mutwillig an der
Gefangenen vergriff. Er veranlasste, den Frauen all ihren Putz zurückzugeben,
und damit fehlte denen trotz ihrer Zwangslage nichts aus einstigen Freudentagen, nur ihr Selbstwertgefühl.“33
Curtius benutzt die Personenbeschreibung des gerechten, sich selbst überwindenden
Alexanders weiter. Nach der Folterung des Tyriotes, der in Folge der Ereignisse Dareios
den guten Umgang der persischen Damen versicherte, weinte der persische Großkönig und rief folgendes aus: „Ihr Götter meiner Väter, meine erste Bitte ist, befestigt mir
meine Herrschaft! Mein anderes Gebet aber, lasst, wenn es schon um mich geschehen
ist, keinen anderen König über Asien werden als diesen meinen so gerechten Feind
und so barmherzigen Sieger!“34 Grund für dieses Gebet ist die Benachrichtigung vom
natürlichen Tod von Stateira, der Gattin Dareios‘.35
Die Selbstbeherrschung Alexanders ist bei Curtius ein wesentlicher Faktor in der diplomatischen Kommunikation mit den Persern und Makedonen. Alexanders continentia
war laut Curtius ausschlaggebend für die Friedensangebote des Dareios.36 Eine zweite
Möglichkeit der Interpretation ist der Zusammenhang von continentia und dem absoluten Herrschaftsanspruch Alexanders, was durch das Gebet des Dareios zum Ausdruck kommt.37 Dies impliziert die Qualifikation des Makedonen als Eroberer des Perserreiches und legitimiert diesen – zweitrangig nach dem militärischen Erfolg – als
geeigneten Herrscher.
Nicht nur Curtius stellte Alexanders Tugenden so ausgiebig dar. In der Antike erfreute
sich die Zeltszene großer Beliebtheit bei einer Vielzahl von Autoren. In seinen Parallelbiographien, die um die Jahrhundertwende vom 1./2. Jhd. n. Chr. verfasst wurden,38
verglich der unter römischer Herrschaft lebende Grieche Plutarch das Leben Alexanders mit dem von Cäsar. Er bestätigte die Tugendhaftigkeit von Alexanders Verhalten gegenüber den Frauen. In seiner Alexanderbiographie fehlt die Verwechslungsszene mit
Hephaistion, aber er stilisierte wie Curtius Rufus die moderatio des Makedonen hoch.
„Aber als er zum Abendessen ging, hörte er von der Gefangennahme von Dareios Mutter und Frau sowie von zwei seiner unverheirateten Töchter […]. Nach
einer Weile, da ihn mehr deren Trübsal als sein Erfolg beschäftigte, sandte er
Leonnatos zu ihnen, um ihnen mitzuteilen, dass Dareios nicht tot sei und dass
33
34
35
36
37
38
Curt. 3,12,23.
Curt. 4,10,34.
Curt. 4,10,26–34.
Curt. 4,11,1: „Obwohl er also nach zwei vergeblichen Friedensanträgen alle seine Gedanken auf Krieg gerichtet
hatte, so schickte er dennoch, durch die Selbstbeherrschung seines Gegners besiegt, zehn Gesandte, die Vornehmsten seiner Verwandtschaft, um neue Friedensvorschläge zu überbringen.“
Hartmut Wulfram, Der Übergang vom persischen zum makedonischen Weltreich bei Curtius Rufus und Walter
von Châtillon, in: Ulrich Mölk (Hrsg.) Herrschaft, Ideologie und Geschichtskonzeption in Alexanderdichtungen des
Mittelalters (Literatur und Kulturräume im Mittelalter 2), Göttingen 2002, S. 40–76, hier S. 41.
Tomas Hägg, The Art of Biography in Antiquity, Cambridge 2012, S. 239–244.
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Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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sie kein Leid von Alexander befürchten müssen, der gegen ihn [Dareios, J.D.]
nur des Herrschaftsgebietes wegen Krieg führe; ihnen sollte alles, was sie von
Dareios gewohnt waren zu haben, bereitgestellt werden. […] Er verringerte
nicht deren Besitz, oder die Aufmerksamkeit und den Respekt, der ihnen vormals gezollt wurde, und bestimmte größere Unterkünfte als sie zuvor hatten.
Aber der tugendhafteste und höchst königliche Akt ihrer Behandlung war,
dass er diese berühmten Gefangenen nach ihrer Tugend und ihrem Charakter
behandelte, so dass er nicht befürchten müsse, dass sich diese wegen Unannehmlichkeiten beschweren konnten. So wirkte es auf sie so, als wären sie in
irgendeinem Tempel, oder in heiligen Kammern für Jungfrauen, wo sie ihre
Privatsphäre und Ungestörtheit genießen konnten, untergebracht worden, als
im Quartier des Feindes. Nichtsdestoweniger galt Dareios Frau zu Lebzeiten
als die schönste Prinzessin, ihr Mann als der größte und schönste Mann seiner
Zeit, und die Töchter standen ihren Eltern um nichts nach. Aber Alexander, der
es mehr schätzte, empfand es als königlicher sich selbst zu beherrschen als
seine Feinde zu besiegen […].“39
In frühaugusteischer Zeit beschrieb Pompeius Trogus, der nur durch die Epitome des
im 4. Jahrhundert n. Chr. lebenden Justin fassbar ist, ebenfalls Alexanders tugendhaftes
Verhalten:40
„Alexander, berührt von der respektvollen Besorgnis der Prinzessinnen für Dareios, versicherte ihnen, dass der König noch am Leben sei, und nahm ihnen so
die Befürchtungen seines Todes; im selben Moment befahl er, dass diese wie
königliche Gefangene behandelt werden sollten, und stellte den Töchtern der
Ehre ihres Vater ebenbürtige Ehemänner in Aussicht.“41
Justin-Trogus, Curtius Rufus und Plutarch entwarfen ein Narrativ des – bis zu diesem
literarischen Zeitpunkt – moralisch noch nicht verdorbenen Alexanders als ein Beispiel
für königliche Tugendhaftigkeit. Auf die Frage, warum Alexander bei Curtius vor der
Eroberung Persiens noch positiv dargestellt wurde, können die Konsulatsreden Ciceros
eine Antwort geben: 60 v. Chr. veröffentlichte dieser im Corpus seiner Konsulatsreden
auch einige, die er im Zusammenhang mit den Umtrieben Catilinas gehalten hatte. Er
klärte seine Mitbürger auf, welche moralischen Kräfte und Tugenden in einem Kampf
gegen moralisch Verdorbene gegenüberstehen:42 Continentia gegen libido und tem
perantia gegen luxuria. C. Classen sieht darin typisch griechische Moralvorstellungen,
39
40
41
42
Plut. Alex. 21 (Eigene Übers.).
Otto Seel, Pompeius Trogus und das Problem der Universalgeschichte, in: Wolfgang Haase (Hrsg.), Aufstieg und
Niedergang der römischen Welt 30,2, Berlin-New York 1982, S. 1363–1423, hier S. 1381 f. In wie weit dieser Autor
im römischen Kontext über die Makedonen schreibt wurde in Ralf Urban, „Historiae Philippicae“ bei Pompeius
Trogus: Versuch einer Deutung, in: Historia 31 (1982), S. 82–96, S. 95 f. besprochen. Josè M. Núñez, An Augustan
World History. The ‹Historiae Philippicae› of Pompeius Trogus, in: Greece & Rome 34 (1987), Heft 1, S. 56–72, hier
S. 66 plädiert darauf, dass auch bei Pompeius Trogus Alexander nach der Eroberung Persiens moralisch verdorben
war, Just. 12,3,8–12.
Just. 11,9,16 n. eigener Übers.
Carl J. Classen, Zur Literatur und Gesellschaft der Römer, Stuttgart 1998, S. 243 in Bezug auf Cic. Att. 2,1.
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die von den Römern übernommen wurden.43 Deutet man diese Eigenschaften in ihrer
auftretenden Paarung auf die Geschehnisse im Jahr 60 v. Chr. in Rom, so wird der Antagonismus zwischen den rechtschaffenen Bürgern und den, aus Ciceros Sicht, moralisch verwerflichen Anhängern des Catilina ersichtlich. Die Darstellungen Alexanders in
den Werken der oben genannten, im römischen Kontext wirkenden Historiographen/
Biographen weisen mit Fortlauf ihrer Handlungen einen dem ciceronischen Catilina
ähnlichen Verfall der Moral und Tugend auf.
Bei Curtius ist dies nachvollziehbar durch die Verweigerung der Inbesitznahme der
persönlichen Gegenstände der Perserinnen44 und erinnert in seinem Lob über Alexanders Verhalten an die Gegenüberstellungen von negativen und von positiven charakterlichen Kräften, Stärken und Eigenschaften an Cicero: „[…] moderate et prudenter
[…]“45 gegen „[…] fortuna […] (das) seinen Sinn überwältigt(e) […] während er gegen Ende hin dessen Überfülle nicht zu fassen vermochte“ sowie anschließend von
„[…] continentia et clementia […]“46 gegen suberbia und ira.47 Curtius benutzte bewusst
Darstellungskonzepte des Sittenverfalls der späten römischen Republik, um Alexander
negativ zu stilisieren.48 Seine vermutliche rhetorische Bildung lässt auf die Kenntnis
von Cicero schließen. Der Rückgriff auf Letztgenannten lässt sich nicht nur philologisch
veranschaulichen, sondern auch durch die Bezugnahme Curtius‘ auf mögliche vergangene und bekannte Ereignisse aus dem eigenen historischen Kontext, was sich in der
Darstellung Alexanders äußert. Es handelt sich also um eine bewusste Transformation
des Alexanderbildes durch Curtius, um nach römischem Verständnis dessen Moralverfall verständlich zu machen. R. Kosselleck nennt dieses Verfahren das Konzept der „geschichtlichen Zeit“,49 indem der Autor selbstgemachte Erfahrungen und Erwartungen
für seine Leserschaft aufbereitet.
Zweites Thema des exemplum bildet die Verwechslung von Hephaistion mit Alexander
durch Sisygambis. In der antiken Literatur des griechischen und römischen Kulturkreises wurde das Thema des Alter Egos des Öfteren literarisch verarbeitet, prominentes
Beispiel bilden die homerischen Helden Achilles und Patroklos. Alexander stammte
mütterlicherseits von Herakles ab, da sich die Molosser auf diesen als Stammvater be-
43
44
45
46
47
48
49
Carl J. Classen, Zur Literatur und Gesellschaft der Romer, Stuttgart 1998, S. 243 f. u. 252.
Curt. 3,12,23: „Er veranlasste den Frauen all ihren Putz zurückzugeben.“
Curt. 3,12,20.
Curt. 3,12,21.
Curt. 3,12,19.
Darstellungskonzept daher, weil andere Autoren dasselbe Narrativ benutzen. Vergleiche dazu die Darstellung
der Verschwörung des Catilina bei Sall. Catil. 10: „Und so wuchs zunächst die Gier nach Geld, dann die nach der
Herrschaft. […] Denn die Habgier untergrub die Verläßlichkeit, die Rechtschaffenheit und die anderen guten Eigenschaften; statt ihrer lehrte sie Überhebung, Grausamkeit, die Götter zu vernachlässigen […]“; Ebd., S. 13: „Denn
die Lust an Unzucht, Schlemmerei und dem übrigen Luxus war in nicht geringerem Maße eingerissen […]“
Reinhart Kosselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 12: „Die
Hypothese ist dabei, daß sich in der Differenzbestimmung zwischen Vergangenheit und Zukunft, oder anthropologisch gewendet, zwischen Erfahrung und Erwartung, so etwas wie ‚geschichtliche Zeit‘ formen lässt.“
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Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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riefen.50 Auch berichten antike Geschichtswerke von der Verehrung des Achilles durch
Alexander und der „Ilias“ als dessen Lieblingslektüre.51
Alexanders Verhalten gegenüber seinem Freund ist auf die gemeinsame Erziehung der
beiden Makedonen durch Aristoteles zurückzuführen. Ausdrücklich wird durch das ex
emplum auf die erste Form der Freundschaft der aristotelischen Lehre angespielt, nach
dieser basiere wahre Freundschaft auf der charakterlichen Vortrefflichkeit der beiden
Freunde und stellt den Grund für die gegenseitige Zuneigung dar.52 Hintergrund für
die Beschreibung Alexanders durch Curtius ist der Gedanke des idealen, charakterlich
nicht verdorbenen Herrschers – eines Philosophen auf dem Thron –, dessen Wesen
tugendhaft ist.53 Dies stellt womöglich einen Hinweis auf eine Lektüre des Aristoteles
durch Curtius dar.
In der althistorischen Forschung wurde die Historizität der Anekdote bezweifelt sowie
deren Herkunft und Klassifizierung als exemplum virtutis vielfach diskutiert. W. Will54 und
E. Carney55 werteten die Episode als historisch und sahen darin Alexanders politisches
Kalkül, da dieser die persische Königsfamilie als Faustpfand verwenden wollte; so auch
H.-U. Wiemer56 und P. Barceló.57 Eine gegenteilige Argumentation vertrat F. Hampl,58 der
darin eine in späterer Zeit hinzugefügte, Fiktion der antiken Autoren vermutete, was
nach A. Demandt59 den Anspruch des Geschichtswerkes erhöhen sollte. Ebenso argumentierte R. Hammond,60 der die Entstehung der Anekdote bei Kleitarchos vermutete.
J. Roisman klassifizierte das exemplum als Ausfluss des alexandrinischen Ehrbegriffs,
da Selbstkontrolle nach außen Exzellenz und aretê verkörpern sollte. Diese Maximen
weisen speziell auf die griechische Politik und Ehrempfindung Alexanders hin.61 Sabine
veranschaulichte, dass die Anekdote bis zur Verwendung bei Curtius Rufus schablo50
51
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61
Müller, Doppelter Alexander, S. 121.
Bspw. der Besuch von Achilles Grab in Troja (Just. 11,5,12; Diod. 17,17,3 u. Plut. Alex. 15,4-5) und die Aufbewahrung einer Abschrift der „Ilias“, die Aristoteles Alexander schenkte, in einer kostspieligen Kiste von Dareios (Plut.
Alex. 26, 1-2). Gehrke 2009, S. 20 bejaht die umstrittene Achilles-Imitatio. Die alexandrinische Achilles-Imitatio
wurde erörtert bei Sabine Müller, Alexander der Grosse als neuer Achilles, in: Stephan Jaeger/Christer Pertersen
(Hrsg.), Ideologisierung und Entideologisierung (Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien 2), Kiel
2006, S. 263–294, hier S. 268–278.
Konrad Utz, Freundschaft und Wohlwollen bei Aristoteles, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 57 (2003), S.
543–570, hier S. 543.
Curt. 3,12,32.
Will, Alexander, S. 72: „Deren großherzige und ehrenvolle Behandlung durch Alexander, von der die Quellen nicht
wunders genug berichten können, findet darin, auch wenn psychologische Gründe und politische Absichten
mitgespielt haben, eine einfache Erklärung.“ Auch Gehrke argumentierte mit den psychologischen Effekt, Gherke,
Alexander, S. 43 f.
Carney, Women in Alexander’s Court, S. 240: „It was part of his general approach to dealing with captive royal
Persian family to substitute himself for Darius within the family.“
Hans-Ulrich Wiemer, Alexander der Große, München 2005, S. 103.
Barceló, Alexander, S. 123.
Hampl, Alexander, S. 26 f.: „Die persönliche Begegnung zwischen Alexander und den königlichen Frauen, von der
spätere Autoren erzählen, ist offenbar Legende, sie dürfte zu dem romanhaften Beiwerk gehören, mit dem man
die Berichte über Alexanders Taten bald auszuschmücken begann.“
Demandt, Alexander, S. 146: „Direkte Begegnungen bedeutender Personen machen stets einen erzählerischen
Prägnanzeffekt und werden daher auch berichtet, wo sie nicht stattgefunden haben.“
Hammond, Alexander, S. 140.
Roisman, Honor, S. 286: „Moderation or self-control, mostly sôphrosunê, was a desireable Greek virtue, which
brought respect to its practitioners. […] In Greek popular morality, self-restraint often meant the ability to control
bodily appetits, desires and emotions.“
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Julian Degen
57
nenhaft wurde,62 was auch die Quantität der Wiedergabe in anderen Geschichtswerken zeigte.63 Diese Vorläufer und Variationen des exemplum sind bei – zeitlich vor Curtius Rufus datierbaren – Historiographen auffindbar.
Diodor schrieb im 1. Jahrhundert v. Chr. eine Universalgeschichte, deren 17. Buch die
Geschichte von Alexander zum Inhalt hat.64
„Als der Tag anbrach, nahm Alexander denjenigen seiner Freunde mit, der ihm
am liebsten war, Hephaistion, und ging zu den Frauen. Sie waren beide gleich
bekleidet, doch da Hephaistion hochgewachsener und schöner war, hielt Sisygambis ihn für den König und vollzog die Proskynese vor ihm. Als die anderen
Anwesenden ihr Zeichen machten und mit der Hand auf Alexander zeigten,
schämte sie sich für ihren Irrtum, machte aber einen neuen Ansatz und vollzog
die Proskynese vor Alexander. Doch der König hielt sie auf, indem er sagte:
‚Keine Sorge, Mutter, auch dieser ist Alexander.‘“65
Arrian kritisierte im 2. Jahrhundert n. Chr. die Historizität der Episode in seinem Geschichtswerk, doch lobt er das vermeintliche Verhalten Alexanders66:
„Darüber hinaus wird erzählt, dass Alexander selbst am nächsten Tag zusammen mit Hephaistion als einzigem seiner Freunde das Zelt betrat. Die Mutter
des Dareios, die im Zweifel war, wer von beiden der König sei – beide trugen
das gleiche Gewand –, sei vor Hephaistion getreten und vor diesem niedergefallen, denn dieser schien ihr der stattlichere. Als dieser nun zurückwich und
jemand aus ihrer Umgebung auf Alexander zeigte, dies sei der König, habe sie
sich ihres Irrtums geschämt und sich abgewandt. Doch Alexander meinte, sie
habe sich keineswegs geirrt, denn auch dieser sei Alexander. Derartiges soll
hier weder als verbürgte Wahrheit noch als völlig unglaubwürdig aufgezeichnet sein.“67
Auf Grund der Darstellungsmethodik Arrians – er deutet an dieser Stelle explizit auf
die Verwendung von Quellen hin –68 vermutete hier F. Jacoby ein Zitat aus dem Geschichtswerk des Kleitarchos (FGrH 137).69 Ende des 4. oder zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. schrieb Kleitarchos seine romanhafte Alexandergeschichte,70 damit stellt
sein fragmentarisch erhaltenes Werk die älteste fassbare Quelle hinsichtlich der Zeltszene dar.
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69
70
Müller, Doppelter Alexander, S. 118.
Just. 11,9,12–16; Diod. 17,37,3–38,7; Plut. Alex. 21 u. Arr. Anab. 2,12,3–8
Müller, Doppelter Alexander, S. 119.
Diod. 17,37,5 f. zit. n. Müller, Doppelter Alexander, S. 119.
Müller, Doppelter Alexander, S. 120.
Arr. An. 2,12,6–8 zit. n. Müller, Doppelter Alexander, S. 120.
Arr. An. 2,12,3: „[…] ἀλλὰ λέγουσί τινες τῶν τὰ Ἀλεξάνδρου γραψάντων τῆς νυκτὸς αὐτῆς […].“ „[…] manche, die Alexanders
Taten niederschrieben sagen, dass […].“ (Eigene Übers.).
Vergleiche dazu den kritischen Apparat zu FGrH 138,7: „[…] Diod. XVII 37–38; Curt. III 12; Justin. XI 9, 11 ff. ist
Kleitarchos; ihr Bericht stimmt teilweise wörtlich zu Arrian, hat auch das gleiche Epiphonem und ist nur ausführlicher.“
Müller, Doppelter Alexander, S. 118.
58
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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Vermutlich nach Curtius Rufus ist die literarische Verarbeitung des Themas bei Valerius Maximus zu finden. Dieser führt die Verwechslung von Hephaistion und Alexander in seiner exempla-Sammlung, im 4. Buch mit dem Titel „de moderatione“, als ein
beispielhaftes Verhalten Alexanders an und lobt es.71 Der Verfasser schrieb sein Werk
unter Tiberius und versuchte das römische Reich als dem Alexanderreich überlegen
darzustellen, was auch die erhöhte Formidabilität des Kaisers gegenüber dem König
Alexander beinhaltete.72
Zusammenfassend kann die römische Rezeption des Narratives, eines den mos ma
iorum entsprechenden Alexanders, erschlossen werden. Der Autor Curtius ging mit
darstellerischem Geschick an die Tradition heran.73 Zumindest bei ihm erfüllt das ex
emplum der Zeltszene daher eine doppelte Bedeutung: Zum einen eine historiographische Deskription, die Alexander weitaus besser als Dareios darstellen soll und ihn
deshalb zum Eroberer des Ostens qualifiziert.74 Dafür sprechen der Tugendbeweis dieser Szene und die Identifikation Alexanders als vortrefflicher Herrscher durch die Königsmutter Sisygambis.75 Zum anderen ein weiteres exemplum, das der nach römischer
Ansicht moralischen Unzulänglichkeit des persischen Ostens. Dies wird ersichtlich dadurch, dass Sisygambis um Gnade fleht – obwohl Alexander für sie eine hohe Summe
hätte auslösen können, die den teuren Feldzug finanzieren hätte können –,76 und die
Szenerie in einem prunkvollen Zelt spielt.77
Nach der Analyse der antiken Alexanderhistoriographie stellt sich die Frage nach dem
literarischen Fortleben der Zeltszene in der drauffolgenden Zeit. Besonders unter der
Berücksichtigung der Aspekte der Veränderungen und Neukontextualisierungen der
Anekdote wird im Folgenden die Alexanderliteratur des Mittelalters und der Frühen
Neuzeit behandelt werden.
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Val. Max. 4, 7 ext. 2: „Quod ita esse rex Alexander sensit. Darei castris, in quibus omnes necessarii eius erant,
potitus Hephaestione gratissimo sibi latus suum tegente ad eos adloquendos uenit. cuius aduentu mater Darei
recreata humi prostratum caput erexit Hephaestionemque, quia et statura et forma praestabat, more Persarum
adulata tamquam Alexandrum salutauit. admonita deinde erroris per summam trepidationem excusationis uerba
quaerebat. cui Alexander ‹nihil est› inquit ‹quod hoc nomine confundaris: nam et hic Alexander est›. utri prius
gratulemur? qui hoc dicere uoluit an cui audire contigit? maximi enim animi rex et iam totum terrarum orbem
aut uictoriis aut spe conplexus tam paucis uerbis se cum comite suo partitus est.“
David Wardle, Valerius Maximus on Alexander the Great, in: Acta Classica 48 (2005), S. 141–161, hier S. 141, 153 f.
Porod, Der Literat Curtius, S. 107.
Dagegen die Beschreibung von Dareios bei Issos bei Curt. 3,11,11: „Da sprang der König aus Furcht, lebendig in
die Hand der Feinde zu geraten, [von seinem Wagen, J.D.] herab […]. Dabei warf er sogar die Herrschaftsinsignien,
damit sie seine Flucht nicht verrieten, unrühmlich von sich.“
Curt. 3,12,24: Sisygambis sprach daher zu ihm: „Oh König, du verdienst es, dass wir das, was wir zuvor für unseren
Dareios erbaten, für dich erflehen, und du bist, wie ich sehe, vertrauenswürdig, da du diesen großen König nicht
nur an Glück, sondern an milder Gesinnung übertroffen hast.“
Zur Finanzierungsstrategie Alexanders durch die Plünderung von Städten und Auslösungen und zur teils prekären Lage vor Issos arbeitete Daniel Franz, Kriegsfinanzierung Alexanders des Großen, in: Holger Müller (Hrsg.),
1000 & 1 Talente. Visualisierung antiker Kriegskosten, o. O. 2009, S. 115–150, hier S. 126 f.
Curt. 3,11,23: „[…] das mit alter Pracht und Reichtumsfülle ausgestatte Zelt […].“ Der Prunk des persischen Heeres
von Curtius Rufus erinnert an die Darstellung des Heerlagers von Xerxes bei Herodot (Hdt. 7,59–100).
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Rezeption von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit
Die literarische Rezeption. Vom antiken Alexanderroman bis zu Vaso de Lucena
Curtius Rufus galt in der Antike nicht als einer der meist rezipierten Autoren. Dass sich
sein Geschichtswerk erhalten hat, ist wahrscheinlich der „intellektuellen Repräsentation“ von Aristokraten in der Spätantike zu verdanken. Literatur von paganen Autoren
wurde in der vermehrt christianisierten Epoche der Spätantike fast ausschließlich von
Aristokraten im Privaten gelesen. Das Wissen um möglichst viele Autoren galt nach
I. Uytterhoeven als Mittel der interelitären Repräsentation der spätantiken römischen
Aristokratie. Nicht ein etwaiger Glaubensdiskurs stand für den Leser im Vordergrund,
vielmehr sollte der Besitz dieser Werke den intellektuellen Grad des Besitzers widerspiegeln.78 Die Patrizier hatten sich als Mitglieder der römischen Oberschicht der Muße
hinzugeben, die die politische Partizipation und das Studium von Historikern sowie
Philosophen ermöglichte. Daher waren die exempla speziell an diesen Personenkreis
adressiert.
Ausgangspunkt für die Verbreitung des Alexanderstoffes im europäischen Mittelalter
war der spätantike griechische Alexanderroman. Dieser stellte eine massentaugliche
Erzählung dar, die weder künstlerischen Anspruch noch eine kritische Darstellungsweise verfolgte. Im Zeitraum von 200 v. Chr. bis 300 n. Chr. war die Wiedergabe des
Alexanderstoffes vor allem auf die unteren Bildungsschichten der hellenistischen Städte gerichtet, die zwar lesen konnten, aber keine hohe Bildung besaßen. Die jeweilige
Anpassung an das Zielpublikum wurde durch die Verschriftlichung der variierenden
mündlichen Traditionen erlangt und äußerte sich als Hochstilisierung der Person Alexanders. Der anonym geschriebene Roman wurde in Byzanz der späteren Zeit Kallisthenes von Olynth zugeschrieben, dem von Alexander während seines Feldzuges hingerichteten offiziellen Berichterstatter seiner Taten. In der Forschung ist deshalb auch
die Bezeichnung ‚Pseudo-Kallisthenes‘ für den Alexanderroman geläufig.79 Durch die
Nennung der Autorität des Kallisthenes, der ein Neffe und Mitarbeiter des Aristoteles
war, erlangte der Roman hohe Popularität.80 Im byzantinischen Reich waren bis in die
Spätphase noch Variationen des Alexanderstoffes im Umlauf.81 Insgesamt sind achtzig
verschiedene Versionen des Alexanderromans fassbar, was für dessen hohe Popularität
spricht.82 Das exemplum weicht dabei von den Erzählungen der antiken Autoren ab:
„Nach einer Verfolgung von sechzig Stadien holte er [Alexander, J.D.] auch den
Wagen mit den Waffen des Dareios ein und nahm seine Frau und seine Töch78
79
80
81
82
Inge Uytterhoeven, Know your classics! Manifestations of „classical culture“ in late Antique Elite Houses, in: Peter
van Nuffelen (Hrsg.), Faces of Hellenism. Studies in the history of the eastern mediterranean (4th century B.C. – 5th
century A.D.) (Studia Hellenistica 48), Leuven-Paris-Walpole 2009, S. 321–342, hier S. 332 f.
Van Thiel, Leben und Taten, XI u. Reinhold Merkelbach, Die Quellen des griechischen Alexanderromans (Zetemata
– Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft 9), München 1977, S. 93 f.
Albrecht Dihle, Griechische Literaturgeschichte, München 1991, S. 255.
Bspw. Das Alexandergedicht nach dem codex Marcianus 408, das im frühen 15. Jahrhundert verfasst wurde. Weiterführend dazu Siegfried Reichmann (Hrsg.), Das byzantinische Alexandergedicht nach dem codex Marcianus
408 (Beiträge zur klassischen Philologie 13), Meisenheim am Glan 1963, III.
Thomas Paulsen, Geschichte der griechischen Literatur, Stuttgart 2004, S. 359.
60
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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ter und seine Mutter gefangen; […] Alexander nächtigte in dem erbeuteten
Zelt des Dareios. Doch handelte er nicht übermütig, als er so die Feinde überwunden und solche Ehre gewonnen hatte. Er ließ die tapfersten und adeligen
Gefallenen der Perser bestatten; Mutter und Kinder des Dareios hielt er bei sich
und behandelte sie ehrenvoll.“83
Während der Topos der Tugendhaftigkeit Alexanders noch tradiert wurde, fiel die Verwechslung mit Hephaistion weg. Doch beweist die Tradierung dieser Szene, dass man
Alexander als tugendhaften Herrscher in Erinnerung behalten wollte, beziehungsweise die vermittelten Werte aus der Zeltszene in der Spätantike noch gültig waren. Auch
eignete sich diese Episode als exemplum, um der Leserschaft des kommerzialisierten84
Stoffes Anteilnahme an politischen, philosophischen und geschichtlichen Fragen zu
ermöglichen.
Das exemplum diente diente nach Auffassung des Verfassers zur Stilisierung und Mystifizierung der Person Alexanders und stellt dadurch den griechischen Alexanderroman
in die Tradition der antiken Autorenschaft. Weiters zeigt es die positive Deutung von
Alexanders Verhalten im spätantiken Kontext auf.
Trotz der von Merkelbach vorgeworfenen Trivialität85 des Alexanderromans nimmt
die moderne Forschung eine differenzierte Meinung dazu ein und spricht dem Verfasser beziehungsweise den Verfassern ein hohes Wissen an der antiken Literatur zu.86
Gerade die zeitgerechte Adaption des Alexanderstoffes und die ungemeine Beliebtheit des Alexanderromans, trotz historischer Anachronismen und geographischer
Unmöglichkeit,87 waren für die weitere Rezeption ausschlaggebend.
Der Inhalt wurde in mehrere Sprachen übersetzt und verbreitete sich in ganz Europa. Eine wichtige Rolle nahm dabei der Archipresbyter Leo von Neapel ein, der im
10. Jahrhundert88 während seines Aufenthalts in Byzanz eine Abschrift des griechischen
Alexanderromans erstanden hatte. Durch seine Kenntnis des Griechischen konnte er
das Werk ins Lateinische übersetzen, kürzte es dabei aber erheblich. Mit seiner Übersetzung übernahm er auch den christlichen Kontext der Alexandergeschichte aus dem
83
84
85
86
87
88
Ps.-Kall. 1,41,9 f.
Van Thiel spricht von einer Kommerzialisierung der Alexandergeschichte durch den griechischen Alexanderroman, ebd., XI.
Merkelbach, Alexanderroman, S. 20–48.
Siehe die Einführung der Übersetzung von Stoneman, Alexander Romance, S. 2: „It hardly would be a exeraggation to say that the legends of Alexander are as widely disseminated, and as influential on art and literature, as
the story of the Gospels. Each age makes its own Alexander […]“; ebd., S. 4: „The Greek Alexander Romance as
we have it represents an advanced stage of development of this kind of legendary material, and the historical
framework itself has become very shaky, as well as been overlaid by many layers of fabolous material“. Auch
Christopher Schlamm, Rezension zu: Richard Stoneman, The Greek Alexander Romance, New York 1991, in: The
Classical World 86 (1993), Heft 6, S. 521 befürwortete diese Ansicht.
Merkelbach, Alexanderroman, S. 47 contra Stoneman, Alexander Romance, S. 2 und Hartmut Kugler, Der Alexanderroman und die literarische Universalgeographie, in: Ulrich Schöning (Hrsg.), Internationalität nationaler
Literaturen (Beiträge zum ersten Symposion des Göttinger Sonderforschungsbereichs 529), Göttingen 2000,
S. 102–120, hier S. 103 f.: „Es steckt darin, im Ansatz zumindest, die Utopie der einen, allumfassenden, ungeteilten
Welt, in der es unzugängliche und andersartige Orte im Prinzip nicht geben kann.“
Zur strittigen Datierung siehe Friedrich Pfister (Hrsg.), Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo (Sammlung
mittellateinischer Texte 6), Heidelberg 1913, S. 7–9.
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61
byzantinischen Reich.89 Vor allem auf dem normannischen Sizilien fand seine Übersetzung Anklang, von wo aus sie in Europa weit verbreitet wurde.90 Leo von Neapel war
nicht der erste Übersetzer des Pseudo-Kallisthenes, im 4. Jahrhundert wagte sich Julius
Valerius an eine Translation, die aber ohne weitere Rezeption blieb.91
Besonders im mittelalterlichen Frankreich fand der Alexanderroman großen Anklang
bei den geistlichen Literaten. Wegen mangelnden Lateinkenntnissen wurde der Inhalt
überwiegend mündlich weitertradiert und zeitgerecht adaptiert. Im Mittelpunkt der
Erzählung stand der Held Alexander, der nun für die Christenheit gegen die paganen
Perser zog. Als König der Könige und Nobelster der Nobelsten sind seine Taten in die
Superlative gesteigert worden. Weniger lag das Augenmerk auf Alexanders Feldzug
als auf seiner Erziehung, die nach mittelalterlichem Gesichtspunkt die Quelle für seine
Tugendhaftigkeit war. Das Zentrum der europäischen Alexanderrezeption bildete vorwiegend das Frankreich des 12. Jahrhunderts.92
Die Übersetzung Leos von Neapel bildete die Vorlage für weitere Rezeptionen; die
altfranzösische Übersetzung von Alberich von Bisinzo und in weiterer Folge das mittelhochdeutsche „Alexanderlied“ des Pfaffen Lambrecht basieren darauf.93 Veränderungen und Kürzungen wurden dabei unternommen, so dass beispielsweise letzteres Werk inhaltlich zwar die Milde Alexanders gegenüber den Frauen beinhaltet, aber
nicht die bekannte Zeltszene übernahm.94 Dass diese beiden Werke in der Tradition des
spätantiken Alexanderromans stehen, kann somit bewiesen werden.
Weitere bedeutende Literaten dieses Rezeptionsstranges waren Alexandre de Paris
und Thomas of Kent. Erstgenannter sammelte und vereinfachte alle ihm zugänglichen
Versionen der Alexanderromane und verarbeitete diese in seinem französischen Ro
man d’Alexandre. Ziel seiner Darstellung war die Schaffung einer neuen Alexandergeschichte. Zeitgleich verfasste Thomas of Kent den Roman „De toute chevalerie“, der an
89
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91
92
93
94
Erkenntlich wird das im Prolog des Leo: „Die Kämpfe und Siege hervorragender ungläubiger Männer vor der Ankunft Christi, da sie noch Heiden waren, zu hören und zu erkennen ist gut und nützlich für alle Christen, sowohl
für die Oberen wie für die Untergebenen, für weltliche wie für geistliche Männer, weil sie alle zu besserem Tun
aufruft.“ Zit. n. Friedrich Pfister, Der Alexanderroman mit einer Auswahl aus den verwandten Texten (Beiträge zur
klassischen Philologie 92), Meisenheim am Glan 1978. Der christliche Kontext der Alexandergeschichte tritt im
byzantinischen Raum mit dem dort verbreiteten spätantiken Alexandergedicht ein, siehe Willem J. Aerts, Die Bewertung Alexander des Grossen in den Beischriften des byzantinischen Alexandergedichts, in: Margaret Bridges/
Johann Ch. Bürgel (Hrsg.), The Problematics of Power. Eastern and Western Representations of Alexander the
Great (Schweizer Asiatische Studien 22), Bern-Berlin-Frankfurt a. M. 1996, S. 69–85, hier S. 82.
Carlotta Dionisotti, The Medieval West, in: Kenneth J. Dover (Hrsg.), Perceptions of the Ancient Greeks, Oxford
1992, S. 100–127, hier S. 111.
Walter Berschin, Einführung, in: Gerhard Streckenbach (Hrsg.), Walter von Châtillon Alexandreis. Das Lied von
Alexander dem Großen, Heidelberg 1990, S. 11–23, hier S. 19.
Laurence Harf-Lancner, Medieval French Alexander Romances, in: David Z. Zuwiyya (Hrsg.), A Companion to Alexander Literature in the Middle Ages (Brill’s Companion to the Christian Tradition 29), Leiden-Boston 2011, S.
201–229, hier S. 201–203; Aikema, Exemplum Virtutis, S. 164.
Berschin, Einführung, S. 19.
Die ausführlichere Straßburger Abschrift des Alexanderromans des Pfaffen Lambrecht beinhaltet die Gefangennahme der persischen Königsfamilie in einem Briefwechsel zwischen Alexander und Dareios. Pfaffe Lambrecht
2463–2470: „Was ich deiner Frau Gutes erwiesen habe, das hat sie meiner Mutter zu verdanken, weil ich ihr zuliebe allen Frauen gerne diene. Deshalb habe ich es gerne getan. Ich will von dir dafür keinen Lohn empfangen.“
62
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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den Roman d’Alexandre angelehnt ist und im 13. Jahrhundert. in das Mittelenglische
übersetzt wurde.95
Durch die Verarbeitung des Themas entstand im Mittelalter ein literarischer Mythos,
der als eine Art Fürstenspiegel den idealen Herrscher darstellen sollte.96 Hauptthemen
waren deshalb Heldenmut, Großzügigkeit und Gerechtigkeit Alexanders, aber auch
zeithistorische Themen. Im heilsgeschichtlichen Kontext der Alexanderromane spiegelt sich die translatio imperii als zentraler Punkt wider; der Übergang vom zweiten
Weltreich der Perser auf das Dritte der Makedonen. Dieser Kontext bildete von dort an
eine gewichtige Maxime in der mittelalterlichen Rezeption der Alexandergeschichte,
waren doch die Kreuzzüge eine äußert präsente zeithistorische Thematik.
Um die Weltreichslehre im Kontext der Alexandergeschichte weiter auszuführen, eigneten sich die „Historiae Alexandri Magni“ des Curtius Rufus. Was zum nächsten Schritt
der Rezeption führt: zu der von Walter von Châtillon um 1180/1190 verfassten „Alexandreis“. Ihr Autor verwendete nicht mehr den französischen Alexanderroman als
Quelle, sondern benutzte neben der Hauptquelle Quintus Curtius Rufus auch die Werke von Justin, Josephus Flavius und Julius Valerius.97 Nach dem Philologen H. Wulfram
erkannte Walter von Châtillon durch die Verwendung der antiken Literaten den sensus
historicus beziehungsweise den sensus litteralis und den heilsgeschichtlichen sensus
allegoricus der Alexandergeschichte. Zwar erwähnte – beziehungsweise kannte – Curtius Rufus die heilsgeschichtliche Dimension nicht, aber für das Geschichtsbild des 12.
Jahrhunderts war diese Erkenntnis eine logische Schlussfolgerung,98 denn nach mittelalterlicher Ansicht rechtfertigte allein die göttliche Inspiration Alexanders Taten. Bis
nach Dänemark reichten Übersetzungen in die jeweiligen Sprachen der „Alexandreis“.99
Mit Walter von Châtillon endete der Überlieferungsstrang der Alexanderromane. Er leitete eine auf antiken Autoren beruhende Alexanderrezeption ein.
Neben der Widmung seines Werkes an den Erzbischof von Reims zeugt auch die lateinische Kunstsprache Walters für eine neue Adressierung des Alexanderstoffes an das
lateinisch lesende, gebildete Publikum. Es handelt sich um eine Neuorientierung in der
Rezeption: statt Pseudo-Kallisthenes wurde Curtius Rufus verwendet, statt eines Romans wurde ein Versuch unternommen „Geschichte“ zu schreiben.100 Dieser Zeitpunkt
bildet den Beginn der Neuorientierung des kommerziellen Alexanderverständnisses.101
Auch lässt sich hier wieder das exemplum in einer anderen Ausführung wiederfinden:
95
96
97
98
99
100
101
Harf-Lancer, Medieval french Alexander, S. 204–215.
Zur Definition eines literarischen Mythos äußerte sich Philippe Sellier, „Qu’est-ce qu’un mythe littéraire?“, in: Litté
ratur 55 (1984), S. 122–126, hier S. 117: „[…] with their great political myths the heroic model of the imagination
always functions in the prevalent fashion: dream of one or more supermen, confronted with all sorts of trials […]
and promise – in spite of the death at the apotheoris.“
George Cary, The medieval Alexander, Cambridge 1967, S. 63.
Wulfram, Übergang vom persischen zum makedonischen Weltreich, S. 75.
Bspw. Übersetzungen in das Mitteldänische: „Alexanders Geesten“ von Jakob von Maerlant, ebenso in das Spanische („Libro de Alexandre“) und in das Mittelhochdeutsche (Rudolf von Ems: „Alexander“). Cary, The medieval
Alexander, S. 64–66.
Berschin, Einführung, S. 19.
Aikema, Exemplum Virtutis, S. 164 lässt dagegen die Neuorientierung des Alexanderverständnisses erst im 16. Jahrhundert beginnen. Dafür würde auch der Druck des den Zehn Geboten nachempfundenen und auf der Historia
de preliis Alexandri Magni basierenden „Seelentrost“ von 1478 und 1483 sprechen. Ebenso Noll, Alexander, S. 32.
historia.scribere 08 (2016)
Julian Degen
63
„Ungeschmälert jedoch an Herrscherwürde und Keuschheit [f ]ährt Darius‘
ganzes Geschlecht, die Mutter, des Königs Gattin, die Schwester, der Sohn (so
groß ist die Gnade des Siegers), [h]och auf goldenen Wagen, dahin zum Lager
der Dorer. Ganz von Milde zur Mutter erfüllt, bestimmt Alexander [d]iese selbst
sich zur Mutter, bezeichnet als Schwester die Gattin, [n]immt auch gütig zum
Sohn den siebenjährigen Knaben. So sehr herrscht noch zu jener Zeit im Herzen des Königs Liebe zur Tugend; und hätte er stets eine solche Gesinnung
[f ]est sich bewahrt, so könne gewiß nicht durch mancherlei Vorwurf [s]chimpfliche Schmähung den ruhmvoll glänzenden Namen verdunkeln.“102
Bemerkenswert ist bei Walter von Châtillon, dass der Beginn der moralischen Verwerflichkeit durch Alexander gleich im Anschluss an die Zeltszene gesetzt wurde. Im Gegensatz zu Curtius Rufus wird in der „Alexandreis“ bereits nach der Schlacht von Issos
durch den Kontakt mit der von Dekadenz gezeichneten Sisygambis der Verfall des tugendhaften Alexanders eingeleitet.103 Dennoch galt Alexander im 12. Jahrhundert als
der erfolgreichste bekannte Herrscher, und der rasche Aufstieg und Fall seines Reiches
sowie die überlieferten moralischen Verfehlungen machten ihn zum exemplum des
menschlichen Erfolgs.104
Durch den Kontext der Kreuzzüge wurden die „Alexandreis“ sowie das Werk von Alexandre de Paris oft tradiert und erweckten das Interesse des burgundischen Hofs des
15. Jahrhunderts an Alexander dem Großen, wo der König der Makedonen bereits im
12. Jahrhundert einen wichtigen Bestandteil der herrschaftlichen Repräsentation bildete.105 Beispielsweise sendete Philipp der Kühne 1398 Sultan Bajazet I. eine Abschrift
der „Histoire du roy Alexandre et de la graigneur (plus grande) partie de sa vie et de ses
conquestes“ um seinen Sohn, der während der Kreuzzüge in dessen Gefangenschaft
gelangte, freizukaufen. Im 15. Jahrhundert wurden am burgundischen Hof Wandteppiche und eine eigene chambre du Alexandre mit Themen der Alexandergeschichte gefertigt.106 Besonders die Verbildlichung der Alexandergeschichte sollte die Bedeutung der
symbolischen, nonverbalen Kommunikation unterstreichen.107 In diesem Umfeld setzte die Rezeption des Curtius Rufus ein. Der am Hof Karls des Kühnen tätige Portugiese
Vasco de Lucena fertigte anhand von drei vorhandenen interpolierten Manuskripten
der „Historiae Alexandri Magni“ eine französische Übersetzung an. Sein Werk war von
102
103
104
105
106
107
Alexandreis 3,5,234–244.
Ebd., 3,5,245–252: „Aber als seinen Zielen die fürstliche Prunksucht der Perser Grenzen zu setzten beginnt und
ihm die Mutter des Luxus, Macht, Erlaubtes und Unerlaubtes sich dreist zu erlauben [a]nrät, verdirbt ihn zuinnerst
das Glück: zur Umkehr sich wendend, [s]tockt die einstige Flut und säumt an den Klippen des Lasters. Er, der sonst
sich der Feinde erbarmt, wird ohne Erbarmen Feind seiner Freunde, und dann, zu Mord sich und häuslichem
Hader [w]endend, glaubt er, jedwedes müsse Tyrannen erlaubt sein.“
Maura K. Lafferty, Walter of Châtillon’s Alexandreis. Epic and the Problem of Historical Understanding (Publications
of the Journal of Medieval Latin 2), o. O. u. o. J., S. 13.
Ausführliche Bibliographie bei Birgit Franke, Herrscher über Himmel und Erde. Alexander der Große und die Herzöge von Burgund, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 121–169.
Franke, Alexander Burgund., S. 121 f.
Gerd, Althoff/Ludwig, Siep, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis
zur Französischen Revolution. Der neue Münsterer Sonderforschungsbereich 496 (= Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 3), Münster 2001, S. 210–230, hier S. 212: „Formen der nonverbalen, vor allem bildlichen und gestischen Kommunikation, aber auch verbale und literale Kommunikation mit ritualisierten, gewohnheitsmäßigen,
zeremoniellen Formen […].“
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Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
historia.scribere 08 (2016)
Erfolg gekürt, über 24-mal wurde Vasco de Lucenas Translation abgeschrieben. Auch
dieses Stadium der Rezeption enthält ein Novum: Eine Abkehr von der Stilisierung der
bisher so beliebten Wundertaten Alexanders; in Prolog und Epilog bezeichnete der
Autor diese als literarische Lügen.108 Sein Ziel war es, für Karl den Kühnen eine faktische Alexander-vita zu verfassen, in der aber Alexander mit Karl dem Kühnen idealisiert verglichen wurde.109 Lucenas „Faits du grand Alexandre“ stellen den Zeitpunkt des
absoluten Bruchs mit dem Alexanderroman dar. Er füllte die ersten beiden fehlenden
Bücher von Curtius Rufus mit Ausführungen von Plutarch, Justin-Trogus und Valerius
Maximus.110 Obwohl eine Abkehr bisheriger mittelalterlicher Überlieferungstendenzen
der Fall war, übte die Translationstheorie111 immer noch großen Einfluss auf die Überlieferung. Historischer Hintergrund ist die Verwicklung der burgundischen Herzöge in die
Kreuzzüge, welche einen erneuerten Konflikt zwischen Okzident und ‚Orient‘ darstellten. Die Fähigkeit Alexanders, den Osten zu unterwerfen, wurde literarisch auf die – im
Heiligen Land wenig erfolgreichen – burgundischen Herzöge transferiert.112
Curtius Rufus wurde nicht nur in Burgund rezipiert. So gewann beispielsweise 1521
Domenico Falugio mit seinem Werk „Triompho Magno“ die Dichterkrone von Papst
Leo X. Der in ottava rima verfassten Erzählung dienten als Hauptquelle vor allem die
„Historiae Alexandri Magni“.113
Die literarische Verarbeitung der Zeltszene durch die Autoren des Mittelalters weist
ein ambivalentes Alexanderbild auf. Der Umgang mit der Geschichte des Makedonenkönigs war als Musterbild des idealen höfischen Lebens gedacht und konnte
durch den Einfluss von christlichen Wertvorstellungen große Beliebtheit erfahren.114
Hinzugefügte Episoden, wie eine Greifenfahrt durch die Lüfte oder eine Unterwasserexpedition Alexanders, genügen nicht den Ansprüchen eines historisch-kritischen
Vorgehens, sondern zeigen vielmehr die Verwendung des historischen Alexander
als Vorbild, das zeitgemäß adaptiert wurde. L. Harf-Lancner sieht die Bedeutung
der mittelalterlichen Alexanderliteratur darin, dass sie eine Entwicklung von einer
literarisch-romantischen Figur wieder zu einer historischen Figur veranschaulicht.
Die Alexandergeschichte war für die Kleriker ein literarisches Experimentierfeld,
anhand dessen alle vorhandenen Literaturgattungen erprobt werden konnten.115
Von einem durchgehend positiven mittelalterlichen Alexanderbild kann aber nicht die
Rede sein, der moralische Verfall durch superbia ist in gleicher Weise gegeben, wie bei
108
109
110
111
112
113
114
115
Cary, Medieval Alexander, S. 62 f.
Deuchler, Heldenkult, S. 19; Harf-Lancner, Medieval Alexander, S. 226.
Harf-Lancner, Medieval Alexander, S. 225.
Die Translationstheorie gilt als zentrales „[…] Deutungsschema für den Verlauf der Weltgeschichte“ bei mittelalterlichen Historiographen, siehe dazu Heinz Thomas, Translatio Imperii, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, Sp. 943–946, hier Sp. 943.
Harf-Lancner, Medieval Alexander, S. 226.
Cary, Medieval Alexander, S. 67.
Müller, Doppelter Alexander, S. 125; Noll, Alexander, S. 10–28.
Harf-Lancner, Medieval Alexander, S. 226: „The matter of Alexander, because of its diversity, gave to medieval
clerics the opportunity to try out all possible literary forms. It offered them the biography of a historic personage,
already transformed into the hero of a romance by Pseudo-Callisthenes and inscribed in the mythico-encyclopedic body of the marvels of the Orient. It permitted them to exploit all the resources of verse and prose from the
beginnings of literature in French to the end of the Middle Ages.“
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Julian Degen
65
den Werken der antiken Autoren. Daher stellt der literarische Umgang des Mittelalters
mit Alexander kein Novum im Vergleich zur kaiserzeitlichen Überlieferung dar; die Autoren der Zeit versuchten ebenfalls, den Makedonen moralisch und politisch zu instrumentalisieren.116
In der mittelalterlichen Rezeption erscheint kein einheitliches Alexanderbild, beispielsweise wird sein paganer Glaube teilweise als Mangel empfunden oder gar nicht weiter erörtert. Die Ambivalenz seiner Darstellung im christlichen Kontext vergrößert sich
durch die unterschiedliche Bewertung seiner Taten als Gottesgeißel, um Übeltäter zu
bestrafen oder als Weltkaiser.117
Das exemplum im frühneuzeitlichen Kontext
Die Antikenrezeption wurde im frühneuzeitlichen Frankreich forciert, beispielsweise
entstanden durch Antikensammlungen Gruppenidentitäten für Gelehrte und Aristokraten. Sie dienten als Medien der so genannten halboffiziellen Diplomatie des absolutistischen Zeitalters.118 Der Historiker R. Koselleck sah für diese Epoche ein sich
formierendes neues Verständnis von historischer Zeit vor, das eine lange Prozessentwicklung durchwandelte. Essentiell war dabei die Abkehr von den Vorstellungen der
Heilsgeschichte, was die Ausbildung von neuen Vergangenheitsverständnissen begünstigte.119 Idealistische Interpretationen von antiken Denkmälern und das Verfassen
von Reiseberichten führten im Gegensatz zum Mittelalter zu einem neuen, ästhetisch
geprägten Verständnis der Antike.120 Eine Vorbildfunktion nahm die griechische Antike in dem Sinne ein, dass sie in immer größerem Maße den Begriff der neuzeitlichen
Ästhetik normierte. Interesse entfachte vor allem Homers „Ilias“, und in weiterer Folge
wurden Autoren des Altertums im großen Stil gelesen. Besonders sorgte Marlene de
Scudérys zehnbändige Novelle „Artamène ou le Grand Cyrus“ für große Begeisterung
an der Antike. Übersetzungen von Plutarch, Arrian, Homer, Tacitus, Thukydides und Xenophon durch Nicolas Perrot d‘Ablancourt (1606–1664) wurden sehr populär.121
Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts lag das Zentrum der bildlichen Alexanderrezeption in
Italien; französische peintres bildeten in diesem Zeitraum eine immer größer werdende
Konkurrenz in quantitativem und qualitativem Sinne. Italienische Künstler übten eine
Vorbildfunktion auf die späteren französischen Meister aus. Beispielsweise begann in
Frankreich, wie in Italien zuvor, eine Diskussion über die Freiheit des Künstlers bei der
116
117
118
119
120
121
Neben der Wirkung als exempla können literarische Rückgriffe auf historische Personen – durch fürstliche Auftragsschreiber – und deren erfolgreiches politisches Programm als legitimationsfördernde Prozesse zu verstehen
sein. Vergleiche dazu Gerd Althoff, Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003.
Rüdiger Schnell, Der „Heide“ Alexander im christlichen Mittelalter in: Willi Erzgräber (Hrsg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichungen der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1989, S. 45–64, hier S. 62.
Gerrit Walther, Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur für die Führungselite der Frühen
Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 266 (2009), Heft 2, S. 359–385, S. 385.
Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 17–38.
Tonio Hölscher, Klassische Archäologie. Grundwissen, Darmstadt 2006, S. 20.
Roger Zuber, France 1640–1790, in: Kenneth J. Dover (Hrsg.), Perceptions of the Ancient Greeks, Oxford 1992,
S. 100–127.
66
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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Schaffung des Bildes. Den Anfang der bildlichen Antikenrezeption machte Poussins
„Tod des Germanicus“.122 Frankreich zeigte großes Interesse an den italienischen Meistern und versuchte durch die Gründung der Académie Royale de Peinture et de Sculpture
1648 künstlerisch mit Italien mitzuhalten. Die neugegründete Institution erhielt seit
1655 von königlicher Seite hohe Subventionen und stellte die staatliche Anstalt der
französischen Kunstproduktion dar.123
Das exemplum virtutis wurde im Frankreich des 17. Jahrhunderts populär, wie das Bild
„Continence of Scipio“ beweist.124 Interessant ist auch der Alexanderbezug der Gegenspieler des französischen Königshauses, der Habsburger. Alexander erscheint in der Panegyrik als Intellektueller, der im Elysium Berühmtheiten wie Vergil kennenlernte und
daher auch des Lateinischen mächtig war. Der Autor Roman Schmiedt verwendete die
historische Person Alexander, um einen Fürstenspiegel in Form eines Briefes an den
jüngsten Sohn Ferdinands I., Karl II. von Innerösterreich, zu schreiben.125 Die Rezeption
von Alexander und die „Verwissenschaftlichung“ der Antike in der Frühen Neuzeit lagen dem Interesse der Gelehrten der Zeit an der studia humanitatis zu Grunde. Dabei
geht es um die Suche nach dem Ideal-Menschlichen in den antiken Werken.126
Vermehrt wurde nun das Interesse auf die Konnotation Alexanders in Bezug auf seinen
Umgang mit Frauen gelegt, wie in Folge zu lesen sein wird. In den Zeiten zuvor wurde
dieser Aspekt marginalisiert.127
Die bildliche Rezeption der Zeltszene bis zu Charles le Brun
In diesem Kapitel werden auf Grund der zahlreichen gestalterischen Ausführungen der
Zeltszene als Bildthema lediglich die Darstellungen durch die italienische und französische Malerei behandelt.128 Besonderen Schwerpunkt wird die Visualisierung Hephaistions als Alexanders Alter Ego bilden. Dieses Motiv wurde in der europäischen Kunst der
Renaissance mehrfach aufgenommen.129
122
123
124
125
126
127
128
129
Anton Boschloo, The Representation of History in Ancient Art Theory in the Early Modern Period, in: Karl Enenkel/
Jan L. de Jong/Jeanine de Landtsheer (Hrsg.), Recreating Ancient History. Episodes from the Greek and Roman
Past in the Arts and Literature of the Early Modern Period, Boston-Leiden 2002, S. 1–26, hier S. 9 f.
Sylvia Schraut, Absolutistisches Herrscherbild und Rezeption der Antike im Frankreich Ludwigs XIV., in: Reinhard
Stupperich (Hrsg.), Lebendige Antike: Rezeptionen der Antike in Politik, Kunst und Wissenschaft der Neuzeit
(Mannheimer historische Forschungen 6), Mannheim 1995, S. 59–64, hier S. 59 f.
Aikema, Exemplum Virtutis, S. 170.
Franz Römer, Alexandri Magni epistola ad inclitum archiducem Austriae Carolum Divi imperatrois Fernandi filium.
Literarische Fiktion im Dienste der Habsburgerpanegyrik, in: Martin Korenjak/Karl-Heinz Tochterle (Hrsg.), Pontes
1. Akten der ersten Innsbrucker Tagung zur Rezeption der klassischen Antike (Comparanda 2), Innsbruck 2001,
S. 224–243, hier S. 225 in Bezug auf Alexandri Magni epistola ad inclitum archiducem Austriae Carolum, Divi
Imperatoris Ferandi filium autore Roamno Schmiedt sindico vallis Ioachimicae, Lipsiae (Johannes Rhambavus
excudebat) 1558.
Erhard Wiersing, Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte,
Paderborn 2007, S. 177.
Müller, Doppelter Alexander, S. 125; Noll, Alexander, S. 34.
Die Zeltszene wurde auch vor allem auf Teppichen dargestellt. Dazu Franke, Herrscher über Himmel, für Burgund
und für anderswertige Darstellungen Andor Pigler, Barockthemen, Budapest 1974.
Müller, Doppelter Alexander, S. 124.
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Julian Degen
67
Der Alexanderstoff war in Italien besonders im Zeitraum vom 14. bis zum 16. Jahrhundert in Form von Gedichten präsent, die vor allem die „historia de preliis“ als Vorlage
hatten. Besonders der imperiale Gedanke und die Deutung Alexanders als Ordnungsund Gerechtigkeitsbringer traten hierbei in den Vordergrund. Adressaten der rühmlich
dargestellten Taten Alexanders waren vor allem die italienischen Aristokraten, dafür
spricht das einheitliche Reimschema der ottava. Dadurch wurde Alexander zum Vorbild der aristokratischen Elite in Italien.130
Papst Paul III. ließ um 1545 im Sala Paolina des Castel Sant‘Angelo in Rom die Zeltszene
von Alexander von Perino del Vaga als Fresko malen. Der Taufname von Paul III., Alessandro Farnese, wird als Hintergrund für den Auftrag dieses Werks angesehen. Literarische Vorlage hierfür war Curtius Rufus, dessen stilisiertes exemplum Alexanders im
Rahmen des fünfgliedrigen Werks als Zeichen der Milde gegenüber Altgläubigen, die
zum Christentum konvertieren wollten, gelten sollte.131 Die bildliche Verarbeitung Hephaistions als Alexanders Alter Ego geschah etwa zwanzig Jahre nach Perino del Vagas
Fresko durch Taddeo Zuccari. Er malte die Verwechslung durch Sisygambis und deren
Vergebung durch Alexander im Rahmen einer Serie von Bildern über die Taten Alexanders des Großen im Castello Odescalchi in Bracciano. Bei diesem Gemälde liegen
die Hintergründe für den Auftrag im Dunkeln.132 Bereits im frühen 16. Jahrhundert war
die Zeltszene ein beliebtes Thema der bildlichen Ausgestaltung, wie beispielsweise Il
Sodomas Freskos in der Villa Farnesina zeigt. In der Zeit von 1516–1518 schuf der Maler
neben der „Familie des Darius vor Alexander“ auch die „Hochzeit von Alexander und
Roxane“, deren Auftraggeber der reiche Bankier Agostino Chigi war. Auch hier spricht
die Wahl des Alter Ego-Themas für eine Symbolisierung von Gnade und Großzügigkeit
sowie der Selbstüberwindung Alexanders, deren literarische Vorlage Curtius Rufus wiederum bildete.133 Grund für die Anfertigung war die Hochzeit des römischen Bankiers,
deshalb wird angenommen, dass das Bildthema der Zeltszene nicht wahllos erfolgte,
Vorlagen bildeten höchstwahrscheinlich zwei zusammengehörende Hochzeitstruhen
aus Florenz, die um 1450 gefertigt wurden. Unter anderem wurde Alexander vor dem
Zelt der Perserinnen abgebildet, was wieder auf das großmütige Verhalten des Makedonen bezogen war. Wegen der Funktion der Sodoma-Fresken als thalamos werden
die Hochzeitstruhen von der Forschung als mögliche Vorlagen angesehen.134
Die Wirkung des exemplum war nicht nur auf Verhaltensrichtlinien beschränkt, sondern es wurde durch Alexander der Ost-West-Konflikt der Zeit thematisiert. In Venedig
130
131
132
133
134
Michele Campopiano, Excelsa monarchia Alexander the Great in Italian Narrative Poems (14th–16th centuries), in:
Incontri. Rivista europea di studi italiani 28 (2013), Heft 2, S. 56–65, hier S. 56 f., bes. S. 63 f.
Aikema, Exemplum Virtutis, S. 164 f. Für diese Deutung spricht sich auch Noll 2005, S. 39 aus: „Der Schlüssel zur
Deutung dieses Bildprogramms schein toffen bereitzuliegen mit den Namen des hier genannten Papstes […];
die Verbindung von Szenen aus dem Leben Alexanders des Großen und des Apostels Paulus legt unausweichlich
den Gedanken nahe, daß damit einmal über den Tauf-, das andere Mal über den Papstnamen auf den regierenden Pontifex angespielt werde.“ Dagegen Ebd., S. 40: „Das tiefere Verständnis des Programms erschließt sich möglicherweise durch die Einsicht in dessen Doppeldeutigkeit […] die eine ideale weltliche und eine ideale geistliche
Herrschaft vor Augen führt.“
Aikema, Exemplum Virtutis, S. 164. Eine Bibliographie zu diesem Gemälde wird ebd. angeführt.
Ebd., 165; Noll, Alexander, S. 32–34.
Noll, Alexander, S. 35 f.
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Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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begann sich im Vorfeld des Sieges gegen die osmanische Flotte bei Lepanto 1571 der
politische Machtanspruch zu etablieren. Einflussreiche Patrizierfamilien förderten als
Mäzene Künstler, in diesem Kontext entstand Paolo Veroneses Gemälde „Die Familie
des Darius vor Alexander“. Ob anhand der Kleidung der abgebildeten Perserinnen weitere Bezüge auf politische Umstände gezogen werden können, oder ob es sich um
ein theatralisches Darstellungskonzept handelt, ist umstritten.135 Als Vorlage fungierte
neben der Lektüre von Curtius Rufus das Fresko von Sodoma.136
Eine politische und religiöse Instrumentalisierung des Alexanderstoffes, die gegen die
Osmanen gerichtet war, ist für die bildenden Künste des 16. Jahrhunderts jedenfalls
durch Altdorfers Gemälde „Die Alexanderschlacht“ von 1529 gesichert.137
Dagegen enthält Pietro da Cortonas Fresko im Florentiner Palazzo Pitti eindeutigere
Anspielungen: Cortona malte für den Großherzog Ferdinand II. de’ Medici acht Bilder
von antiken Helden, die den sexuellen Versuchungen und der sinnlichen Leidenschaft
zu Gunsten ihrer Tugend nicht verfallen sind. Dieses Werk bildet eine Ausnahme, da
das Fehlen von Hephaistion auf die Verwendung von Plutarch schließen lässt.138
Die europäische Kunst der Renaissance vertrat keine einheitliche Wertung in Bezug
auf Alexander. Eine bewusste Verwendung des exemplums von Curtius Rufus als Negativbeispiel wurde im Augsburger Rathaus visualisiert. Dort wurde Alexander allerdings gegensätzlich dargestellt: einmal als hochmütiger „Heide“, dann aber im Kreis
der „Neun Helden“ und ein weiteres Mal als Protagonist in der bekannten Zeltszene.139
Charles le Bruns „Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre“
Als Ludwig XIV. am 9. März 1661, dem Todestag von Mazarin, faktisch die Regierung in
Frankreich übernahm, endete die Ära der Herrschaft Frankreichs unter den Kardinälen
während der Zeit der Fronde. Diese Zeit war von Bürgerkriegen geprägt, deren Gründe
auf Frankreichs Politik während des Dreißigjährigen Krieges zurückzuführen sind. Dadurch, dass die faktische Regierung in den Händen der Kardinäle Mazarin und Richelieu lag, musste der bereits 1654 gekrönte Ludwig mit diesen in Kooperation regieren.
Zur Überraschung bestellte der junge König nach dem Tod von Mazarin keinen Prin135
136
137
138
139
Aikema, Exemplum Virtutis, S. 166: „For one thing, a striking aspect of the picture is the noble attitude of the
Persian women, whose rich, Venetian dresses contrast markedly with the fanciful, exotic costumes of the two
women whose heads in profile are peeping out at the extreme left hand side of the picture.This makes it rather
improbable that the group symbolises the defeated Turkish empire. It has been pointed out that the spectacular variation in dress applied by Veronese in this painting may reflect contemporary theatre praxis, in which,
according to contemporary commentators, a similar variation in costumes enhanced the beauty of the play and
made it more easy to follow.“ Dagegen erheben sich zahlreiche Meinungen, die Noll, Alexander, S. 41 überblicksmäßig darstellt.
Noll, Alexander, S. 41.
Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 17 f.
Aikema, Exemplum Virtutis, S. 166.
Die Negativwertung ist durch eine Bildbeischrift eindeutig: „Dieser Heydnische Koenig hat kein Boden/in deme
jhme die gantze Welt zu klein vnd zu eng ware/welchen jedoch nach seinem Todt/ein kleine/von 6. In 7. Schuch
lange Todtenbahr gefaßt hat; Wie in seinem Leben zusehen/bey Quinto Curtio vnd andern.“ Matheus Sendel,
Curia Augustanae Reipublicae. Das ist: Außfuehrliche Beschreib- vnd Auslegung Aller Kunstreichen Gemaehl/
Stueck vnd Tafeln/welche in dem Anno 1620. Newerbawten hochansehelichen Rath-Hauß der weitberuehmbten
Kayserlichen ReichsStatt Augspurg zushen, Augsburg 1657, 23 zit. n. Noll, Alexander, S. 26.
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Julian Degen
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zipalminister an seine Seite, sondern regierte von da an im Alleingang.140 Ludwigs
Regierungsstil war von einem Bedürfnis nach Ruhm und Reputation geleitet. Seiner
Ansicht nach waren Ruhm, Würde, Größe und Reputation die wichtigsten Maximen
seines Handelns.141 Daher wollte er diesen Einstellungen Ausdruck verleihen, indem er
sie zum Mittelpunkt der höfischen Repräsentation machte. Alexander diente dabei als
die ideale Repräsentationsfigur, deren Geschichte der König gut kannte. Ludwig hatte
schon als Kind die Alexandergeschichte gelesen und verlieh Alexander persönliche
Würdigung, indem er in Theaterstücken selbst die Rolle seines Vorbildes verkörperte.142
Ludwig lud nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte 1661 den Maler Charles Le
Brun auf sein Schloss in Fontainebleau ein. Der spätere premier peintre du Roi, dessen
steile Karriere als Maler nun ihren Anfang nahm, wurde mit der Schaffung eines beliebigen Themas aus der Alexandergeschichte beauftragt. Auf Grund eines längeren Studienaufenthaltes Le Bruns in Italien gilt die Annahme, dass Il Sodomas Fresko für „Les
Reines de Perse aux pieds d’Alexandre“ die bildliche Vorlage war. Weitere Inspiration
konnte sich Le Brun von den Fresken von Primaticcio und Niccolò dell‘Abate holen, die
Alexander im Schloss von Fontainebleau zuvor gemalt hatten.143
In der Entstehungszeit des Gemäldes begutachtete Ludwig täglich die Fortschritte
von Le Brun und erteilte Anweisungen. Neben den italienischen Vorlagen benutzte
Le Brun Curtius Rufus als Quelle.144 Die Wahl von Curtius‘ „Historien“ wird durch das
zentrale Thema des Bildes, die Verwechslung Alexanders mit Hephaistion, nachvollziehbar. Durch Le Bruns Studien der Emotionen und des Lichtspiels wurden Stateira,
die Schwestergemahlin des Dareios, und Drypetis und Ochos in den Vordergrund des
Blickfeldes gerückt, also nach ihrer Wichtigkeit für die Handlung aufgereiht.145 Alexanders modestia sollte im Gemälde den schönen Frauen gelten, deren Züge Verzweiflung
und Hoffnungslosigkeit ausdrücken. Das vermittelt die Szene bei Curtius Rufus unmittelbar nach der Verwechslung Hephaistions mit Alexander, die mit den Worten des Makedonenkönigs an Sisygambis geschlossen wurde: „Du hast dich nicht geirrt, Mutter,
denn auch er ist Alexander“.146 Hephaistion wurde hinter Alexander abgebildet, dessen
Identifikation ließ Le Brun nicht auf den ersten Blick erkennen. Gemäß des literarischen
Darstellungskonzepts des Alter Egos wirken Alexander und Hephaistion fast identisch.
Curtius beschreibt den Körperbau von Hephaistion als größer und somit königlicher
– daher auch die Verwechslung durch Sisygambis.147 Die antike Überlieferung knüpfte Hephaistions charakterliche Eigenschaften an die Alexanders, was sich bei Curtius
140
141
142
143
144
145
146
147
Klaus Malettke, Ludwig XIV. von Frankreich: Leben, Politik, Leistung (Persönlichkeit und Geschichte 143), Zürich
1994, S. 40–58.
Ebd., S. 69.
Posner, Charles Lebrun‘s Triumphs, S. 237–239.
Ebd.
Ebd., S. 239; Noll, Alexander, S. 167 f.; Müller, Doppelter Alexander, S. 126.
Amy Schmitter, Representation and the Body of Power in French Academic Painting, in: Journal of the History of
Ideas 63 (2002), Heft 4, S. 399–424, S. 403.
Curt. 3,12,31: „‚Non errasti […], mater, nam et hic Alexander est.“
Ebd.: „Et sicut aetate par erat regni, ita corporis habitu praestabat.“ (Übers. v. Olef-Krafft: „Er war gleichen Alters wie
der König, überragte ihn aber an Körpergröße.“)
70
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
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Rufus als parallel zum moralischen Verfall Alexanders bei seinem Alter Ego äußerte.148
Dennoch lässt sich Hephaistion bei Le Brun trotz des roten Mantels – als Zeichen der
irdischen Macht – als Gefährte Alexanders identifizieren, da er eine zurückweisende
Geste mit seiner Hand ausführt und einen Harnisch mit dem Portrait Alexanders trägt.
Das Bild impliziert auch Alexanders nicht sexuell motivierte Begeisterung für die schöne Stateira, was bei Curtius genauer geschildert wurde. Neben der Gemahlin von Dareios sticht bei Le Brun auch Dareios kleiner Sohn Ochos in das Blickfeld des Betrachters.
Curtius ließ seinen Alexander am Ende des Besuches den kleinen Ochos auf den Arm
nehmen, der ihn sofort umarmte, und ließ ihn zu Hephaistion folgendes sagen: „Ach
wenn doch Dareios nur etwas von diesem Sprössling hätte!“149 Ein weiteres Detail ist
der Glanz und die Pracht der Kleidung der Perserinnen, die nach Curtius auf Alexanders Anordnung wieder an die Familie retourniert wurde.150 Warum Le Bruns Alexander
nicht den Blick auf Sisygambis warf, ist mitunter daraus zu erklären, dass Il Sodomas
Fresko eine direkte Interaktion Alexanders mit der Mutter des Dareios darstellt, denn
Curtius beschrieb, dass Alexander Sisygmabis aufhalf.151 Da Elemente wie das an Bäumen befestigte Zelt und die Personen im Hintergrund bei den beiden Gemälden Ähnlichkeiten aufweisen, wollte sich Le Brun vielleicht durch das Verhalten seines Alexanders gegenüber Sisygmabis von Il Sodoma abgrenzen. Le Brun malte auch sein Werk im
Vergleich mit dem italienischen Vorbild spiegelverkehrt.
Für die Interpretation ist die Bildbeischrift des Nachstiches von Gérad Edelinck um 1671
aufschlussreich: „Il est d’un Roy de se vaincre soy-mesme“.152 Das antike exemplum vir
tutis fand als Identifikation Ludwigs XIV. mit Alexander Einzug in die bourbonische Repräsentation. Grund dürfte hierbei die Ehe mit der spanischen Infantin Maria-Theresia
von Österreich (1638–1683) gewesen sein. Auf Grund der Verbesserung der Beziehungen zwischen den Bourbonen und den spanischen Habsburgern wurde diese Ehe auf
Drängen Mazarins arrangiert. Ludwig musste aber die Verlobung mit Maria Mancini,
einer Nichte von Mazarin, zum Wohle des Staates lösen.153 Im Frankreich des 17. Jahrhunderts wurde die Selbstüberwindung Alexanders sehr hochgeschätzt, da Theaterstücke wie „L‘art de régner ou le sage gouverneur“ (1645) von Gillet de la Tessonerie die
überlieferte Schönheit der Perserinnen hervorhoben. Das Stück wurde zum Zweck der
Erziehung Ludwigs geschrieben, um ihn Gerechtigkeit, Milde, Edelmut, Mäßigung und
Großzügigkeit zu lehren.154 Gerade diese Attribute verkörpert der durch Le Brun dargestellte Alexander in seiner Körperhaltung.155 M. Pfrommer sieht in Le Bruns Alexander
Ludwig XIV. abgebildet, was seiner Meinung nach die neuzeitliche Renaissance der
148
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Müller, Doppelter Alexander, S. 122.
Curt. 3,12,32: „‚Quam vellem‘, inquit, ‚Dareus aliquid ex hac indole hausisset!‘“
Ebd.: „Omnem cultum reddi feminis iussit, nec quicquam ex pristinae fortunae magnificentia captivis praeter
fiduciam defuit.“ (Übers. n. Olef-Krafft: „Er veranlasste, den Frauen all ihren Putz zurückzugeben, und damit fehlte
denen trotz ihrer Zwangslage nichts aus einstigen Freudentagen, nur ihr Selbstwertgefühl.“).
Curt. 3,12,31: „Quam manu adlevans rex: […].“ (Übers.v. Olef-Krafft: „Eigenhändig richtete der sie auf mit den Worten: […].“)
Posner, Charles Lebrun‘s Triumphs, S. 241; Übers. n. Noll, Alexander, S. 38: „Es ziemt sich für einen König, sich selbst
zu besiegen.“
Malettke, Ludwig XIV., S. 56.
Posner, Charles Lebrun‘s Triumphs, S. 241.
Zu Le Bruns Charakterstudien siehe Schmitter Representation and the Body of Power, S. 416.
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antiken imitatio alexandri wiedergibt.156 Das Gemälde war ein großer Erfolg und wurde
des Öfteren kopiert, beispielsweise auf einem goldenen Trinkpokal aus Augsburg, der
in die Jahre 1670 bis 1692 datiert wird.157
Alexander als Identifikationsfigur am französischen Hof
Nach „Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre“ folgten noch vier weitere Bilder von Le
Brun, die Sujets aus dem Leben Alexanders darstellten, welche aber im Gegensatz zum
ersten Gemälde dauerhaft in den Louvre gebracht wurden. Le Bruns Auftaktgemälde
wurde nach einer Verkleinerung des Bildes im Salon de Mars auf Versailles ausgestellt.
Durch die dortige Anbringung erfüllte es neben der Repräsentation im Schloss vor Ort
noch einen anderen Zweck: es sollte die kulturelle Konkurrenz Frankreichs zu Italien
demonstrieren. Dafür spricht die Aufhängung des Bildes gegenüber Paolo Veroneses
„Les Pèlerines d’Emmaüs“, das von Ludwig XIII. in Auftrag gegeben wurde.158 Ideengeschichtlich könnte damit eine Variation der Weltreichslehre gemeint sein, da Alexander
mit seinem Feldzug das zweite Weltreich der Perser zerstörte und das dritte der Griechen (Makedonen) errichtete, was den Intentionen der mittelalterlichen Überlieferung
des Alexanderromans entsprechen würde.159 Die Art der Anbringung lässt auch die alte
Regierung Ludwigs XIII. zu der neuen von Ludwig XIV. in Relation stellen.
Offensichtlich ist dagegen die imitatio Alexandri am Hof Ludwigs XIV., der Alexander zur
königlichen Repräsentationsfigur machte. Der Italiener Bernini wurde 1665 von Ludwig XIV. beauftragt, eine Büste herzustellen, die den König als Alexander den Großen
darstellen sollte. Hintergrund des Auftrages war der Wille Ludwigs, das Verhältnis zwischen Gott und König neu zu definieren. Deshalb bediente er sich der zeitgemäßen
Adaption Alexanders, der im Kontext seines antiken Feldzuges in den eroberten Gebieten – nach dem Geschichtsverständnis Frankreichs des 17. Jahrhunderts – als Gottheit
verehrt wurde. Der französische kirchliche Theoretiker des absolutistischen Gottesgnadentums J. Bousset betonte: „Die Fürsten handeln also als Gottes Diener und Statthalter
auf Erden. Durch sie übt er seine Herrschaft aus. Deshalb ist, wie wir gesehen haben,
der königliche Thron nicht der Thron eines Menschen, sondern Gottes selber.“160
Das exemplum bei Curtius Rufus hingegen sollte als Tugendbeweis Alexanders wirken
und seinen späteren charakterlichen Verfall besser stilisieren. Positive Konnotation er156
157
158
159
160
Michael Pfrommer, Alexander der Große. Auf den Spuren eines Mythos (Zaberns Bildbände zur Archäologie),
Mainz a. Rhein 2001, S. 73 argumentiert mit Christian Michel/Chantal Grell, L’école des princes ou Alexandre disgracié: essai sur la mythologie monarchiques de la France absolutiste, Belles Lettres, Paris 1988, die anhand von
erhaltenen Briefen die imitatio alexandri am französischen Königshof bewiesen haben.
Abb. 330 „Wine goblet with the magnanimity of Alexander the Great“ bei Mikhail Khimin, Alexander the Great in
Western European and Russian art of the modern age, in: Anna Trofimova (Hrsg.), The Immortal Alexander the
Great. The Myth, The Reality, His Journey, His Legacy (Catalogue for the exhibition from 18th September 2010 to
18 March 2011 in the Hermitage Amsterdam), Amsterdam 2010, S. 245–303, hier S. 283.
Jermes N. Powers/Jeanne M. Zarucchi, LeBrun’s Tent of Darius, before and after, in: French Studies Bulletin 33 (2012),
Heft 2, S. 21–25, hier S. 22 f.; Jean-Pierre Habert/Nicolas Milanovic, Charles Le Brun contre Véronèse: la ‚Famille de
Darius‘ et les ‚Pélerins d‘Emmaüs‘ au château de Versailles, in: La revue des musées de France: Revue du Louvre 54
(2004), Heft 5, S. 63–72; Schmitter, Representation and the Body of Power, S. 423.
Wulfram, Übergang vom persischen zum makedonischen Weltreich, S. 75.
Jacques Bénigne Bousset, Die Politik nach den Worten der Heiligen Schrift, o. O. 1682, S. 64.
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fuhr diese Anekdote durch die philosophische Bildung Alexanders und dessen Gnade,
die aus Selbstüberwindung resultierte. Bei Ludwig XIV. diente die Visualisierung zeitgenössischen repräsentativen Zwecken und sollte ein Frankreich unter einem starken
und gerechten neuen Herrscher versinnbildlichen, der sich selbst sakral überhöhen
wollte. Neben der offiziellen Bedeutung, die durch die Anbringung im salon de Mars
gegeben war, hatte das Bild für Ludwig eine persönliche Bedeutung. Die aus Staatsgründen aufgegebene Liebe zu Maria Mancini lässt ähnliche Schlüsse ziehen wie beispielsweise Sodomas Fresko „Die Hochzeit von Alexander mit Roxane“ für Chigi.
Ideengeschichtlich stellt sich die Frage nach der Verknüpfung des symbolischen Kapitals161 von Ludwig XIV. und seiner Identifikationsfigur Alexander. Bei der Selbstrepräsentation lassen sich Überschneidungen finden: Ludwig inszenierte sich selbst als Sonnenkönig, was einerseits aus seiner Liebe zum Ballett und anderseits aus dem intensiv
um ihn betriebenen Personenkult herrührte.162 Daher ergibt sich eine Verbindung zu
dem makedonischen Herrschergeschlecht der Argeaden, dem Alexander angehörte:
Herodot beschrieb im achten Buch seiner Historien die Abstammungslegende der Argeaden, die die Verwurzelung der makedonischen Königsdynastie im griechischen
Kontext betont. Nach der Flucht des Perdikkas und seiner zwei Brüder kamen diese
nach Obermakedonien und standen dort im Dienste des Königs der Stadt Lebaia. Die
Brotlaibe, die die Königin backte, fielen immer so aus, dass jener von Perdikkas immer
am größten wurde. Diesen Umstand sah der König als Zeichen für etwas Bedeutsames
an und beschloss daher die drei Brüder wegzuschicken.163 Als diese dann den Lohn für
ihre Dienste forderten sprach der König folgendes:
„‚Ich zahle euch dann dies als Lohn, und dieser ist so, wie ihr verdient habt,‘ auf
das Sonnenlicht zeigend. So standen die älteren Brüder Gauanes und Aëropos
erstaunt da, als sie das hörten, aber der Junge [gemeint ist Perdikkas, J.D.], der
gerade ein Messer in seiner Hand hatte, sagte diese Worte: ‚Wir akzeptieren das,
O König, was du uns da gibst;‘ und schnitt mit dem Messer einen Kreis um das
Sonnenlicht, das auf den Boden des Hauses schien, und schöpfte dreimal das
Sonnenlicht in seinen Bausch.“164
Daraufhin befahl der König seinen Reitern die drei Brüder zu töten, doch scheiterte dies
wegen eines Flusses, der nach der Überquerung der Drei über seine Ufer trat. Dieses
Ereignis war laut Herodot entscheidend, dass die Argeaden ihr Königreich in weiterer
161
162
163
164
Pierre Bourdieu, The Forms of Capital, in: John G. Richardson (Hrsg.), Handbook of Theory and Research for the
Sociology of Education, New York 1986, S. 241–258, hier S. 256 Anm. 3: „Symbolic capital, that is to say capital – in
whatever form – insofar as it represented, i. e., apprehended symbolically, in a relationship of knowledge or, more
precisely, of misrecognition and recognition, presupposes the intervention of the habitus, as a socialy constituted
capacity.“
Volker Kapp, Rezension zu: Nicole Ferrier-Caverivière, L‘image de Louis XIV dans la littérature française de 1660 à
1715, Paris 1981, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 94 (1981), Heft 2, S. 201–203, hier S. 202.
Hdt. 8,137.
Eigene Übers. v. Hdt. 8,137,4 f.: „‚μισθὸν δὲ ὑμῖν ἐγὼ ὑμέων ἄξιον τόνδε ἀποδίδωμι,‘ δέξας τὸν ἥλιον. ὁ μὲν δὴ Γαυάνης τε καὶ ὁ
Ἀέροπος οἱ πρεσβύτεροι ἕστασαν ἐκπεπληγμένοι, ὡςἤκουσαν ταῦτα· ὁ δὲ παῖς, ἐτύγχανε γὰρ ἔχων μάχαιραν, εἴπας τάδε ‚δεκόμεθα ὦ
βασιλεῦ τὰ διδοῖς,‘ περιγράφει τῇ μαχαίρῃ ἐς τὸ ἔδαφος τοῦ οἴκου τὸν ἥλιον, περιγράψας δέ, ἐς τὸν κόλπον τρὶς ἀρυσάμενος τοῦ ἡλίου,
ἀπαλλάσσετο αὐτός τε καὶ οἱ μετ᾽ ἐκείνου.“
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Folge errichten konnten.165 Wichtig dabei ist das Narrativ der göttlichen Prädestination
und die Stilisierung der persönlichen Exzellenz von Perdikkas als Begründer des Herrschergeschlechts der Argeaden bei Herodot.166
Damit ist nicht gemeint, dass Ludwig XIV. seine Selbstrepräsentation an den Argeaden
orientierte, aber ein Rückschluss auf den symbolischen Wert der Sonne in der Legitimation von Monarchien kann gezogen werden, was wiederum eine Besonderheit in
der Herrschaftsrepräsentation darstellt. Daher ist nach M. Webers Auffassung die Herrschaft Ludwigs als eine traditionelle, aber vor allem auch als eine charismatische zu
charakterisieren; ebenso wie die von Alexander.167 Der Rückgriff Ludwigs auf Alexander
ist demnach als bewusst zu bewerten und als Ausgangs- und Startpunkt der Selbstrepräsentation sowie Inszenierung des Sonnenkönigs zu sehen.
Fazit
Von der Antike hin bis zur Frühen Neuzeit weist die Alexanderrezeption mehrere Formen des Umgangs mit intentionalen Vergangenheitsvorstellungen auf.168 Angefangen
von Alexander zeitlich nahestehenden Personen wie Kallisthenes über die Alexanderhistoriographen des griechischen und römischen Kulturraumes hin zum spätantiken
Alexanderroman, wurde die Alexandergeschichte mit dem historischen Kolorit der
einzelnen Autoren versehen. Die Wegführung von einem historischen Alexander hin
zu einer an individuellen, vom jeweiligen kulturellen Kontext abhängige Wertvorstellungen angepassten Überlieferung zog sich von der Antike in das Mittelalter weiter.
Im medium aevum kann eine neue Kontextualisierung des Stoffes beobachtet werden:
Christliche Elemente, Tugendvorstellungen und Kreuzzugsthematiken fanden Einzug.
Erste Versuche der Verwissenschaftlichung der Alexandergeschichte durch Châtillon
und de Lucena durch die Verwendung von Curtius Rufus als Quelle zeugen von dem
Wunsch nach einem nicht mehr an die Zeit angepassten Alexander, sondern nach einem möglichst authentischen Bild des Makedonen. In der europäischen Kunst fungierte Alexander weiterhin als Identifikationsfigur. Von den antiken Autoren angewandte
Stilisierungen wurden rezipiert und als Tugendhaftigkeiten aufgefasst, was gerade die
Beliebtheit der Zeltszene verdeutlicht. Literarische und bildliche Vorlagen führten zu
einem neuen Mentalitätshorizont in der Alexanderrezeption: Alexander als Versinnbildlichung des erfolgreichen und tugendhaften Herrschers. Das Interesse an Alexander beruht einerseits auf der antiken Überlieferung, die ohne Kritik hingenommen
165
166
167
168
Hdt. 8, 138, 2.
Ebd. 8, 138, 3.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Herrschaft, Tübingen 2009, S. 223.
Zum Begriff der intentionalen Geschichte siehe Hans-Joachim Gehrke, Geschichte als Element antiker Kultur.
Die Griechen und ihre Geschichte(n), Berlin/Boston 2014, S. 5 f: „Dieser Begriff von Intentionalität […] kann in
sinnvoller Weise die Entwicklung und die Konstitutionierung von kollektiver Identität auch in einem weiteren
Rahmen als dem Ethnischen bezeichnen. In seinem Sinne nenne ich diejenigen Vergangenheitsvorstellungen,
die in diesem Rahmen relevant sind […] ‚intentionale Geschichte‘. Zu dieser gehören dann aber nicht nur die
kollektiven Erinnerungen traditioneller Gesellschaften, sondern eben auch wissenschaftliche Unternehmen […].
Intentionale Geschichte in diesem Sinne bezeichnet jedenfalls solche Geschichts- oder, besser und allgemeiner
gesagt, Vergangenheitsvorstellungen, welche für die Identität einer Gruppe ausschlaggebend und charakteristisch sind.“
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wurde und dadurch als positiv aufgefasst wurde. Beruhend auf dem spätmittelalterlichen Geschichtsverständnis und der sich formierenden Form der frühneuzeitlichen
Herrschaftsrepräsentation wurde ein Interesse von Seiten der Eliten an Alexander begründet.
Das Bedürfnis von frühneuzeitlichen Herrschern oder hohen Würdenträgern, Alexander als Sinnbild für eigene Moralvorstellungen oder als Identifikationsfigur zu gebrauchen, zeugt von einem neuen Mentalitätshorizont, der im Spätmittelalter bei Walter de
Châtillon einsetzte. Eine authentische Darstellung der Taten Alexanders sollte so gefärbt sein, dass damit die eigene Herrschaft repräsentiert werden konnte. Diese Herrschaftsrepräsentation besteht aus zwei Elementen: Aus einer bestehenden, legitimen
Herrschaft, die das Potential besitzt innerhalb der höchsten sozialen Schichten agieren zu können und dadurch zu einem Verhalten des Repräsentanten führt, das vom
Wunsch, sich darin kontextgemäß repräsentieren zu können, geleitet wird. Dies wiederum verlangt nach einer Orientierung, die von den Repräsentanten der herrschenden
Schichten Europas durch ein Tugendkonzept erfüllt wurde. Um diesem Konzept zu
entsprechen, versuchte man sich der Ansicht des Verfassers nach durch eine Identifikationsfigur ebenbürtig zu repräsentieren.
Im Fall von Ludwig XIV. geschah dies durch Alexander den Großen. Dabei spielte neben
der persönlichen Affinität für den makedonischen König auch dessen jugendliches Alter bei seinen Eroberungen eine Rolle, was wiederum Erfolg implizierte. Was Le Brun
für den Sonnenkönig schuf, ist ein ideales Repräsentationsinstrument, das die alexandrinischen Tugenden im frühneuzeitlichen Kontext auf Ludwig projizierte. Innerhalb
dieses Mentalitätshorizontes am Hof Ludwigs XIV. fungierte „Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre“ als Medium der symbolischen Kommunikation und weist daher auch
spätmittelalterliche Ideen der Alexanderrezeption auf.
Das Narrativ der Zeltszene änderte sich in dem Sinn, dass das exemplum aus dem Narrativ der Genese der negativen Charakterwerdung Alexanders enthoben und in einem
neuen Kontext eingebettet und neu wahrgenommen wurde: Alexander wurde auf
Grund der Art und Weise der Überlieferung seiner Geschichte zu einer Identifikationsfigur.
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82
Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre
historia.scribere 08 (2016)
Julian Degen ist Student des Masterstudiums Alte Geschichte und Altorientalistik, des
Bachelorstudiums Classica et Orientalia und Archäologien an der Leopold-Franzens
Universität Innsbruck. julian.degen@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Julian Degen, Les Reines de Perse aux pieds d‘Alexandre. Rezeption des exemplum
virtutis von Curtius Rufus bis Charles le Brun, in: historia.scribere 8 (2016), S. 47–82,
[http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
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scribere
08 (2016)
Der Nazis neue Kleider: Die Vereinnahmung jugendlicher
Subkulturen durch die extreme Rechte in Deutschland
Tobias Leo
Kerngebiet: Zeitgeschichte
eingereicht bei: Ass.-Prof. in Mag.a Dr. in Eva Pfanzelter (MA)
eingereicht im Semester: WS 2014/15
Rubrik: SE-Arbeit
Abstract
The Nazis’ New Clothes: The Take-over of Youth Subcultures by rightwing Extremists in Germany
Right-wing extremist parties, organisations and movements tried and still try
to take over youth subcultures. For about ten years, the right-wing extremist
group Autonomous Nationalists has been trying to take over and copy leftwing movements, however more subtly and on a much broader social base
than with the skinheads. This paper focuses on the take-over of the skinhead
subculture by right-wing extremists as well as their attempt to reach left-wing
subcultures as Autonomous Nationalists. The Hegemony Theory by Antonio
Gramsci, a Marxist, is used as an explanatory model.
Einleitung
„[Da] Aktionsformen, Subkulturen, Aussehen, Farben, usw. nun mal kein Copyright besitzen, […] [und] niemand ein Recht darauf hat, dies allein für sich zu beanspruchen“,1
so schreiben die Autonomen Nationalisten (AN) Ostfriesland in ihrem Blog, zielen
sie drauf ab, „jegliche Jugendsubkulturen zu unterwandern und sie für […] [sich] zu
gewinnen“.2 Das altbekannte Bild von Neonazis – kahl rasierte Köpfe, Bomberjacken
1
2
Blog: Autonome Nationalisten Ostfriesland, Über uns, November 2008, [http://logr.org/leerostfriesland/uberuns/], eingesehen 27.11.2014.
Blog: AN Ostfriesland, Über uns.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.486ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
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Der Nazis neue Kleider
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und glänzend polierte Springerstiefel samt weißen Schnürsenkeln – hat schon seit
längerem ausgedient. Diese sogenannten Skinheads machen zwar immer noch einen
Teil der Szene aus, dennoch tritt dieses Erscheinungsbild gegenüber einem moderneren, subtileren und unauffälligeren Aussehen deutlich in den Hintergrund. Die neuen
Neonazis sind hingegen nur noch mit geübtem Blick von alternativen bzw. linksautonomen Jugendlichen zu unterscheiden, da sie ursprünglich „linke“ Kleidungsstile, Symbole und Agitationsformen vereinnahmen und für sich beanspruchen. Dasselbe gilt
für die Musik, eines der wichtigsten Rekrutierungswerkzeuge für Rechtsextreme: War
früher nur der Rechtsrock von Bedeutung, ist heute die gesamte musikalische Palette
mit rechtsextremen Inhalten versetzt.
Die heterogene und zersplitterte Szene zwischen Kameradschaften, autonomen Nationalisten, Rechtsintellektuellen und rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Parteien verbindet ein Ziel: die Herbeiführung einer Kulturrevolution von rechts. Dabei
spielt auch die Vergangenheit eine zentrale Rolle: Mit einer eigenen Geschichtspolitik
zwischen Verharmlosung und Revisionismus der nationalsozialistischen Vergangenheit versucht das gesamte Spektrum von rechtsideologischen Gruppierungen einen
Gegenpol zur vorherrschenden demokratischen Auffassung von Geschichte3 zu etablieren. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Vereinnahmung von jugendlichen Subkulturen
durch Neonazis anhand des Hegemoniebegriffs in der Theorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891–1937) nachzuzeichnen. Wie in dessen Konzeption von
Metapolitik soll der vorpolitische Raum erobert und die Meinungsführerschaft erlangt
werden, so die These dieser Arbeit. Ein Teil des vorpolitischen Raums sind jugendliche Subkulturen einschließlich Musik, Lebensstil, Modetrends und Protestformen. Als
Musterbeispiel bietet sich die Skinheadbewegung an: Die ursprünglich unpolitische
Skinheadszene wurde erfolgreich von Rechtsextremisten unterwandert, sodass der
Begriff „Skinhead“ heute im kollektiven Gedächtnis als Synonym für „Neonazi“ bzw.
„Neofaschist“ gilt. Ein ähnliches Phänomen, jedoch in einer ganz neuen Qualität, ist die
relativ neue und dynamische Bewegung der Autonomen Nationalisten. Mit der Übernahme von genuin linken Symbolen, Agitationsformen und Kleidungsstilen treten sie
in modernem Gewand auf, die Botschaften sind jedoch dieselben geblieben. Querfrontstrategien, z.B. bei sozialen oder umweltpolitischen Themen spielen ebenfalls eine
Rolle, um rechtsextreme Werte in die Mitte der Gesellschaft zu befördern und damit im
kollektiven Bewusstsein bzw. Gedächtnis zu verankern.
Laut Maurice Halbwachs zielt das kollektive Gedächtnis auf das Bestreben einer Gruppe in der Gegenwart ab und „dabei sind Verzerrungen und Umgewichtungen bis hin
zur Fiktion möglich“.4 Die größte Gefahr ist hier laut Jan-Werner Müller die Rekonfiguration des kollektiven Gedächtnisses als Impulsgeber für Aggressionen.5 Eine tragende
3
4
5
Stefan Troebst, Geschichtspolitik. Politikfeld, Analyserahmen, Streitobjekt, in: Etienne Francois/Kornelia Konczal/
Robert Traba/Stefan Troebst (Hrsg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im
internationalen Vergleich (Moderne europäische Geschichte 3), Göttingen 2013, S. 15–34, hier S. 19 f.
Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart-Weimar 2005, S. 17.
Jan-Werner Müller, Introduction: The Power of Memory, the Memory of Power and the Power over Memory, in:
Ders. (Hrsg.), Memory and Power in Post-War Europe. Studies in the Presence of the Past, Cambridge 2002, S. 1–35,
hier S. 21.
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Rolle spielt nach wie vor die Musik, aber vor allem die neuen Möglichkeiten des Internets, das zum wohl wichtigsten Propagandamedium aufgestiegen ist. Vorzugsweise
noch ungefestigte Jugendliche und junge Erwachsene sind hier zentrale Zielgruppen,
was sich in der Hereinnahme von zahlreichen jugendaffinen und popkulturellen Elementen offenbart. Im Zuge dessen wird sogar vor den zuvor verachteten und als „undeutsch“ definierten Anglizismen nicht (mehr) zurückgeschreckt.
Methodik
Zuerst wird der Hegemoniebegriff im Sinne von Gramsci geklärt, mithilfe dessen die
erfolgreiche Übernahme der Skinheadbewegung in England und Deutschland überprüft werden soll. Dabei wird besonders auf die Eigenheiten der Subkultur, die Übernahme von rechtsextremem Gedankengut und schließlich die Instrumentalisierung
seitens rechtsextremer Parteien eingegangen. Basierend auf dem Zusammenspiel der
rechtsextremen Skinheadsubkultur und den Freien Kameradschaften wird in weiterer
Folge die Entwicklung der Autonomen Nationalisten dargestellt. Hierbei ist zu erwarten, dass die Vereinnahmungsstrategien auf eine viel breitere gesellschaftliche Basis
angelegt sind als noch in der Skinheadbewegung, da diese sich aufgrund ihres offenen
Bekenntnisses zu ihrer Ideologie und ihres martialischen Auftretens an den Rand des
Mainstreams brachten. Im Fokus stehen dabei zwei verschiedene Ebenen: eine methodische mit der Übernahme von genuin linksorientierten bzw. alternativen Symbolen,
Lifestyles, politischen Positionen, Agitationsformen und Kleidungsstilen sowie eine mediale mit dem Internet, das den Rechtsextremen schier unbegrenzte Möglichkeiten zur
Verbreitung ihrer Propaganda bietet. Zuletzt ist die Musik von zentraler Bedeutung, der
ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Das Spektrum hat sich diesbezüglich stark verbreitert
und ausgehend vom Rechtsrock wird diese Ausdifferenzierung nachgezeichnet. Zum
Dokumentieren von einschlägigen Internetseiten diente das Linux-Programm „wget“.
Alle zitierten Videos wurden mit dem Firefox-Add-on „DownloadHelper 4.9.24“ heruntergeladen und auf die lokale Festplatte des Autors gespeichert.
Forschungsüberblick
Zum Thema Rechtsextremismus ist bereits eine Vielzahl an Publikationen erschienen,
sowohl allgemeine als auch zu speziellen Themen wie der Skinheadbewegung und vor
allem in letzter Zeit verstärkt zum Phänomen der AN. Folgender Überblick ist nur eine
kleine Auswahl, die das Thema dieser Arbeit abdecken soll. Mit „Skinheads – Portrait
einer Subkultur“6 behandelt Christian Menhorn die Skinheadsubkultur von den Anfängen bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts in ihren verschiedenen Facetten. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf die rechte Skinheadkultur Deutschlands. Einen
ähnlichen Weg gehen Klaus Farin und Eberhard Seidel-Pielen in der journalistischen
Studie „Skinheads“,7 die mittlerweile ein Standardwerk geworden ist. Beide Studien le-
6
7
Christian Menhorn, Skinheads: Portrait einer Subkultur (Extremismus und Demokratie 3), Baden-Baden 2001.
Klaus Farin/Eberhard Seidel-Pielen, Skinheads, München 20147.
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Der Nazis neue Kleider
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gen auch besonderen Wert auf die Ausprägungen rechtsextremer Skinheadmusik. Der
Sammelband „Strategien der extremen Rechten“8 bietet einen reichhaltigen Überblick
über die Vorgehensweisen von Rechtsextremen, sowohl innerhalb und außerhalb der
Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) als auch in kulturbezogener und
in rechtlicher Hinsicht. Ein anderer Zugang wird in „Rechte Diskurspiraterien“9 gewählt,
wobei die Einbettung von linken Elementen in die rechtsextreme Ideologie im Vordergrund steht. Der Sammelband „Autonome Nationalisten. Neonazis in Bewegung“10
rückt – wie der Name schon sagt – das Phänomen der AN in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive ins Zentrum. Schließlich stellt Udo Baron in seinem Aufsatz „Das
Selbstverständnis von Links- und Rechtsautonomen – Ein Vergleich zweier neuer subkultureller Erscheinungsformen“11 einen vergleichenden Blickwinkel zwischen Linksund Rechtsautonomen dar.
Die Gefängnishefte Gramscis
Etwas mehr als zehn Jahre war der Marxist und ehemalige Anführer der kommunistischen Partei Italiens Antonio Gramsci unter der faschistischen Herrschaft Mussolinis
bereits inhaftiert. In einem katastrophalen körperlichen Zustand verstarb im Frühjahr
1937 an den Folgen einer Hirnblutung in Mussolinis Kerker.12 Dort verfasste er mit insgesamt 29 „Gefängnisheften“13 sein Hauptwerk, das er jedoch nie fertigstellen konnte.
Die Hefte sind in Paragraphen unterteilt, jedoch weder systematisch noch thematisch
angeordnet. Dies wurde auch in den kritischen Gesamtausgaben übernommen, um
den Kontext nicht zu zerreißen und so die gedanklichen Entwicklungsprozesse Gramscis zu bewahren.14 Es dauerte allerdings bis 1991, bis der erste Band der deutschen kritischen Gesamtausgabe veröffentlicht wurde, die italienische15 – an der sich die deutsche orientiert – erschien bereits 1975. Zuvor gab es lediglich Zusammenstellungen
von ausgewählten Teilen der Gefängnishefte. Das lag wohl auch an den ideologischen
Schranken des Kalten Kriegs, jedoch konnten Gramscis Werke spätestens nach dem
Zerfall der Sowjetunion neu bewertet werden.
Der fragmentarische Charakter der Gefängnishefte macht das Lesen Gramscis zu einer Herausforderung und manchmal auch zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen,
die jedoch durch einen eigenen Registerband erheblich erleichtert wird. Zudem sind
seit den 1970er-Jahren zahlreiche Publikationen zum einfacheren Einstieg in Gramscis
Gedankenwelt erschienen. Rund um den zentralen Begriff der Hegemonie kristallisiert
8
9
10
11
12
13
14
15
Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009.
Regina Wamper/Helmut Kellersohn/Martin Dietzsch (Hrsg.), Rechte Diskurspiraterien. Strategien der Aneignung
linker Codes, Symbole und Aktionsformen, Münster 2010.
Jan Schedler/Alexander Häusler (Hrsg.), Autonome Nationalisten. Neonazis in Bewegung, Wiesbaden 2011.
Udo Baron, Das Selbstverständnis von Links- und Rechtsautonomen – Ein Vergleich zweier neuer subkultureller
Erscheinungsformen, in: Gerhard Hirscher/Eckhard Jesse (Hrsg.), Extremismus in Deutschland. Schwerpunkte,
Vergleiche, Perspektiven, Baden-Baden 2013, S. 435–453.
Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Heft 1, Bd. 1, Hamburg 22012, S. 65.
Ders., Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, 10 Bde., Hamburg 22012.
Ders., Gefängnishefte 1, S. 11.
Ders., Quaderni del carcere, 4 Bde., Turin 1975.
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87
sich ein wahres Begriffsnetzwerk von immer wieder vorkommenden Schlüsselbegriffen heraus, die sich einander beeinflussen, z.B. Zwang, Konsens, Zivilgesellschaft,
Bildung, Subalternität, Fordismus oder Alltagsverstand. Aus dieser unsystematischen
Ansammlung von Paragraphen ist im Gesamten eine fundierte, tiefgreifende und vielschichtige Theorie zu erkennen, auch wenn sie den fragmentarischen Charakter nie zur
Gänze verliert.
Die ewige Konstante in der Literatur über Gramsci ist der zentrale Begriff der Hegemonie. In der älteren Forschung der 1970er-Jahre war jedoch das Interesse häufig auf die
Sonderrolle Gramscis innerhalb des Marxismus gerichtet.16 Dieser lehnte einen strikten
Dogmatismus ab, was ein wichtiger Bestandteil seiner Überlegungen war. Nach dem
Erscheinen der italienischen kritischen Gesamtausgabe stand in weiterer Folge der Begriff der Hegemonie im Zentrum der Betrachtungen, wobei der Hegemoniebegriff sowohl mit institutionellen bzw. staatlichen17 als auch im Laufe der 1980er-Jahre immer
mehr mit kulturellen Gesichtspunkten18 verknüpft wurde. Anfang der 1990er fällt auf,
dass Gramsci vermehrt in Verbindung mit internationalen Beziehungen rezipiert wurde.19 Seither erweiterte sich die Bandbreite der Zugänge zu den Gefängnisheften immer mehr und es erschienen Publikationen über einzelne Schlüsselbegriffe Gramscis
wie Erziehung bzw. Bildung, Zivilgesellschaft oder Alltagsverstand. Neben der Neuaufbereitung älterer Fragestellungen wurde in jüngster Vergangenheit eine große Anzahl
von Literatur mit verschiedensten Ansätzen veröffentlicht, etwa indem Gramsci in ein
Verhältnis zu Globalisierung, Neoliberalismus, Gesundheitsförderung, Genderaspekten
oder Klimawandel gesetzt wurde.20 Obwohl die Forschungsschwerpunkte aktuell eher
auf ein sozialwissenschaftliches Interesse hindeuten, kommen historische Betrachtungsweisen aber auf keinen Fall zu kurz.
Begriffsdefinitionen
Gramscis Hegemoniebegriff
Zunächst soll Gramscis Konzept der Erlangung von kultureller und moralischer Hegemonie im vorpolitischen Raum beleuchtet werden. Wie bereits angedeutet, ist Hegemonie der zentrale Begriff in seinen Theorien. Dabei soll festgehalten werden, dass
für diese Arbeit allein die Methode zur Erlangung der Hegemonie von Bedeutung ist.
Sonstige Ansichten bezüglich seiner politischen Ausrichtung werden hier nicht berücksichtigt. Der vorpolitische Raum wird von Gramsci umschrieben als „die materiel16
17
18
19
20
Christian Riechers, Antonio Gramsci. Marxismus in Italien, Frankfurt am Main 1970.
Valentino Gerratana, Staat, Partei, Institutionen. Politische Hegemonie der Arbeiterklasse, in: Biago de Giovanni/
Valentino Gerratana/Leonardo Paggi (Hrsg.), Gramsci-Debatte 1. Hegemonie, Staat und Partei, Hamburg 1978,
S. 32–47.
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88
Der Nazis neue Kleider
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le Organisation, die darauf gerichtet ist, die theoretische oder ideologische ‚Front‘ zu
bewahren, zu verteidigen und zu entfalten“.21 Die wichtigste Rolle schreibt er dabei
der Presse bzw. den Medien zu, aber auch z.B. Schulen, Bibliotheken, Architektur oder
Straßennamen spielen eine wesentliche Rolle.22 In die heutige Zeit übertragen ist diesbezüglich wohl das Internet der wichtigste und dynamischste von allen Bereichen.
Gramsci zufolge ist die staatliche Macht nicht direkt zu erlangen, es erfordere eine
„Wende vom Bewegungskrieg […] zum Stellungskrieg“.23 Diese Metapher bezieht sich
auf die Stellungskriege im Ersten Weltkrieg, wonach ein frontaler (politischer) Angriff
auf den westeuropäischen Staat fatal wäre, da dieser durch die zivilgesellschaftlichen
Strukturen gleich militärischen Schützengräben vor Einbrüchen geschützt werde.24 So
komme es in diesen Grabenkämpfen besonders darauf an, den vorpolitischen Raum
nichtmilitärisch zu erobern und dort eine kulturelle, moralische und intellektuelle Hegemonie zu erreichen, um in weiterer Folge die Staatsmacht dauerhaft zu erobern.25
Nach Gramsci muss eine gesellschaftliche Gruppe zuerst führend sein, bevor sie herrschend werden kann.26 Hegemonie bedeutet für ihn aber nicht nur die Herrschaft mittels Zwang über andere gesellschaftliche Gruppen, sondern auch durch Konsens. So
schreibt er:
„Die ‚normale‘ Ausübung der Hegemonie [...] zeichnet sich durch eine Kombination
von Zwang und Konsens aus, die sich die Waage halten, ohne daß der Zwang den
Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit, [...] getragen erscheint.“27
Das setzt voraus, dass bereits vor der Erlangung von Hegemonie ein gewisser Konsens
mit anderen gesellschaftlichen Gruppen erreicht werden muss. Laut Gramsci müssen
„gegenhegemoniale Bewegungen als Impulsgeber für ein neues politisch-ethisches
Denken agieren […], Orientierungen vorgeben [...], Richtungen aufzeigen und eigene
‚Wahrheiten‘ vergesellschaften“.28 Mit dieser (Querfront-)Strategie soll eine Akzeptanz
von anderen Gruppen zu bestimmten Themen erreicht werden, um so die eigenen
Positionen tiefer in die Gesellschaft und somit in das kollektive Bewusstsein einfließen
zu lassen. Verständlicherweise ist das ein langer Prozess und kann nicht von heute auf
morgen geschehen. Denn „Veränderungen […] treten nicht durch rasche und verallgemeinerte ‚Explosionen‘ ein, sie treten meistens durch ‚sukzessive Kombinationen‘ nach
äußerst disparaten ‚Formeln‘ ein“.29
21
22
23
24
25
26
27
28
29
Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Hefte 2 und 3, Bd. 2, Hamburg 22012, S. 373.
Ebd., S. 373 f.
Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Hefte 6 und 7, Bd. 4, Hamburg 22012, S. 873.
Mikiya Heise/Daniel vom Fromberg, „Die Machtfrage stellen“. Zur politischen Theorie Antonio Gramscis, in: Andreas Merkens/Victor Rego Diaz (Hrsg.), Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio
Gramscis (Argument Sonderband Neue Folge AS 305), Hamburg 2007, S. 110–125, hier 118 f.
Gerhard Roth, Gramscis Philosophie der Praxis. Eine neue Deutung des Marxismus, Düsseldorf 1972, S. 134.
Gramsci, Gefängnishefte 1, S. 101.
Ebd., S. 120.
Andreas Merkens, „Die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig machen“. Gegenhegemonie, politische Bildung und Pädagogik bei Antonio Gramsci, in: Merkens/Diaz (Hrsg.), Mit Gramsci arbeiten, S. 157–174, hier
S. 162 f.
Gramsci, Gefängnishefte 1, S. 94.
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Eine Schlüsselrolle schreibt Gramsci den Intellektuellen innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe zu: Sie wirken nicht im Bereich der direkten Herrschaft des Staates,
sondern in privaten Institutionen wie Vereinen, Gewerkschaften, Schulen etc., um die
Ideologie zu stützen oder zu verändern.30 Eine gesellschaftliche Gruppe, die nach Hegemonie strebt, muss danach trachten, „sowohl […] eigene […] Intellektuelle hervorzubringen, als auch besonders die traditionellen Intellektuellen zu ‚erobern‘“.31 Diese
Prinzipien gab es mit Sicherheit schon vor Gramsci, er war jedoch der erste, der sie in
dieser Form niederschrieb hat. Es ist auch nicht nur für linksgerichtete Bewegungen
anwendbar, sondern für Weltanschauungen jeder Art. So bezieht sich die Neue Rechte
auf akademischer Ebene ebenfalls auf den Hegemoniebegriff Gramscis.32 Mit diesem
Konzept der Hegemonie sollen in den folgenden Kapiteln die Strategien der extremen
Rechten zur Vereinnahmung von Jugendbewegungen überprüft werden.
Rechtsextremismus
Bei der Definition von Rechtsextremismus gehen die Meinungen in der Forschungswelt weit auseinander und es existiert folglich keine allgemein akzeptierte Definition.
Der Begriff ist z.B. vom deutschen Verfassungsschutz eher eng ausgelegt33: Er unterscheidet strikt zwischen links, rechts sowie der Mitte und zielt lediglich auf die Verfassung ab. Daher macht es hier eher Sinn, einen politikwissenschaftlichen und eher
weit ausgelegten Rechtsextremismusbegriff zu verwenden, vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass in dieser Arbeit die Vereinnahmung von nichtrechten Bereichen der
Gesellschaft im Fokus steht. Passend dafür ist die Definition von Richard Stöss:
„Unter ‚Rechtsextremismus‘ verstehen wir die Gesamtheit von Einstellungen,
Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch
oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach
ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der
Menschenrechts-Deklarationen ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft
vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die
Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen. Unter ‚Rechtsextremismus‘ verstehen wir insbesondere Zielsetzungen, die den Individualismus aufheben wollen zugunsten einer völkischen, kollektivistischen, ethnisch
homogenen Gemeinschaft in einem starken Nationalstaat und in Verbindung
damit den Multikulturalismus ablehnen und entschieden bekämpfen. Rechtsextremismus ist eine antimodernistische, auf soziale Verwerfungen industrie-
30
31
32
33
Roth, Philosophie, S. 110.
Ebd., S. 112.
Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2004,
S. 85.
Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 20103, S. 10–18, [http://library.fes.de/pdf-files/do/08223.pdf ],
eingesehen 4.1.2015.
90
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gesellschaftlicher Entwicklung reagierende, sich europaweit in Ansätzen zur
sozialen Bewegung formierende Protestform.“34
Skinheads
Die Skinheadbewegung unterlag einem stetigen Wandel und ist eine sehr heterogene
Subkultur mit verschiedenen Strömungen, was sich auch in den politischen Einstellungen der jeweiligen Ausprägungen niederschlägt. Eine allgemein gültige Definition von
Skinheads ist daher schwierig. Lediglich hinsichtlich des Erscheinungsbildes sowie der
Organisationsstruktur kann eine idealtypische Definition herangezogen werden.
„Als Skinhead wird ein Jugendlicher oder junger Erwachsener bezeichnet, dessen
auffälligstes Merkmal der kahl rasierte Schädel ist. Zur szenetypischen Kleidung
gehören vor allem eine Bomberjacke (meist grün, blau oder schwarz), schwere,
manchmal mit Stahlkappen versehene Arbeitsschuhe (z. B. Doc-Martens) und
hochgekrempelte Jeans sowie Hosenträger (Braces). Skinheads sind nur lose organisiert, vereinsähnliche Strukturen von Skinheads gibt es nur selten.“35
Die rechte Skinheadkultur
Entstehung in Großbritannien
Skinheads entstanden im Arbeitermilieu im London der 1960er-Jahre. Ihrem Selbstverständnis zufolge waren sie die Vertreter der sich im Untergang befindenden englischen Working Class.36 Das Jahr 1969 gilt innerhalb der Szene als Entstehungsjahr der
Skinheads, auch in der englischen Presse37 fand der Ausdruck Skinhead erstmals Erwähnung. Natürlich entstand diese Subkultur nicht aus dem Nichts, sondern hatte – ohne
jetzt darauf näher einzugehen – mit den Mods, den Rude Boys (jamaikanische Einwanderer) und den Boot Boys (Vorgänger der Hooligans) Vorläufer in den 1960er-Jahren.
Sie weisen gewisse gemeinsame Merkmale auf: Sie hatten einen Kurzhaarschnitt,38 waren gewaltbereit und kamen größtenteils aus unterprivilegierten Schichten39. Die Bezeichnung Skinhead leitet sich vom Kurzhaarschnitt ab, da die Kopfhaut durchschimmerte. Jedoch waren Glatzen zur Anfangszeit noch nicht üblich.40 Geschorenen Haare
waren in der Vergangenheit häufig ein Zeichen von Repression. Die Konzentrationslager, Gulags, Guantanamo oder die alltestamentarische Geschichte von Samson sind
nur einige Beispiele. Im Fall der Skinheads war dieser Haarschnitt zwar selbst gewählt,
34
35
36
37
38
39
40
Hans-Gerd Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Definitionen, Praxisfelder, Wiesbaden
20012, S. 30.
Verfassungsschutz Norrhein-Westfalen, Skinheads und Rechtsextremismus, Düsseldorf 2001, S. 15, [http://www.
mik.nrw.de/fileadmin/user_upload/Redakteure/Verfassungsschutz/Dokumente/Skinheads_und_Rechtsextremismus.pdf ], eingesehen 3.12.2015.
Ekkehard Sander, Skinheads – Gefangene des eigenen Mythos?, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Gewalt gegen Fremde. Rechtsradikale, Skinheads und Mitläufer, München 1993, S. 161–172, hier S. 164.
Menhorn, Skinheads, S. 21.
Holger Bredel, Skinheads – Gefahr von Rechts?, Berlin 2002, S. 26.
Menhorn, Skinheads, S. 12–20.
Susanne El-Nawab, Skinheads – Ästhetik und Gewalt, Frankfurt am Main 2001, S. 19.
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aber dennoch aus ihrer Sicht als Zeichen der Unterdrückung zu deuten. Teilweise übernahmen die Skinheads die Kleidungsstile der vorangegangenen Subkulturen. Charakteristisch sind die groben Arbeiterstiefel, enge hochgekrempelte Jeans, Tätowierungen
und seit den späten 1970ern millimeterkurze Haare bis zur Vollglatze.41
Seit Mitte der 1980er kamen Bomberjacken und andere Militärkleidung wie z.B. Camouflagehosen dazu.42 In ihrem Aussehen wollten sie sich – wie jede rebellische Subkultur – bewusst von der bürgerlichen Gesellschaft und anderen Subkulturen abgrenzen
sowie Einheit und Zusammengehörigkeit demonstrieren. Hinsichtlich der politischen
Einstellung waren sie in der Anfangszeit weder linksgerichtet, noch rechtsextrem eingestellt, eher wurden konservative Werte hochgehalten.43 Die Freizeitbeschäftigungen
bestanden aus „Musik & Spaß, Randale, Bier, Fußball, Kameradschaft, Sex und coole[n]
Klamotten“.44 Für jede jugendliche Subkultur ist die Musik immens wichtig: Sie transportiert Botschaften, Ideale, Lebenseinstellungen – sie gibt die Richtung vor und erzeugt Abgrenzung sowie gemeinsame Bezugspunkte. In der ersten Skingeneration
entwickelte sich noch keine eigene Skinheadmusik, die bevorzugte Musikrichtung
war der von farbigen Einwanderern importierte Musikstil des Ska, der Vorläufer des
Reggae.45 Das bedeutete, dass auch schwarze Jugendliche zu Skinheads wurden.46 Die
Skinheadkultur hat also multikulturelle Wurzeln, der gemeinsame soziale Status war
wichtig und nicht die Hautfarbe oder andere Merkmale. Anders gesagt: Klassen- statt
Rassenbewusstsein. Eine weitere wichtige Rolle spielte der Spaß an der Gewalt. Falls sie
sich nicht gegenseitig bekämpften – etwa in der sogenannten dritten Halbzeit nach
Fußballspielen – prügelten sie sich mit Ausländern oder Angehörigen anderer Subkulturen wie Rockern, Hippies und, Homosexuellen.47 In gewisser Weise war das eine Art
Erlebniswelt, die eine große Anziehungskraft auf viele Jugendliche aus der Arbeiterschicht ausübte. Die nicht gerade objektive Medienberichterstattung der englischen
Boulevardpresse führte schon früh dazu, dass Skinheads auf ausländerfeindliche Schläger reduziert wurden.48
Schien die Skinheadkultur bereits Anfang der 1970er wieder dem Ende zuzugehen,
kehrte sie im Zuge der Punkbewegung, die im Sommer 1976 ebenfalls in London entstand, wieder auf die Bildfläche zurück. Wieder war die Musik enorm wichtig für die
Bewegung: Der Punksound war einfach, roh und aggressiv. Mit meist nur drei, maximal vier Akkorden, einem rotzigen Gesang und gesellschaftskritischen Texten wusste
man zu schockieren. Das Rebellentum des Punks zog Tausende von jungen Menschen
an, doch innerhalb kürzester Zeit wurde die Bewegung kommerziell ausgeschlachtet
und entwickelte sich zur Massenmodeerscheinung.49 In-Sein war bald wichtiger als
41
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46
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48
49
Bredel, Skinheads, S. 45.
Ebd.
El-Nawab, Skinheads, S. 21.
Ebd., S. 20.
Menhorn, Skinheads, S. 33–36.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 34.
Bredel, Skinheads, S. 28 f.
Ebd., S. 28
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 44.
92
Der Nazis neue Kleider
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Missstände aufzuzeigen und in weiterer Folge wandten sich viele vom Punk, vor allem
von den Mode- und Edelpunks, wieder ab.50 Das brachte der damals schon mehr oder
weniger totgeglaubten Skinheadbewegung wieder regen Zulauf, vor allem aus der
Punkszene. Der authentische Charakter der Bewegung und die aggressiven Klänge der
Punkbands wurden beibehalten:51 Der Street- oder Oi!-Punk war geboren. Der Ausruf
„Oi!“ bedeutet soviel wie „Hey!“52 und stammt von den Cockney Rejects, die ihre Lieder
mit „Oi, Oi, Oi!“ einzählten.53 Die Prinzipien der Oi!-Bewegung waren „Zusammenhalt
untereinander und die Abwesenheit von Dogmen“.54
Die Skinheadbewegung ist seit jeher männerdominiert,55 und das zeigt sich sowohl
im maskulinen und Härte ausstrahlenden Kleidungsstil als auch in ihren Werten und
Verhaltensweisen. Zusammen mit der konservativen Einstellung sowie der Gewaltbereitschaft machte das später viele von ihnen empfänglich für rechtsextreme Weltanschauungen.
Politisierung
Sowohl in der Punk- als auch in der Skinheadbewegung wurden Mitte der 1970erJahre Nazi-Symbole demonstrativ verwendet, um zu provozieren und schockieren.
Zunächst aber nicht, um explizit eine politische Botschaft auszudrücken.56 Doch bald
begann die Politik, Einfluss zu nehmen und das nicht nur von rechts, sondern von allen
Seiten.57 Die rechtsextreme Seite konnte dabei das größte Kapital daraus schöpfen. Die
Jugendarbeitslosigkeit stieg zu dieser Zeit massiv an und zugleich nahm die Einwanderung aus Staaten des ehemaligen britischen Empires zu – rechtsextreme Einstellungen wurden immer mehr salonfähig.58 In der britischen Gesellschaft war bereits in den
späten 1960er-Jahren eine latent vorhandene Fremdenfeindlichkeit zu beobachten –
die rechtsextreme „National Front“ (NF) wurde 1967 gegründet.59 Etwa zur selben Zeit
machte der konservative Schattenminister Enoch Powell den Alltagsrassismus öffentlichkeitswirksam massentauglich und nicht wenige Skinheads folgten seinen Ansichten.60 So war der Wahlkampf von Margharet Thatcher ebenfalls von xenophoben und
rassistischen Elementen gekennzeichnet,61 wahrscheinlich aber auch deswegen, um
den Rechtsextremen das Wasser abzugraben. Mit Gramsci gesprochen wurden hier
ideologische Zugeständnisse gemacht, um mit der extremen Rechten einen gewissen
Konsens zu erreichen:
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61
Menhorn, Skinheads, S. 42.
Ebd., S. 43 f.
El-Nawab, Skinheads, S. 21.
Menhorn, Skinheads, S. 44.
Ebd., S. 45.
Ebd., S. 22.
Bredel, Skinheads, S. 40.
Menhorn, Skinheads, S. 54.
Ebd., S. 54–56.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 50.
Erika Funk-Hennings, Skinheadmusik, OI-Musik, Nazi-Rock?, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 40 (1995),
S. 84–100, hier S. 85.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 51.
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Tobias Leo
93
„Wenn […] [die Regierenden] nicht den Konsens der Mehrheit haben, werden
sie als untauglich zu verurteilen sein und als nicht die ‚nationalen‘ Interessen
vertretend, die dabei, die Willen eher in die eine als in eine andere Richtung zu
lenken, vorrangig sein müssen.“62
Die NF profitierte dennoch und gab als einzige Partei den Skins das Gefühl, gehört zu
werden.63 Das stieß auf Gegenliebe, denn mit den faschistischen Parolen der NF wussten sie die Gesellschaft zu provozieren.64 Der diffuse Hass auf andere Minderheiten und
auf die bürgerliche Gesellschaft wurde so nach und nach in ideologische Bahnen kanalisiert. Die NF erkannte schnell, dass sich Musik bestens zum Transport ihrer Ideologien
eignete und so kam es zu einer Zusammenarbeit.65
Bald aber spalteten sich die rechtsextremen Skinheadbands von der National Front
ab und gründeten unter anderem die international und neonazistisch ausgerichteten
Netzwerke „Blood & Honour“ (B&H) und „Combat 18“.66 Das B&H-Netzwerk schuf der
rechtsextremen Skinhead-Bandszene erstmals organisatorische Strukturen. In dessen
Logo – einer Triskele, die an das Hakenkreuz angelehnt ist – wird sofort klar, wohin die
Richtung gehen sollte.67 Die Organisation geht auf Ian Stuart Donaldson (genannt Ian
Stuart) zurück, den Begründer und Sänger von Skrewdriver – nach wie vor einer der
legendärsten Neonazibands.68 In den Liedern wird eindeutig rassistisches und nationalistisches Gedankengut propagiert, so lautete z.B. im Jahr 1988 der Refrain von „Win
or Die“ aus dem Album „After the Fire“: „Fight for your country, fight for your race, fight
for your nation, fight made our nation great.“69 Die Musik von Skrewdriver ist einfach
gehalten und eingängig. Stuart hatte ein gewisses musikalisches Talent, denn Lemmy
Kilmister, Sänger der Band Motörhead, äußerte sich 2008 in einem Interview folgendermaßen über Stuart: „I thought Ian Stuart should have grown his hair long and there
would have been six rolling stones [sic!]!“70 Dadurch und mit seiner Fähigkeit, Netzwerke zu knüpfen, avancierte er im Laufe der Zeit zur Ikone der rechtsextremen Szene. Seit
seinem Unfalltod im Jahr 1994 gilt er endgültig als Märtyrer.71 In Gramscis Sinne war
Stuart einer der Intellektuellen, dem es gelang, innerhalb der Skinheadkultur „als Konstrukteur, Organisator, ‚dauerhaft Überzeugender‘, weil nicht bloßer Redner“,72 große Teile
davon auf seine Seite zu ziehen. Mit ein Grund dafür war sicherlich das fremdenfeindliche Klima innerhalb der britischen Gesellschaft, d.h. es gab bestimmte Überschneidungen zwischen den neofaschistischen Gruppierungen und der öffentlichen Meinung.
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72
Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Hefte 8 und 9, Bd. 5, Hamburg 22012, S. 1126.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 52.
Ebd.
Menhorn, Skinheads, S. 56.
Bredel, Skinheads, S. 44.
Blood & Honour, Home, o. D., [http://www.bloodandhonour.net/index.html], eingesehen 12.1.2015.
Funk-Hennings, Skinheadmusik, OI-Musik, S. 87.
Youtube LLC, Max Gaozza, SkrewDriver - Win Or Die, 13.6.2013, [https://www.youtube.com/watch?v=OQ2fzKh
tuWY], eingesehen 7.1.2015.
Blog: Metal Hall eZine, Elric, Lemmy Answers Your Questions, 17.4.2008, [http://metalhall.blogspot.co.at/2008/04/
lemmy-answers-your-questions.html], eingesehen 9.1.2015.
Enno Stiehm, Rechtsextreme Jugendliche. Erkennungsmerkmale, Begriffe, Erklärungsansätze und schulische
Handlungsmöglichkeiten, Hamburg 2012, S. 51.
Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Hefte 12 bis 15, Bd. 7, Hamburg 22012, S. 1532.
94
Der Nazis neue Kleider
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Nach einigen heftigen Ausschreitungen und Übergriffen rechtsextremer Skinheads,
die von den Medien gnadenlos ausgeschlachtet wurden, „wusste jeder, wie Nazis aussehen und wie man aussehen muss, wenn man ein rechter Schläger sein will“.73 Das
zog wiederum rechtsextrem eingestellte Jugendliche an, das harte und martialische
Image der Skinheads ergänzte deren Ideologie perfekt. George Marshall, selbst Skinhead der ersten Generation, stellte fest: „The truth was that it wasn’t so much skinheads
turning to Nazism, but Nazis turning into skinheads.“74 In diesem Sinne hatte der rechtsextreme Teil der Skinheads – ausgehend von den großen Städten Englands – Anfang
der 1980er-Jahre die Hegemonie innerhalb der Szene auf der britischen Insel erreicht,
zumal die unpolitischen Skins es nicht vermochten, eine Gegenhegemonie in der öffentlichen Meinung aufzubauen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich „Skinhead“ als Synonym für „Neonazi“ in das kollektive Bewusstsein gebrannt hat. Dieses
Image wurden sie bis heute nicht mehr los. Das zum Teil rechtsextrem eingefärbte Bild
wurde anschließend weltweit exportiert, auch nach Deutschland, was in den folgenden Kapiteln in den Mittelpunkt rückt.
Skinheads in der Bundesrepublik
In der Blütezeit der Oi!-Bewegung erreichte der Skinheadkult internationale Bekanntheit. In Westdeutschland vor allem durch englische Musikzeitschriften und Skinheads,
die den dort stationierten britischen Truppen angehörten.75 Die ersten Skins rekrutierten sich ab ca. 1980 sowohl aus der Punk- als auch aus der Hooliganszene.76 Obwohl
viele Skins und Punks sich anfangs durchaus freundlich gegenüberstanden, kam es
durch simple Verallgemeinerungen spätestens im Rahmen der Ausschreitungen bei
den Chaostagen 1984 in Hannover77 zum Bruch zwischen beiden Subkulturen. Skins
kritisierten den zunehmend linken Einfluss auf die Punkszene, Punks unterstellten Skinheads pauschal, Faschisten zu sein.78 Bis Anfang der neunziger Jahre standen sich die
beiden Subkulturen fast unversöhnlich gegenüber. Tatsächlich driftete eine große Anzahl der deutschen Skinheads bald nach rechtsaußen ab,79 und das noch bevor sich
politische Gruppierungen bedeutend einmischten. Menhorn gibt drei Gründe an, warum es dazu kam:80 Erstens wollten sie sich von den Punks klar abgrenzen. Im Gegensatz zu Letzteren waren ihnen Werte wie Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Kameradschaft und Disziplin wichtig – alles sogenannte deutsche Werte. Zweitens wollten auch
sie wie die Punks mit Tabubrüchen Aufsehen erregen. Mit ihrem Aussehen konnten sie
die Gesellschaft kaum noch schockieren, dafür griffen sie auf nationalsozialistischen
Parolen zurück. War das anfangs nur als Provokation gedacht, wurde das Gedankengut
dann häufig übernommen. Drittens spielte die unreflektierte Englandorientierung eine
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80
El-Nawab, Skinheads, S. 27.
George Marshall, Spirit of ‘69. A Skinhead Bible, Dunoon 19942, S. 148.
Menhorn, Skinheads, S. 137 f.
Bredel, Skinheads, S. 54.
Menhorn, Skinheads, S. 145.
Ebd., S. 139.
Ebd., S. 143.
Ebd., S. 149 f.
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95
große Rolle. Skrewdriver war von Anfang an eine Kultband und – wie noch ausgeführt
werden wird – diese Rolle nahmen wenig später die Böhsen Onkelz ein.
Schon bald erkannten neonazistische Gruppen das Potential dieser Subkultur. Kurz
nach dem Auftauchen der ersten Skins in Deutschland bemühte sich der Neonazi Michael Kühnen im Rahmen seiner Aktionsfront Nationaler Sozialisten um Skinheads, die
er vor allem in Fußballstadien und Konzerten fand.81 Der Hass auf Ausländer und Linke
sowie die Akzeptanz von Gewalt machte sie zu Verbündeten. Doch nach anfänglichen
Erfolgen wendeten sich die meisten Skinheads wieder ab. Sie lehnten fest organisierte
Strukturen ab82 und wollten sich von den Neonazis nicht mehr als Schlägertrupps benutzen83 lassen. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass ihnen die ursprünglichen
Werte der Subkultur noch eher bekannt waren als der darauf folgenden Skingeneration. Und auch wenn sie viele gemeinsame Schnittpunkte hatten – sie waren eher an
konkreten Aktionen interessiert als an organisierter Parteienarbeit.84 Das verhinderte
nicht, dass sich die Gewalt gegen die verhassten Gruppen hochschaukelte: Ab Mitte
der achtziger Jahre wurde die Mehrzahl an rechtsextrem motivierten Gewalttaten von
Skinheads ausgeführt, bis dahin führten neonazistische Gruppierungen diese unrühmliche Statistik an.85 Das hängt damit zusammen, dass sich die Skinheadszene von nun
an bedeutend änderte: Von den sich neu rekrutierenden Skinheads stammten etliche
aus Neonazikreisen. Neue Bands mit klar neonazistisch durchzogenen Texten schossen
aus dem Boden und folglich fiel es viel leichter, sich Parteien und organisierten Gruppierungen anzuschließen bzw. anzunähern.86 Viele Skinheads der älteren Generation87
und aus der unpolitischen Szene88 trugen diese Entwicklungen nicht mehr mit und
stiegen aus. Die beharrliche Agitationsarbeit von Neonazis zahlte sich damit auf lange Sicht aus – die rechtsextremen Skins beherrschten erstmals das Feld innerhalb der
Szene.89 Die Grenzen zwischen Subkultur und Ideologie verschwammen bis Ende der
1980er-Jahre zusehends.90
Skinheads in der DDR
Auch die Berliner Mauer hielt den Skinheadkult nicht davon ab, in die DDR einzudringen. Die ersten Skins rekrutierten sich Anfang der 1980er vor allem aus der Hooliganszene, aber auch Punks fanden Gefallen an der Subkultur.91 Das geschah unter starkem
Einfluss der westdeutschen Szene, es gab reichlich Kontakte, z.B. bei Fußballspielen
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91
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S.102 f.
Ebd., S. 103 f.
Bredel, Skinheads, S. 94.
Aschwanden, Rechtsextremismus, S. 38 f.
Ebd., S. 38.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 107 f.
Ebd., S. 107.
Kailitz, Extremismus, S. 104.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 108.
Helmut Schneider, Jugendlicher Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945: Organisationen und Dispositionen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Ein Literaturbericht, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Gewalt gegen
Fremde, S. 80.
Menhorn, Skinheads, S. 154.
96
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oder Skinheadkonzerten in anderen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang.92 Gewalt,
Spaß, Alkohol und Kameradschaft gehörten natürlich auch im Osten zum Skinheaddasein. Doch es gab einige Unterschiede zu den westdeutschen Pendants, was auch den
bis heute stärkeren Politisierungsgrad der Skinheads in der ehemaligen DDR erklärt:
Erstens fiel schon eine starke Ablehnung gegen staatliche Institutionen und insbesondere gegen das sozialistische System auf, d.h. die Tendenz zeigte von Grund auf nach
rechts.93 Und womit könnte man das SED-Regime besser ärgern und zugleich eine extreme Position der Opposition ausdrücken als mit neonazistischen Parolen? Zweitens
waren die westdeutschen Kontaktpersonen meist rechtsextreme Skinheads und auch
im Osten waren die Kultbands Skrewdriver und die Böhsen Onkelz.94 Drittens suggerierten die Medien beider deutscher Staaten das Bild, es gebe ausschließlich rechtsextreme Skinheads.95 Dennoch gab es hier eine Unterschied, da es in Westdeutschland wesentlich mehr Informationskanäle und Verbindungen nach England gab, etwa durch
Fanzines. Die Skinheadkultur kam im Westen in einem relativ breiten Spektrum an, in
der DDR war sie hingegen von Anfang an mit rechtsextremer Ideologie angereichert.
Das hatte zur Folge, dass – im Gegensatz zur ersten Skingeneration der BRD – ostdeutsche Skins keinen Bezug zu den multikulturellen Wurzeln der Subkultur hatten.
Die DDR-Führung ignorierte die Aktivitäten von Skinheads lange Zeit, wo es doch hinter dem antifaschistischen Schutzwall – zumindest offiziell – keinen Faschismus gab.96
Soziale Ungleichheit in der sozialistischen DDR war ideologisch undenkbar. Damit wurde eine hinreichende Aufarbeitung des Nationalsozialismus erheblich erschwert bzw.
unmöglich gemacht. Von Amts wegen war die ostdeutsche Geschichte unbefleckt,
andererseits war eine erhebliche Anzahl von ehemaligen Nazis niedrigen Ranges in
den Staatsapparat integriert worden.97 Diese Doppelmoral bzw. Diskrepanz zwischen
staatlicher Verordnung und Realität spiegelt sich etwa auch bei der Behandlung von
fremden Gastarbeitern wider. Sie wurden – neben vielen anderen Diskriminierungen
– hauptsächlich für unliebsame Arbeiten bei niedriger Bezahlung eingesetzt, dazu
noch privat als auch in der Arbeit von der restlichen Bevölkerung isoliert und in ihren
Rechten erheblich eingeschränkt.98 Eine derartige Praxis wurde für viele DDR-Bürger
aufgrund der Alltagserfahrungen gesellschaftsfähig. So hatten Ausländer z.B. bei den
vielen Güterengpässen der DDR eine Sündenbockfunktion.99 Der ideologische Nährboden für ausländerfeindliche Einstellungen war also zu einem guten Teil ‚hausgemacht‘.
Im Verlauf der 1980er-Jahre gingen die Provokationen dann in handfeste Denkmuster
über. Dabei kam es analog zu Westdeutschland ab Mitte des Jahrzehnts vermehrt zu
92
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95
96
97
98
99
Bredel, Skinheads, S. 116.
Menhorn, Skinheads, S. 155.
Ebd.
Ebd.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 110.
Tony Judt, The Past is Another Country: Myth and Memory in Postwar Europe, in: Daedalus 121 (1992), S. 83–118,
hier S. 100 f.
Dirk Aschwanden, Jugendlicher Rechtsextremismus als gesamtdeutsches Problem (Nomos Universitätsschriften
Politik 56), Baden-Baden 1995, S. 79–89.
Ebd., S. 83.
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97
Übergriffen auf ausländische Minderheiten.100 Während aber der Skinheadkult in der
BRD nur teilweise politisch aufgeladen ankam, so stand dieser im Osten Deutschlands
von Anfang an unter rechtsextremen Vorzeichen. Für Neonazis herrschten also „gute
Voraussetzungen“ im Hinblick auf die Wiedervereinigung.
Nach dem Mauerfall
Mit dem Fall der Mauer boomte die Skinheadszene, vor allem in den neuen Bundesländern.101 Dementsprechend stieg auch die Anzahl rechtsextremer Gewalttaten im
nun vereinten Deutschland. Ihren Gipfel erreichten sie mit knapp 1.500 Gewaltdelikten im Jahr 1992, das ist in etwa der neunfache Wert im Vergleich zu 1990.102 Traurige
Höhepunkte waren die Brandanschläge auf Asylwerberheime Anfang der 1990er in
Hoyerswerda, Rostock und Mölln mit vielen Verletzten und mehreren Toten.103 Die Politik reagierte nun mit zahlreichen Verboten von neonazistischen Organisationen und
Parteien, deren Gegenreaktion ließ allerdings nicht lange auf sich warten: Um zukünftigen Verboten zu entgehen, schlossen sie sich jenseits der NPD zu losen Verbindungen,
den Kameradschaften, zusammen, womit sie strukturell den Zusammenschlüssen von
Skinheads ähnelten.104 Von nun an vertiefte sich die Zusammenarbeit der beiden Szenen – es bildete sich eine Art Symbiose.105 Sowohl die Organisation von Skinheadkonzerten durch Neonazis sowie die Mitgliedschaft von Neonazis in Skinheadbands hatten
großen Anteil an dieser Annäherung.106 Jetzt begann auch die NPD, sich der Jugend
zu öffnen – nicht zuletzt deswegen, weil sie eine ‚Verjüngungskur‘ brauchte. Während
die Skinheads der damals biederen und national-konservativen NPD Mitte der 1980er
zu undiszipliniert waren107 und die Skinheads nichts von Parteien hielten, kamen nun
beide Seiten aufeinander zu. Die Kontakte zur NPD wurden auch deshalb erleichtert,
da sich Mitglieder der Kameradschaftsszene nach der angesprochenen Verbotswelle
bei den Jungen Nationaldemokraten (JN) engagierten und dort Führungspositionen
einnahmen.108
Fortan waren Skinheads häufig bei NPD-Kundgebungen und als Helfer bei Wahlkampfveranstaltungen zu sehen, die JN organisierte im Gegenzug Rechtsrockkonzerte.109 Einen entscheidenden Impuls gab die Übernahme des Parteivorsitzes durch Udo Voigt
im Jahr 1996.110 Mit ihm änderte sich sie Strategie, es wurde ein Drei-Säulen-Konzept
eingeführt und das lautete: Kampf um die Köpfe – Kampf um die Straße – Kampf um
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110
Bredel, Skinheads, S. 112.
Menhorn, Skinheads, S. 160–162.
Kailitz, Extremismus, S. 104 f.
Ebd.
Bredel, Skinheads, S. 96.
Ebd.
Ebd.
Martin Langebach/Jan Raabe, Zwischen Freizeit, Politik und Partei: Rechtsrock, in: Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden
2009, S. 163–188, hier S. 164.
Bredel, Skinheads, S. 98.
Ebd., S. 97 f.
Langebach/Raabe, Freizeit, S. 166.
98
Der Nazis neue Kleider
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die Parlamente.111 Mit dem Kampf um den organisierten Willen wurde dieses Modell
um eine vierte Säule erweitert: Alle nationalen Kräfte sollten gebündelt werden.112 Die
Skins beteiligten sich hauptsächlich am Kampf um die Straße – und wurden dabei
immer disziplinierter. Die NPD organisierte 1997 in München eine Großdemonstration
von etwa 5.000 Personen gegen die Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht.
Zahlreiche Skinheads marschierten mit, die sich auffallend ruhig verhielten und sich
der Partei unterordneten.113
Die subkulturellen Werte schienen zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr zu spielen. Die
NPD wurde moderner, jünger und bot der jugendlichen Generation eine Erlebniswelt.
Der aktionsorientierte Aspekt stand dabei sicherlich im Vordergrund, die beiläufige,
aber intentionale Vermittlung der Ideologie war somit um Vieles leichter. Davon blieb
auch die Musik nicht verschont, der Rechtsrock diente der NPD als wichtige und wirkungsvolle Propagandawaffe, z.B. auch bei Parteiveranstaltungen. Paradoxerweise waren es gerade die oben erwähnten Verbote, die die Allianz zwischen Kameradschaften,
Skinheads und rechtsextremen Parteien erst möglich machte. Die Skinheads boten ein
großes Rekrutierungs- und Instrumentalisierungspotential für die NPD und diese war
dabei erfolgreich, das Potential auszuschöpfen. In den letzten Jahren ist der Anteil der
Skinheads rückläufig: Zu schlecht ist deren Ruf, zu offensichtlich wird die Gesinnung
zur Schau gestellt und zu antiquiert ist es mittlerweile, Skinhead zu sein. Zudem war
und ist der Anteil der Skins über dreißig Jahren marginal und lag im unteren einstelligen Prozentbereich.114 Das konnte vielfältige Gründe haben, etwa eine bröckelnde
Identifikation mit der Szene aufgrund der zunehmenden Politisierung. Offenbar war
dies aber auch dem Alter geschuldet, auch Faktoren wie Arbeit, Familie oder Kinder
waren gewichtige Beweggründe für den Ausstieg aus der Szene.115 Das konnte zwar
für jüngere Skins ebenso gelten, dennoch lassen diese Aspekte im Zusammenhang
mit der Altersstruktur darauf schließen, dass zahlreiche ältere Skins beschlossen, ein
sogenanntes ‚normales‘ Leben zu führen. An die Stelle der rechtsextremen Skinheads
sind nun die AN getreten, die nicht minder gewalttätig sind. Die Botschaften sind die
gleichen, nur die Vermittlung erfolgt subtiler, moderner und professioneller. Bevor die
AN behandelt werden, soll berechtigterweise ein Blick auf die Gegenbewegungen innerhalb der Skinheadszene geworfen werden.
111
112
113
114
115
Armin Pfahl-Traughber, Der „zweite Frühling“ der NPD. Entwicklung, Ideologie, Organisation und Strategie einer
rechtsextremistischen Partei, Berlin 2008, S. 42–45, [http://www.kas.de/wf/doc/kas_14498-544-1-30.pdf ], eingesehen 12.1.2015.
Ebd., S. 45–47.
Bredel, Skinheads, S. 97.
Ebd., S. 68.
Ebd., S. 70.
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99
Gegenbewegungen
In der deutschen Öffentlichkeit ist das Wort Skinhead spätestens seit der Gewaltwelle
Anfang der 1990er zum Synonym für Neonazi geworden. Die Medien dürfen dabei
nicht außer Acht gelassen werden, denn sie spielten eine entscheidende Rolle. Im
Sinne von Gramsci, der der Presse schon eine herausragende Rolle zuschrieb, trugen
die Medien – sei es aus Profit- und/oder Sensationsgier – zu einem bedeutenden Teil
dazu bei, dass Skinheads allesamt als rechtsextrem kategorisiert wurden. Obwohl das
auf einen beträchtlichen Teil zutrifft, formierte sich in den folgenden Jahren – als die
Skinheadkultur schon internationalisiert war – Widerstand. Neben den rechtsextremen
Skins mit deutlich neonazistischen Tendenzen spaltete sich die Skinheadszene in folgende Strömungen auf:116 Die Oi!-Skins definieren sich als unpolitisch und versuchen,
an die Ideale der ersten Skinheadgeneration anzuschließen, also Bier, Spaß, Musik, Fußball usw. S.H.A.R.P-Skins117 distanzieren sich ausdrücklich von Ausländerfeindlichkeit
und Rassismus, um nicht mit rechtsextremen Skins in einen Topf geworfen zu werden.
Als Gegenpol zu den rechtsextremen Skins formierten sich die Redskins, die politisch
auf der linken bis linksextremen Seite agieren. Der äußerliche Unterschied zwischen
den einzelnen Skingruppierungen liegt im Detail und ist etwa durch Aufnäher, Buttons
oder T-Shirts zu erkennen. Es bleibt festzuhalten, dass die Skinheadkultur in Wirklichkeit
sehr heterogen ist und nicht nur auf rechtsextreme Schläger reduziert werden kann,
wie es die Medien gerne suggerieren. Die restlichen Strömungen wurden aber in den
Medien praktisch kaum wahrgenommen.118
Autonome Nationalisten
„Vergessen Sie die Springerstiefel, bitte!“,119 so lautet der erste Satz im journalistischen
Werk „Neue Nazis“ von Toralf Staud und Johannes Radke. Der Modernisierungsprozess
erfasste auch den Rechtsextremismus. Analog zur rechtsextremen Musik erfolgte hier
ein Prozess der Ausdifferenzierung. Ein Resultat dessen ist die Entstehung der AN,
die auf den ersten Blick von Linksautonomen nicht zu unterscheiden sind.
Entstehung
Die Freien Kameradschaften, die große Teile der rechtsextremen Skinheads an sich binden konnten, sind jene Keimzelle und Vorstufe, aus der die AN entstanden sind. Mediale Aufmerksamkeit erweckten sie in Deutschland erstmals anlässlich gewalttätiger
Ausschreitungen im Jahr 2008 bei einem Aufmarsch zum ersten Mai in Hamburg.120
116
117
118
119
120
Bredel, Skinheads, S. 85–93.
Abkürzung für: Skinheads Against Racial Prejudice.
Bredel, Skinheads, S. 9.
Toralf Staud/Johannes Radke, Neue Nazis. Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror
von Rechts, Köln 20122, S. 7.
Lenard Suermann, Rebel Without a Course. Der Diskurs um die „Autonomen Nationalisten“, in: Regina Wamper/
Helmut Kellershohn/Martin Dietzsch (Hrsg.), Rechte Diskurspiraterien. Strategien der Aneignung linker Codes,
Symbole und Aktionsformen, Münster 2010, S. 166–193, hier S. 166.
100
Der Nazis neue Kleider
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Doch die ersten AN rekrutierten sich bereits 2002 aus der Berliner Kameradschaft Tor,121
die unter anderem durch Hausbesetzungen122 auffielen. Durch den Umstand, dass in
den neuen Bundesländern rechtsextreme Strukturen salonfähiger waren als in den
alten, agierten die AN lange hauptsächlich im Westen, jedoch sympathisierten immer mehr Freie Kameradschaften im Osten mit den AN.123 Dennoch kam es dort zu
keiner größeren Ausbreitung der AN: Die NPD war in den neuen Bundesländern tiefer in der Gesellschaft verankert als im Westen und damit auch die Freien Kameradschaften, die ihren relativ gefestigten Status nicht durch rebellische und antibürgerliche Aktionen riskieren wollten.124 Der Altersdurchschnitt lag zwischen 15 und 20, bei
Führungsaktivisten zwischen 18 und 25 Jahren, womit sie durchschnittlich jünger als
die Mitglieder der Freien Kameradschaften waren.125 Das ist durchaus als Indiz für einen
Generationswechsel zu deuten, der die dazugehörigen Konflikte mit sich brachte. Sie
kritisierten die NPD als reformistisch und reaktionär, sie wollten durch eine Revolution
und nicht auf legalistische Weise an die Macht kommen.126 Den Freien Kameradschaften warfen sie vor, sich dem Neuen zu verschließen.127
Neu ist aber auch das Konzept des autonomen Nationalismus nicht, ganz bewusst
wurden die Linksautonomen kopiert. Sie machen auch kein großes Geheimnis daraus, bezeichnenderweise schrieb der den AN sehr nahe stehende Neonazi Christian
Worch: „Bevor ich das Rad neu erfinde, schaue ich mir an, ob irgendwo ein Rad läuft;
dann schaue ich mir das Rad an und überlege, ob es für unsere Zwecke geeignet ist.“128
Von den Linken zu lernen erachte er daher als „höchst sinnvoll“.129 In ähnlicher Weise
äußern sich die AN Vorderpfalz: „Die Linke macht dies seit langem erfolgreich vor, nun
liegt es an uns, selbiges Konzept aufzugreifen.“130 Innerhalb des rechtsextremen Spektrums kam es – ähnlich wie anfangs bei den Skinheads und vor allem als die ersten
AN auftauchten – zu Widerständen und Anfeindungen. Eine Erklärung des NPD-Parteipräsidiums aus dem Jahr 2007 fiel dementsprechend aus, indem die Partei sich „in
aller Deutlichkeit gegen derartige anarchistische Erscheinungsformen aus[sprach]“.131
Da sich daraufhin viele aus der rechtsextremen Szene mit den AN solidarisch erklärten,
wurde diese Haltung von der NPD bald relativiert: Etwa einen Monat später begrüßte
Udo Voigt anlässlich einer Wahlkampfveranstaltung zur Landtagswahl in Niedersach121
122
123
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129
130
131
Jan Schedler, Übernahme von Ästhetik und Aktionsformen der radikalen Linken – Zur Verortung der „Autonomen
Nationalisten“ im extrem rechten Strategiespektrum, in: Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gerster (Hrsg.),
Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S. 332–357, hier S. 334.
Regina Wamper/Michael Sturm/Alexander Häusler, Faschistischer Selbstbedienungsladen? Aneignungspraktiken
der ,Autonomen Nationalisten’ in historischer und diskursanalytischer Perspektive, in: Jan Schedler/Alexander
Häusler (Hrsg.) Autonome Nationalisten. Neonazis in Bewegung, Wiesbaden 2011, S. 284–302, hier S. 298.
Schedler, Übernahme, S. 337.
Ebd.
Ebd., S. 336.
Ebd., S. 335.
Ebd.
Christian Worch, Über freien und autonomen Nationalismus, 25.1.2005, [http://web.archive.org/web/200702280
45353/http://1mai.net/], eingesehen 15.2.2015.
Ebd.
Blog: Autonome Nationalisten Vorderpfalz, Warum Autonom?, o. D., [http://logr.org/autonomenationalistenvorderpfalz/was-wir-wollen/warum-autonom/], eingesehen 15.2.2015.
NPD-Parteipräsidium, Unsere Fahnen sind schwarz – unsere Blöcke nicht!, (15.8.)2007, S. 1, [http://www.npd-kiel.
de/Archiv/2007/PDF_Dateien/Akt_Aufruf_PV.pdf ], eingesehen 15.2.2015.
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Tobias Leo
101
sen ausdrücklich etwa hundert Autonome Nationalisten132 – das Bündeln aller nationalen Kräfte, die vierte Säule der NPD, kommt zum Tragen. Es könnte sinngemäß auch
so formuliert werden:
„Wenn die Bauern sich bewegen, beginnen die Intellektuellen zu schwanken,
und umgekehrt, wenn eine Gruppe Intellektueller sich auf die neue Grundlage
stellt, reißt sie schließlich immer größere Teile der Masse mit.“133
Strategien, Aktionsformen und Symbolik
„Wir versuchen einen neuen Weg, der sich wahlpolitischer Träume weitgehend
enthält, auf einen kontinuierlichen Aufbau setzt und der Gegenseite möglichst
geringe Angriffsflächen bietet, um außerhalb der Parlamente eine kräftige Gegenmacht zu entwickeln, die in geeigneter Stunde eingreift.“134
Diese Aussage beinhaltet viel von Gramscis Hegemonietheorie, nur eben mit rechtsextremem Hintergrund. Das deckt sich ebenfalls mit seiner Aussage, dass „[man] im
politischen Kampf [...] nicht die Kampfmethoden der herrschenden Klasse nachäffen
[darf ], oder man gerät leicht in einem Hinterhalt“.135 In diesem Sinne sind die AN als
Ganzes in lose Gruppen ohne feste Organisationen zersplittert, dennoch sind sie durch
die modernen Kommunikationsmedien – vor allem durch das Internet – vernetzt. Das
macht sie für staatliche Verfolgungsbehörden schwer greifbar, kaum eine dem rechtsautonomen Spektrum zugehörige Gruppierung ist auf der Liste der verbotenen Organisationen.136 Anders als bei den Linksautonomen ist diese lose Struktur bzw. die
Ablehnung des Führerprinzips nicht weltanschaulich bedingt, sondern strategischer
und taktischer Natur.137 Diese Autonomie wirkte sich auch auf das Erscheinungsbild der
Aktivisten aus: Anders als noch bei den Skinheads besteht kein Dresscode; Kapuzenpullover, Baseballcaps und lange Haare sind keine Seltenheit: „Auf was für Klamotten
du stehst oder wie du deine Haare gern trägst, ist für den politischen Kampf nicht von
Bedeutung.“138 Auf dieser Grundlage ist es für rechtsorientierte Jugendliche attraktiver
als in Parteien oder Kameradschaften, selbst aktiv zu werden. Das häufig in Subkulturen
vorkommende DoItYourselfPrinzip (z. B. Plakate, Aufkleber) wird aufgegriffen, um den
Rechtsextremismus in einer dem Mainstream entgegengesetzten und rebellischen Art
132
133
134
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138
Tomas Sager, Freund oder Feind? Das widersprüchliche Verhältnis von ,Autonomen Nationalisten’, NPD und neonazistischer Kameradschaftsszene, in: Schedler/Häusler (Hrsg.), Autonome Nationalisten, S. 105–120, hier S. 110.
Gramsci, Gefängnishefte 1, S. 109.
Altermedia Deutschland, Wie organisieren wir den Widerstand, 21.10.2012, [http://altermedia-deutschland.info/
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Gramsci, Gefängnishefte 1, S. 177.
Bundesamt für Verfassungsschutz, Rechtsextremismus: Symbole, Zeichen und verbotene Organisationen, o. D.
(2014), [http://www.verfassungsschutz.de/embed/broschere-2014-03-rechtsextremismus-symbole-zeichen-und
-verbotene-organisationen.pdf ], eingesehen 19.2.2015.
Baron, Selbstverständnis, S. 442 f.
Internet Archive, Autonome Nationalisten – Wolfenbüttel/Salzgitter, 26.2.2013, [http://web.archive.org/web/
20130226203436/http://www.an-wfsz.info/?page_id=1771], eingesehen 19.2.2015.
102
Der Nazis neue Kleider
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vor allem Jugendlichen schmackhaft zu machen. Sie propagieren „ein Konzept des politischen Partisanen, welcher sich anonym in der Gesellschaft bewegt“.139
Die AN verbreitern somit das rechtsextreme Angebot mit einem jugendaffinen und
modernen Anstrich, die Ideologie ist dennoch deutlich rückwärtsgewandt. Ideologisch beziehen sie sich auf die Nationalrevolutionäre der 1920er- und 1930er-Jahre,
auf Ernst von Salomon, Ernst Niekisch, die Gebrüder Strasser und den jungen Joseph
Goebbels.140 Damit greifen sie eher den Linken angeheftete Themen wie Kapitalismusund Globalisierungskritik auf und verbinden sie mit völkisch-nationalistischen Positionen.141 „Gegen Staat und Kapital“, „Die Globalisierung stoppen“ oder „Für Umwelt-/Tierschutz“ lauten z. B. einige ihrer Forderungen.142 Obwohl Anglizismen in rechtsextremen
Kreisen weiterhin verpönt sind, werden sie von den AN dennoch verwendet: Slogans
wie „Fight the system“ sowie „Capitalism Kills“ wurden eins zu eins übernommen,143 „Good
Night White Pride“ aus der Hardcore/Punk-Szene werden zu „Good Night Left Side“.144
Aus der „Antifaschistischen Aktion“ wurde „Nationale Sozialisten Bundesweite Aktion“
samt der typischen Antifafahne145 und sogar das linke Idol Che Guevara wurde für ihre
Zwecke instrumentalisiert.146 Waren kunstvoll gestaltete Graffiti eher dem linken bzw.
alternativen Spektrum zuzuordnen, tauchten in jüngster Zeit auch Graffiti mit neonazistischen Botschaften147 auf.
Abbildung 1: Ein rechtsexremer Schwarzer Block
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140
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144
145
146
147
Internet Archive, Autonome Nationalisten – Wolfenbuttel/Salzgitter, 26.2.2013, [http://web.archive.org/web/
20130226203436/http://www.an-wfsz.info/?page_id=1771], eingesehen 19.2.2015.
Baron, Selbstverständnis, S. 443.
Ebd.
Blog: Autonome Nationalisten Stormarn, Autonome Nationalisten Stormarn, 30.10.2010, [http://logr.org/anstormarn/], eingesehen 20.2.1015.
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Suermann, Rebel, S. 444.
Wamper/Sturm/Häusler, Selbstbedienungsladen, S. 297.
Baron, Selbstverständnis, S. 446.
Blog: Straßenkunst.info, Startseite, o. D., [http://logr.org/strassenkunst/index.html], eingesehen 21.1.2015.
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Tobias Leo
103
Abbildung 2: Die Aneignung des AntifaLogos
Abbildung 3: Rechtsextremes Graffito in Braunschweig
Nach diesem Schema wird versucht, nahezu die gesamte linke Symbolwelt zu vereinnahmen, sie „schließen an popularisierte Ausdrucksformen an, um hegemoniale Deutungshoheit zu erlangen“.148 Dies versuchen sie „indem sie neue Termini einführ[en],
bereits gebräuchliche Termini mit neuem Inhalt anreicher[n], Metaphern erschaff[en],
sich historischer Namen bedien[en]“.149 Teilweise wurde versucht, Querfronten mit
linksradikalen Aktivisten zu bilden, indem „die positiven Elemente aus der antideutschen Linken und der kapitalistischen Rechten heraus[gebrochen]“150 werden. Nicht
umsonst wird häufig das Symbol des nationalrevolutionären Flügels, Hammer mit
148
149
150
Wamper/Sturm/Häusler, Selbstbedienungsladen, S. 298.
Gramsci, Gefängnishefte 1, S. 92.
Autonome Nationalisten Mecklenburg & Pommern, Wofür trittst du ein? 8 Fragen an einen nationalen Sozialisten,
o. D., [http://logr.org/anmup/2013/09/20/wofuer-trittst-du-ein-8-fragen-an-einen-nationalen-sozialisten/], eingesehen 20.2.2015.
104
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Schwert, verwendet.151 Das soll die Einheit zwischen Soldaten und Arbeitern darstellen, denn die AN verstehen sich als politische Soldaten, etwa nach dem Vorbild der SA.
Zusammenarbeit in Form einer Querfront als historisches Vorbild gab es z.B. bereits
1932, als die KPD und die NSDAP gemeinsam bei den Berliner Verkehrsbetrieben streikten: Walter Ulbricht und Joseph Goebbels hielten auf derselben Massenkundgebung
eine Rede.152 In der jüngeren Geschichte kam jedoch eine derartige Zusammenarbeit
bis dato noch nicht vor.153 Dennoch ist die Übernahme linker Aktionsformen, Begriffe
und Symbole für sich gesehen bereits eine Art der Querfrontstrategie. Deutlich wurde
dies auch bei der Bildung von Schwarzen Blöcken im Zuge von Demonstrationen nach
dem Vorbild von linksextremen Aktivisten,154 was die Zuordnung zu einem gewissen
Spektrum schwierig macht. Die AN sehen ihren Einsatz von Gewalt gegen ihre Feinde
als „sinnvoll“155 an, Linksautonome würden dagegen für „‚sinnlose‘ Gewalt und Zerstörung, meist durch Einfluss von Drogen und Alkohol“156 stehen. Auch auf die Erfahrungen der Gegenseite bei Demonstrationen wird zurückgegriffen: „Die Videos sind zwar
von der Antifa, für uns allerdings genauso aktuell.“157
Ein weiterer Aspekt ist die sogenannte „Anti-Antifa-Arbeit“ bzw. „Feindaufklärung“: Aktivitäten von Linken sowie missliebigen Journalisten und Politikern werden dokumentiert und deren Daten gesammelt. „Das Ziel ist, den Widerstand gegen die Aktivitäten
der Linkskriminellen zu fördern“,158 heißt es dazu auf der Seite „Sicherheitshinweise für
Nationalisten“. Das soll im Endeffekt dazu dienen, Gegner ausfindig zu machen und
einzuschüchtern. Häufig werden die Daten sowie Bilder dieser Personen im Internet
veröffentlicht, ein Beispiel ist die Webpräsenz der „Freien Kräfte – Schwarzwald-BaarHeuberg“, die nicht davor zurückschrecken, Daten von minderjährigen Jugendlichen
zu veröffentlichen.159 Die AN sind eine eigene rechtsextreme Subkultur, die Jugendlichen eine modern anmutende und aktionsorientierte Erlebniswelt mit ästhetischem
Charakter anbieten. Diese Erlebniswelt erstreckt sich nicht nur auf die Straße, sondern
auch auf die virtuelle Welt, wie im nächsten Kapitel verdeutlicht wird.
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158
159
Freie Nationalisten Siegerland, Nationale „Recht-auf-Zukunft“ – Demonstration in Recklinghausen, 1.12.2009, [htt
ps://fnsi.wordpress.com/2009/12/01/nationale-%E2%80%9Erecht-auf-zukunft-demonstration%E2%80%9C-inrecklinghausen/], eingesehen 21.1.2015.
Baron, Selbstverständnis, S. 448.
Suermann, Rebel, S. 179.
Baron, Selbstverständnis, S. 446.
Blog: AN Ostfriesland, Über uns.
Suermann, Rebel, S. 444.
Blog: Autonome Nationalisten Ostfriesland, Nützliches, o.D., [http://logr.org/leerostfriesland/nutzliches/], eingesehen 16.2.2015.
Sicherheitshinweise für Nationalisten, Recherche gegen Linkskriminelle, o. D., [http://www.s-f-n.org/allgemeinehinweise/anti-antifa-recherchen/2.html], eingesehen 21.1.2015.
Freie Kräfte – Schwarzwald-Baar-Heuberg, Kampf gegen Phantom-Gewalttäter in Villingen-Schwenningen,
22.1.2012, [http://fk-sbh.net/2012/01/kampf-gegen-phantom-gewalttater-in-villingen-schwenningen/], eingesehen 21.1.2015.
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105
Propaganda im Internet
„Das World Wide Web ist ein Schaufenster des deutschen und internationalen
Rechtsextremismus“,160 schrieb Thomas Pfeiffer 2009. Neben den Aktionen auf der Straße und bei Demonstrationen ist das Internet das wohl wichtigste Propagandainstrument. Das beschränkt sich nicht nur auf AN, sondern auf die gesamte rechtsextreme
Szene. Diese erkannte früh die Möglichkeiten des Internets: Bereits Mitte der 1990er,
als das Internet noch kein Massenphänomen war, verbreitete sie darin ihre Botschaften
in Form des Thule-Netzes.161 Damals wie heute hat das Internet eine hohe Attraktivität,
um Botschaften zu verbreiten und diese gleichzeitig einer immer größer werdenden
virtuellen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Heute besteht ein beinahe grenzenloses Angebot an Webseiten mit rechtsextremen Inhalten. Allerdings herrscht bei diesen
Seiten eine beträchtliche Fluktuation, d.h. sie sind aus unterschiedlichsten Gründen –
etwa aus taktischen oder strafrechtlichen – oft nur sehr kurzzeitig verfügbar. Dennoch
haben sie sich in den wichtigsten Plattformen wie Youtube, Facebook oder Twitter
dauerhaft festgesetzt und somit kommt eine breite Öffentlichkeit mit den entsprechenden Inhalten in Berührung.
Daneben besteht eine regelrechte Parallelwelt samt eigenen sozialen Netzwerken,
Blogportalen sowie Nachrichtenseiten. Mit Metapedia existiert sogar eine rechtsextreme Online-Enzyklopädie nach dem Vorbild von Wikipedia. Diese ist voll mit rassistischen, geschichtsrevisionistischen sowie sonstigen menschenverachtenden und verhetzenden Inhalten.162 Es wird versucht, eine Gegenhegemonie im virtuellen Raum zu
erreichen, mit dem Ziel, vom rechten Rand aus in die Mitte der Gesellschaft zu agitieren. In diese Parallelwelt sind die AN fest eingebunden, so dient ihnen „logr.org“ als die
Blogplattform, gemacht von und für Neonazis – zahlreichen AN-Gruppierungen dient
sie als Webpräsenz. Es ist kein Zufall, dass die Seite auf einem US-amerikanischen Server betrieben wird,163 um so dem deutschen Strafrecht zu entgehen. „Meinungsfreiheit
ist Menschenrecht“164 lautet es auf der Startseite, dadurch wird bereits der selbstinszenierte Opferstatus angedeutet. Allerdings nimmt der Anteil an strafrechtlich relevanten
Inhalten ab, sie bewegen sich mehr und mehr am Rande des Erlaubten.165 Meist ist aus
den Erklärungen die Ablehnung von sozialdarwinistischen Positionen zu entnehmen,
dafür rücken Ethnopluralismus bzw. Ethnozentrismus verbunden mit völkisch-nationalistischen, antikapitalistischen und globalisierungskritischen Positionen ins Zentrum.166
160
161
162
163
164
165
166
Thomas Pfeiffer, Virtuelle Gegenöffentlichkeit und Ausweg aus dem „rechten Ghetto“. Strategische Funktionen
des Internets für den deutschen Rechtsextremismus, in: Braun/Geilser/Gerster (Hrsg.), Strategien, S. 290–307, hier
S. 290.
Thomas A. Wetzstein/Hermann Dahm/Linda Steinmetz, Datenreisende. Die Kultur der Computernetze, Opladen
1995, S. 147–170.
Metapedia, Willkommen bei Metapedia, o. D., [http://de.metapedia.org/wiki/Hauptseite], eingesehen 23.2.2015.
Logr Bloghosting, Impressum, o. D., [http://logr.org/impressum/], eingesehen 23.2.2015.
Logr Bloghosting, Startseite, o. D., [http://logr.org/], eingesehen 23.2.2015.
Pfeiffer, Gegenöffentlichkeit, S. 306.
Autonome Nationalisten Göppingen, Autonom?, o. D., [http://angp.demo-goeppingen.org/autonom/], eingesehen 24.2.2015.
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„In ganz Europa gibt es die selben Probleme! Überfremdung, Kapitalismus, Arbeitslosigkeit….die Völker Europas sterben. […] Die freien Völker Europas, ja
selbst die freien Völker im nahen [sic!] Osten und Asien haben alle den selben
Feind.“167
Darüber hinaus bestehen zahlreiche Webshops für Flugblätter, Plakate, Kleidung, Musik und dergleichen, z.B. die Versandfirma „Antisem Versand“ mit der bezeichnenden
Adresse „antisem.it“.168 In zynischer Weise wird hier „Für Demokratie und Toleranz :D“169
geworben. Es verwundert nicht, dass der Versand in Dortmund ansässig ist, einer der
Hochburgen für Autonome Nationalisten.170 Außerdem ist der Betreiber Michael Brück
Mitglied in der Partei „Die Rechte“, einem Sammelbecken der AN.171
Ähnlich wie im realen Leben wird im Internet auf mittlerweile professionell gestalteten
Seiten eine ästhetische und interaktive Erlebniswelt angeboten, die mit audiovisuellen
Inhalten angefüttert ist – der Rechtsextremismus ist längst im Web 2.0. angekommen.
Auf die Verwendung von Frakturschrift wird anders als noch bei den Kameradschaften bewusst verzichtet, stattdessen wird eine moderne, oft dem Graffitistil entlehnte
Schrift verwendet. In aufwändig gestalteten Videos, meist mit dramatisch-orchestraler
oder rockiger Musik untermauert, werden Aktionen dokumentiert bzw. es wird zu Aktionismus aufgerufen. Im Video „Werde unsterblich“ ziehen weiß maskierte Aktivisten
mit Fackeln nachts durch Bautzen.172 Die Ähnlichkeit mit der Anonymous-Bewegung
liegt auf der Hand. Durch geschickte Kameraführung, Schnitt und Bearbeitung wird der
Eindruck erweckt, es handle sich um eine riesige Masse von Demonstranten, die Untermalung mit theatralischer Musik verstärkt den Eindruck zusätzlich. Mit dem Slogan
„Damit die Nachwelt nicht vergisst, dass du Deutscher gewesen bist!“173 wird zum Aktivismus aufgerufen. Mit fast 160.000 Aufrufen kann angenommen werden, dass dieses
Video eine gewisse Breitenwirkung nicht verfehlt hat.
Durch die jugendaffine Gestaltung der Webseiten wird eine progressive, neue und
dynamische Jugendbewegung dargestellt, wobei die Umsetzung von gezielten und
öffentlichkeitswirksamen Aktionen sowie der Erlebnischarakter klar im Vordergrund
stehen. Die Vermittlung und Verfestigung von Ideologie schwingt im Hintergrund mit
– ähnliches war bereits bei den Skinheads der Fall. In Gramscis Sinne setzen sie auf
„ein[en] Geist der Abspaltung, der bestrebt sein muss, sich von der protagonistischen
Klasse auf die potentiell verbündeten Klassen auszuweiten“174. Die potentiell verbündeten Klassen stellen in diesem Fall die gesamte Öffentlichkeit, aber vor allem die Ju-
167
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171
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174
Autonome Nationalisten Ostfriesland, Auf auf ins neue Kampfjahr 2010!, 2.1.2010, [https://logr.org/leerostfriesland/2010/01/02/auf-auf-ins-neue-kampfjahr-2010/], eingesehen 28.3.2016.
Antisem Versand, Startseite, o. D., [http://www.antisem.it/], eingesehen 24.2.2015.
Ebd.
Sager, Freund, S. 111.
Die Rechte, Landesverband NRW gegründet, 16.9.2012, [http://die-rechte.com/landesverband-nrw-gegruendet/], eingesehen 15.2.2015.
Youtube LLC, PatrioticTrailerAct, Werde Unsterblich – Demonstration in Bautzen, 2.5.2011, [https://www.youtube.
com/watch?v=bkU6KTjLTYU], eingesehen 24.2.2015.
Ebd.
Gramsci, Gefängnishefte 2, S. 374.
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107
gend dar. Die elektronischen Sturmtruppen sind auf dem Vormarsch und als ständige
Begleiterin und sozusagen als Soundtrack dazu dient die rechtsextreme Musik.
Die Rolle der Musik
Rechtsrock
War die Berichterstattung außerhalb der Skinheadszene das wichtigste Medium für
das Bild, das in der Öffentlichkeit herrscht, so war die Musik das bedeutendste Medium innerhalb der Subkultur. Rechtsrock bezeichnet kein eigenes Musikgenre, sondern
„lediglich eine Klassifizierung für den politischen Inhalt der Lieder“.175 Auch die Bandbesetzungen, meist Schlagzeug, Bass, Gitarre und Gesang, sowie die Spielart unterscheiden sich keineswegs von nichtrechten Genrevertretern. Dennoch bezeichnen Christian Dornbusch und Jan Raabe rechtsextreme Musik, die aus dem Oi!- bzw Streetpunk
hervorgegangen ist, als klassischen Rechtsrock.176 Skrewdriver veröffentlichten ab 1985
ihre Alben beim rechtslastigen deutschen Plattenlabel Rock-o-Rama.177 Wie vorher
schon angedeutet, sollten die Böhsen Onkelz, die wohl umstrittenste Band Deutschlands, bald einen mindestens gleichwertigen Status als Kultband einnehmen. Doch
schon vorher hatte „die Oi!-Szene […] das Brandmal einer Marschmusik für Nazis und
Rassisten verpasst bekommen“.178
Die Böhsen Onkelz standen seit 1984 bei Rock-o-Rama unter Vertrag.179 Die vier Musiker
aus Frankfurt begannen Ende der 1970er als pubertierende Punks und entwickelten
sich zunächst zur bedeutendsten Skinheadband im deutschsprachigen Raum.180 Ähnlich wie Skrewdriver hatten sie eine Vorbild- und Idolfunktion. Sie galten als erste wirkliche deutsche Rechtsrockband. Die Lieder wurden von nun an auf Deutsch gesungen,
die ausschließliche Orientierung an England rückte in den Hintergrund. Zwei Lieder
auf Demotapes, die jedoch nie auf einem Album veröffentlicht wurden, brachten der
Band bis heute ein rechtsextremes Image ein. Das Lied „Türken raus“181 entstand noch
in ihrer Punkphase. Sowohl Farin und Seidel-Pielen als auch Richter sehen hier noch
keinen politischen Hintergrund, sondern diffusen pubertären Hass.182 Trotzdem gilt
es als richtungsweisend für den deutschen Rechtsrock, da erstmals offen Ausländerhass in einem Lied propagiert wurde. In „Deutschland den Deutschen“,183 das bereits
175
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178
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182
183
Christian Dornbusch/Jan Raabe, RechtsRock, in: Forschungsjournal NSB 19 (2006), Heft 2, S. 47–52, hier S. 47.
Ebd.
Aschwanden, Rechtsextremismus, S. 157.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S .99.
Stefan Richter, „Gehasst – Verdammt – Vergöttert“. Das Phänomen der ehemaligen Skinhead-Kultband „Böhse
Onkelz“ und ihre Bezüge zum Rechtsextremismus, in: Herbert Kloninger (Hrsg.), Rechtsextremismus als Gesellschaftsphänomen. Jugendhintergrund und Psychologie, Brühl 2006, S. 110–189, hier S. 113, [http://edoc.vifapol.
de/opus/volltexte/2009/1249/pdf/band_27.pdf ], eingesehen 15.1.2015.
Bredel, Skinheads, S. 258.
Youtube LLC, miralis dhiskoloss, Böhse Onkelz – Türken Raus, 19.4.2008, [https://www.youtube.com/
watch?v=vJRtyu6xlw8], eingesehen 15.1.2015.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 80 f.; Richter, Gehasst, S. 118–120.
Youtube LLC, Kanal von XxxjohndeerexxX, Böhse Onkelz – Deutschland den Deutschen HQ (demo-album),
2.2.2012, [https://www.youtube.com/watch?v=gYpfUlnTNR8], eingesehen 15.1.2015.
108
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in der Skinheadphase entstand, mussten Ausländer für das Fehlen von Perspektiven
herhalten:
„Deutschland versinkt in Schutt und Dreck, und ihr, ihr Schweine, ihr seht einfach weg. […] Lange genug habt ihr mit angesehn, wie unsere Städte zugrunde gehen! […] Skinhead ist Zusammenhalt gegen euch und eure Kanakenwelt! Deutschland den Deutschen!“184
Damit drückten sie aus, was sich viele Skins damals dachten, sie waren sozusagen das
Sprachrohr der Szene. Das 1984 erfolgreich erschienene Debutalbum „Der nette Mann“,
das bei Rock-o-Rama erschien, erlangte bald Kultstatus bei rechtsextrem orientierten
Skinheads. Ein Grund ist sicherlich die Indizierung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) im Jahr 1986,185 das Verbotene hat bekanntlich immer
seinen besonderen Reiz. Auf dem Album waren keine eindeutig neonazistisch motivierten Stücke zu hören, dennoch schwingt bei „Deutschland“186 eine gehörige Portion
Nationalismus mit: „Den Stolz, deutsch zu sein, wollen sie dir nehmen, das Land in den
Dreck ziehen, deine Fahne verhöhnen. Doch wir sind stolz, in dir geboren zu sein, wir
sind stolz drauf, Deutsche zu sein.“187 Aber ebenso distanzierten sie sich in diesem Lied
von der Zeit der Nazi-Diktatur: „Auch zwölf dunkle Jahre in deiner Geschichte machen
unsere Verbundenheit zu dir nicht zunichte. […] Schwarz-Rot-Gold, wir stehn‘ zu dir!“188
Trotzdem stellte dieser offene Nationalismus einen Tabubruch in der deutschen Musikszene dar,189 interessanterweise wurde dieses Lied aber von der BPjS nicht indiziert.190
Sehr ambivalent ist auch der Refrain zu „Frankreich ‘84“ zu bewerten: „Ja, wir sehn uns
in jedem Fall, im Sommer ‘84 beim Frankreichüberfall“.191 War dies eine Anspielung auf
Hitlers Überfall auf Frankreich, war es bewusste Provokation oder hatte dies nur mit der
Hooliganszene bezüglich der Fußballeuropameisterschaft 1984 zu tun? Die BPjS hatte
dieses Stück als neonazistisch eingestuft und indiziert. Stefan Richter sieht es hingegen als überbewertet, da der Hintergrund zur Hooliganszene zu wenig berücksichtigt
wurde,192 Farin und Seidel-Pielen bezeichnen das Urteil als „surrealistisch“.193 Jedenfalls
untermauerten Lieder dieser Art sowie die Indizierung des Albums das rechtsextreme
Image der Band. Nach „Der nette Mann“ orientierte sich Rock-o-Rama fast ausschließlich nach rechts und wurde in weiterer Folge zum bedeutendsten und größten Plattenlabel für rechte Musik.194 Und die Böhsen Onkelz müssen sich auch einen weiteren
Vorwurf gefallen lassen: Im Jahr 1985 spielten sie ein großes Konzert zusammen mit
184
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191
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194
Youtube, Böhse Onkelz – Deutschland den Deutschen.
Bredel, Skinheads, S. 259 f.
Youtube LLC, 19Thunder90, Böhse Onkelz – Deutschland, 4.8.2012, [https://www.youtube.com/watch?v=tCq
GceIhvjw], eingesehen 15.1.2015.
Ebd.
Ebd.
Richter, Gehasst, S. 130.
Bredel, Skinheads, S. 262.
Youtube LLC, Lukas Martin Hopfner, Böhse Onkelz – Frankreich ‘84, 25.2.2008, [https://www.youtube.com/
watch?v=PfKyn1I1u8o], eingesehen 16.1.2015.
Richter, Gehasst, S. 125–127.
Farin/Seidel-Pielen, Skinheads, S. 87.
Richter, Gehasst, S. 113.
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der ultrarechten Band Kraft durch Froide in deren Proberaum, dem KdF-Bunker.195 Dabei
schienen Sieg-Heil-, Deutschland-den-Deutschen- und Ausländer-Raus-Rufe die Band
ebenso wenig zu stören wie die Hitlergrüße aus dem Publikum.196
Als die rechtsextemen Auswüchse zunahmen und neonazistische Gruppierungen immer mehr Einfluss gewannen, stiegen sie 1986 aus der Szene aus, kurz nachdem zwei
Türken in Hamburg von Skinheads umgebracht wurden.197 In weiterer Folge beendeten sie die Zusammenarbeit mit Rock-o-Rama. Die Haare wuchsen auf Schulterlänge
und auch musikalisch orientierten sie sich von nun an in Richtung Heavy Metal. In
Interviews und Liedern distanzierten sie sich mehrfach vom Rechtsextremismus, dennoch wurden sie von Seiten der Medien entweder nicht beachtet oder die Glaubwürdigkeit der Band wurde in Frage gestellt.198 Folglich boykottierten sie seitdem bis auf
wenige Ausnahmen jegliche Medien, was sich in zahlreichen Liedtexten widerspiegelt,
z.B. „Was glaubt ihr zu wissen, was glaubt ihr, wer wir sind? Ihr habt jahrelang gelogen,
die Presse stinkt!“.199 Im Grunde schlachteten die Medien ihren schlechten Ruf aus und
lieferten ihnen andererseits vielfach Inspiration für neues Liedmaterial – eine erfolgreiche Symbiose, die von einer tiefen beiderseitigen Ablehnung gekennzeichnet ist.
Derartige pressekritische Texte lassen die Band – ob gewollt oder nicht – jedoch wieder auf die rechte Seite rücken: Der Vorwurf der Lügenpresse ist nicht neu und charakteristisch für rechtsextreme Gruppierungen. Gerade die jüngste Vergangenheit zeigt
das anhand der Pegida-Demonstrationen.
In rechtsextremen Kreisen sind die Böhsen Onkelz zu großen Teilen verhasst. Andererseits wird der Mythos dennoch am Leben gehalten, um die große Bekanntheit der
Band als Zugpferd für rechtsextreme Zwecke zu missbrauchen.200 Die Selbstinszenierung als ewige Außenseiter und Unterdrückte deckt sich mit vielen Ansichten des
rechtsextremen Spektrums. Mit Textpassagen wie „Mit scheinheiligen Liedern erobern
wir die Welt“201 spielen sie bewusst mit ihrer Vergangenheit und halten dabei ihren polarisierenden Status hoch. Im Endeffekt sind sie Medienprofis ohne Medien, die eben
durch die Instrumentalisierung ihrer umstrittenen Vergangenheit zu einer der erfolgreichsten deutschen Bands aufgestiegen sind. Nach Jahren massiver Kritik mehrten
sich die Stimmen, die Band nicht mehr zu isolieren und gegen Rechts einzusetzen. So
auch Patrick Orth, der aus dem Umfeld der Toten Hosen stammt, die zu den größten
Kritikern der Böhsen Onkelz zählen:
„Heute haben sie für mich eine wichtige Sozialarbeiter-Funktion, indem sie
Teenager-Dumm-Prolls, die politisch auf der Kippe stehen, sagen können: ‚Wir
195
196
197
198
199
200
201
Youtube LLC, Kanal von Kautzmusik, Böhse Onkelz – Bunkerskins – Live in Berlin 1985 Komplett, 10.7.2013, [https://www.youtube.com/watch?v=nGuKNl1Hy_A], eingesehen 16.1.2015.
Ebd., 5:47–6:31.
Bredel, Skinheads, S. 263.
Richter, Gehasst, S. 115.
Youtube LLC, Frei.Onkel, Böhse Onkelz – Fahrt zur Hölle |+Text, 1.7.2014, [https://www.youtube.com/watch?v
=XY9VhYDKmPg], eingesehen 12.2.2015.
Richter, Gehasst, S. 150–156.
Youtube LLC, Midgard, BÖHSE ONKELZ – Heilige Lieder, 23.2.2009, [https://www.youtube.com/watch?v=Qv4f
kiLnIDk], eingesehen 12.2.2015.
110
Der Nazis neue Kleider
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waren früher wie Ihr [sic!]. Aber wir können Euch [sic!] heute sagen, dass dieser ganze Nazi-Kram totaler Schwachsinn ist. Wir haben den Fehler gemacht.
Macht Ihr [sic!] ihn nicht auch!‘“202
Das kann funktionieren, aber ebenso gefährlich sein, da schnell eine Brücke zur Vergangenheit geschlagen werden kann.
Der Ausstieg der Band aus der rechtsextremen Skinheadszene hinterließ eine große
Lücke, aber schon bald schossen Bands aus dem Boden, die die Böhsen Onkelz als Chorknaben dastehen ließen. Häufig sind diese Bands schon am Namen erkennbar, wie die
bereits erwähnten Kraft durch Froide oder Radikahl, Hassgesang, Oithanasie, Komman
do Freisler und Stahlgewitter. Viele dieser Gruppen sehen sich selbst als Skinheads. Vor
allem seit 1990203 wird vielfach ganz offen der historische Nationalsozialismus angepriesen, der Holocaust geleugnet sowie gegen Ausländer und Linke gehetzt. „Mächtig
sind seine Schwingen, die Krallen scharf wie Klingen, wie unser Stolz bleibt er auf ewig
unbesiegt, auf dass des Reiches Adler endlich wieder fliegt“204 von Stahlgewitter ist nur
eines der zahlreichen Beispiele. Landser, eine der extremsten Bands, scheuen nicht davor zurück, zu Gewalt und Mord aufzurufen: „Irgendwer wollte den Niggern erzählen,
sie hätten hier das freie Recht zu wählen. Recht zu wählen das haben sie auch, Strick
um den Hals oder Kugel in den Bauch.“205 Nicht umsonst wurde die Band 2003 als kriminelle Organisation eingestuft und verboten.206
Nach der deutschen Wiedervereinigung boomte das Geschäft mit rechtsextremer
Musik, speziell in den neuen Bundesländern.207 Das erkannte auch die NPD: Um die
Jahrtausendwende begann sie verstärkt, Rechtsrockbands auf den Parteiveranstaltungen Auftrittsmöglichkeiten zu geben.208 Die Verflechtung zwischen Partei und Musikern wurde immer enger, so ist z.B. Michael Regener, der Bandleader von Landser,
selbst NPD-Mitglied.209 Durch diese Liaisonen entstanden ab 2004 die sogenannten
Schulhof-CDs, zunächst aus dem Umkreis der Freien Kameradschaften, die NPD legte
noch im selben Jahr nach.210 Diese speziell auf Heranwachsende zugeschnittenen Materialien wurden nicht nur auf Schulhöfen und Jugendtreffs verteilt, sondern auch im
Internet kostenlos zum Download angeboten.211 Damit wird von rechtsextremer Seite
202
203
204
205
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208
209
210
211
Die Toten Hosen, Patrick Orth, März 2005, [http://www.dietotenhosen.de/band/freunde-des-hauses/patrickorth], eingesehen 12.1.2015.
Bredel, Skinheads, S. 270 f.
Youtube LLC, WiderstandMusik, Stahlgewitter – Auf das der Adler wieder fliegt [HQ], 18.9.2014, [https://www.
youtube.com/watch?v=ipcSAZDR31M], eingesehen 12.2.2015.
Ebd., DK Snopy, Landser – Niemals, 29.11.2014, [https://www.youtube.com/watch?v=puDO8nypFfM], eingesehen 12.2.2015.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22. April 2003, 22.4.2003, [http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/recht
sprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=26144&pos=0&anz=1], eingesehen 5.2.2015.
Aschwanden, Rechtsextremismus, S. 144 f.
Langebach/Raabe, Freizeit, S. 166 f.
Ebd., S. 172.
Thomas Pfeiffer, Erlebniswelt Rechtsextremismus. Menschenverachtung mit Unterhaltungswert, in: Caroline Y.
Robertson-von Trotha (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland und Europa. Rechts außen – Rechts ‚Mitte‘?
(Kulturwissenschaft interdisziplinär 7), Baden-Baden 2011, S. 117–131, hier S. 121 f.
Hans Peter Killguss/Jan Schedler, Jugendarbeit der extremen Rechten und das Beispiel PRO KÖLN und PRO NRW,
in: Alexander Häusler (Hrsg.), Rechtspopulismus als „Bürgerbewegung“. Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien, Wiesbaden 2008, S. 129–151, hier S. 132 f.
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111
versucht, speziell junge, ungefestigte Menschen für sich zu gewinnen. Dafür eignet
sich gerade Musik hervorragend als Eintrittstor in die Szene.
Nicht nur harte, rockige Titel sind auf den Samplern vorhanden, sondern auch emotionsgeladene Balladen. Musik hat als Propagandawaffe den Vorteil, dass die vermittelten Botschaften umso mehr wirken, je öfter sie gehört werden. Herkömmliche Parteiwerbung landet dagegen schnell mal im Papierkorb. Dabei wurde seit dem Verbot des
deutschen Ablegers von B&H im Jahr 2000212 vermehrt darauf geachtet, nur mehr bis
an die Grenze zur Legalität zu gehen.213 Der Reiz des Verbotenen, des Tabubehafteten
schwingt hier aber trotzdem mit. Zusätzlich hat sich die Qualität der Musik stark erhöht,
dumpf und stümperhaft produzierte Aufnahmen gehören eher der Vergangenheit an.
Besonders erfolgreich waren diese Veröffentlichungen wie schon nach der Wiedervereinigung im Osten Deutschlands.214
Abseits der Tonträger bieten die konspirativen Rechtsrockkonzerte eine für Jugendliche spannende Abenteuerwelt, angefangen vom Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei
zum geheimen Veranstaltungsort bis zum gemeinsamen Gruppenerlebnis mit gröhlenden Gleichgesinnten samt Hitlergruß. Armin Pfahl-Traughber spricht der Musik eine
Mobilisierungs-, Integrations- und Politisierungsfunktion zu.215 Rechtsrock ist eines der
wichtigsten Medien der rechtsextremen Agitation, ihren Ausgangspunkt hatte sie in
der rechtsextremen Skinheadbewegung, in der die Musik zentral ist. Die Bandbreite
der musikalischen Stilrichtungen rechtsextremer Musik wurde genau wie die rechtsextreme Jugendkultur im Allgemeinen heterogener, laut Martin Langebach und Jan
Raabe ist daher berechtigterweise von „Plural anstatt Singular“216 zu sprechen.
Jenseits des klassischen Rechtsrocks
Wie schon angedeutet bewegt sich rechtsextreme Musik nicht nur innerhalb des
klassischen Rechtsrocks, sondern es wird zunehmend versucht, andere Musikstile zu
‚entern‘. Seit Anfang der 1990er etablierte sich die rechtsextreme Liedermacherszene,
der Impuls dazu kam wieder aus England und zwar von Ian Stuarts countrylastigen
Nebenprojekten.217 Die bekanntesten deutschen Protagonisten sind das NPD-Mitglied
Frank Rennicke und Anett Müller. Letztere verzeichnete mit dem Lied „Wir hassen
Kinderschänder“218 einen Hit auf Youtube, was die Zahl von 1.363.919 Aufrufen bestätigt. Wieder kann angenommen werden, dass nicht nur Zugriffe aus dem rechtsext212
213
214
215
216
217
218
Jan Raabe/Martin Langebach, Jugendkulturelle Dynamik – Vom Hardcore über den NSHC zu den ‚Autonomen
Nationalisten‘, in: Schedler/Häusler, Autonome Nationalisten, S. 154–166, hier S. 164.
Senatsverwaltung für Inneres und Sport Berlin, Rechtsextremistische Musik, o. D. (Dezember 2012), S. 10, [http://
www.berlin.de/imperia/md/content/seninn/verfassungsschutz/musik_brosch__re_online.pdf?start&ts=135583
7361&file=musik_brosch__re_online.pdf ], eingesehen 13.2.2015.
Killguss/Schedler, Jugendarbeit, S. 133 f.
Armin Pfahl-Traughber, Politisches Selbstverständnis und Gewaltorientierung rechtsextremistischer Skinheads –
Eine Fallstudie zu den Tonträgern der Band „Landser“, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 13 (2001), S. 169–182,
hier S. 170.
Langebach/Raabe, Freizeit, S. 167.
Ebd., S. 176.
Youtube LLC, skhldfl, Annett – WIR HASSEN KINDERSCHÄNDER, 16.2.2008, [https://www.youtube.com/watch?v=
Idu3kB8_r90], eingesehen 26.2.2015.
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remen Spektrum erfolgt sind. Zwar enthält dieses Lied keine explizit rechtsextremen
Inhalte, jedoch besingt die Liedermacherin in anderen Stücken eindeutig völkischnationalistisch motivierte Inhalte, so z.B.: „Vermischung pur, ist das das Ende vom Lied?
Und es eine Minderheit an Deutschen in Deutschland gibt.“219 Gegen Rennicke ist Müller verhältnismäßig zurückhaltend, denn seine Texte sind voll von geschichtsrevisionistischen Inhalten. Unter anderem glorifiziert er in seinen Liedern Rudolf Hess220 und
Adolf Hitler221, außerdem fordert er in „Schlesien uns von Gott gegeben“222 die alten
Grenzen des Dritten Reichs ein. Rennickes Werke sind durchzogen von der Meinung,
dass die „Legitimität politischer Herrschaft […] nur auf der Grundlage ethnisch homogener Volksgemeinschaften zu erreichen [sei]“.223 Anders als der Rechtsrock klingen
LiedermacherInnen mit ihren oft balladenhaften Songs beim ersten Hinhören relativ
harmlos. Insbesondere Frank Rennicke verwendet oft schon bekannte und eingängige
Melodien in seiner Musik.224 Aber gerade das macht sie gefährlich, zudem dürfte diese
Art von Musik auch ältere Menschen ansprechen.
Im Gegensatz dazu steht der nationalsozialistische Black Metal (NSBM). Black Metal
ist eine der extremsten Spielarten innerhalb des Metals. Charakterisieren lässt sich die
Musik im Allgemeinen durch eine extrem schnelle Spielweise, die mit einer meist unverständlichen kreischenden oder tief gröhlenden Stimme untermalt ist. In diesem
Genre sind misanthropisches, elitäres sowie sozialdarwinistisches Denken weit verbreitet.225 Es existiert kein fest definierbarer bzw. abgrenzbarer rechter Flügel, eher sind
die Übergänge fließend und die Subkultur als Ganzes zu betrachten.226 Der Großteil
von der Szene lehnt die Vermischung von politischen Zielen und der Musik ab, die
Akzeptanz von rechtsextremen Umtrieben ist jedoch bei einer erheblichen Anzahl von
Bands ziemlich hoch.227 Die Texte beziehen sich oft auf „Satanismus, Okkultismus, Krieg
gegen das Christentum und verstärkt nordisch-germanische[n] ‚Artglaube[n]‘“228 – ideale Anknüpfungspunkte für rechtsextreme Ideologien. Vor allem der Black Metal skandinavischer Prägung Anfang der 1990er-Jahre war von rechtsextremen Einstellungen
geprägt229 und bereits Mitte der 1990er breiteten sich am rechten Rand der deutschen
Black Metal-Szene neonazistische Tendenzen230 aus. Die wichtigsten Vertreter der deutschen NSBM-Szene sind laut Dornbusch und Killguss die Gebrüder Hendrik und Ro219
220
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227
228
229
230
Youtube LLC, Kanal von ANBueckeburg, Annett – Zeit, zu rebellieren, 1.11.2011, [https://www.youtube.com/
watch?v=RywJbVwlobY], eingesehen 26.2.2015.
Ebd., pamadere, Frank Rennicke - Rudolf Hess, 14.12.2011, [https://www.youtube.com/watch?v=N-XdeSZghok],
eingesehen 26.2.2015.
Ebd., Michael Wagner, Frank Rennicke – Birthday im April, 19.4.2014, [https://www.youtube.com/watch?v=_cQS
sq-LVro], eingesehen 26.2.2015.
Ebd., Das Reich, Frank Rennicke Schlesien uns von Gott Gegeben Deutsche Musik, 7.6.2014, [https://www.youtu
be.com/watch?v=2IxGNQbsXIY], eingesehen 26.2.2015.
Claus Leggewie, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011,
S. 27.
Langebach/Raabe, Freizeit, S. 177.
Christian Dornbusch/Hans-Peter Killguss, Unheilige Allianzen. Black Metal zwischen Satanismus, Heidentum und
Neonazismus, Münster 2005, S. 9.
Ebd., S. 147.
Ebd.
Langebach/Raabe, Freizeit, S. 181.
Dornbusch/Killguss, Allianzen, S. 36–41.
Ebd., S. 58.
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nald Möbus von der Band Absurd.231 Stellvertretend für viele NSBM-Bands verbinden sie
neogermanisches Heidentum mit nationalsozialistischer Ideologie.
„In den Divisionen Wiking und Nordland waren geeint, unsre Ahnen unerschütterlich für das Reich gegen den Feind. Ihre Ehre die hieß Treue, in den
Adern floss ein Blut […] Ein einig Volk, ein Glaube an uralte Heidenmacht.“232
Es dauerte nicht lange, bis NSBM- und Rechtsrockinterpreten als Brüder im Geiste zusammenfanden. Darüber hinaus haben viele neonazistische Skinheads eine Vorliebe
für die germanische Mythologie.233 Durch diese Berührungspunkte kam es seit etwa
der Jahrtausendwende zu gemeinsamen Auftritten von nationalsozialistischen Black
Metallern und rechtsextremen Skinheadbands.234
Ein etwas neueres Phänomen, zumindest in Deutschland, ist der Nationalsocialist Hard
core (NSHC) oder auch Hatecore. Dem zugrunde liegt der Hardcore, der Anfang der
1980er-Jahre in den USA aus dem Punk heraus entstand.235 Ähnlich wie die Oi!-Bewegung entstand eine Subkultur, die die noch junge Punkbewegung bereits wieder am
Ende sah.236 Der Musikstil des Hardcore ist härter, schneller und aggressiver als Punk,
oftmals auch druckvoller durch die tiefer gestimmten Gitarren. Das DoitYourselfPrin
zip wurde übernommen und bei einem großen Teil der Hardcoreszene besteht eine
„relative Nähe zu radikal linken Positionen“.237
Doch auch bei Skinheads und Neonazis fand diese energiereiche und dynamische Musik Anklang und so entstanden in den USA Ende der 1980er mit den Blue Eyed Devils,
Angry Aryans oder Bound For Glory die ersten NSHC-Bands, die den Hardcoresound sowie deren Habitus adaptierten.238 Dieser Stil wurde etwa Ende der 1990er nach Europa
exportiert und langsam entstanden auch deutsche Bands, die sich dem NSHC zuwandten.239 Musikalisch lassen sich die Bands – auch hinsichtlich einer qualitativ hochwertigen Produktion – außer anhand des Textes kaum mehr von anderen Hardcorebands
unterscheiden, d.h. auch außerhalb der NSHC-Szene kann die Musik Anklang finden.
Die meisten deutschen Bands verfassen ihre Texte auf Englisch, was mitunter auch
Kritik aus der Rechtsrockszene hervorruft,240 jedoch ist die Musik dann noch schwerer
vom üblichen Hardcore zu trennen. Neben der Musik wurden auch Symbole, Kleidung
und sogar Lebenseinstellungen des Hardcore kopiert. Innerhalb der Hardcoreszene
entstanden Strömungen, die – in unterschiedlichem Ausmaß – den Straight-EdgeGedanken in den Mittelpunkt stellten, d.h. bewusster Verzicht auf Drogen jeglicher Art,
231
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236
237
238
239
240
Dornbusch/Killguss, Allianzen, S. 168.
Youtube LLC, poopietreat666, Absurd – Asgardsrei – Germanien über alles (Remixed, Revised & Remastered),
12.7.2012, [https://www.youtube.com/watch?v=oIfbpArtn8s], eingesehen 26.2.2015.
Dornbusch/Killguss, Allianzen, S. 275.
Ebd., S. 286 f.
Christian Schulze/Regina Wamper, „Adolf H. didn‘t booze or smoke“. Konsumkritik, Jugendkultur, Drogenverzicht
von Rechts: Die neonazistische Adaption von Hardcore und Straight Edge, in: Wamper/Kellersohn/Dietzsch
(Hrsg.), Rechte Diskurspiraterien, S. 195.
Schulze/Wamper, Adolf, S. 195.
Ebd., S. 200.
Langebach/Raabe, Freizeit, S. 178.
Ebd., S. 179.
Ebd., S. 180.
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vegane oder vegetarische Essgewohnheiten und maßvoller Umgang mit Sexualität.241
Dieselbe Strömung hat ihren Platz folglich auch im NSHC gefunden.242 Dass die Musik
taktisch benutzt wird, beweist unter anderem die Aussage der Band Thrima:
„Da Musik als Propagandawaffe verstanden wird und sich dadurch entsprechende Inhalte transportieren lassen, ist es positiv zu bewerten, wenn Leute
außerhalb unserer Kreise dadurch leichter in Berührung kommen.“243
Jegliche Annäherungsversuche an die nichtrechte Hardcoreszene wurden jedoch abgeblockt.244 Die Entwicklung von NSHC ging einher mit dem Auftreten der AN, beide
sind „gleichermaßen Ausdruck einer Öffnung des Neonazismus“.245
Ähnliches gilt für das Aufkommen von nationalsozialistischem Hip-Hop. Eigentlich undenkbar, aber als Mittel zum Zweck scheint auch die auf afroamerikanische Wurzeln
zurückgehende Musik zu dienen. Enesess von n‘Socialist Soundsystem ist der Meinung,
„dass es da eine nationale Alternative geben muss, um eben gerade jüngere Deutsche
ansprechen zu können“,246 sie seien „nationale Sozialisten und keine Hip-Hopper“.247 Sie
wollen damit junge Menschen erreichen, die sie mit Rechtsrock oder anderen Genres nicht erreichen können. Nicht ohne Grund ist auf der „Schüler-CD des nationalen
Widerstands“248 der AN auch nationalsozialistischer Hip-Hop zu hören. Diese Spielart
von rechtsextremer Musik ist noch relativ neu, aber fügt sich exakt in die Strategie der
sich modernisierenden neonazistischen Bewegungen ein und vor allem gleicht sie der
Strategie der AN, sich der Strategie der Linksautonomen zu bedienen.
Um eine große Klammer zu den musikalisch ausdifferenzierten Ausdrucksformen
rechtsextremer Musik zu machen: Vom Rechtsrock bis zum NS-Hip-Hop begleitete die
Musik die Modernisierung des rechtsextremen Spektrums, teilweise war sie sogar wegbereitend. Deshalb ist sie eines der wichtigsten Medien zur Vermittlung von Ideologie
sowie zur Rekrutierung neuer Mitglieder. Dabei sind diese Modernisierungen nie vom
organisierten Rechtsextremismus ausgegangen, „sondern aus der Dynamik jugendkultureller Entwicklungen in extrem rechten Jugendszenen“.249
241
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243
244
245
246
247
248
249
Schulze/Wamper, Adolf, S. 195–198.
Ebd., S. 213–216.
Aryan Music, Interview mit Thrima, 21.12.2009, [http://aryanmusic.net/e107_plugins/content/content.php?
content.810], eingesehen 27.2.2015.
Schulze/Wamper, Adolf, S. 212.
Ebd., S. 217.
Youtube LLC, Axel Reichert, Das karlsruher//netzwerk fragt nach: Interview mit Enesess (n‘Socialist Soundsystem),
31.3.2011, [https://www.youtube.com/watch?v=7hhi-PpmhVM], eingesehen 28.2.2015.
Ebd.
Jugend in Bewegung. Schüler-CD des nationalen Widerstands 1.0.8, o. D. (2011), [http://schulhof-cd-sponsor.1stamendment.info/SchuelerCD108.iso], eingesehen 10.12.2014.
Langebach/Raabe, Freizeit, S. 181.
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Fazit
Junge Leute wollen was erleben – das weiß auch die extreme Rechte. Die Schaffung
einer jugendaffinen Erlebniswelt zieht sich wie ein roter Faden durch die Agitationsstrategien zur Vereinnahmung jugendlicher Subkulturen von rechtsextremer Seite. Die
Skinheadsubkultur war und ist eine rebellische Erlebniswelt und bereits kurz nach ihrer
Entstehung in Großbritannien bildeten sich innerhalb der Szene rechtsextreme Tendenzen aus, und das noch bevor die Politik sich näher damit beschäftigte. Das hängt
mit dem damaligen gesellschaftlichen Klima, aber auch mit den Verlustängsten der
sich in Auflösung befindenden Arbeiterschicht zusammen. Kultfiguren wie Ian Stuart
wirkten im weiteren Verlauf so stark auf die Szene ein, dass große Teile nach rechts
abdrifteten. In Gramscis Worten war Stuart ein „organischer Intellektueller“ innerhalb
dieser Subkultur, da er nicht nur redete, sondern auch handelte.
Die Hegemonie auf der Insel war bereits erreicht, in Westdeutschland kam der Skinheadkult bereits innerlich zerrissen an. Ab Mitte der 1980er-Jahre dominierten auch
dort die rechtsextremen Skinheads. In beiden Fällen wurden eher Neonazis zu Skinheads als umgekehrt und in beiden Fällen spielten die Medien dabei eine erhebliche
Rolle. Eine andere Situation herrschte in Ostdeutschland, der Skinheadkult kam dort
fast ausschließlich rechtsextrem aufgeladen an und die Ablehnung gegenüber dem
DDR-Regime war bereits ziemlich groß. Bis zur Wiedervereinigung hatte sich die Skinheadbewegung zum Großteil von innen heraus nach rechts radikalisiert, ohne dass
rechtsextreme Gruppierungen oder Parteien von außen größeren Einfluss nehmen
konnten. Gerade nach den zahlreichen Verboten von neonazistischen Gruppierungen
in Deutschland wurden rechtsextreme Skinheads zwischen den Parteien und freien
Kameradschaften ein Teil des organisierten Rechtsextremismus. Für diese war es nicht
schwer, aufgrund der rechtslastigen Diskurshoheit innerhalb der Skinheadszene einen
breiten Konsens zu schaffen und den oft diffusen Hass nachhaltig zu ideologisieren.
Dabei gingen die ursprünglichen subkulturellen Wurzeln großteils verloren.
Anfang der 2000er-Jahre waren Skinheads nicht mehr zeitgemäß und so modernisierte
sich auch der Rechtsextremismus. Anders als die Skinheads wollten die AN von außen andere Subkulturen vereinnahmen, besonders die linke und alternative Szene. Um
möglichst viele Jugendliche anzusprechen bzw. einen Konsens mit anderen Gruppen
zu erreichen, kopierten sie Symbolik, Modetrends, Aktionsformen und Lebensstile der
linksautonomen und alternativen Szene. Mit der Aussicht auf eine Kulturrevolution von
rechts versuchten sie, möglichst viele verschiedene Bereiche der Gesellschaft im vorpolitischen Raum zu erobern, um eine kulturelle Hegemonie zu erreichen. Dasselbe
galt für das Internet als bevorzugtes Kommunikationsmedium samt virtueller rechtsextremer Parallelwelt.
Nicht wegzudenken aus dem vorpolitischen Raum ist die Musik: Bereits bei den Skinheads spielte sie – ob rechtsextrem oder nicht – eine tragende Rolle. Und gerade
rechtsextreme Musiker waren es, die die Skinheadsubkultur nach und nach mit rechtsextremen Elementen anreicherten. Auf Deutschland bezogen war rechtsextreme Musik in Form des klassischen Rechtsrocks noch relativ leicht zu erkennen, da eben be-
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vorzugt auf Deutsch gesungen wurde und die Namen der Bands einschlägig waren.
Ähnlich wie die rechtsextreme Skinheadkultur war der Rechtsrock vom Mainstream
isoliert, sei es durch die qualitativen Mängel oder durch die gesellschaftliche Ächtung.
Mit den modernisierenden Tendenzen des Rechtsextremismus kam es neben qualitativen Steigerungen zur Ausdifferenzierung der Musikgenres, in denen sich Rechtsextremisten bewegen und dieser Prozess ist untrennbar mit den AN verbunden. Dass dies
oft rein taktischer Natur war, um noch mehr Menschen zu erreichen, daraus wurde kein
Geheimnis gemacht.
Letzten Endes kann unterstrichen werden: Innerhalb der Skinheadkultur hat eindeutig
die rechtsextreme Seite die Hegemonie erreicht. Es war ein Prozess, der sich zu einem
großen Teil innerhalb der Subkultur zugetragen hat und von rechtsextremen Gruppierungen von außen noch zusätzlich verstärkt wurde. Die AN wollen dagegen von außen
möglichst viele andere Subkulturen vereinnahmen und die jeweiligen vorpolitischen
Räume in der öffentlichen Meinung schrittweise mit ihrer Ideologie besetzen. Denn
die „öffentliche Meinung“ ist nach Gramsci „aufs engste mit der politischen Hegemonie
verknüpft, es ist […] der Berührungspunkt zwischen der ‚Zivilgesellschaft‘ und der ‚politischen Gesellschaft‘, zwischen dem Konsens und der Gewalt“.250
Literatur
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Bredel, Holger, Skinheads – Gefahr von Rechts?, Berlin 2002.
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250
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historia.scribere 08 (2016)
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Heise, Mikiya/vom Fromberg, Daniel, „Die Machtfrage stellen“. Zur politischen Theorie
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Tobias Leo ist Student der Geschichtswissenschaften im 7. Semester an der Universität Innsbruck. tobias.leo@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Tobias Leo, Der Nazis neue Kleider: Die Vereinnahmung jugendlicher Subkulturen durch
die extreme Rechte in Deutschland, in: historia.scribere 8 (2016), S. 83–124, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
historia
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Seminare 2016
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historia
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Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas. Der koloniale
Blick in der frühen Porträtfotografie Indiens
Maria Buck
Kerngebiet: Geschichte der Neuzeit
eingereicht bei: ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz Noflatscher
eingereicht im Semester: SS 2014
Rubrik: SE-Arbeit
Abstract
Fakirs, Bayaderes, and Maharajas. The Colonial View in Early Indian
Portrait Photography
This seminar paper analyzes 19th century portrait photographs in British-India,
which were mainly made by and addressed at British citizens. Regarding the
wide range of genres, it can be shown that these photographs hardly give
a realistic image of India, but instead reflect the contemporaneous British
view on the colony and its native inhabitants. Photography was therefore an
essential instrument of colonial policy. By creating a culturally inferior „other”, it
helped legitimate British rule over India.
Einleitung
Als Albert Edward, Prince of Wales, 1875/76 eine Indienreise absolvierte, begleiteten ihn
zahlreiche Fotografen und dokumentierten Land und Leute. Nach seiner Rückkehr ließ
er sechs Alben mit Einzel- und Gruppenporträts, Architektur- und Landschaftsaufnahmen anfertigen. Diese Alben enthielten zum Teil eigens für den Prinzen aufgenommene Bilder, der größere Teil jedoch waren Fotografien, die im Handel erhältlich waren.1
1
Ludger Derenthal, Bilder der Mächtigen. Porträtfotografie an den Herrscherhöfen in Indien und die britische
Tradition, in: Ludger Derenthal/Raffael Dedo Gadebusch/Katrin Specht (Hrsg.), Das koloniale Auge. Frühe
Porträtfotografie in Indien, Berlin 2012, S. 33–37, hier S. 33.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.470ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
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Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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Bereits die Eltern des Prinzen, das englische Königspaar Queen Victoria und Prince Albert, etablierten sich als engagierte Förderer des neuen Bildmediums und wussten
früh, die propagandistischen Möglichkeiten der Fotografie in großem Maße zu nutzen.
Des Weiteren übernahmen sie im Jahr 1853 das Patronat für die Royal Photographic
Society. Als das Herrscherpaar sieben Jahre später das erste Porträt von sich im Cartede-Visite-Format anfertigen und auf den Markt bringen ließ, war es nun fast allen Untertanen möglich, ein Bild der königlichen Familie zu erwerben.2
England war nach Frankreich das Land, das in der Frühphase der Fotografie am technischen Fortschritt des neuen Bildmediums maßgeblich mitgewirkt hatte und führend
in der Anwendung der neuartigen visuellen Technik war. Fortschrittliches technisches
Wissen und die gesellschaftliche Verankerung der Fotografie durch die englische Königsfamilie führten schließlich dazu, dass diese neue visuelle Technik rasch in den
Dienst der kolonialen Bestrebungen Englands miteinbezogen worden ist. „Da Fotografie als objektive Darstellungsform galt, schien sie besser als andere Aufzeichnungsmethoden geeignet, Informationen über ferne Länder, Völker und Kulturen vermitteln zu
können.“3 So entstand im Laufe des englischen Kolonialismus in Indien eine kaum zu
überblickende Anzahl an Fotografien, wobei vor allem die frühe Porträtfotografie weit
verbreitet war. Diese Aufnahmen gelangten durch Reisende, Missionare, Kolonialbeamte oder Ethnographen nach Europa und fanden unter anderem als wissenschaftliches Quellenmaterial Eingang in die Archive europäischer Museen.
Auch das ethnographische Museum in Berlin nennt bis heute einen solchen Bestand
sein Eigen. Im Jahr 2012 wurden dreihundert dieser Fotografien in der Ausstellung „Das
koloniale Auge. Frühe Porträtfotografie in Indien“ im Museum für Fotografie in Berlin
präsentiert. Die Kuratoren strebten mit dieser Ausstellung an, den spezifisch europäischen Blick – oder anders gesagt, das koloniale Auge – als Charakteristikum zu betonen, das die sehr unterschiedlichen Typen der frühen Porträtfotografie in Indien eint.
Es stellt sich dabei die Frage, wie sich dieser spezifische koloniale Blick äußerte. Welche
Konsequenzen hatte die kolonialistische Perspektive für die Entstehung, Verbreitung
und Rezeption dieser fotografischen Porträts der indischen Bevölkerung? Diesen Fragen soll in der vorliegenden Arbeit anhand der Fotografien, die in der Ausstellung „Das
koloniale Auge“ gezeigt wurden, nachgegangen werden. Es sei vorweggenommen,
dass hier keine universal gültigen Aussagen getroffen werden können, denn der Fokus
soll auf den kolonialen Blick gelegt werden, wie er in der bereits mehrfach erwähnten
Ausstellung aufgefasst und interpretiert worden ist. Diese Arbeit wird von der Annahme geleitet, dass die im kolonialen Kontext entstandenen Fotografien weniger ein realistisches Bild von Indien liefern, als vielmehr einen Eindruck von den zeitgenössischen
Vorstellungen der Briten von Indien und seinen Bewohnern geben.
In einem ersten Schritt sollen einige methodische Überlegungen zum wissenschaftlich-historischen Umgang mit Fotografien vorangestellt werden, bevor ein Kapitel zu
2
3
Derenthal, Bilder der Mächtigen, S. 34.
Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main 2009, S. 168.
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Maria Buck
129
den Porträtfotografien in Indien und Europa folgt. Besondere Erwähnung finden an
dieser Stelle die Anfänge der Porträtfotografie, deren Verbreitung in Indien, sowie der
Aspekt der Inszenierung. Dieses Vorwissen ist sinnvoll, um die koloniale Porträtfotografie besser in den allgemeinen fotografiegeschichtlichen Hintergrund einordnen zu
können.
Es folgen zwei Kapitel zum Verhältnis von Fotografie und Ethnographie sowie zu Fotografie und Kolonialismus. Beide Bereiche – die Ethnographie und der Kolonialismus
– hatten starken Einfluss auf die frühe Porträtfotografie in Indien und sind daher wichtige Komponenten der Inszenierung, Verbreitung und Rezeption der Bilder. Das darauf
folgende Kapitel widmet sich den unterschiedlichen Typen der kolonialen Porträtfotografie, wie sie in der Ausstellung „Das koloniale Auge“ herausgearbeitet worden sind.
Im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage sollen im Anschluss der spezifische koloniale Blick der Fotografie näher betrachtet und die verschiedenen Aspekte thematisiert
werden, in denen er sich manifestiert. Im Schlusskapitel werden die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst.
Es sei noch hinzugefügt, dass auf Ausführungen zu England als Kolonialmacht in Indien verzichtet werden soll, denn eine adäquate Darstellung wäre hier aufgrund des
begrenzten Ausmaßes der Arbeit nicht möglich. Vielmehr soll der Blickpunkt auf den
Thematiken rund um die frühe Porträtfotografie in Indien liegen, denn im wissenschaftlichen Kontext handelt es sich dabei um einen noch selten thematisierten Forschungsbereich, während zum englischen Kolonialismus in Indien ausführliche Literatur existiert.
Forschungsstand
Die historische Fotografieforschung stellt innerhalb der Geschichtswissenschaften ein
noch immer junges Forschungsfeld dar, wobei eine universitäre Verankerung bis heute
weitgehend fehlt. Theoretische Auseinandersetzungen über das Medium Fotografie
lassen sich seit der Erfindung der Fotografie finden, wobei diese hauptsächlich im philosophischen oder soziologischen Bereich angesiedelt sind. Historische Forschungsergebnisse und Abhandlungen sind dagegen bis heute nur in geringem Maße vertreten
und thematisch auf einige wenige Sachverhalte beschränkt.
Als theoretische Grundlagentexte für die historische Fotoforschung liegen dieser Arbeit vor allem zwei Werke zugrunde, die interessante Ansätze und Thesen präsentieren. Zum einen ist die Publikation „Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen“
des englischen Historikers Peter Burke eine informative und anregende Abhandlung.4
Burke beschäftigt sich darin zwar vorrangig mit allen historischen Bildmedien, aber
insbesondere jene Kapitel, die die Fotografie und das Porträt betreffen, sind für die
vorliegende Arbeit von Bedeutung. Zusätzlich stellt Burke brauchbare Thesen zum methodischen Umgang mit historischen Bildquellen zur Verfügung, die für den Umgang
4
Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003.
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Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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mit Fotografien als Quellen wichtig sind. Zum anderen lässt sich Jens Jägers „Fotografie
und Geschichte“ anführen.5 Dieses Buch beinhaltet einen einführenden Überblick über
die Geschichte der historischen Fotoforschung, fasst die wichtigsten Schriften und Autoren inhaltlich zusammen, führt verschiedene methodische Herangehensweisen an
und öffnet den Blick für die verschiedenen Einsatzbereiche und Themenfelder der historischen Fotoforschung, wobei auch die koloniale Fotografie thematisiert wird.
Es existieren kaum Monographien und Aufsätze, die sich explizit mit der kolonialen
Porträtfotografie Indiens befassen. Es scheint hier noch ein großer Bedarf an wissenschaftlicher Forschung zu bestehen. Eine ausführliche deutschsprachige Publikation
ist „Das koloniale Auge. Frühe Porträtfotografie in Indien“, herausgegeben von Ludger
Derenthal, Raffael Dedo Gadebusch und Katrin Specht.6 Dieser Band erschien anlässlich
der gleichnamigen Ausstellung, die 2012 im Fotomuseum in Berlin präsentiert wurde.
Die Realisierung dieser Ausstellung war ein Gemeinschaftsprojekt der Kunstbibliothek,
des Ethnographischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst in Berlin. Die
thematisch unterschiedlich ausgerichteten Aufsätze der Publikation bieten einen informativen Überblick und widmen sich den verschiedenen Einsatzbereichen, Erscheinungsformen und Gebrauchsweisen der frühen Porträtfotografie in Indien. Aufgrund
der insgesamt mangelhaften Anzahl an adäquater Literatur zu diesem Thema wurde
für die vorliegende Arbeit hauptsächlich dieses Werk herangezogen. Abschließend sei
darauf verwiesen, dass alle in der vorliegenden Arbeit verwendeten Fotografien diesem Bildband entnommen wurden.
Methodische Überlegungen
Der geschichtswissenschaftlich methodische Umgang mit Bildern aller Art, speziell
aber mit Fotografien, unterliegt keinem einheitlichen Schema, vielmehr lässt sich ein
Methodenplural erkennen. Hauptsächlich lehnt man sich dabei an Methoden aus den
Bereichen der Kunstgeschichte, Kultur- und Bildwissenschaften an. Zu einer der existenziellen Grundlagen im geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Fotografien gehört, dass „[…] Bilder [zunächst] denselben dokumentarischen Respekt und dieselbe
quellenkritische Aufmerksamkeit [verdienen] wie schriftliche Texte auch.“7 Quellenkritische Fragen hinsichtlich der Autorenschaft, Publikationszusammenhang, Aussageabsicht und der Intentionen gilt es nicht nur an Texte zu stellen, sondern in gleichem
Maße auch an Bilder aller Art und damit ebenso an Fotografien.
Die Forderung nach einem quellenkritischen Umgang mit Fotografie deutet sich auch
in einer Aussage von Bodo von Dewitz an: „Durch Zeit und Raum getrennt haben die
historischen Fotografien für uns eine besondere Faszination, die zwischen Analyse und
Identifikation des Faktischen, Imaginationen und Vermutungen und nicht zuletzt den
5
6
7
Jäger, Fotografie und Geschichte.
Ludger Derenthal/Raffael Dedo Gadebusch/Katrin Specht (Hrsg.), Das koloniale Auge. Frühe Porträtfotografie in
Indien, Berlin 2012.
Rolf Reichardt, Bild- und Mediengeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hrsg.), Kompass der
Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, S. 219–230, hier S. 220.
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131
Geboten des wissenschaftlichen Interesses positioniert sind.“8 Besser lassen sich die
Anforderungen an den Methodengebrauch der historischen Fotoforschung nicht zusammenfassen.
Im methodischen Umgang mit Fotografien lassen sich zwei Hauptkategorien hinsichtlich der Quellen unterscheiden: Originalfotografien aus Archiven oder publizierte
Bilder in Katalogen und Bildbänden. Im Falle der vorliegenden Arbeit stammen alle
untersuchten Fotografien aus dem bereits erwähnten Ausstellungskatalog „Das koloniale Auge“. Von Vorteil an der Arbeit mit publizierten Bildquellen ist, dass sich einige Forschungsschritte erübrigen, da eine entsprechende Vorarbeit bereits von den
Herausgebern übernommen worden sein sollte – sofern es sich um eine nach wissenschaftlichen Maßstäben verfasste Publikation handelt. Fragen der inneren und äußeren
Quellenkritik sollten bei wissenschaftlich korrekten Katalogen bereits den Fotografien
hinzugefügt sein, wie es auch im hier zugrundeliegenden Katalog der Fall ist. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind notwendig, denn erst wenn Klarheit über formale
und inhaltliche Vorbedingungen herrscht, lässt sich eine historische Fotografie analysieren und interpretieren. Man darf nicht vergessen, dass diese formalen Aspekte prägend und meist auch charakteristisch für den zeitgenössischen und kulturgeschichtlichen Entstehungskontext der Fotografien sind und daher äußerst aussagekräftig für
weiterführende Forschungsfragen.
Damit wird ein weiterer, entscheidender Aspekt der historischen Fotoforschung berührt: die Kontextualisierung. Fotografien müssen, um überhaupt einen Erkenntnisgewinn leisten zu können, kontextualisiert werden. Das bedeutet, sie müssen in einen
kulturellen, politischen, gesellschaftlichen oder materiellen Bezug zu ihrer zeitgenössischen Umwelt gestellt werden.9 Historische Fotoaufnahmen haben sich häufig losgelöst von ihrer eigentlichen Zeit, ihrem ursprünglichen Ort und ihrer intentionalen
Bestimmung hinweg erhalten. Es ist Christoph Hamann zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass sich der Kontext der Aufnahmen aus den Bildern allein nicht bestimmen lasse und dass das Abgebildete letztlich uneindeutig bleibe: Die Aufnahmen können sich
selbst nicht erklären, so Hamann, vielmehr seien die Rezipienten auf die Bildlegende
angewiesen. Die Fotografie als solche sage also nicht nur im wörtlichen Sinne nichts,
erst durch eine Kontextualisierung des Bildes nämlich könne der Nutzer triftige Aussagen zu den räumlichen, zeitlichen, kausalen Zusammenhängen ableiten, in denen
das Bild steht.10 Die Kontextualisierung hilft, Aussagen über die Fotografien und deren
dargestellte und repräsentierte Inhalte zu treffen. Außerdem ist es nur über die Kontextualisierung möglich, Thesen zu verifizieren oder sie als irrelevant einzustufen. Es gilt
des Weiteren zu bedenken, dass Fotografien für sich alleine, ohne jegliche Kontextualisierung, lediglich willkürliche, beliebige Eindrücke beim Rezipienten bewirken. Sie sind
8
9
10
Bodo von Dewitz, Facts. Tatsachen. Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Sammlung Agfa im Museum
Ludwig Köln, Bonn 2006, S. 11.
Burke, Augenzeugenschaft, S. 216.
Christoph Hamann, Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung,
Herbolzheim 2007, S. 25.
132
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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sozusagen stumme Quellen oder Dokumente, die mit Hilfsmitteln – der Einordnung in
einen kontextuellen Rahmen – zum Reden gebracht werden müssen.
Um das Ziel all der bisher dargelegten methodischen Vorgehensweisen zu definieren,
kann mit Gerhard Paul gesagt werden:
„Letztlich geht es darum, Bilder über ihre zeichenhafte Abbildhaftigkeit hinaus
als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren.“11
Porträtfotografie in Indien und Europa
Es gibt wohl kein anderes Bildmedium, das so prägend und charakteristisch für die
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war, wie die Fotografie. In ihr gingen Technik, Wissenschaft und Fortschritt eine neuartige Symbiose hinsichtlich ihrer visuellen Repräsentation und den daraus resultierenden Einsatzmöglichkeiten ein. Der 19. August 1839 ist
die offizielle Geburtsstunde der Fotografie, der Tag, an dem das neuartige technische
Verfahren erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Obwohl zur selben Zeit verschiedene Wissenschaftler unabhängig voneinander daran forschten, ist die Erfindung
der Fotografie untrennbar mit zwei großen Namen verbunden: Louis Jacques Mandé
Daguerre und Joseph Nicéphore Niépce. Die beiden verkauften die Rechte an ihrer Erfindung 1839 der französischen Regierung, die sie wiederum der Welt schenkte, wie es
in den zeitgenössischen Artikeln pathetisch hieß.12 Innerhalb der Fotografie setzte sich
vor allem die Porträtfotografie als beliebtes und weitverbreitetes Genre durch.
In der Malerei war das Porträt seit der Renaissance ein äußerst beliebtes und weitverbreitetes Sujet der bildenden Kunst in Europa. Diese Tradition setzte sich in der Fotografie fort. Binnen weniger Jahre nach Einführung der Fotografie habe das Porträt zum
Hauptaufgabenbereich des neuen Berufstands der Fotografen gehört und als solches
die Miniaturmalerei innerhalb kurzer Zeit verdrängt, so Enno Kaufhold.13 Möglich wurde
dies durch die Verkürzung der Belichtungszeiten für eine fotografische Aufnahme. Lange Belichtungszeiten und das damit einhergehende Risiko von Bewegungsunschärfen
waren noch Jahrzehnte nach der Einführung der fotografischen Technik für Porträtaufnahmen problematisch. Allerdings sorgte die Kommerzialisierung der Porträtfotografie
für technische Weiterentwicklungen, da die ökonomischen Anreize für Verbesserungen der Porträttechnik gegeben waren.14 So verkürzte sich die Belichtungszeit inner-
11
12
13
14
Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual
History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7–36, hier S. 25.
Jens Jäger, Photographie. Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000, S. 41.
Enno Kaufhold, Das fotografische Porträt als Spiegel des Gesellschaftlichen, in: Dieter Vorsteher/Andreas
Quermann (Hrsg.), Das Porträt im 20. Jahrhundert. Fotografien aus der Sammlung des Deutschen Historischen
Museums, Berlin 2005, S. 10–31, hier S. 10.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 11.
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133
halb von zehn Jahren um ein Vielfaches: Betrug die Dauer zur Belichtung im Jahr 1860
noch dreißig Sekunden, so verkürzte sich diese bis 1870 auf nunmehr fünf Sekunden.15
Im Hinblick auf den Nimbus der Wahrhaftigkeit, der der frühen Fotografie zugeschrieben wurde, entwickelten fotografische Porträts eine besondere gesellschaftliche und
kulturelle Faszination – hier kann von der Annahme eines dokumentarischen Charakters der Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts gesprochen werden. Gesichtszüge,
Gestik, Mimik, Statur, Aussehen, all das wurde als wirklichkeitsgetreue Abbildung der
fotografierten Person aufgefasst. Das technische Medium Fotografie bürgte hier im
zeitgenössischen Verständnis für die originalgetreue Abbildung und verifizierte die
Darstellung. An dieser Stelle manifestiert sich ein essentieller Unterschied im Wirkungsdiskurs zwischen Porträtfotografie und -malerei. Während in der Porträtfotografie die
Authentizität der Abbildung qua Medium als selbstevident verstanden wurde, wurden in der Porträtmalerei die idealisierenden Eingriffe des Malers als naturgegebene
Variable des Faktors Mensch automatisch hinzugedacht. Es wäre jedoch falsch, in der
angewandten Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts dem zeitgenössischen Diskurs zu
folgen und von einer tatsächlichen Authentizität oder einem nüchtern dokumentarischen Anspruch auszugehen, wie unter anderem auch Raffael Dedo Gadebusch betont.16 Von Beginn an wurden in der Porträtfotografie durch bewusste Eingriffe des Fotografen Manipulationen durch Inszenierung oder Retuschen vorgenommen. Parallel
zur Porträtmalerei inkludierte auch die Fotografie mit jeder Aufnahme eine intendierte
Wirkungs- und Aussageabsicht sowie eine Idealisierung der dargestellten Person. Der
Erfolg der Porträtfotografie im 19. Jahrhundert war von großem Ausmaß: „Das Porträt,
einst Privileg der Aristokratie, später des Großbürgertums, wird durch die Erfindung
der Fotografie für immer breitere Schichten der Gesellschaft erschwinglich.“17 War es
zu Zeiten der Daguerreotypie, der Frühform der Fotografie, noch immer der finanzkräftigen Oberschicht vorbehalten, sich porträtieren zu lassen, sorgten die technischen
Weiterentwicklungen der Fotografie und die damit einhergehenden Kostenreduzierungen dafür, dass sich der potentielle Kundenkreis immer weiter ausbreitete. Gegen
Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Fotografie als neues Medium für Porträtaufnahmen in Europa bereits gesellschaftlich und kulturell etabliert.18
Verbreitung der Fotografie in Indien
Nicht nur in Europa verbreitete sich die Fotografie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als neues visuelles Medium, sondern sie entwickelte sich auch in kürzester
Zeit zu einem wichtigen Exportprodukt. So verbreitete sich die Nachricht über die
Erfindung der Fotografie in Frankreich innerhalb weniger Monate über die europäischen Grenzen hinweg und erreichte schon im offiziellen Erfindungsjahr 1839 Indien.19
Betrachtet man den außereuropäischen Verbreitungsweg, so zeigt sich, dass sich die
15
16
17
18
19
Derenthal, Bilder der Mächtigen, S. 34.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 13.
Ebd., S. 11.
Kaufhold, Das fotografische Porträt als Spiegel des Gesellschaftlichen, S. 10.
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 26.
134
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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Bekanntheit des neuen Mediums vor allem in den französischen und englischen Kolonien sich rasch verbreite. Dies ist nicht weiter verwunderlich, sind doch Frankreich
und England die europäischen Länder, die in der Frühphase der Fotografie die entscheidenden Impulse für die Erfindung und technische Weiterentwicklung lieferten.
Es ist daher nur konsequent, dass dieses Wissen und die Errungenschaften auch in die
eigenen Kolonien übermittelt wurden. Hier zeigt sich ein erster Berührungspunkt zwischen Kolonialisierung und Fotografie, deren Verhältnis und Wechselwirkung im Laufe
der vorliegenden Arbeit noch weiter ausgeführt werden sollen.
In Indien erfolgte die Ankündigung, dass noch im Erfindungsjahr entsprechende technische Ausrüstung nach Südasien verschifft werden sollte, per Zeitungsannonce. Über
die ersten Jahrzehnte der Fotografie in Indien fehlen bisher fundierte Überblicksforschungen, die meisten Studien sind thematisch eng gefasst, weswegen allgemeine
Aussagen schwierig sind. Es wird angenommen, dass die fotografischen Aktivitäten
in den ersten Jahren eher sporadisch betrieben wurden und eine Zunahme erst Ende
der 1840er mit der Eröffnung der ersten professionellen Fotostudios in den großen
indischen Metropolen zu verzeichnen war.20
Eines dieser ersten professionellen Fotostudios in Indien war das Atelier F. Schranzhofer, das 1849 in Kalkutta eröffnet wurde. Obwohl Indien eine britische Kolonie war
und England eines der führenden Länder in der Frühphase der Fotografie, zählten vor
allem Deutsche zu den Pionieren der frühen Indien-Fotografie. Neben dem bereits erwähnten Atelier von Schranzhofer ist die Existenz einiger deutscher Fotostudios um
1850 bekannt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die meisten aktiven Fotografen in
der Folgezeit aus Europa kamen und die Zahl an englischen Fotografen deutlich zunahm. Gemäß den Forschungsresultaten von Gadebusch habe die frühe Fotografie in
Indien ein technisch und künstlerisch hohes Niveau erreicht.21 Parallel zu der Zunahme
an Fotoateliergründungen sorgte die Einführung der Papierfotografie in den 1850ern
für eine neue Phase der Verbreitung von Fotografie in Indien sowie für einen deutlichen Anstieg des öffentlichen Interesses. Neben der Professionalisierung der Fotografie vollzog sich in Indien wie in Europa ab 1855 ein weiterer Schritt zur Verbreitung
fotografischer Tätigkeiten: es entstanden die ersten Amateurvereinigungen in Bombay,
Kalkutta und Madras. Diese boten ambitionierten Amateuren ein Forum für den Austausch technischer Informationen, Diskussionen über fotografische Ästhetik und die
Möglichkeit zu Ausstellungen.22
Ganz unproblematisch verlief die Aneignung und Übernahme der Fotografie in Indien
allerdings nicht, denn die „in Europa entwickelten Techniken mussten teilweise den
veränderten klimatischen Bedingungen in Indien angepasst werden.“23 Besonders das
grelle Licht und die je nach Region und Jahreszeit hohe Luftfeuchtigkeit verlangten
Modifikationen. Besonders davon betroffen waren Aufnahmen, die außerhalb des Ate-
20
21
22
23
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 26.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 10.
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 26.
Derenthal, Bilder der Mächtigen, S. 34.
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135
liers aufgenommen werden sollten. Eine gelungene Fotografie verlangte angesichts
der grellen indischen Sonne einen hellen und doch beschatteten Ort, um allzu große
Kontraste zu vermeiden. Die Kontrolle des Lichts stellte eine unverzichtbare Maßnahme für das erfolgreiche Entstehen einer Außenaufnahme dar, denn die Brillanz des
Lichts und der daraus resultierende harte Schatten waren Komponenten, die es zu
eliminieren galt.24
Die auf dem indischen Subkontinent entstandenen Fotografien blieben in ihrer Verbreitung und Rezeption nicht auf die Kolonie beschränkt, sondern „[wurden] nur wenige Jahrzehnte später, mit dem Aufkommen kommerzieller Fotostudios, […] auch im
Ausland auf den Markt gebracht.“25 Es zeigte sich damit schon früh ein Transfer von
Fotografien aus der Kolonie in das Mutterland. Es ist offenkundig, dass der Markt von
Fotografien nicht national beschränkt war, sondern sich über die Landesgrenzen hinweg vollzog.
Die Sujets der Fotografie in Indien im 19. Jahrhundert entstammten den unterschiedlichsten Genres: neben der Porträtfotografie waren vor allem die Landschafts- und archäologische Fotografie weit verbreitet. Es ist jedoch zu konstatieren, dass – wie in Europa – die Porträtfotografie auch in Indien eine „Schlüsselrolle im Zusammenhang mit
der Akzeptanz und schließlich rasanten Verbreitung des faszinierenden neuen mechanischen Abbildungsverfahrens“26 spielte. Des Weiteren ist die ökonomische Funktion
der Porträtfotografie nicht zu unterschätzen, stellte das Ablichten von Personen doch
die wirtschaftliche Grundlage vieler Fotografen in Indien und Europa dar.27 Damit zeigt
sich erneut eine Parallele in der Fotografie Europas und Indiens: „Genau wie in Europa
ist es sowohl in der alten als auch in der neuen Welt zunächst die Porträtfotografie, die
die unmittelbar einsetzende kommerzielle Nutzung der neuen Technologie möglich
machte.“28
Für die frühe Porträtfotografie Indiens hebt Gadebusch in seinen Ausführungen besonders deren außerordentlichen Facettenreichtum hervor. In den von ihm untersuchten Aufnahmen wird dabei evident, dass die Gattungsgrenzen von Porträt-, Typen- und
Genrefotografie keineswegs klar umrissen waren, sondern vielmehr fließende Übergänge und Mischformen erkennbar sind.29 Dabei ist interessant zu beobachten, dass die
Bilder der Berufsfotografen Ende des 19. Jahrhunderts in Indien die „[…]Arbeiten […]
trotz ausgereifter technischer und kompositorischer Fachkenntnisse fast ausnahmslos auf Konventionen und Formen der bildenden Kunst [beruhten].“30 Die Unterschiede zwischen europäischer und südasiatischer Porträtfotografie sind dabei schwierig
einzuschätzen. Es scheint kaum verwunderlich, dass die indische Porträtfotografie in
Technik, Konventionen und habituellen Formen hauptsächlich dem englischen Vor-
24
25
26
27
28
29
30
Derenthal, Bilder der Machtigen, S. 34.
Allana, Das Nachleben, S. 48.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 11.
Ebd., S. 11.
Ebd., S. 11.
Ebd., S. 9.
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 27.
136
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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bild folgte, stammten doch die meisten in Indien aktiven und ansässigen Fotografen
aus dem kolonialen Mutterland.31 An dieser Stelle drängt sich die Frage nach einem
spezifisch kolonialen Blick der anglo-indischen Porträtfotografen auf. Dieser Frage soll
in der vorliegenden Arbeit in einem weiter unten folgenden Kapitel nachgegangen
werden. Für den Moment sei angemerkt, dass bisher keine umfangreichen Studien zur
Porträtfotografie in Indien vorliegen.32
Inszenierung
Im Bereich der Porträtfotografie gilt es einem Element besondere Aufmerksamkeit
zukommen zu lassen, der Inszenierung. Diese war in der Porträtfotografie des 19.
Jahrhunderts zunächst einmal aus rein praktischen Gründen nötig: Die langen Belichtungszeiten forderten die exakte Positionierung der Modelle.33
Es wäre jedoch irreführend, die Inszenierung in der Porträtfotografie allein auf diese
basalen Gründe zu reduzieren. Vielmehr lag es an der intendierten Aussage, die mit
einem fotografischen Porträt getroffen werden sollte. Wie bereits in den Ausführungen
zur Porträtfotografie dargelegt wurde, war es nicht das Ziel der Porträtfotografie, eine
naturgetreue Wiedergabe des abzulichtenden Objekts zu liefern, sondern man strebte
nach einer idealisierten Darstellung, die gemäß der Intention der Aussageabsicht mit
der entsprechenden Inszenierung visualisiert werden sollte. Diesen Sachverhalt formuliert Gadebusch wie folgt:
„Die deutliche Erkennbarkeit von Requisiten und Kulissen sowie der inszenierten Handlung unterstreicht den Anspruch der Fotografen, nicht eine natürliche Situation zu suggerieren bzw. zu inszenieren. Vielmehr lag dem künstlerisch ambitionierten Fotografen daran, den Menschen in seiner vermeintlich
natürlichen Umgebung zu re-inszenieren.“34
Der Anspruch der Fotografen lag darin, die jeweiligen Kulissen entsprechend den
verschiedenen Aufnahmesituationen und Aussageabsichten zu wählen. Nicht selten
stand dabei der künstlerisch-ästhetische Anspruch im Vordergrund. Zufälle, Ungenauigkeiten und Beliebigkeit der Darstellungsweise suchten die Fotografend des 19. Jahrhunderts möglichst auszuschließen. Die Kontrolle über den Raum, das Licht und die
Positionierung der Modelle vor der Kamera galten als wesentliche Voraussetzungen für
eine gelungene fotografische Aufnahme. Besonders wichtig war dabei eine Begrenzung des Bildraumes vor der Kamera, was durch den Einsatz von Kulissen als bildbegrenzendem Hintergrund realisiert wurde. Dabei kommt den Kulissen eine zentrale
Rolle bei der Inszenierung zu. Durch Motiv und Stilistik der Kulisse konnte die entsprechende Aussageintention der gesamten Aufnahme gesteuert und transportiert
31
32
33
34
Derenthal, Bilder der Mächtigen, S. 34.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 9.
Ebd., S. 9.
Ebd., S. 12.
historia.scribere 08 (2016)
Maria Buck
137
werden. Die Wahl der Kulisse war somit keinesfalls ein beliebiges Element im Prozess
des Fotografierens, sondern nahm eine essentielle Position ein.35
Ein bedeutender Aspekt der frühen Porträtfotografie in Indien scheint neben der Inszenierung auch die Re-Inszenierung gewesen zu sein. Re-Inszenierung bedeutet in
dieser Hinsicht, dass durch die Inszenierung im Atelier eine vermeintlich natürliche
Umgebung geschaffen wird, die der gewohnten, alltäglichen Lebenswelt – sei es bezüglich der beruflichen oder privat-häuslichen Umgebung – der fotografierten Personen entspricht. Es geht dabei nicht um eine adäquate Wiedergabe der natürlichen
Umgebung, sondern dieses Element ist Teil der Aussageabsicht des Fotografen. Durch
die entsprechende Inszenierung bestimmt der Fotograf, welche Eindrücke und Impressionen er in der Aufnahme implizieren möchte. Ziel der Re-Inszenierung vor der
Kamera ist es, dem Betrachter auch einen visuellen Eindruck von der „natürlichen“ Umgebung des Fotografierten zu übermitteln, um so eine Gesamtdarstellung zu schaffen.
Besonders in der kolonialen Porträtfotografie wird deutlich, dass – wie bereits erwähnt
– die Re-Inszenierung als Stilmittel oder Metapher zu definieren ist. Über die Gestaltung
des Hintergrunds beziehungsweise der Umgebung, in der die zu porträtierende Person abgelichtet wird, werden bereits Deutungsabsichten intendiert. Re-Inszenierung
ist damit kein neutrales Element im Prozess des Fotografierens, sondern ein äußerst
bedeutungsbeladenes, das die Sichtweisen des Fotografen auf die Porträtierten impliziert oder das von den Porträtierten so gewollt wird. Der Anspruch einer möglichst
adäquaten Wiedergabe der Lebenswelt der Dargestellten ist in der kolonialen Porträtfotografie kaum gegeben. Vielmehr geht es um die eigenen, kolonial-europäischen
Sichtweisen, wie man das „Andere“, „Fremde“ sehen möchte. Daraus resultiert ein nicht
zu ignorierender Aspekt des Artifiziellen in diesen Aufnahmen, die damit weit weg sind
von ihrem Anspruch, Authentizität zu vermitteln, die ihnen qua Medium im zeitgenössischen Kontext zugesprochen wurde. Auffallend ist an dieser Stelle, dass „diese Form
der Darstellung des Anderen, des Fremdartigen […] ein Topos in der Orient-Fotografie
[ist], ja der gesamten kolonialen Fotografie, der sich in der Radikalität seiner Ausprägung […] in den 1870er und 1880er Jahren zuspitzt.“36 Interessant zu beobachten ist
bei der Inszenierung und Re-Inszenierung der frühen Porträtfotografie, dass laut Derenthal die rhetorischen Muster solcher Aufnahmen ihre offensichtlichen Vorläufer in
der Malerei und Grafik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts hatten, und diese auch in
der Porträtfotografie in Indien wirksam gewesen waren.37
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mittel der Inszenierung in der frühen
Porträtfotografie in Indien auf unterschiedliche Weise existent waren: Teilweise durch
die Re-Inszenierung scheinbar „natürlicher“ Umwelten mithilfe der Studioinszenierung,
andere Fotografien hingegen entstanden auch außerhalb des Studios und sollten so
eine explizit gewollte Authentizität vorführen.38
35
36
37
38
Derenthal, Bilder der Mächtigen, S. 36.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 12 f.
Derenthal, Bilder der Mächtigen, S. 34
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 12.
138
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
historia.scribere 08 (2016)
Fotografie und Ethnographie
Fast gleichzeitig mit der Fotografie entstand eine neue Wissenschaft zur Erforschung
unterschiedlicher ethnischer Kulturen, die Ethnographie. Diese galt in ihren Anfängen
als die koloniale Wissenschaft schlechthin und innerhalb kurzer Zeit wurde die Fotografie ein wichtiges Instrument der ethnographischen Forschung.39 Im Hinblick auf die
frühe Porträtfotografie Indiens stellt sich daher die Frage nach dem Verhältnis von Fotografie und Ethnographie. Der Bezug und die Wechselwirkung zwischen dem neuen
Medium und der im 19. Jahrhundert neu etablierten Wissenschaft wurden bereits im
zeitgenössischen Kontext diskutiert. So betonte Reverend Joseph Mullins bei einem
Vortrag in der Photographic Society of Bengal im Oktober 1856, dass die fotografische
Erfassung des orientalischen Lebens, der Landschaften, Völker und ihrer Gewohnheiten, gestützt vom neuerdings tiefen und wachsenden Interesse an allem Indischen,
von großer wissenschaftlicher, politischer und kultureller Bedeutung sei.40 Auch wenn
dieser Aufruf zunächst wenig Beachtung oder gar praktische Umsetzung fand, war er
doch symptomatisch für die Zeit und deutete bereits an, was in den folgenden Jahrzehnten in mannigfacher Weise realisiert und produziert werden sollte. Die fotografische Erfassung der indischen Kolonie mit speziellem Fokus auf seine Bewohner sollte
ein wichtiger Einsatzbereich der frühen Porträtfotografie in Indien werden.
Einen ersten praktischen Versuch unternahmen die Bombayer Fotografen William
Johnson und William Henderson mit ihrem 1856 publizierten „The Indian Amateurs
Photographic Album“, das eine Serie von Porträts ethnischer Typen in Indien enthielt.41
Publikationen dieser Art folgten in den folgenden Jahren in großer Zahl und erreichten
ihren Höhepunkt in dem mehrbändigen Werk „The People of India“, auf das am Ende
dieses Kapitels näher eingegangen wird. Die Anfänge dieser Entwicklung sind schon
auf die ersten Jahrzehnte nach Einführung der Fotografie zurückzudatieren. Dabei
„[verwendeten] die ersten Fotografen […] die Kamera vor allem dazu, alle signifikanten Besonderheiten, die Reisende und Ethnologen auf ihren Expeditionen ausfindig
machten, wahllos abzulichten.“42 Vor allem ab den 1850er-Jahren kamen Fotografen
aus Europa in die indische Kolonie, um alles exotisch, wild und fremdartig Wirkende
fotografisch festzuhalten. Diese Aufnahmen fanden durch An- und Verkäufe ihren Weg
in die noch junge Wissenschaft der Ethnographie und wurden als Forschungsmaterial
für ethnographische Studienzwecke herangezogen. An dieser Stelle gilt es, zwei wichtige Elemente in Bezug auf das Verhältnis von Fotografie und Ethnographie festzuhalten: Erstens diente die Fotografie als wissenschaftliche Methode und zweitens wurden
fotografische ethnographische Studien nicht von Fachleuten betrieben, sondern von
Berufs- oder Amateurfotografen.43 Wie Michel Frizot konstatierte, sei die gerade erst
entstehende Ethnographie, verstärkt durch die Reiselust und das Kolonialwesen, in
39
40
41
42
43
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 11 f.
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 26.
Ebd., S. 26.
Michel Frizot, Der Körper als Beweisstück. Eine Ethnofotografie der Unterschiede, in: Michel Frizot (Hrsg.), Neue
Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 259–271, hier S. 263.
Ebd., S. 268 f.
historia.scribere 08 (2016)
Maria Buck
139
dieser Phase eng mit der Fotografie verknüpft gewesen. Man habe notiert, befragt,
aufgezeichnet und beschrieben, so Frizot weiter, und fast jeder Reisende, der einen
Fotoapparat besaß, sei zum Ethnologen mutiert.44
Der Zusammenkauf von Bildern bei ansässigen oder durchreisenden Fotografen für
wissenschaftliche Zwecke war eine durchaus übliche und weitverbreitete Praxis. Die
so zusammengetragenen Fotografien wurden von Ethnologen und Anthropologen als
Forschungsmittel und Legitimation für die eigene Tätigkeit eingesetzt. Dabei besaßen
Expeditionsbilder besonders hohe Relevanz, da sie als authentische Zeugnisse – man
könnte hier von „Augenzeugenschaft“ sprechen – angesehen wurden.45
Weshalb die Fotografie in der Ethnographie als wissenschaftliche Methode und Forschungsmaterial ihren Einsatz fand, konstatierte Louis Foguier in seinem 1873 erschienenen Buch „Races humaines“ wie folgt:
„Die Unzulänglichkeit der Anthropologie liegt hauptsächlich daran, daß kein
Museum existiert, das reich ist an authentischen Typen möglichst vieler verschiedener Rassen sowie an Individuen, die als typisch für die Rasse gelten
können. Daher ist man sich der Notwendigkeit einer ethnographischen Sammlung von Fotografien bewußt [sic!].“46
Ähnlich wie Kunstwerke in einem Museum für Kunsthistoriker, dienten die Fotografien
den Ethnologen als Rohmaterial und ersetzten Forschungsreisen.47
Wichtig zu betonen ist an dieser Stelle, dass das zeitgenössische Verständnis von Wissenschaftlichkeit und wissenschaftlich-methodischer Strenge anderen Vorstellungen
folgte als heute. Denn eine fremde Kultur „verstehen“ zu wollen, so Jäger, habe aus
zeitgenössischer wissenschaftlicher Sicht zunächst bedeutet, deren Lebenswelt und
Angehörige zu vermessen, zu definieren und zu kategorisieren.48 Mit diesem wissenschaftlichen Verständnis und methodischen Ansatz ist die Vorstellung verbunden,
dass Fotografien als objektive und wahre Abbilder der Realität gesehen wurden, die
nicht zu hinterfragen waren.49 Auch diese zeitgenössische Auffassung von Fotografie
lässt sich so heute nicht mehr aufrechterhalten. Vielmehr hat sich weitestgehend das
wissenschaftliche Verständnis von Fotografie durchgesetzt, dass auch dieses visuelle
Medium jeweils nur spezielle Ausschnitte der Wirklichkeit zeigt, da das Kameraauge
als verlängertes Auge des Fotografen angesehen werden kann, weswegen immer ein
kontextabhängiger und subjektiver Blick auf das Dargestellte im Bild konserviert wird.
Dass Objektivität und Wahrheit keine Eigenschaften sind, die der Fotografie zuge-
44
45
46
47
48
49
Frizot, Der Körper als Beweisstück, S. 268.
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 173 ff.
Louis Foguier, Races humaines, zit. n. Frizot, Der Körper als Beweisstück, S. 268.
Alison Devine Nordström, Populäre Fotografie aus Samoa in der westlichen Welt – Herstellung, Verbreitung,
Gebrauch, in: Jutta Beate Engelhard/Peter Mesenhöller (Hrsg.), Bilder aus dem Paradies. Koloniale Fotografie aus
Samoa 1875–1925, Marburg 1995, S. 13–39, hier S. 15.
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 177.
Susanne Breuss, Fotografie und Volkskunde/Europäische Ethnographie. Einige Überlegungen zur Einführung in
das Kolloquium, in: Klaus Beitl/Veronika Plöckinger (Hrsg.), Forschungsfeld Familienfotografie, Wien-Kittsee 2001,
S. 9–14, hier S. 10.
140
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
historia.scribere 08 (2016)
schrieben werden können – weder im 19. Jahrhundert, noch heute –, dürfte bereits in
den Ausführungen zum Aspekt der Inszenierung evident geworden sein.
Was die Sujets der wissenschaftlich-ethnographisch verwendeten Fotografien anbelangt, existierten unterschiedliche Typen ethnographischer Fotografie, wie beispielsweise anthropometrische Studien, Darstellungen von Berufsgruppen und Kasten oder
Einzelporträts. An dieser Stelle sei nur überblicksartig auf die thematischen Inhalte und
Darstellungen ethnographisch-kolonialer Porträtfotografien verwiesen, das noch folgende Kapitel zu den verschiedenen Typen wird sich ausführlicher damit beschäftigen.
Anzumerken bleibt jedoch schon an dieser Stelle, dass die Aufnahmen meist im Studio
inszeniert wurden und nicht vor Ort, in der „natürlichen“ Umgebung, wie oftmals vorgetäuscht wurde.50
Hinsichtlich der verschiedenen Typen ethnographisch genutzter Fotografie unterschied Gustav Fritsch in den 1870ern die Prinzipien von anthropologischen und von
ethnographischen Aufnahmen. Ethnographische Aufnahmen beschrieb er als Bilder,
die sich auf den Menschen selbst und seine Umgebung bezogen, soweit er sich diese
durch seine Tätigkeit gestaltet hat. Anthropologische Fotografien hingegen konzentrieren sich auf Erfassung von Gesicht und Körper, entblößte Körper, verschiedene Positionen wie Profil-, Rücken-, Seiten- und Frontalaufnahmen. Die Umgebung war dabei
irrelevant und dieser Aufnahmetypus setzte voraus, den betreffenden Menschen viel
stärker zu manipulieren.51
An dieser Stelle wird deutlich, dass
„es [kein] Zufall [ist], daß die ihrem Wesen nach dekontextualisierende Fotografie einer Wahrnehmung fremder Individuen als „Typen“ Vorschub leistete und damit die Konstruktion des kulturell „anderen“ durch die Völkerkunde
begünstigte.“52
Da jede einzelne Fotografie ohne ihren Kontext von sich aus zusammenhangs- und bedeutungslos wirkt, lassen sich vom jeweiligen Betrachter problemlos die unterschiedlichsten Aussageintentionen zuschreiben. Die im Kontext der kolonialen Ethnographie
verbreiteten und genutzten Fotografien konnten sich gegen Fremdzuschreibungen
nicht zur Wehr setzen, sie waren in dieser Hinsicht stumme Quellen, denen durch
fremde Stimmen Bedeutung verliehen wurde. Es bleibt damit zu konstatieren, dass
der zeitgenössische ethnographische Umgang mit Fotografien die heutigen Prinzipien
der historischen Fotografieforschung unterlief, in der die Kontextualisierung einen elementaren Bestandteil der wissenschaftlich-methodisch adäquaten Untersuchung und
Quelleninterpretation darstellt.
Dadurch, dass im 19. Jahrhundert akzeptiert wurde, dass die ethnographische Dokumentation auch eine sinnliche Form der Abbildung darstellen konnte, die auf dem
europäischen Bildprogramm beruhte, war es nicht verwunderlich, dass diese Fotogra50
51
52
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 12.
Gustav Fritsch, zit. n. Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 174.
Nordström, Populäre Fotografien aus Samoa, S. 15.
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141
fien in den Mutterländern rege Verbreitung fanden. Es ging nicht nur um eine wissenschaftliche Qualität der Fotografien, sondern auch um eine ästhetische. So wurden
beispielsweise fotografische Studien von „Eingeborenen“ auf der Weltausstellung 1862
in London mit großem Erfolg gezeigt.53
Die Ethnographie war jedoch nicht die einzige Nutznießerin dieser Forschung anhand
von Fotografien. Auch die Kolonialverwaltung und Planungsstäbe für koloniale Projekte profitierten von dem so entstandenen Wissen und wussten es für ihre Kolonialpolitik
einzusetzen. Bevor sich das folgende Kapitel näher mit dem Verhältnis von Fotografie
und Kolonialismus beschäftigen wird, soll noch kurz auf das bereits angesprochene
Werk „The People of India“ eingegangen werden.
Bei „The People of India“ handelt es sich um ein Handbuch der politischen Verwaltung
und Kontrolle, eine Art ethnographischen Atlas, wie es John Falconer beschreibt.54
Grundlegend lässt sich sagen, „The People of India“ war das Produkt eines Projekts zur
systematischen Zusammenstellung ethnographisch motivierter Genre- und Porträtfotografien aus Britisch-Indien. Diese Sammlung ging auf die Initiative von Lord Charles
John Canning, Generalgouverneur und erster Vizekönig Indiens, und seiner Gattin Lady
Charlotte Canning zurück. Man beabsichtigte damit, sich einen Überblick über die verschiedenen Kasten und Rassen in Britisch-Indien zu verschaffen und diese visuell zu
dokumentieren. Deswegen ließen Lord und Lady Canning, die beide anthropologisch
interessiert waren, aus dem gesamten Subkontinent Fotografien zusammentragen.
Die dadurch entstandene Sammlung an indisch-ethnographischer Porträtfotografie
diente als Basis für „The People of India“, einen Bildband bestehend aus insgesamt acht
Bänden, der jedoch erst nach dem Tode Cannings von John Forbes Watson und John
William Kaye im Auftrag der indo-britischen Regierung zwischen 1868 und 1875 herausgegeben worden ist. Bis heute stellt dieses Werk eine bedeutende Quelle für die
ethnographische Forschung Indiens dar und gilt als wichtiges Referenzwerk zur Geschichte der frühen Fotografie des Subkontinents.55 Auch im zeitgenössischen Kontext
spielte „The People of India“ eine wichtige Rolle für die Ethnographie, denn mit dieser
Publikation fand der Aufstieg der Fotografie zum wesentlichen Hilfsmittel der Erhebung ethnographischer Daten seinen Höhepunkt.56
Fotografie und Kolonialismus
Die in der Ausstellung „Das koloniale Auge“ gezeigten Porträtfotografien sind allesamt
im kolonialen Kontext entstanden. Nachdem der Frage nach der Beziehung von Fotografie und Ethnographie bereits im vorausgegangen Kapitel nachgegangen worden
ist, soll an dieser Stelle das Verhältnis von Fotografie und Kolonialismus thematisiert
werden, denn es ist evident, dass die Entstehung, Verbreitung und Nutzung dieser Fotografien eng mit dem zeitgenössischen kolonialen Diskurs in Verbindung standen.
53
54
55
56
Allana, Das Nachleben, S. 49.
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 26.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 12.
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 28.
142
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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Die visuelle Aneignung der Kultur der kolonialisierten Bevölkerung und des Landes
bildeten schon früh einen Teil der kolonialen Bestrebungen der britischen Regierung.
„Der koloniale Impetus der Regierung Britisch-Indiens, die unter Kontrolle gebrachten Gebiete bzw. deren Altertümer weitestgehend zu ‚kartieren‘ und damit letztlich
auch zu vereinnahmen, hat eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt.“57 Es ist kaum
verwunderlich, dass die Kolonialbehörden für diese Unternehmungen bald schon
auf die Fotografie als visuelles Hilfsmittel zurückgriffen, schließlich habe das perfekte
Abbild der Natur durch die Fotografie, so Gadebusch, bald als das einzige ernst zu
nehmende Hilfsmittel der Wissenschaft gegolten.58 Nachdem zunächst die Landschaft
und die archäologischen Altertümer des indischen Subkontinents visuell erfasst worden waren – durch Karten, Lithographien und später auch durch Fotografien –, folgte
die visuelle Dokumentation der indischen Bevölkerung inklusive der Differenzierung
in Rassen und Kasten, oder wie Gadebusch prägnant zusammenfasst: „[der] bildlichen
Vereinnahmung der materiellen Kultur folgte die fotografische Erfassung der indigenen Bevölkerung.“59
Ein Problem für die systematische fotografische Erfassung der indigenen Bevölkerung
waren die Komplikationen in der Verbreitung dieser Aufnahmen, denn zunächst gab
es noch keine Reproduktionsverfahren, die für die massenhafte Vervielfältigung der
Fotografien adäquat gewesen wären. Daher mussten Zeitungen und Zeitschriften sich
anderer Verfahren für die Vervielfältigung bedienen.60 Neben der Verbreitung von kolonial konnotierten Fotografien in Zeitungen waren auch Postkarten und Kolonialausstellungen schon im 19. Jahrhundert ein beliebtes Mittel der Machtausübung und der
Dokumentation kolonialer Herrschaftslegitimation.61
Das umfassende Sammeln visueller Dokumente durch Amateur- und Profifotografen
diente nicht nur der Ethnographie als Forschungsquelle, sondern entwickelte sich
auch zu einem Instrument kolonialer Kontrolle. Es ist daher kaum verwunderlich, dass
die Anfertigung dieser fotografischen Aufnahmen immer stärker von den kolonialstaatlichen Verwaltungsapparaten reguliert wurde, wie Falconer konstatiert: „Programme zur Dokumentation der physischen Zusammensetzung des Subkontinents wurden
[…] immer mehr zu Angelegenheiten der Kolonialbehörden.“62 Das betraf auch die
beteiligten Fotografen, die mit der Zeit immer häufiger Offiziere des Militärs oder des
Verwaltungsdienstes waren und keine professionellen Fotografen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Briten die im kolonialen Kontext entstandenen Porträtfotografien zu Propagandazwecken nutzten, um ihren kolonialen
Anspruch zu legitimieren. Sie verliehen sich mithilfe der visuellen Konstruktion einer
„unterlegenen Rasse“ in Abgrenzung zu sich selbst die Rolle der Modernisierer, die den
zivilisatorischen Fortschritt in die Kolonien transportieren.
57
58
59
60
61
62
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 11.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Allana, Das Nachleben, S. 47.
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 25 f.
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Typen kolonialer Porträtfotografie
Auch wenn es bereits mehrfach angeklungen ist, sei an dieser Stelle explizit betont,
dass in der vorliegenden Arbeit – und besonders in diesem Kapitel – nicht die koloniale
Porträtfotografie in Indien im Allgemeinen untersucht und thematisiert werden soll,
sondern ausschließlich die Fotografien der Ausstellung „Das koloniale Auge“ als fotografische Quellen zugrunde liegen. Es liegt in der Natur einer Ausstellung, dass hierfür
bereits von den beteiligten WissenschaftlerInnen und KuratorInnen eine Vorauswahl
im Hinblick auf die in der Ausstellung intendierten Aussage- und Deutungsabsichten
getroffen wurde. Daher ist evident, dass es sich hierbei um kein „neutrales“, unbearbeitetes Quellenmaterial handelt. Das soll aber nicht weiter problematisiert werden,
sondern vielmehr ins Zentrum der Untersuchungen gerückt werden. Es gilt daher im
Folgenden zu untersuchen, welche Typen früher kolonialer Porträtfotografie in Indien
in der Ausstellung zu finden waren. Bezüglich des Genres dieser Fotografien lässt sich
festhalten, dass vor allem inszenierte Typenfotografien im kolonialen Umfeld äußerst
populär waren, schließlich „[…] bot die Porträtfotografie die Möglichkeit, Klischees einer fremdartigen Welt ultimativer Exotik zu erschaffen.“63
Wie Jäger konstatierte, sei es nicht möglich, die gewaltige Bildmasse an kolonialen
Fotografien auf ein kohärentes Bildprogramm zu reduzieren, selbst wenn ihnen gemeinsam sei, eher eine imaginäre, auf den europäischen Betrachter zugeschnittene
Geographie zu repräsentieren.64 Auf die Gesamtheit kolonialer Porträtfotografie ist das
sicher zutreffend, allerdings lassen sich bei den Fotografien der Ausstellung „Das koloniale Auge“ einige Gruppen differenzieren. Es bilden sich entsprechende Kategorien
heraus, denen man jeweils entsprechende Aufnahmen zuordnen kann. Die folgende
Nomenklatur und Kategorisierung folgt weitestgehend der Einteilung, die Gadebusch
in seinem Aufsatz „Echtes oder inszeniertes Indien. Der koloniale Blick in der frühen Porträtfotografie Südasiens“ in Bezug auf die Ausstellung vorgenommen hat. Des Weiteren
sei darauf verwiesen, dass aufgrund des begrenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit
keine detaillierten Bildbeschreibungen der einzelnen Aufnahmen vorgenommen werden können, sondern allgemeine Charakteristika des jeweiligen Gruppentypus früher
Porträtfotografie in Indien angeführt werden sollen. Da eine ausführliche Wiedergabe
aller Porträts hier aus Platzgründen nicht möglich ist, sei als begleitende Lektüre der
vorliegenden Arbeit die Publikation „Das koloniale Auge. Die frühe Porträtfotografie in
Indien“ empfohlen.
Verzerrung des „Fremden“
Folkloristische Aufnahmen von tanzenden Bajaderen oder Schauspielern, exotisch
anmutende Fotografien von Schlangenbeschwörern und Fakiren, so lassen sich die
wichtigsten Motive des Typus an Porträtfotografien benennen, die unter der Kategorie
Verzerrung des „Fremden“ zusammengefasst werden können. Mit inbegriffen ist dabei
63
64
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 9.
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 180.
144
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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auch die Abbildung von Fremdartigem, Extremem und Bizarrem, in einem Maße, das
allein der Fantasie der europäisch kolonialen Fotografen entsprang und nichts mit der
realen indischen Lebenswelt zu tun hatte. Besonders augenscheinlich wird die Verzerrung, wenn man die zahlreichen Fotografien von Schlangenbeschwörern heranzieht.
Sie dienten überdurchschnittlich oft als Aufnahmemotiv und wurden als traditionelle
Berufsgruppe in Indien dargestellt, galt dies doch als idealtypischer Beruf eines Inders.
Neben den sogenannten Yogis stellten auch exotische oder wild anmutende Krieger
ein wichtiges Motiv dar, das unter die Kategorie Verzerrung oder falsche Darstellung
des „Fremden“ zu subsumieren ist. Die Krieger wurden hierfür im Studio in Pose gebracht und ihnen wurden Waffen als Accessoires in die Hand gegeben, die nichts mit
dem traditionellen Waffenwerk der indigenen Krieger zu tun hatten. Außerdem waren
Porträts von Fakiren, Asketen und Sadhus häufige Motive, mit denen die Exotik der
Kolonie in die Heimat übermittelt werden sollte.65 Gerade der koloniale fotografische
Blick auf diese Porträtierten war ein besonders voyeuristischer. Vor der Kamera wurden sie meist leicht oder gar nicht bekleidet in Szene gesetzt. Die geschundenen, teilweise auch ausgehungerten und mit Asche beschmierten Körper sollten ein visuelles
Zeugnis ihrer Selbstkasteiung liefern. Fotografien dieser Art fanden in Aufnahmen von
Sadhus mit mächtigen Vorhängeschlössern am Geschlecht ihren Höhepunkt. Der Erfolg solcher Motive bestand nach Gadebusch darin, dass das vollkommen Fremdartige
fasziniert habe. Magere Gestalten, deren Haare bis zum Fußboden reichen, zerzaust
oder wild gelockt, hätten der Imagination der Betrachter von einer exotischen Welt in
der Kolonie entsprochen.66
Im Original ist hier ein Foto von Westfield &
Co., „Asketen mit Vorlegeschloss am Penis“,
Kalkutta, um 1870, abgebildet.
Falsche Darstellung der indischen Kultur
Die Aufnahmen von indischen Tänzerinnen und Tänzern liefern Zeugnis davon ab, dass
die koloniale Porträtfotografie zu einer falschen Darstellung der fremden Kultur tendierte.
„Wie gering das tatsächliche Interesse am indischen Subkontinent war, zeigen
die Fotos von Tanz und Theater, aber auch die Inventarisierung der einzelnen
Kasten und ihrer Berufe. Die Bajaderen und Schauspieler sehen wie Inder in
europäischen „tableaux vivants” aus. Die Holzfäller, Barbiere und Feldarbeiterinnen sind allzu plakativ mit Attributen ausgestattet, die vermeintlich zu ihren
Tätigkeiten gehören.“67
65
66
67
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 14.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 15.
Daniela Zinser, Ausstellung „Das koloniale Auge“. Unterjocht von der Kamera, in: Spiegel Online, 22.7.2012,
[http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/museum-fuer-fotografie-ausstellung-ueber-die-koloniale-sicht-aufindien-a-845386.html], eingesehen 20.10.2014.
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Die fotografisch festgehaltenen und inszenierten „indischen“ Tanz- und Musikperformances müssen als reine Fantasieprodukte dekonstruiert werden, die mehr in der europäischen Tradition standen als in der indischen. Die theaterhaften Darstellungen und
artifiziellen Posen lehnten sich deutlich an die europäischen Tableaux vivants an. Die
Gestik und Körperhaltung erinnerte dabei mehr an europäische höfische Tänze als traditionell indische Gebräuche.68
Im Original ist hier ein Foto von Edward
Taurines, „Tänzerinnen“, Bombay, um 1890,
abgebildet.
Schematisierung und Kategorisierung ethnischer Spezifika
Die Schematisierung und Kategorisierung ethnischer Spezifika in Form von anthropometrischen Porträts bilden einen weiteren Sujettypus der frühen Porträtfotografie in
Indien. Die in den Kolonien angefertigten anthropometrischen Aufnahmen entsprachen Studien der europäischen Kriminalanthropologie, die dort an Verbrechern und
Geisteskranken vollzogen wurden. Durch diese Aufnahmen erfolgte eine Gleichstellung von Angehörigen fremder Ethnien oder Dunkelhäutigen mit Kriminellen.69 Es ist
Gadebuschs Feststellung zuzustimmen, wenn er sagte:
„Es ist vor allem die anthropometrische Fotografie, die aufs Anschaulichste
den kolonialen Blick dokumentiert: Mit selbstverständlicher Überlegenheit
vermessen und kategorisieren die Vertreter der weißen Rasse dunkelhäutige
Menschen und fotografieren sie mit Maßstab oder vor einem Raster.“70
Auch Allana pflichtet dem bei, denn für ihn sei die Anthropometrie ein Instrument
gewesen, mit dessen Hilfe die mathematische Gleichsetzung von Rasse, kulturellem
Status, Physiognomie und Anatomie wie gewünscht hätte durchgeführt werden können.71
Diese anthropometrischen Projekte ließen während des Kolonialismus eine Asymmetrie sichtbar werden, die auch einer Hierarchisierung folgte: Während die Kolonisatoren und deren Verbündete die Körper der Kolonisierten vermaßen, wurden diese zu
reinen Objekten herabgestuft.72
Im Original ist hier ein Foto von Carl
Wilhelm Rosset (?), „Kaveri-Jungen“, Madras,
1881, abgebildet.
68
69
70
71
72
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 15.
Ebd., S. 16.
Ebd.
Allana, Das Nachleben, S. 49.
Erhard Schüttpelz, „Sie zu messen, war leider trotz aller Mühe, die ich mir gab, und trotz aller Geschenke
unmöglich.“ Die anthropometrische Interpellation, in: Gert Theile (Hrsg.), Anthropometrie, München 2005, S.
139–154, hier S. 139.
146
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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Durchbrechen visueller Tabus
In dieser Kategorie wird sichtbar, dass bei den Fotografien, die im kolonialen Kontext
entstanden sind, sehr häufig visuelle Tabus verletzt – wenn nicht gar missachtet –
wurden. Die fotografische Darstellung von Hunger, Armut und Nacktheit – Elemente,
die auch in den anthropometrischen Porträts zum Tragen kamen – widersprach dem
zeitgenössischen Usus und lässt sich als Verletzung visueller Tabus kategorisieren. „Die
in der frühen Porträtfotografie auftauchende erotisch konnotierte Nacktheit ist eine
spezifische Variante des Durchbrechens visueller Tabus in viktorianischer Zeit, vor allem wenn sie nicht der Lebenswirklichkeit der Porträtierten entspricht.“73, konstatiert
auch Gadebusch. Besonders radikal im Hinblick auf das Durchbrechen visueller Tabus
war allerdings die Darstellung von Armut. Was in der europäischen Bildkultur lange als
Sakrileg galt, wurde in der kolonialen Porträtfotografie ohne das Beachten von Schamgrenzen visuell vorgeführt. Besonders schockierend erscheinen diese Fotografien aus
heutiger Sicht gerade dann, wenn den Aufnahmen ein realer historischer Hintergrund
zugrunde lag, wie beispielsweise eine dramatische Hungersnot in Südindien. Darstellungen dieser Art nutzte die britische Kolonialmacht, um ihre zivilisatorische Überlegenheit zu demonstrieren.74
Im Original ist hier ein Foto von Albert
Thomas Watson Penn, „Hungernde“,
Bangalore, 1877–1878, abgebildet.
Frauenbild
Völlig nackt, langes offenes Haar, laszive Posen und verführerische Gesichtsausdrücke,
so lassen sich die Darstellungsmodi der indischen Frauen in der frühen Porträtfotografie zusammenfassen. „In der frühen Porträtfotografie wird zuweilen ein Frauenbild
transportiert, das keineswegs dem Ideal der Europäerin des viktorianischen Zeitalters
entspricht“,75 stellte Gadebusch bei seinen Untersuchungen fest. Die porträtierten
Frauen wurden herausfordernd lasziv dargestellt, mit erotischen Körperhaltungen,
spärlich bekleidet und mit wild gelocktem Haar, das ihnen offen über die Schultern fiel.
Was hier als „typisch indisches Frauenbild“ nach Europa transportiert wurde, entsprach
nicht dem in Indien verbreiteten. Ganz im Gegenteil: die Posen in den Fotografien waren untypisch für Südasien, die weibliche Nacktheit wurde allein von europäischen Fotografen inszeniert. Diese Fotografien von Frauen lassen sich als Projektionsfläche erotischer Fantasien europäischer Männer definieren. Verbreitet wurden diese Aufnahmen
und damit das vermeintlich indische Frauenbild unter anderem als Postkartenmotive.
Die Fotografien fanden Eingang in private Fotoalben und in die anthropologische Forschung, ausgestellt wurden sie hingegen kaum.76
73
74
75
76
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 15.
Ebd.
Ebd., S. 14.
Ebd.
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Im Original ist hier ein Foto von Adolphus
William Andree (?), „Rudiya-Frauen“, Sri Lanka,
um 1900, abgebildet.
Idealisierung, Romantisierung und Ästhetisierung des Wilden
Eine weitere Gruppe an Fotografien kann unter der Kategorie Idealisierung, Romantisierung und Ästhetisierung des „Wilden“ zusammengefasst werden. Die Darstellung
des „edlen Wilden“ ist als Konstante in der frühen anthropologischen Porträtfotografie
hervorzuheben. Damit einhergehend ist in diesem Motivtypus die Betonung der Naturverbundenheit der „Wilden“. Als Topos der frühen Porträtfotografie der indigenen
Bevölkerung lässt sich der Dreiklang natives, nature und nudity ausmachen. Es handelt
sich dabei um die visuelle Umsetzung der weitverbreiteten stereotypen Vorstellung
des „Wilden“, der im Einklang mit der Natur lebt. Um diesen Stereotyp zu visualisieren,
wurden den fotografisch porträtierten Personen häufig vermeintlich typische Attribute
zugewiesen beziehungsweise wurden diese für die Inszenierung verwendet. Bei Aufnahmen dieser Sujets, die im Fotoatelier entstanden sind, kamen meist romantische
Landschaften als Hintergrund zum Einsatz. Wie bei den meisten anderen auch, wurden
die Fotografien, die eine Idealisierung, Romantisierung und Ästhetisierung des „Wilden“
zum Ziel hatten, im Hinblick auf ihre ästhetische Wirkung komponiert und inszeniert.
Wie bereits der Kategoriename nahelegt, ging es bei diesem Typus keinesfalls um eine
realistische Darstellung des Lebens der indigenen Bevölkerung, sondern vielmehr sollten hier die europäischen Vorstellungen visuell befriedigt werden. Die Tendenz zur Ästhetisierung, Romantisierung und Idealisierung in der frühen Porträtfotografie in Indien war seit den 1860er- und 1870er-Jahren existent und wurde zunehmend populärer.
Im Original ist hier ein Foto von A. W.A.
Platé & Co., „Schauspieler aus einer
tamilischen Theatergruppe“, Sri Lanka, um
1900, abgebildet.
Es ist auffällig, dass die vermeintlich „Wilden“ häufig nackt abgelichtet wurden, denn
Nacktheit stand im zeitgenössischen Diskurs auch für die angenommene Nähe der
Eingeborenen zu den Tieren und wurde daher als Chiffre für eine niedrigere Evolutionsstufe interpretiert. Der nackte „Wilde“, umgeben von einer lieblich romantischen
Landschaft, galt als beliebtes Postkartenmotiv in Europa.77
Herrscherporträts
Die letzte Kategorie, die Gadebusch für den Bestand der kolonialen Porträtfotografie
aus Indien, der in der Ausstellung präsentiert wurde, definierte, war die der Herrscher-
77
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 16 f.
148
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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porträts des indischen Adels. Die Funktion dieser Herrscherporträts lässt sich wie folgt
zusammenfassen:
„Sie berichten vom Glanz des unter der Herrschaft des britischen Königreiches
stehenden indischen Subkontinents und sie ist gleichermaßen Symbol des
Austausches zwischen Herrscherhäusern, wie es auch an den europäischen
Höfen weit verbreitet war.“78
Es wird deutlich, dass diese Kategorie im Vergleich zu den anderen große Differenzen
aufweist. Während in den anderen Typen der kolonialen Porträtfotografie das hierarchische Machtverhältnis von überlegenen Europäern und untergebener Bevölkerung
– hier verkörpert durch Fotograf und Modell – immer impliziert wird, weisen diese
Fotografien einen fast schon ebenbürtigen und gleichwertigen Charakter im Hinblick
auf ihr europäisches Pendant auf. Zwischen den europäischen Adelsfamilien war es
üblich, Fotografien „Einzelporträts oder Gruppenaufnahmen […] als Cartes de Visite,
als großformatige Fotografien und als Fotopostkarten zu gegebenen Anlässen oder in
bestimmten Situationen an Verwandte und Freunde [zu verschenken].“79 Diese soziale
Praxis des Fotografie-Austausches hatte ihre Vorläufer in der Bildzirkulation von Miniaturmalereien, die ebenfalls unter den Mitgliedern der europäischen Adelsfamilien getauscht wurden. Mit der Fotografie weitete sich diese Praxis nun auch auf herrschaftliche Familien in Indien aus. Besonders zwischen den englischen und indischen Adelsfamilien kam es zu einem regen Austausch von Porträtfotografien. Diesen Austausch
darf man allerdings nicht auf seine soziale Praxis reduzieren, sondern es gilt auch den
politischen Aspekt dieses Verfahrens zu beachten. Die Strukturen und Beziehungen,
über die der Bilderaustausch verlief, sagten viel über das hierarchische Verhältnis der
beteiligten Herrscher aus. Über den Austausch von Porträts versicherte man sich der
politischen Verbindungen. Darüber hinaus boten die Porträts die Möglichkeit für den
jeweiligen Herrscher, sich und seine Macht durch die entsprechende Inszenierung vor
der Kamera visuell zu repräsentieren. Auf diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass in der Darstellung der Herrscher in europäischen und indischen Porträtfotografien große Gemeinsamkeiten zu finden sind: Gestik, Mimik, Positionierung, Inszenierung und Pose vor der Kamera lassen keinerlei Unterschiede erkennen.80
„Der Adel präsentierte sich in ganzer Pracht. Die Abzüge zeigen hinduistische
Maharadschas und islamische Fürsten in prunkvoller Kleidung, umgeben von
Kriegsgerät und Dienerschaft. Die Briten brauchten sie, um ihre Herrschaft zu
sichern, und so sehr die Aufnahmen auch Selbstdarstellungen der indischen
Herrscher sind, sie stehen doch in Aufbau und Haltung in der Tradition europäischer Fürstenbilder“,81
so fast Zinser die Herrschaftsporträts zusammen.
78
79
80
81
Derenthal, Bilder der Mächtigen, S. 34.
Karin Hartewig, Der sentimentalistische Blick. Familienfotografien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Klaus Tenfelde
(Hrsg.), Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 215–239, hier S. 237.
Derenthal, Bilder der Mächtigen, S. 34.
Zinser, Ausstellung „Das koloniale Auge“.
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Der koloniale Blick der Fotografie
Nach der näheren Betrachtung der verschiedenartigen Typen kolonialer Porträtfotografie in Indien stellt sich die Frage nach dem spezifisch kolonialen Blick, der sich in
diesen Fotografien offenbart beziehungsweise mit dem im zeitgenössischen Kontext
auf diese Bilder geschaut wurde – sei es vonseiten der Fotografen, Kolonialbeamten,
Ethnographen oder der Bevölkerung, der diese Bilder aus den Kolonien in Form von
Kolonialausstellungen, Postkarten und als Bebilderung bei Vorträgen und Publikationen in England präsentiert wurden. Besonders augenscheinlich dabei ist, dass in den
einzelnen fotografischen Porträtaufnahmen die eurozentrische, vom Kolonialdenken
geprägte Perspektive immer bildimmanent war. Es ist bereits an dieser Stelle vorwegzunehmen, dass sich der koloniale Blick zunächst in den Fotografien selbst durch
Formen der Inszenierung und Re-Inszenierung offenbart, die den Anspruch der europäischen Überlegenheit herausstreichen. Das Fremdartige, Exotische und Primitive
erfährt hierbei explizite Betonung.82
Wie Jäger hervorhob, habe sich der sogenannte „ethnographische“ Stil im Zuge des
Kolonialismus und des Aufstiegs der Ethnographie als wissenschaftlicher Disziplin im
19. Jahrhundert zu einem Produktmerkmal entwickelt, das den Absatz entsprechender
Fotografien signifikant förderte.83 Als Kaufanreiz diente hauptsächlich die Betonung
regionaler oder ethnischer Eigenheiten einer Person oder Personengruppe in Bezug
auf die Differenz zur europäischen Bevölkerung. In den Porträtaufnahmen der kolonialisierten Bevölkerung fand der Kolonialgedanke der Differenzierung und Hierarchisierung von Völkern seine visuelle Manifestation. Anders gesagt: Die Konstruktion von
Unterschieden mittels fotografischer Technik stellte einen Kerngedanken des kolonialen Blicks dar.
Im Hinblick auf die Komposition und Inszenierung der im kolonialen Kontext entstandenen Porträtfotografien der indigenen indischen Bevölkerung ist im Vergleich zu
den in Europa entstandenen Aufnahmen evident, dass die Gestaltung der kolonialen
Fotografien an europäische Sehgewohnheiten angepasst wurde.84 Auch Falconer stellte bei seinen Untersuchungen fest, dass „[wie] andernorts auch, […] die Berufsfotografen des Landes in ihren Aufnahmen von ethnischen Gruppen und „exotischen“ Rassen
den europäischen Geschmack [bedienten].“85 Das überrascht nicht weiter, war doch
der Markt für koloniale Bilder vor allem in Europa und damit für ein europäisches Publikum bestimmt, das mit dem viktorianischen Bildprogramm vertraut war. Die kolonialen Porträtfotografien weckten und erfüllten die verschiedensten Bedürfnisse und
Begehren und erwarben sich in der visuellen europäischen Kultur ihren festen Platz,
oder anders gesagt, sie wurden zu einem ihrer integralen Bestandteile. Besonders einflussreich waren die Abbildungsmodi, die durch Art und Weise der Inszenierung jene
Bedeutungen und Sinngebungen intendierten, wie das Dargestellte zu interpretieren
82
83
84
85
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 14.
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 176.
Ebd., S. 177.
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 25.
150
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
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und auf welche Weise mit dem übermittelten Wissen umzugehen sei. Gerade Bilder im
Allgemeinen und Fotografien im Speziellen hatten eine zentrale Rolle in der Konstruktion von nationalen und imperialen Identitäten, kulturellen Differenzen, rassistischen
und sozialen Vorstellungen im kolonialen Kontext.86
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Fotografien aus den Kolonien in den Mutterländern, in diesem Beispiel England, die „westlichen“ Vorstellungen von anderen,
außereuropäischen Kulturen formten.87
Hier äußert sich eine wichtige Eigenschaft von Bildern, die auch Fotografien innehaben:
Sie besitzen die Macht, verschiedene Elemente und Aussagen in einer Darstellung zu
komprimieren und sie lassen den Spielraum für Assoziationen, die ihnen eingeschrieben werden können, ohne dass dies Intention des Künstlers oder Fotografen gewesen
wäre oder dem Aufnahmekontext entsprochen hätte. Wissenschaftlich ist diese Variationsvielfalt an Interpretationsmöglichkeiten und das Fehlen von faktischen Bezügen
zum Herstellungskontext äußerst problematisch, im Diskurs des politisch-kolonialen
Gebrauchs konnte diese Eigenschaft der Bilder hervorragend in den Dienst der Kolonialpropaganda gestellt werden. Auch Jäger spricht den Fotografien diese mediale
Kompetenz zu, oder wie er sagt: „Fotografie materialisierte häufig diffuse Annahmen,
etwa bezüglich vermeintlicher Gegensatzpaare wie ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘, indigen und
europäisch, zivilisiert und wild und so weiter.“88 Erklärend fügt er hinzu, dass Fotografien ein wichtiges Transportmittel der Kolonialpolitik darstellten. Sie zeigten zwar aus
Sicht des Publikums etwas Exotisches, Fremdartiges oder gar „Wildes“, aber dies in einer
ästhetisch vertrauten Form, die der heimischen Fotografie in Komposition, Inszenierung und Darstellungsmodus glich.89
In diesem Sinne sei die Fotografie gemäß Jäger als ein Mittel der Konstruktion und Normierung neuer kultureller Formen zu sehen.90 Die Fotografie stellte damit weit mehr als
ein rein visuelles Abbildungsmedium dar. Durch ihre Wirkungsmacht im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext nahm sie die Rolle einer sozio-kulturellen Praxis ein. Ihre
Bedeutung im kolonialen Diskurs gewann sie vor allem durch die von ihr offerierten
Möglichkeiten für variable Zuschreibungen und Verwendungszusammenhänge.91 An
dieser Stelle gilt es zu betonen, dass die Fotografien von sich aus stumm sind und keine expliziten Aussageintentionen beinhalten oder gar visualisieren. Vielmehr werden
den Fotografien erst im Gebrauch und Umgang mit ihnen Bedeutung zugeschrieben
und ihnen wird nur in dem Kontext, in dem sie rezipiert werden, eine suggestive Aussagekraft verliehen. Dies ist nicht nur ein Charakteristikum der frühen Porträtfotografie
in Indien, sondern trifft auf die Fotografie im Allgemeinen zu. Es ist in Bezug auf die
Zuschreibungs- und vielfältige Deutungsfunktion der Fotografie, wie sie auch im kolo-
86
87
88
89
90
91
Jens Jäger, „Heimat“ in Afrika. Oder: Die mediale Aneignung der Kolonien um 1900, in: zeitenblicke 7, Nr. 2,
Onlineversion, [http://www.zeitenblicke.de/2008/2/jaeger], eingesehen 15.5.2014, Abs. 6.
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 176.
Ebd., S. 169.
Jäger, „Heimat“ in Afrika., Abs. 17.
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 180.
Jäger, Bilder der Neuzeit, S. 79.
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nialen Diskurs zur visuellen Konstruktion eines als exotisch und wild definierten „Anderen“ instrumentalisiert wurde, einzuschränken, dass nicht jede Fotografie eines europäischen Fotografen, die in Indien aufgenommen worden ist, automatisch ein Element
dieses kolonialen Diskurses – in dem es um Zuweisungen von Hierarchisierungen und
Machtansprüchen ging – das Abgebildete explizit zum Fremden oder Anderen erklärte. Vielmehr geschah dies erst im Kontext der Bildverwendung.92
Wie Maikowski konstatierte, sei es eine weitere wichtige Funktion der kolonialen Aufnahmen gewesen, gesellschaftliche Normen zu etablieren. „Die Anderen“ sollten auf
den Bildern so fremd und je nach Kontext so exotisch oder bedrohlich wie möglich
erscheinen. Dabei sei das „Fremde“ – aus dem eigenen Blickwinkel – als fremd sichtbar
gemacht worden. In diesem Sinne hätten diese Bilder die Macht, zu besitzen und zu
betrachten, repräsentiert.93 Es wäre zu simplifizierend, allein der Fotografie die Macht
zuzuschreiben, das Bild des Fremden zu konstruieren und zu vermitteln. Vielmehr muss
dies der Verbindung von Geographie, Reiseliteratur, Anthropologie und Fotografie zugeschrieben werden. Bei jedem dieser Elemente ging es um eine Begegnung mit dem
Fremden, indem man bisher nicht bekannte Orte bereiste und die dort ansässigen
Menschen beobachtete. So entstand ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine veränderte
Vorstellungswelt der Fremde und des Fremden, sei es durch direkten Kontakt oder
über medial vermittelte Darstellungen. Die Vorstellungen von einem anderen, exotischen und fremden Gegenüber hingen im kolonialen Diskurs äußert eng mit den
Vorstellungen, die man von sich selbst pflegte, zusammen und auch damit, wie diese
Eigencharakterisierung mit den von außen herangetragenen Bildern – in diesem Falle den kolonialen Porträtfotografien in Indien – in Einklang zu bringen war. Man darf
bei den Eigen- und Fremdzuschreibungen mithilfe der Fotografie allerdings nicht von
homogenen Deutungsabsichten und Rezeptionsauffassungen ausgehen. Es wäre irreführend anzunehmen, dass die von der Kolonialpropaganda intendierten Interpretationen der Bildinhalte so universal vom Publikum rezipiert wurden. Auch hier existierten
verschiedenartige Variationen an Auffassungen, denn die Beziehung war außerordentlich vielfältig und durch zahllose Austauschprozesse geprägt. Zum einen kam es nicht
nur in Form von Fotografien zur Konfrontation mit Ereignissen, Sichtweisen und Personen aus den Kolonien, sondern auch durch direkten Kontakt, Erzählungen, Berichte
oder Völkerschauen. Zum anderen standen sich keinesfalls klar abgrenzbare Identitäten der Europäer und der Kolonialisierten gegenüber. Allerdings nahm die Fotografie
eine zentrale Rolle dabei ein, Identitäten zu schaffen, herauszufordern, umzudeuten
oder neu zu entwerfen.94
Damit die Fotografie diese signifikante Position im kolonialen Diskurs der Selbst- und
Fremdzuschreibungen einnehmen konnte, sei, so Nordström, sowohl der wissenschaftliche als auch der populäre Gebrauch der frühen Fotografien durch den Glauben an die
92
93
94
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 177.
Laura Maikowski, Widerstandsbilder. Repräsentation von antikolonialem und antirassistischem Widerstand im Bild,
Dipl. Potsdam 2005, Onlineversion, [http://www.bildargumente.de/pdf/WB_theorie_screen.pdf ], eingesehen
15.5.2014, S. 28.
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 169.
152
Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas
historia.scribere 08 (2016)
Authentizität fotografischer Darstellungen geprägt gewesen. Nichtwestliche Kulturen
seien als „Objekte“ westlicher fotografischer Bildproduktion definiert und bewertet
worden.95 „Objekt“ ist in diesem Fall so zu verstehen, dass die abgebildeten Personen
eben nicht als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen wurden, von denen jede
einen eigenen biographischen Hintergrund hat, sondern als Repräsentanten für kollektive, kolonialpropagandistische oder ethnographisch-wissenschaftliche Aussagen.
Sie wurden stellvertretend für den ganzen Typus einer bestimmten „Rasse“ fotografiert.
Was die Motive anbelangt, „[bestimmte] die Überzeugung von der „Authentizität“ der
Darstellungen […] Standard und Wiederholung der Motive. Gleichzeitig wurden sie von
den Absatzmöglichkeiten auf dem internationalen fotografischen Markt bestimmt.“96
Nordström spricht hier ein weiteres Charakteristikum der kolonialen Porträtfotografie
und damit auch des kolonialen Blicks an. Neben den „wissenschaftlichen“ und kolonialpolitischen Interessen bestimmten auch ökonomische Faktoren die Fotografieproduktion. Die Porträtaufnahmen aus Indien waren in Europa und besonders in England
ein äußerst erfolgreiches Handelsgut und sorgten mit ihren hohen Absatzzahlen für
stattliche finanzielle Einkünfte. Die Attraktivität der Motive bestimmte den Kaufanreiz.
Ökonomisch erfolgreich waren vor allem jene Fotografien, die den Vorstellungen der
britischen Bevölkerung von Indien entsprachen und deren Motive die entsprechende
Balance aus Exotik und Vertrautheit aufwiesen. „Die Bildinhalte wurden von den Erwartungen und Stereotypen ihrer jeweiligen Produzenten geprägt, und diese förderten
damit zugleich den Fortbestand der „Bilder“ im kollektiven Bewußtsein des Westens“,97
bestätigt auch Nordström in ihren Ausführungen. Damit ist der ökonomische Wert der
kolonialen Porträtfotografie ein weiteres konstitutives Element der Motiv- und Inszenierungswahl.
Charakteristisch für den kolonialen Blick in den frühen Porträtfotografien und dessen
erfolgreichen Einsatz im kolonialen Diskurs war, so Jäger, dass die Bilder auf die Imagination eingewirkt und so möglicherweise Vorstellungen einer potenziellen Kolonisierbarkeit geschaffen hätten, was auf die tatsächliche Kolonialpolitik zurückgewirkt
habe.98 In Jägers Feststellung manifestiert sich die Funktion der Fotografie als Gedächtnisform beziehungsweise einer Art visuellen Erinnerung, über die sich kulturelle Identität entwickeln kann. Die Faktoren der Bildproduktion, der Bilddeutung und des alltäglichen Bildgebrauchs nehmen in der identitätskonstituierenden Macht der Fotografie
entscheidende Rollen ein, denn sie stellten die funktionalen Elemente dar, durch deren
Wechselwirkung sich eine kollektive visuelle Erinnerung qua Fotografien entwickelte.99
Aus dieser identitätsstiftenden Funktion der Fotografie lässt sich für den kolonialen
Diskurs der indischen Porträtfotografien auch konstatieren, dass rassistische Grundannahmen über die Ordnung der Welt, wie sie im europäisch-kolonialen Verständnis existent waren, sicherlich zeitgenössische Deutungshorizonte bildeten. Es aber darf nicht
95
96
97
98
99
Nordström, Populäre Fotografien aus Samoa in der westlichen Welt, S. 15.
Ebd., S. 16.
Ebd.
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 177.
Breuss, Fotografie und Volkskunde/Europäische Ethnographie, S. 11.
historia.scribere 08 (2016)
Maria Buck
153
vergessen werden, dass sich darin das Bedeutungspotenzial der Fotografien nicht
vollständig erschöpfte. Eben weil Fotografien keine eindeutigen Interpretations- und
Lesarten implizieren, waren neben der offiziellen kolonialpolitischen Deutungsabsicht
immer auch davon abweichende, individuelle Sichtweisen des jeweiligen Betrachters
möglich. Die eigenen Alltagserfahrungen, die imperiale Politik und das in Europa kursierende koloniale Selbstverständnis stellten ebenfalls Bezugspunkte dar, unter deren
Einfluss der koloniale Blick auf die Porträtfotografien stand.100
Jäger schreibt den Fotografien im kolonialen Kontext eine weitere Funktion zu und
interpretiert den kolonialen Blick der Fotografien auf seine ganz eigene Art und Weise.
So liegt die Besonderheit der Fotografie für Jäger darin, dass die betroffenen Menschen
aufgezeichnet worden seien und damit lägen Dokumente vor, die die Ausgegrenzten und Marginalisierten als Individuen zumindest „sichtbar“ gemacht hätten.101 Sicher
sind die Fotografien als Dokumente von ausgegrenzten und marginalisierten Personengruppen zu sehen, insgesamt aber ist Jägers Aussage äußerst kritisch zu beurteilen und zu hinterfragen. Denn es drängt sich nach der im vorangegangenen Kapitel
vorgenommenen genaueren Betrachtung der Fotografien die begründete Frage auf,
ob die abgebildeten Personen tatsächlich als Individuen sichtbar werden. Auch wenn
diese Frage nicht nur die koloniale, sondern die frühe Porträtfotografie im Allgemeinen
betrifft, so stellt sie sich im kolonialen Kontext umso eindringlicher. Es drängt sich beim
Betrachten der Fotografien und vor allem bei der Untersuchung der Gebrauchs- und
Repräsentationsmodi ebendieser Aufnahmen der Eindruck auf, dass die abgebildeten
Personen mehr als Objekte denn als Individuen präsentiert beziehungsweise rezipiert
worden sind. Der Repräsentationsgedanke ist im kolonialen Blick deutlich stärker präsent als das Bestreben nach der Abbildung von Individuen.
Fazit
Hinsichtlich der eingangs aufgeworfenen Frage, wie sich der koloniale Blick in den
frühen Porträtfotografien aus Indien äußerte und welche Konsequenzen dieser für
die Entstehung, Verbreitung und Rezeption der fotografischen Porträts der indischen
Bevölkerung hatte, lässt sich abschließend konstatieren, dass der koloniale Blick ein
allgegenwärtiges Phänomen in diesen Porträts war und sich auf unterschiedliche Weise manifestierte. Die Fotografien dienten im kolonialen Diskurs als Deutungshorizont
des zeitgenössischen Indien-Bildes und prägten die Imagination der europäischen Betrachter. Schlangenbeschwörer, Fakire, prächtige Edelleute, Traditionen und Trachten
sind als wiederholende Motive auszumachen. Mit Falconer lässt sich prägnant festhalten, wie sich der koloniale Blick in den Motiven manifestierte:
„Diese Motive, die die exotische „Andersartigkeit“ der indischen Kultur unterstrichen, wurden für den europäischen Markt bis weit ins 20. Jahrhundert hin-
100
101
Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 181.
Ebd., S. 173.
154
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ein produziert und fanden ihren Weg in viele ethnographische Sammlungen,
wo sie, vielfach fragwürdig, als zuverlässige Bildquellen verwendet werden.“102
Der koloniale Blick lässt sich somit als der europäische Blick der Kolonisatoren und der
im Mutterland heimischen Bevölkerung definieren, der diese Porträts prägte. Dieser ist
in jeder dieser Aufnahmen existent, weswegen diese Porträtfotografien kein Zeugnis
von der Kultur und den Menschen Indiens ablegen, sondern vielmehr eine Interpretation der kolonialen Sicht widerspiegeln. Der koloniale Blick, der auf Motive, Inszenierungen, Interpretationen und Rezeptionen einwirkte und darin evident wurde, manifestierte sich in den Fotografien so erfolgreich, weil er mit einem allgemeingültigen
Charakteristikum von Bildern korrespondierte:
„Bilder sind keine neutralen 1:1-Wiedergaben einer unabhängig existierenden
äußeren Realität. Bilder sind vielmehr spezifische Ausschnitte aus einer bestimmten Realität: In jedem Bild kommt der individuelle Blickwinkel der fotografierenden Person zum Tragen. Bilder können deshalb nie objektive Abbilder
dieser Realität sein. Vielmehr leisten sie im Sinne des Blickwinkels, aus dem sie
gemacht wurden, einen Beitrag dazu, wie der durch sie adressierte Gegenstand wahrgenommen werden kann.“103
Es lässt sich damit abschließend festhalten, dass die frühen Porträtfotografien aus Indien, die signifikant vom europäisch geprägten kolonialen Blick durchdrungen waren,
mehr über das Selbstverständnis der Kolonialmacht aussagen, als über das, was sie
vorgeben zu porträtieren: die Bevölkerung und Kultur des indischen Subkontinents.
Aus der heutigen postkolonialen Perspektive gilt es auch, bei der Beschäftigung mit
diesen Bildquellen das heutige Indienbild neu zu überdenken, denn „[betrachtet] man
die Bildtradition in der fotografischen Rezeption Indiens, wird deutlich, dass gerade
solche Aufnahmen einen wesentlichen Anteil hatten an bis heute unser Indien-Bild
prägenden klischeehaften Vorstellungen.“104 Die Porträts von Fakiren, Bajaderen und
Maharadschas haben ein Bild von Indien geprägt, das den Subkontinent als Land der
Extreme charakterisiert. Aber die Zuschreibungen von einem wilden, exotischen Land
finden sich bis heute in der Vorstellungswelt über Indien wieder. Reisereportagen
von Indien zeigen auch aktuell Bilder voller Exotik und Armut, betonen die Andersartigkeit und spielen mit der Faszination, die das Fremde erwecken soll. Auch wenn
der koloniale Impetus in der Rezeption dieser Fotografien verschwunden ist, gilt es
zu überdenken, ob ein postkolonialer Blick nicht auch neue Motive mit sich bringen
sollte, oder ob man bei den Motiven verharrt, die schon in Prince Albert Edwards Fotoalben Eingang fanden und den kolonialen Blick inkludierten.
102
103
104
Falconer, Ethnographische Fotografie in Indien, S. 27.
Maikowski, Widerstandsbilder, S. 13 f.
Gadebusch, Echtes oder inszeniertes Indien, S. 15.
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Maria Buck
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20.10.2014.
Maria Buck ist Studentin der Geschichtswissenschaft (MA) an der Universität Innsbruck im 4. Semester. maria.buck@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Maria Buck, Von Fakiren, Bajaderen und Maharadschas. Der koloniale Blick in der frühen
Porträtfotografie Indiens, in: historia.scribere 8 (2016), S. 127–156, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
historia
scribere
08 (2016)
Best-Paper-Award &
UNO Center Austria Preis in transatlantischer
Geschichte
gesponsert von der Philosophisch-Historischen Fakultät
historia
scribere
08 (2016)
Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien. Der
Aufstieg des spanischen Kolonialreiches an der Wende zur
Frühen Neuzeit
Lisa-Marie Gabriel
Kerngebiet: Neuzeit
eingereicht bei: ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz Noflatscher
eingereicht im Semester: SS 2014
Rubrik: SE-Arbeit
Abstract
Early modern colonialism: The Spanish Empire. About its rise at the
turn of the Early modern period
The following seminar-paper deals with early modern colonialism by the
example of the Spanish Empire. How and why was the formerly small kingdom
Castile-Aragón successful in conquering the so-called ‘new world’ and as
a result in establishing one of the largest empires of global extent in world
history from the 15th to 16th century? In this context, the paper analyses the
conditions on the Iberian Peninsula at that time as well as the backgrounds of
the overseas-conquest, including the impact on the indigenous population, to
clarify the question of how the Spanish colonialism was designed.
Einleitung
Wollte man die Frühe Neuzeit charakterisieren, wäre die ‚Entdeckung der Welt‘, wie es
so schön heißt, sicher ein wesentlicher Indikator. Diese recht optimistisch anmutende
Formulierung täuscht allerdings nur kurz darüber hinweg, dass die Entdeckung der
Welt nicht nur die Erschließung neuer Gebiete und den Kontakt mit anderen Kulturen
zur Folge hatte, sondern im Wesentlichen die europäische Expansion, also den Aufstieg
Europas durch die Landnahme fremder Gebiete und die Ausbeutung fremder Ethnien
– kurz: den frühneuzeitlichen Kolonialismus – begründete. Ein Faktor, der den Aufstieg
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.476ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
160
Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
historia.scribere 08 (2016)
und Fall ganzer Reiche zur Folge hatte und die Welt im wahrsten Sinne neu ordnete.
So auch im Falle des späteren Spaniens. Bedingt durch seine Expansion im Spiegel
einer von Abenteuerlust und Entdeckerdrang geprägten Epoche gelang dem in seinen Anfängen noch verhältnismäßig kleinen Herrschaftsbereich an der westlichen
Peripherie des mittelalterlichen Europa der Aufstieg zur führenden Kolonialmacht der
Frühen Neuzeit. Spanien avancierte durch den frühneuzeitlichen Kolonialismus, den
es entscheidend mitgetragen hatte, nicht nur zur neuen Großmacht Europas, sondern
begründete im gleichen Zuge auch ein knapp vier Jahrhunderte überdauerndes Weltreich.
Dieses böte zweifelsohne zahllose Möglichkeiten zur Untersuchung, doch sind es gerade die Anfänge des europäischen Ausgreifens auf damals zum Teil noch unbekannte
Teile der Welt und die wesentliche Rolle der iberischen Reiche jener Zeit, die im hier
vorliegenden Arbeitskontext besonders interessieren. Denn wie kam es – mit Blick auf
andere etablierte (Groß-)Mächte, wie etwa England, das Heilige Römische Reich oder
auch die italienischen Stadtstaaten – zu diesem schier kometenhaften Aufstieg eines
seinerzeit noch gar nicht existenten Spaniens? An welche Voraussetzungen knüpfte
sich der Aufstieg zur führenden Kolonialmacht der Frühen Neuzeit? Wie ging die Entdeckung und Landnahme vonstatten? Welche Ziele verfolgte der spanische Kolonialismus, und wie konnte noch im 16. Jahrhundert ein Kolonialreich in Übersee etabliert
werden, als weite Teile des neu entdeckten Kontinentes noch weiße Flecken auf den
Landkarten darstellten? Diese Fragen gilt es im Zuge der nachfolgenden Untersuchung
anhand der einschlägigen Literaturrecherche und unter Bezugnahme auf zeitgenössische Quellen zu beantworten.
Anzunehmen ist, dass sich am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit insbesondere auf der Pyrenäenhalbinsel ganz wesentliche Entwicklungen für die europäische
Expansion vollzogen haben, da es ausgerechnet den dort ansässigen Kleinmächten
gelungen war, ihren sich seinerzeit erst formierenden Machtbereich weit über die
Grenzen der damals bekannten Welt hinaus zu erweitern. Zu überprüfen ist in diesem Zusammenhang, ob die Voraussetzungen für einen Aufstieg der iberischen Reiche
möglicherweise schon länger günstig waren oder ob hier eher zufällig Faktoren aufeinandertrafen, die ein Expandieren nach Übersee begünstigten. Auch könnte überlegt werden, ob im Gegensatz zu den Expansionstendenzen im Europa des 15. und
16. Jahrhunderts zeitgleich Anzeichen für einen prinzipiellen kulturellen Niedergang
in der Neuen Welt festzumachen waren. Oder aber, ob der spanische Kolonialismus
schlicht von entsprechend ‚erfolgreicher‘, das heißt gewaltbereiter Planung und Ausführung begleitet war. Hypothesen, die es im Verlaufe dieser Arbeit zu klären gilt.
Ein erster Teil der Arbeit widmet sich dabei zunächst der Erläuterung wichtiger Kernbegriffe rund um das Themenfeld ‚Kolonialismus‘, um die Grenzen des eigentlichen
Untersuchungsgegenstandes abzustecken. Darauf folgt ein einführendes Kapitel in
Geschichte und Grundzüge des spanischen Kolonialreiches, von den ersten Ansätzen
kolonialer Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel bis zum Ausgreifen des späteren Spaniens auf die Neue Welt seit dem 15. Jahrhundert. Anschließend widmet sich ein drit-
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ter größerer Abschnitt dem Schwerpunkt dieser Arbeit: Jenem historischen Moment,
das den Aufstieg und die Etablierung Spaniens zur (außer-)europäischen Großmacht
am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit markiert. Hier wird nicht nur auf die
Voraussetzungen für die spanische Expansion, sondern vor allem auch auf den Aspekt
der Landnahme in Übersee – sowohl aus spanischer als auch aus überseeischer Warte
betrachtet – eingegangen. Den Abschluss bildet schließlich die Frage danach, wie der
spanische Kolonialismus insgesamt beschaffen war und wie dieser letztlich auch zu
bewerten ist.
Was den Literatur- und Forschungsstand anbelangt, so sind die Umstände und Entwicklungen des spanischen Kolonialreiches umfassend erforscht. Oder, um bereits
einleitend Eberhard Schmitt, Herausgeber der Reihe „Dokumente zur Geschichte der
europäischen Expansion“, zu zitieren: „Die Literatur zum Stoff ist naturgemäß außerordentlich umfangreich und wächst schnell weiter an“.1 So auch im hier vorliegenden
Falle, wobei zahlreiche Werke aus den 1980er- und 1990er-Jahren stammen. Zum allgemeinen Überblick wurden die Online-Version der „Enzyklopädie der Neuzeit“ sowie
diverse Ausgaben zur Geschichte Spaniens konsultiert. Etwa Klaus Herbers „Geschichte
Spaniens im Mittelalter“, erschienen 2006, oder Walther L. Berneckers „Spanische Geschichte“ mit Fokus auf Neuzeit und Moderne aus dem Jahr 1999. Für die begriffliche
Annäherung war vor allem Jürgen Osterhammels und Jan C. Jansens bereits in siebter
Auflage in der C. H. Beck Reihe Wissen erschienener Band „Kolonialismus“ sehr hilfreich.
Selbiges gilt für Josep Fraderas 2008 publizierten Aufsatz „Spanien – Ursprung des
modernen Kolonialismus“, der einen umfassenden Überblick zum spanischen Kolonialreich bietet und als exemplarisches Beispiel „wissenschaftlicher Selbstreflexion“2 gilt.
Zum Begriffsfeld ‚Kolonialismus‘
Zum Themenfeld ‚Kolonialismus‘ seien vorab drei Dinge festgestellt: Erstens beschreibt
dieser gemeinhin negativ konnotierte Begriff, der mit Aspekten wie „Fremdbestimmung, Rassismus, gewaltsame[r] Usurpation und illegitime[r] Aneignung“3 verbunden
ist, zunächst schlicht eine Herrschaftsform, die ganz unterschiedliche Ausprägungen
haben kann.4 Zweitens geht der Begriff des Kolonialismus oft mit verwandten Termini
wie ‚Imperialismus‘ oder ‚Expansion‘ konform, weshalb auf diese nachfolgend ebenfalls
kurz eingegangen wird. Drittens ist der frühneuzeitliche Kolonialismus von dem des
späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu unterscheiden,5 wenngleich sich die Ge1
2
3
4
5
Eberhard Schmitt, Vorwort, in: Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 1), München 1986, S. V–VIII, hier S. VII.
Michael Weidert, Rezension zu: Ein Platz an der Sonne, in: Sehepunkte. Rezensionsjournal für die Geschichtswissen
schaften, 8 (2008), Nr. 11., [http://www.sehepunkte.de/2008/11/14373.html], eingesehen 16.6.2015.
Jürgen Osterhammel/Jan C. Jansen, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen (C. H. Beck Reihe Wissen), München 20127, S. 7.
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 7. Die Autoren bieten in ihrem Band rund um das titelgebende Themenfeld Vorschläge zu Definition und Klassifikation. Ebd., S. 7–28.
Helmut Bley, Kolonialismus, in: Bley, Helmut/König, Hans-Joachim/Ahuja, Ravi/Nolte, Hans-Heinrich, Enzyklopädie
der Neuzeit, [http://referenceworks.brillonline.com/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/kolonialismus-a2159000],
eingesehen 12.4.2015. (Die Online-Version der Enzyklopädie der Neuzeit findet sich in den Fußnoten nachfolgend
unter der Sigle „ENZ Online“ abgekürzt.)
162
Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
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schichte mehrerer ehemaliger europäischer Kolonialmächte jeweils über beide Zeithorizonte erstreckt. Der Unterschied liegt dabei in den zum Teil gegenläufigen Entwicklungstendenzen der beiden Phasen begründet: Während sich die europäischen
Kolonialmächte und ihre (überseeischen) Besitzungen bis ins 18. Jahrhundert hinein
überhaupt erst formierten, ist die zweite Phase durch eine unbestreitbare Hegemonialstellung der europäischen Länder einerseits, gleichzeitig aber durch umfassende
Umwälzungsprozesse in Form von Dekolonisations- und Unabhängigkeitsbestrebungen in den Kolonien andererseits gekennzeichnet. Oder anders ausgedrückt: Die ersten Jahrhunderte des frühneuzeitlichen Kolonialismus schufen die Voraussetzungen
für jene Staatenwelt, die sich in der zweiten Phase schließlich herausbildete.6
Um also auf die Begrifflichkeiten zurückzukommen: Dass eine Definition der Kernbegriffe ‚Kolonialismus‘, ‚Kolonisation‘ und ‚Kolonie‘ ebeno schwierig ist, wie eine Abgrenzung von bedeutungsähnlichem Fachvokabular, nehmen schon Jürgen Osterhammel
und Jan C. Jansen angesichts ihrer Begriffsannäherung vorweg: „Kolonisation [und da
mit wohl auch die verwandten Begriffe, Anm.] ist mithin ein Phänomen von kolossaler
Uneindeutigkeit“.7 Ähnliches unterstreicht der Blick in die „Enzyklopädie der Neuzeit“,
wo Helmut Bley mit Bezug auf Osterhammels Definition von Kolonialismus8 konstatiert, dass gewisse Aspekte davon auch „für nicht durch europäischen Kolonialismus
bedingte Überlagerungsprozesse, in nicht-europäischen Gesellschaften und in Gesellschaften innerhalb Europas“9 zutreffen können. Das heißt, „Eroberung und Überlagerung sind sehr alte und beständige Phänomene von Herrschaft“,10 die nicht immer
gleichbedeutend mit Kolonialismus sind. Dennoch sei für die hier vorliegende Arbeit
auf den Verständnisvorschlag von Osterhammel/Jansen verwiesen:
„‚Kolonisation‘ bezeichnet im Kern einen Prozeß der Landnahme, ‚Kolonie‘ eine
besondere Art von politisch-gesellschaftlichem Personenverband, ‚Kolonialismus‘ ein Herrschaftsverhältnis. Das Fundament aller drei Begriffe ist die Vorstellung von der Expansion einer Gesellschaft über ihren angestammten Lebensraum hinaus.“11
Interessant ist hierbei, dass sich genannte Begriffe etymologisch betrachtet jeweils
auf das 16. bis 18. Jahrhundert, also die Hochzeit des europäischen Kolonialismus, zurückführen lassen. So ist das Abstraktum ‚Kolonialismus‘, abgeleitet von ‚Kolonie‘, das
6
7
8
9
10
11
Bley, Kolonialismus, ENZ Online; Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, Die Neue
Welt, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1985, S. 7.
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 8.
Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige
Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich
durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.“
Ebd., S. 20.
Bley, Kolonialismus, ENZ Online. Bei letzterem denke man beispielsweise an das Venedig der Frühen Neuzeit, das
entlang der Adriaküste ein erstes innereuropäisches Kolonialreich errichtete, oder aber an das iberische Königreich Aragón, von dem im Verlaufe dieser Arbeit noch die Rede sein wird.
Ebd.
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 8 f.
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163
wiederum auf das lateinische colonia („Länderei, Ansiedlung, Kolonie“12) beziehungsweise colonius („Ansiedler, Bebauer“13) oder colere („bebauen, (be)wohnen“14) zurückgeht, seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar.15 Ebenso ‚Imperialismus‘, abgeleitet vom
lateinischen imperium,16 was so viel bedeutet wie „Bewefehlsgewalt, Reich“.17 Laut Jörg
Fisch „ein rechtlich mehr oder weniger genau bestimmter Begriff, dem daneben auch
verschiedene nichtrechtliche Bedeutungen zukamen.“18 Das heißt also, dass ‚Imperium‘
respektive ‚Imperialismus‘ per se nur schwer zu definieren sind und im Laufe der Zeit,
etwa quer durch die europäische Epochengliederung, ganz unterschiedlich konnotiert
waren. Dennoch darf in Annäherung an den Begriff festgehalten werden, dass er jeweils „die Tendenzen auf Machterweiterung, bis hin zur angestrebten Weltherrschaft“19
mit sich trägt.20
Als jüngster Fachausdruck im Kontext lässt sich seit dem 18. Jahrhundert schließlich
auch die ‚Expansion‘, vom lateinischen expandere, was so viel bedeutet wie „Ausweitung, Vergrößerung“,21 nachweisen.22 Ein Schlagwort, das auch Osterhammel/Jansen in
ihre obig angeführte Begriffserläuterung einbezogen haben, und das zumeist in seiner
erweiterten Form im Sinne der ‚europäischen Expansion‘ auftritt. Beschrieben wird damit die Entdeckung der Welt durch die europäischen Mächte der Frühen Neuzeit und
der damit beginnende Prozess von Herrschaftsverdichtung und Austauschbeziehungen, der Europa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur eine Vormachtstellung
im Weltgeschehen bescheiden, sondern einen umfassenden Strukturwandel auf allen
Kontinenten zur Folge haben sollte, wie weiter oben schon angedeutet.23 Entscheidend für die Bezeichnung ‚europäische Expansion‘ ist jedenfalls die Tatsache, „dass der
Anstoß zu dieser Ausweitung von Europa ausging und dass sie durch europäische Länder in Gang gehalten wurde.“24 Allen voran das frühneuzeitliche Spanien, das im Blickpunkt nachfolgender Ausführungen steht.
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Kolonie, in: Duden online, [http://www.duden.de/rechtschreibung/Kolonie], eingesehen 14.4.2015.
Kolonie, in: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin-New York 201125, S. 515.
Kolonie, Duden online.
Kolonie, Kluge Etymologiewörterbuch, S. 515. Interessanterweise findet das Wort „Kolonie“ Josep Fradera zufolge ausgerechnet bei den Spaniern, als „(Mit-)Begründern“ der europäischen Expansion wenn man so will, erst
seit dem späten 18. Jahrhundert und nur in Bezug auf die karibischen Zuckeranbaugebiete Verwendung. Josep
Fradera, Spanien – Ursprung des modernen Kolonialismus, in: Robert Aldrich (Hrsg.), Ein Platz an der Sonne. Die
Geschichte der Kolonialreiche, Stuttgart 2008, S. 44–68, hier S. 53.
Imperium, Kluge Etymologiewörterbuch, S. 439 f.
Ebd., S. 439.
Jörg Fisch, Imperialismus, I. Einleitung – II. 3. Neuzeit, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.),
Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 3 H–ME,
Stuttgart 1982, S. 171–175, hier S. 171.
Ebd.
Detailliertere und weiterführende Informationen zu Begriff und Theorien von ‚Imperialismus‘ finden sich ebd.,
S. 171–236.
Expansion, Kluge Etymologiewörterbuch, S. 267.
Ebd.
Helmut Bley, Expansionen, in: Ders./Suraiya Faroqhi/Hans-Heinrich Nolte/Hans-Joachim König/Stefan Rinke (Hrsg.),
Enzyklopädie der Neuzeit [http://referenceworks.brillonline.com/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/expansionen
-a1004000], eingesehen 12.4.2015; Reinhard, Die Neue Welt, S. 7.
Robert Aldrich, Einführung, in: Aldrich, Kolonialreiche, Stuttgart, S. 6.
164
Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
historia.scribere 08 (2016)
Das Kolonialreich Spanien
Spricht man vom spanischen Kolonialreich, ist damit gemeinhin die Vorstellung von
Spaniens Großmachtwerdung im Zuge der Frühen Neuzeit durch die Landnahme im
neu entdeckten Mittel- und Südamerika verbunden. Zwar beschäftigt sich die hier vorliegende Arbeit mit ebendiesem Beispiel neuzeitlicher Kolonialismen, doch bleiben
dabei oft mehrere Aspekte unbedacht:
Erstens reichen die ‚kolonialen Erfahrungen‘ Spaniens deutlich weiter zurück als bis in
das späte 15. Jahrhundert. Dabei waren es nicht immer die Herrscher auf der Iberischen Halbinsel, die als Kolonialherren fungierten.
Zweitens hat sich dieses frühneuzeitliche Spanien, das aus mehreren Herrschaftsbereichen im Gebiet der Pyrenäenhalbinsel bestand, erst im Zuge des späten Mittelalters
formiert. Das heißt zum einen, dass die Rede von einem König- oder Kolonialreich ‚Spanien‘ für die Anfänge des spanischen Kolonialismus, die bereits im Spätmittelalter zu
suchen sind, eigentlich falsch ist. Ein Königreich Spanien existierte bis ins 16. Jahrhundert hinein nicht. Der Einfachheit halber sei diese Bezeichnung unter Vorbehalt vorerst trotzdem beibehalten, genauere Ausführungen zu den Anfängen des spanischen
Kolonialreiches finden sich indes im Folgenden dargelegt. Zum anderen bedeutet dies
aber auch, dass aufgrund dieses territorialen Zusammenwachsens an der Wende zur
Frühen Neuzeit überhaupt erst die Weichen für den Aufstieg Spaniens zur (außer-)europäischen Großmacht sowie zur gesamteuropäischen Expansion nach Übersee gestellt wurden. Ein Punkt, dem sich ein eigenes Kapitel dieser Arbeit widmet.
Drittens und letztens scheint die so genannte spanisch-amerikanische Variante eine
Sonderform innerhalb der Kolonialismusforschung darzustellen. Ein Umstand, der am
Ende dieser Arbeit und unter Einbezug der hier vorgenommenen Untersuchungen
betrachtet wird.
Die ‚kolonialen‘ Erfahrungen der Iberischen Halbinsel
Wie erwähnt, reichen die ‚kolonialen Erfahrungen‘ des historischen Spanien bedeutend
weiter zurück als bis in das 15. Jahrhundert. Insofern können die kolonialgeschichtlichen Anfänge der Iberischen Halbinsel bis in das erste vorchristliche Jahrtausend zurückgeführt werden. So siedelten etwa die Phönizier – ein aus dem Raum der Levante
stammendes antikes Handels- und Seefahrervolk, das durch die Errichtung von Handelsstützpunkten nahezu den gesamten Mittelmeerraum kolonialisierte – bereits an
der spanischen Küste. Als weitere Etappen könnten auch die römische Oberherrschaft
oder die Herrschaftsverlagerung des Westgotenreiches in den Raum um Toledo, im
heutigen Zentralspanien, genannt werden, ebenso wie die maurische Fremdherrschaft
seit dem 8. nachchristlichen Jahrhundert.25 All diesen Beispielen gemein ist dabei, dass
der Raum südlich der Pyrenäen jeweils koloniales Gebiet und nicht Mutterland eige-
25
Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 23–26, S. 36 f., S. 72 f.
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Lisa-Marie Gabriel
165
ner Kolonien war, wenngleich sich gerade hier auch die bereits erwähnten Definitionsschwierigkeiten zeigen. Es stellt sich nämlich die Frage, ob tatsächlich in all diesen
Fällen von Kolonialismus gesprochen werden kann, oder ob es sich schlicht um die
Ver- oder Überlagerung von Herrschaft handelte.
Ein entsprechender Rollenwechsel lässt sich jedenfalls erst im Zuge des europäischen
Frühmittelalters feststellen: Seit etwa 71126 hatte sich die Pyrenäenhalbinsel unter dem
Eindruck zweier divergierender Einflusssphären – einer islamischen und einer christlichen – zu einem vielgestaltigen Gebiet mit muslimischen, jüdischen und christlichen
Traditionen formiert. Innerhalb des stark christlich dominierten mittelalterlichen Europa zunächst großteils unter islamischer Herrschaft stehend, etablierten sich seit dem
12. Jahrhundert schließlich die so genannten ‚Fünf Reiche‘27 des christlichen Spaniens
in Auseinandersetzung mit den muslimischen Herrschern im Süden. Es sind dies Kastilien, Léon, Aragón, Navarra und Portugal, wobei Kastilien und Léon bereits im 13. Jahrhundert zu einem Herrschaftsgebiet verschmolzen.28 Für eine leichtere geopolitische
Verortung der nachfolgend geschilderten Ereignisse finden sich zwei Karten im Anhang. Abbildung 1 zeigt die Iberische Halbinsel unter dem Eindruck der nach Norden
ausgreifenden muslimischen Herrschschaft im 12. Jahrhundert. Abbildung 2 hingegen
die Umkehr des Status Quo durch die zunehmende Ausdehnung der christlichen Reiche gen Süden – im Falle der Krone Aragón auch nach Osten ins Mittelmeer – im nachfolgenden 13. Jahrhundert. Letzteres war Voraussetzung für die Großmachtwerdung
des späteren Kolonialreiches Spanien, dessen Geschichte im Folgenden skizziert wird.
Die Genese des spanischen Kolonialreiches im Überblick
Wie unter Punkt Zum Begriffsfeld ‚Kolonialismus‘ erläutert, lassen sich seit der Frühen
Neuzeit zwei Phasen dieses Phänomens festmachen, wobei fast alle europäischen Kolonialmächte Anteil an beiden Etappen hatten. Dies trifft nicht auf Spanien zu. Zwar
war es Spanien, das in seiner spätmittelalterlichen Form als ein Initiator der europäischen Expansion fungierte29 und dadurch auch als einer der ersten Expansionsakteure
noch im 16. Jahrhundert zur Großmacht aufstieg, allerdings ging das spanische Kolonialreich bereits mit den 1820er-Jahren langsam seinem Ende zu und hörte mit dem
26
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29
Das Jahr 711 wird in der Geschichte der Iberischen Halbinsel als Zäsur beziehungsweise als Epochengrenze zwischen Antike und Mittelalter diskutiert: Es folgte das Ende des Westgotenreiches und der Aufstieg islamischer Dominanz als Gegensatz zu einer bereits etablierten christlichen Tradition. Herbers, Geschichte Spanien Mittelalter,
S. 72.
Ein Terminus, der vom spanischen Historiker Ramón Menéndez Pidal 1950 in seinem von Herbers zitierten Werk
„El imperio hispánico y los cinco reinos“ geprägt wurde. Menéndez Pidal formulierte im Zusammenhang drei
Epochen der Rückeroberung Spaniens, wobei er die dritte Phase – jene der „cinco reinos“, also der „Fünf Reiche“
Spaniens – mit einer ersten „nationalen“ Idee verbunden sehen wollte. Juan López Marichal, Rezension zu: El
imperio hispánico y los cinco reinos, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 5 (1951), Nr. 3, S. 338–340, hier S. 338,
S. 339 f., [http://www.jstor.org/stable/40296709], eingesehen 7.7.2015.
Herbers, Geschichte Spanien Mittelalter, S. 178. Siehe zu letztgenanntem die Karten im Anhang: Abbildung 1 im
Vergleich zu Abbildung 2 verdeutlicht das Zusammenwachsen von Kastilien-Léon vom 12. zum 13. Jahrhundert.
Wolfgang Reinhard, Autor des zweibändigen „Geschichte der europäischen Expansion“, stellt indessen bereits in
seinem Vorwort die Entwicklungen des portugiesischen Mittelalters an die Anfänge der europäischen Expansion,
in: Ders., Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 1, Die Alte Welt bis 1818, Stuttgart 1983, S. 7. Ein Umstand,
der unter dem Punkt Der Blick auf Spanien noch Thema sein wird.
166
Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
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Verlust der letzten verbliebenen Kolonien 1898 endgültig auf zu existieren.30 Das heißt,
das hispanoamerikanische Großreich umfasst damit zeitlich knapp vier Jahrhunderte
und endete bereits vor dem Eintritt anderer europäischer Kolonialmächte in die Phase des Imperialismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dennoch lassen sich
auch in der Geschichte des spanischen Kolonialreiches zwei große Entwicklungszüge
feststellen:
Walther L. Bernecker schlägt beispielsweise eine Gliederung der spanischen Geschichte vom 15. Jahrhundert bis zur zweiten Jahrtausendwende vor, die mit dem 15. bis
18. Jahrhundert eine erste Episode umfasst. Das 15. Jahrhundert markiert dabei die
„Grundlegung des Reiches“,31 das 16. Jahrhundert Spaniens „Aufstieg zur Weltmacht“,32
das 17. Jahrhundert zugleich „Hegemonie und Niedergang“.33 Die Zeit vom 18. Jahrhundert bis heute ist als zweite Episode hingegen von ebenjenen Separationstendenzen bestimmt, die das europäische Spanien nicht nur zum Aktionsfeld divergierender
soziopolitischer Akteure und Forderungen machten, sondern die auch zum Ende des
spanischen Kolonialreiches mit beziehungsweise durch den Verlust seiner überseeischen Besitzungen führten.34
Freilich handelt es sich bei Berneckers Geschichtseinteilung in erster Linie um eine
Epochengliederung innerhalb der Grenzen des heutigen EU-Staates und um keine
spezifisch spanische Kolonialgeschichte.35 Dennoch deckt sich die etwas künstlich anmutende ‚Taktung‘ quer durch die Jahrhunderte durchaus mit tatsächlichen ‚Jahrhunderttendenzen‘ und findet sich ähnlich auch bei anderen Autoren, wenngleich deren
spezifisch kolonialgeschichtlicher Blick eine etwas adaptierte Entwicklungsabfolge zulässt. Demnach scheint sich die Forschung – unabhängig von ihrem mehr oder minder
kolonialhistorischen Blick – darüber einig, dass das 15. Jahrhundert die Voraussetzungen für jenes Weltreich schuf, auf das Spanien bereits im 16. Jahrhundert blicken konnte. Ein Aspekt, dem sich das Kapitel An der Wende zur Frühen Neuzeit: Spaniens Aufstieg
zur Weltmacht im Detail widmet.
Was die nachfolgenden Jahrhunderte anbelangt, gehen die Ansichten interessanterweise etwas auseinander: Die Darstellung Bartolomé Bennassars und Bernard Vincents
30
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Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 65 f.
Walter L. Bernecker, Spanische Geschichte. Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart (C. H. Beck Reihe Wissen
2111), München 1999, S. 7.
Bernecker, Spanische Geschichte, S. 19.
Ebd., S. 35.
Ebd., Inhaltsverzeichnis beziehungsweise im Detail S. 52–112. Bernecker formuliert insgesamt zehn Entwicklungslinien in seiner „Spanischen Geschichte“. Die ersten drei sind bereits genannt, die weiteren sind: „Das Zeitalter der Reformen (18. Jahrhundert)“, „Die Krise des Ancien Régime (1788–1808)“, „Die Ära der Militärputsche
(1808–1875)“, „Restauration und Diktatur (1875–1930)“, „Zweite Republik und Bürgerkrieg (1931–1939)“, „Die
Franco-Ära (1939–1975)“, „Monarchie und Demokratie (1975–1999)“.
Der Autor verweist schon einleitend selbst darauf, dass die „Geschichte des hispanoamerikanischen Kolonialreiches [...] nur dann einbezogen wurde, wenn sie für das Verständnis der Entwicklung Spaniens erforderlich war.“
(Bernecker, Spanische Geschichte, Vorwort). Ein Umstand, der zwar etwas irritiert, da die Geschichte Hispanoamerikas wohl ebensowenig ohne Blick auf das europäische Mutterland auskommt, wie dies umgekehrt der Fall sein
dürfte, der unter Berücksichtigung von Berneckers Arbeitsintention, eine Geschichte des heutigen EU-Staates
Spanien zu liefern, aber durchaus verständlich ist. Es kann also davon ausgegangen werden, dass letztlich alle der
von Bernecker formulierten Entwicklungslinien Einfluss auf das gesamte Kolonialreich hatten.
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zum Wendepunkt der spanischen Kolonialgeschichte – von der Glanzzeit im 16. Jahrhundert zum Zerfall ab dem 17. Jahrhundert36 – gehen mit Berneckers Gliederung
konform. Ganz im Gegensatz dazu lassen sich aus Fraderas Erläuterungen für das 17.
Jahrhundert vor allem Ausbeutungs- aber auch Autonomietendenzen innerhalb der
Kolonien ablesen, während erst das 18. Jahrhundert den gleichzeitigen Höhepunkt
und beginnenden Niedergang markiert. Denn obwohl das Spanien des 17. Jahrhunderts – bedingt durch schwache Herrscherpersönlichkeiten37 und den Spanischen Erbfolgekrieg38 zu Beginn des Folgejahrhunderts – in Europa an Stärke verlor, entwickelte
sich in Übersee ein überaus florierender Bergbau, der der spanischen Kasse Tonnen an
Gold und Silber bescherte,39 sowie eine neue koloniale Gesellschaft unter dem Deckmantel einer differenzierteren Verwaltung.40
Möglicherweise mögen diese Autonomietendenzen für das Mutterland negativer Natur gewesen sein, die Macht in Hispanoamerika konnte Fradera zufolge im 17. Jahrhundert jedenfalls noch gefestigt werden. Noch im 18. Jahrhundert konnte das Spanien
jener Zeit also seine größte territoriale Ausbreitung verzeichnen, wenngleich sich spätestens hier auch erste Probleme abzeichneten.41 Fradera spricht etwa vom „Aushöhlen
des imperialen Regierungssystems“42 und den „ständig wachsenden Widersprüche[n]
des spanischen Kolonialreiches“,43 was die schon länger bestehende „tiefsitzende Unzufriedenheit im Volk“44 schürte und letztlich zu Aufständen und Bürgerkrieg führte.45
Dies spiegelt sich wiederum in der Geschichte des Mutterlandes wider: Nach Bernecker
gilt die Zeit von 1788–1808 als „Krise des Ancien Régime“,46 die Episode von 1808–1875
als „Ära des Militärputsches“,47 vergleichbar der Revolution von 1789 und ihrer Folgewirkungen im französischen Nachbarland.48 Mit Beginn des 19. Jahrhunderts war der
Niedergang des spanischen Kolonialreiches demnach endgültig besiegelt: Ein militärischer Sieg der Separatisten über die spanische Kolonialherrschaft in den 1820er-Jahren
36
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So implizieren es zumindest Werktitel und Inhaltsgliederung: Bartolomé Bennassar/Bernard Vincent, Spanien.
16. und 17. Jahrhundert. Das Goldene Zeitalter, Stuttgart 1999, Inhaltsverzeichnis beziehungsweise konkret S. 14 f.,
84 f., 136 f.
Bernecker, Spanische Geschichte, S. 35.
Ebd., S. 46.
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 50. Eine interessante Studie mit zahlreichen weiterführenden Informationen
speziell zur spanisch-kolonialen Edelmetallgewinnung bietet Carlo M. Cipolla, Die Odyssee des spanischen Silbers. Conquistadoren, Piraten, Kaufleute, Berlin 1998.
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 47, 50, 52.
Zu nennen ist hier vor allem das verstärkte Aufkommen soziopolitisch fragwürdiger Ideen, die allerdings dem
Kontext der Zeit durchaus entsprechen: Zum einen festigte sich die Ansicht von der Expansion als heiligem
Auftrag. Das heißt, die kirchlich-missionarische Einflussnahme wurde bedeutender – vermutlich eine Begleiterscheinung der Reformation in Europa, die im katholischen Spanien wohl die Bestrebungen zur intensivierten
Missionierung geschürt haben dürfte. Zum anderen kam auch die Idee der „rassischen Reinheit“ auf, was in weiterer Folge zur Etablierung eines Kastenwesens beziehungsweise einer regelrechten Rassenlehre führte, um die
in den Kolonien ansässigen und im Laufe der Kolonialgeschichte vermischten Ethnien möglichst voneinander
abzugrenzen. Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 51 f., 56, 58.
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 61.
Ebd.
Ebd.
Ebd., S. 60 f.
Bernecker, Spanische Geschichte, S. 52.
Ebd., S. 57.
Ebd.
168
Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
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markierte deren formales Ende und führte zur Befreiung fast aller Kolonien, woraus
die sechs unabhängigen Länder Venezuela, Kolumbien, Panama, Ecuador, Peru und
Bolivien entstanden. Einzig Kuba, Puerto Rico und die Philippinen blieben weiterhin
kolonialer Besitz.49
Im Zuge mehrerer Unabhängigkeitskriege lösten sich aber schließlich auch diese bis
1898 aus der kolonialen Oberherrschaft und läuteten das faktische Ende des spanischen Kolonialreiches ein. An dessen Stelle traten nun die USA, die mit ihrem Eintritt
auf die Bühne des Imperialismus bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihr Interesse
an karibischen Besitzungen bekundet hatten, die sie in Auseinandersetzung mit Spanien letztlich auch gewannen.50
An der Wende zur Frühen Neuzeit: Spaniens Aufstieg zur Weltmacht
Der Aufstieg Spaniens zur neuen Großmacht des frühneuzeitlichen Europa ist im Wesentlichen von zwei Faktoren bestimmt: Zum einen von den seit dem Spätmittelalter
vorherrschenden Entwicklungstendenzen, die im 15. Jahrhundert mehr oder minder
zufällig im iberischen Raum derart zusammenspielten, dass dort die nötigen Voraussetzungen für eine Einflusserweiterung der ansässigen Mächte gegeben waren. Zum
anderen von der sukzessiven Inbesitznahme der neu entdeckten Gebiete in Übersee.
Faktoren, denen sich dieses letzte Kapitel widmet.
Die Voraussetzungen im 15. Jahrhundert
Wie im historischen Überblick zur Entwicklung des spanischen Kolonialreiches im vorhergehenden Kapitel dargelegt, gilt das 15. Jahrhundert gemeinhin als Jahrhundert
der Grundsteinlegung für die spanische respektive europäische Expansion und den
damit einhergehenden Aufstieg der iberischen Mächte. So kulminierten im Spanien
jener Zeit mehrere Ereignisse, Tendenzen und Entwicklungen fruchtbringenden Charakters, die Günter Vogler zufolge auf vier Säulen beruhten:
„Erstens wurde mit der Personalunion der Kronen Kastilliens und Aragons das
Fundament für einen zentralistischen Staat gelegt. Zweitens wurde mit der
Vollendung der Reconquista die iberische [sic] Halbinsel von fremder Herrschaft befreit. Drittens wurde mit der überseeischen Expansion das spanische Weltreich begründet. Viertens wurde die strikte Katholizität des Landes
gesichert.“51
Was Vogler hier als vier scheinbar aufeinander aufbauende Entwicklungsstufen formuliert, ist in Wahrheit ein komplexes Konstrukt sich gegenseitig beeinflussender Faktoren, die in Kombination schließlich zur spanischen Expansion und zum Weltmachtdasein führten. So waren die genannte Personalunion, geschlossen 1469, sowie die 1492
49
50
51
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 62.
Ebd., S. 65 f.
Günter Vogler, Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1650 (Handbuch der Geschichte Europas 5; UTB 2385),
Stuttgart 2003, S. 68.
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erfolgreich beendete Reconquista, also die Rückeroberung Spaniens von den Mauren,
die eigentlichen Voraussetzungen für das Ausgreifen in die Neue Welt. Diese stehen
einerseits in ursächlichem Zusammenhang mit der im gleichen Zuge zunehmenden
Zentralisierung und weiträumig erstarkenden Katholizität des Gebietes Kastilien-Aragón, und gründen sich andererseits insgesamt auf weit ältere Prozesse:
Bereits im Zuge des 13. und 14. Jahrhunderts kam es zur systematischen Eroberung
des Mittelmeerraumes durch die Krone von Aragón und damit zur Etablierung eines
ersten ‚spanischen‘, das heißt aragónesischen, Kolonialreiches. Zur gleichen Zeit tat sich
insbesondere das Königreich Kastilien im Kampf um die Zurückdrängung der muslimischen Fremdherrscher, die noch bis ins 15. Jahrhundert weite Teile der südlichen
Pyrenäenhalbinsel regierten, hervor. Mit der Vermählung der später so genannten
‚Katholischen Könige‘,52 Ferdinand II. von Aragón und Isabella I. von Kastilien, in der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam es also nicht nur zur Verschmelzung zwei
der einflussreichsten, sondern zugleich auch zweier grundsätzlich expansionswilliger
Machtbereiche auf iberischem Boden. Ein Expansionsdrang, der mit der erfolgreich
beendeten Reconquista zu einem gemeinsamen Höhepunkt geführt und den Blick
über die Grenzen der eigenen Gebiete hinausgeleitet hatte. Das Fundament für einen zentralistischen Staat53 inklusive starkem Missionsierungsgedanken, das zugleich
Ausgangspunkt und Ursprungsgebiet des hispanoamerikanischen Imperiums werden
sollte, war damit gelegt.
Hierbei begünstigten sich wiederum mehrere, teils schlicht historisch zufällige Gegebenheiten gegenseitig: Erstens verbanden sich mit der genannten Personalunion zwei
Mächte, die im Falle Aragóns auf Erfahrung in der Mittelmeerseefahrt und die dortige
Koloniegründung und -herrschaft, im Falle Kastiliens auf die Eindrücke der (Rück-)Eroberung fremdbeherrschter Gebiete blicken konnten. Zweitens fällt in ebendiese Zeit
die Suche eines Seeweges in das gold- und gewürzreiche Indien, als Alternative zum
Landweg, der von den im Osten ebenfalls expandierenden Osmanen beherrscht wurde. In diesem Zusammenhang ist drittens die andauernde, aber offenbar befruchtende
Konkurrenz mit dem benachbarten Portugal zu nennen,54 das bereits seit Mitte des
15. Jahrhunderts Erfolge in dem Bestreben, Afrika der Küste entlang zu umsegeln, vorweisen konnte.55 Als Folge daraus ergab sich viertens die überaus glückliche Fügung,
dass der Genuese Christoph Columbus im Auftrag Ferdinands und Isabellas ebenfalls
1492 den Seeweg gen Westen einschlug und hier zufällig die Vorposten eines bis da
52
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54
55
Die 1468 vermählten Thronprätendenten Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien erhielten 1494 den
Ehrentitel Los Reyes Catholicos – „Die Katholischen Könige“ – von Papst Alexander VI. verliehen als Folge der erfolgreichen Rückeroberung muslimischer Herrschaftsgebiete in die christliche Einflusssphäre. Vogler, Europas
Aufbruch, S. 69.
Aufgrund des Ungleichgewichtes, das zwischen beiden Gebieten herrschte, da diese nur über die Ehegemeinschaft der beiden Souveräne verbunden waren, ihre Eigenständgkeit aber jeweils beibehielten, kam es zu einer
umfassenden Um- und Neustrukturierung in beiden Herrschaftsbereichen, was den späteren Entwicklungen im
Kontext der Expansion ebenfalls zuträglich war. Hierzu ausführlicher Vogler, Europas Aufbruch, S. 69–75.
J. H. Parry, The Spanish Seaborne Empire, London 1966, S. 39 ff.
Urs Bitterli (Hrsg.), Die Entdeckung und Eroberung der Welt. Dokumente und Berichte, Bd. 1, Amerika, Afrika
(Beck’sche Sonderausgaben), München 1980, S. 18.
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Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
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hin unbekannten Kontinentes entdeckte, die er umgehend für seine Auftraggeber in
Besitz nahm.56 Spaniens Weg zur Weltmacht war damit geebnet.
Landnahme und Weltmachtstellung im 16. Jahrhundert
Das teils eher historisch zufällige Zusammenspiel günstiger innerer und äußerer Faktoren auf der Pyrenäenhalbinsel hatte also noch im 15. Jahrhundert die nötigen Voraussetzungen für eine spanische Expansion geschaffen, die sich im 16. Jahrhundert
beharrlich fortsetzte. So hatte das noch 1492 von Columbus eroberte Hispanola – heute Dominikanische Republik und Haiti – das „Tor zu neuen Kolonien“57 geöffnet. Die sukzessive Landnahme der neu entdeckten Gebiete folgte auf dem Fuße: Bis 1496 wurde
die Karibik erobert, 1519 bis 1529 das Aztekenreich in Mexiko und Mittelamerika, 1531
bis 1534 das Inkareich von Quito, Peru und Chile und in den 1560er-Jahren folgten
schließlich die Philippinen als westlichster kolonialer Besitz. Das heißt, weniger als ein
Jahrhundert nach dem Ausgreifen auf die Neue Welt konnte Spanien also tatsächlich
auf ein Weltreich blicken, das von den Niederlanden bis nach Süditalien und vom Mittelmeer über den Atlantik bis in den Indischen Ozean reichte. Also im wahrsten Sinne
des Wortes auf ein Reich, in dem die Sonne sprichwörtlich niemals unterging. Dadurch
avancierte Spanien noch im 16. Jahrhundert zum reichsten Land der damaligen Welt
inklusive einer neu errungenen Vormachtposition im europäischen Mächtekanon und
auf dem besten Wege zur Hegemonialmacht.58 Dass der Weg zu Spaniens Großmachtwerdung aber keineswegs unproblematisch war, wird dabei oft kaum berücksichtigt
und äußert sich in wenigstens zweierlei Blickrichtungen, wie folgende Ausführungen
veranschaulichen sollen.
Der Blick auf Spanien
Mit Blick auf Spanien gründet sich dessen Aufstieg vor allem auf den Umstand, dass
die hegemoniefördernden Faktoren auch im 16. Jahrhundert nach wie vor im Gang
befindliche Prozesse waren. So hatte das „katholische Königspaar“59 zwar ein zentralisiertes Kernland als Grundlage für das spätere Spanien geschaffen, die Personalunion
der beiden Gebiete manifestierte sich indessen nur in der Ehegemeinschaft der beiden
Souveräne und drohte mit Isabellas Tod 1504, spätestens aber mit dem ihres Gatten
1516, zu zerfallen. Aus „einem dynastischen Zufall“60 heraus gelangte schließlich der
56
57
58
59
60
Reinhard Wendt, Seit 1492: Begegnung der Kulturen, in: Völker-Rasor, Anette, Frühe Neuzeit (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch), München 20103, S. 69–86, hier S. 69 f.
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 47.
Ebd., S. 47 f.
Vogler, Europas Aufbruch, S. 78.
Ebd., S. 75; im Detail Alfred Kohler, „Karl V., Kaiser“, in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 191–211, [http://www.
deutsche-biographie.de/ppn118560093.html], eingesehen 21.6.2015 (Die ‚Neue Deutsche Biographie‘ wird im
Folgenden unter der Sigle „NDB online“ abgekürzt).
Aufgrund diverser Todesfälle oder anderer, eine Thronfolge verhindernder Umstände spielte Karl bereits früh eine
Rolle „in den Kombinationen der dynastischen Erbfälle“ (ebd.). Als Sohn des bereits früh verstorbenen Habsburgers Philipp des Schönen und der kastilisch-aragónesischen Prinzessin Johanna der Wahnsinnigen, die ihre Eltern
aufgrund ihrer Geisteserkrankung nicht auf dem Thron beerben konnte, fiel die Herrschaft schließlich an ihren
Sohn Karl. Kohler, NDB online.
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gemeinsame Enkel Karl auf den kastilisch-aragónesischen Thron. Als Carlos I. vereinte
er erstmals die beiden Reichsteile inklusive der unteritalienischen Königreiche und des
noch 1512 von Ferdinand annektierten Navarras61 in einer Person, weshalb er gemeinhin als der erste spanische König gilt.62 Als solcher hatte er allerdings keinen leichten
Stand bei seinen neuen Untertanen: Der im habsburgischen Burgund ohne seine Eltern aufgewachsene Thronprätendent sprach kaum ein Wort Spanisch und war mit
den Strukturen vor Ort nicht vertraut. Probleme, die sich noch über Jahre hinziehen
sollten.63
Dennoch hatte Karl „eine ganze Epoche der frühen neuzeitlichen Geschichte Europas
nachhaltig geprägt.“64 Als Erbe der habsburgischen Besitzungen seines Großvaters Maximilian I. und aufgrund seiner Wahl zum römisch-deutschen Kaiser 1519 – dadurch
besser bekannt als Karl V. – herrschte der spanische König über weitläufige inner- und
außereuropäische Besitzungen, während die nach wie vor andauernde Konkurrenz mit
Portugal65 durch die Heirat mit der portugiesischen Infantin Isabella 1526 vorerst abgemildert werden konnte. Das erklärte politische Ziel Karls I./V. war indes, „dem spanischhabsburgischen Imperium die Hegemonie zu sichern“.66 Wo Bernecker im Hinblick auf
die spanische Conquista, also die Eroberung Amerikas, aber von einer „zielorientierten
spanischen Politik“67 spricht, meint Fradera wiederum „[d]er spanischen kolonialen Ausdehnung lag nie ein fester Plan zugrunde“,68 was der Autor wie folgt weiter ausführt:
„Die Eroberung erfolgte hauptsächlich durch die huestes, kleine bewaffnete
Banden, die von Kapitalisten in Iberien finanziert und von der keineswegs illusorischen Aussicht auf schnellen Reichtum – oder wenigstens Herrschaft über
die örtliche Bevölkerung und Hoffnung auf künftigen Reichtum – angelockt
wurden. [...] d.h. königliche, zivile und kirchliche [Landnehmer, Anm.] – folgten
erst später im Zuge der Kolonisierung.“69
Vorrangige Intention der Conquista war also die aussichtsreiche Ressourcenausschlachtung der neu erschlossenen und noch zu entdeckenden Gebiete in Übersee.
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69
Bernecker, Spanische Geschichte, S. 18.
Die Neue Deutsche Biographie führt den spanisch-habsburgischen Souverän beispielsweise als „Karl V., Kaiser
(Karl I. als König von Spanien)“. Kohler, NDB online. Seine Vorgänger, etwa seine Großeltern Ferdinand und Isabella,
waren im Gegensatz dazu noch keine spanischen Könige, sondern mehr oder minder eigenständige Herrscher
über ihre jeweiligen Geburtsterritorien, die in Personalunion vereint wurden.
Vogler, Europas Aufbruch, S. 74 ff.; Kohler, NDB online.
Kohler, NDB online.
Während die Portugiesen seit dem 15. Jahrhundert nach und nach den afrikanischen Kontinent auf der Suche
eines Seeweges nach Indien umsegelten, brachen die Spanier gen Westen auf, wo sie schließlich auf den als
solchen noch unerkannten amerikanischen Kontinent stießen. Beide Mächte hatten sich dabei noch im Verlaufe
des Jahrhunderts „ihre Besitzrechte vom Papst bestätigen lassen“, was allerdings nicht verhinderte, dass die Neue
Welt weitere Entdeckungsfahrer anzog. So stießen kurz nach Columbus auch die Portugiesen an die Ostküste Südamerikas, was schließlich „durch den gemeinsam ausgehandelten Staatsvertrag von Tordesillas“ 1494 zur
Aufteilung der Welt in zwei Interessenssphären – eine spanische und eine portugiesische – führte. Ein Grund,
weshalb Brasilien bis heute der einzige südamerikanische Staat ist, in dem Portugiesisch anstelle von Spanisch
die vorrangige Amtssprache ist. Bitterli, Entdeckung der Welt, S. 18.
Vogler, Europas Aufbruch, S. 75 f.; Bernecker, Spanische Geschichte, S. 18 ff.
Bernecker, Spanische Geschichte, S. 22.
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 48.
Ebd.
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Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
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Dass die Organisation der Conquista dabei nur allzu bald dem direkten Einflussbereich
der kastilisch-aragónesischen Krone oblag, rührte wohl nicht zuletzt aus den teils gegenläufigen Verpflichtungen der spanischen beziehungsweise römisch-deutschen
Regierungswürde: So stand auf der einen Seite die „wachsende Finanzlast der kaiserlichen Reichspolitik, auf der anderen das Edelmetallpotential des amerikanischen
Kolonialreichs.“70 Das heißt, die Finanzierung der „politischen und militärischen Unternehmungen des Kaisers und später seines Sohnes Philipp [II. von Spanien, Anm.]“71
wurde seit den 1540er-Jahren zusehends über Spanien und hier über die spanischen
Überseekolonien abgedeckt.72
Die Landnahme
Die Kolonisierung selbst war dabei unter etwa gleichartig gewichteten ökonomischmachtpolitischen wie missionarisch-zivilisatorischen Zielsetzungen wesentlich an die
drei Hauptakteure Krone, Kirche und Konquistadoren beziehungsweise Kolonisten geknüpft.73 Wobei gerade die Conquistadores, die ‚Eroberer‘, wesentlich für die frühe Phase
der erfolgreichen Landnahme waren. So hatte die Mentalität der Zeit – eine Mischung
aus noch lebendiger Ritterromantik, Abenteuerlust, Wagemut und der Aussicht auf
Verdienst, Ruhm und Ehre in den neuentdeckten Ländern74 – bereits seit den Entdeckungsfahrten des Columbus eine immer größer werdende spanische Bevölkerung in
die Neue Welt gelockt. Diese ließ sich vor allem auf Hispanola nieder, „wo die bedenkenlose Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung schnell zu deren Auslöschung
führte“.75 Ein trauriger Umstand, der sich auf dem Festland fortsetzen sollte.
Dennoch folgte von dort aus zusehends die Erkundung der Küstengebiete Mittel- und
Südamerikas, wobei etwa 1513 Juan Ponce de León oder 1517 auch Francisco Hernández de Córdoba erstmals mit den mesoamerikanischen Hockulturen im Raum Yucatán
in Berührung kamen. Der vielleicht bekannteste Conquistador, der als erster tiefer in das
als goldreich geltende Landesinnere des neuen Kontinentes vordrang, war schließlich
Hernán Cortéz. Durch ein Bündnis mit mehreren, in Oppsition zur aztekischen Oberherrschaft – seinerzeit mit dem in unseren Breiten vielleicht ebenfalls bekanntesten
indigenen Herrscher Moctezuma76 an der Macht – stehenden lokalen Stämmen und
nach mehreren Angriffen gelang im Verlaufe der Jahre 1519 bis 1521 die Eroberung
des Aztekenreiches. Die vollkommene Inbesitznahme des sich im mittel- und südame-
70
71
72
73
74
75
76
Bernecker, Spanische Geschichte, S. 23.
Ebd.
Ebd.
Ebd., S. 22.
Herbert Matis, Hernan Cortes. Eroberer und Kolonisator (Persönlichkeit und Geschichte 45), Göttingen-FrankfurtZürich 1967, S. 7; Wendt, Begegnung der Kulturen, S. 70.
Hanns J. Prem, Die Azteken. Geschichte – Kultur – Religion (C. H. Beck Reihe Wissen 2035), München 1996, S. 106.
Gemeint ist damit richtigerweise Motecuzoma beziehungsweise Motēuczūma II. Aufgrund der für die Spanier
schwer zu artikulierenden aztekischen Sprache wurde der Name des Herrschers zunächst zu „Moctezuma“ vereinfacht und schließlich in der Form „Montezuma“ verballhornt. Der Genannte regierte von 1502 bis zu seinem
Tod 1520 als der drittletzte Aztekenherrscher über Altmexiko, das heißt in Motēuczūmas II. Regierungszeit fällt die
spanische Landnahme in Übersee unter Hernán Cortés. Berthold Riese, Das Reich der Azteken. Geschichte und
Kultur, München 2011, S. 251 f.; Prem, Die Azteken, S. 24 f., S. 101 f.
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rikanischen Raum ausdehnenden aztekischen Herrschaftsbereiches setzte sich zwar
noch bis circa 1530 fort, dennoch bewerten Osterhammel/Jansen Cortés‘ Eroberung
als große Ausnahme: „Koloniale Herrschaft war so gut wie nie durch blitzartige Überfälle auf vollkommen unvorbereitete Opfer zustandegekommen“.77 Das aztekische Großreich war Hanns J. Prem zufolge mit Cortés Eroberung jedenfalls erloschen und erhielt
– mit dem verantwortlichen Conquistador als Vizekönig an der Spitze, der direkt Karl V.
unterstellt war – den Namen ‚Neuspanien‘.78
Mit den nun spanischen Landbeherrschern hielt auch das bereits in der Karibik etablierte System der encomiendas Einzug, also eine Art Feudalsystem zum Zwecke der
Landerschließung und -bewirtschaftung. Dieses sprach dem encomendero, dem Landbesitzer, das Recht zu, Tribut und Arbeitsleistung von der eingeborenen Bevölkerung
zu fordern, und barg die Pflicht, sich im Gegenzug um das Wohlergehen der Untergebenen zu sorgen und ihnen die spanisch-christliche Lebensweise näher zu bringen.
Ziel war also gleichermaßen die Gewinnung von Land, Ressourcen und neuen Christenmenschen für die spanische Krone. Die Realität war allerdings von der gewaltvollen
Inbesitznahme eigentlich besiedelten Landes, der Ausbeutung indianischer Arbeitskraft und letztlich der Ausrottung der indigenen Bevölkerung begleitet,79 wie der Blick
auf die Situation in Übersee verdeutlicht.
Der Blick nach Übersee
Die geschildete, vorrangig ökonomisch motivierte Ausbeutung von Land und Leuten
auf der Suche nach schnellem Reichtum in Kombination mit dem Fehlen entsprechender Kontroll- und Verwaltungsinstanzen, schlechten Arbeitsbedingungen für die
indigene Bevölkerung und dem Einschleppen heimischer Krankheiten, denen die Indios kaum etwas entgegenzusetzen hatten, mündete bald nach dem Ankommen der
Europäer in einer demographischen Katastrophe: In weniger als achtzig Jahren nach
Ankunft der Europäer kam es zur regelrechten Entvölkerung Mittel- und Südamerikas. Umstände, die bereits unter Zeitgenossen für Kritik sorgten und die ersten ‚Völkerrechtler‘ wie etwa den Dominikanermönch Bartolomé de las Casas hervorbrachten.80
Dieser schildert in einem zeitgenössischen Bericht von 1552 Entsprechendes über die
von ihm als „überaus milde, geduldig, friedfertig und ruhig, ohne Hang zu Zank und
Unfriede, weder streitsüchtig noch neidisch, ohne Tücke und Haß und Rachsucht“81
beschriebenen Indios:
„Über diese sanftmütigen, von ihrem Herrn und Schöpfer mit solcher Wesensart begabten Menschen kamen nun die Spanier, und zwar vom ersten Augenblick an, wo sie sie kennenlernten, wie grausame Wölfe, Tiger und Löwen, die
man tagelang hat hungern lassen. Sie haben in diesen vierzig Jahren bis zum
77
78
79
80
81
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 45.
Prem, Die Azteken, S. 106–115; Cipolla, Spanisches Silber, S. 11 ff.; Matis, Hernan Cortes, S. 9–16.
Prem, Die Azteken, S. 118 ff.; Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 48.
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 48 ff.
Bartolomé de las Casas, Die Greueltaten der Spanier (Auszug aus Brevissima Relación), in: Bitterli (Hrsg.), Entdeckung der Welt, S. 52.
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Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
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heutigen Tage nichts anderes getan und tun auch heutzutage nichts anderes als zerreißen, töten, ängstigen, quälen, foltern und vernichten, auf jede nur
denkbare, nie gehörte, nie gesehene, nie erlebte Art äußerster Grausamkeit [...].
Und das alles in solchem Maße, daß auf der Insel Española von drei Millionen
Seelen, die zu unserer Zeit dort gelebt haben, heute keine 200 mehr da sind.
Die Insel Kuba hat eine Längenausdehnung, die etwa der Entfernung von Valladolid nach Rom entspricht; sie ist heute fast entvölkert. [...] Das ausgedehnte
Festland haben unsere spanischen Landsleute durch ihre Greuel und gottlosen Taten entvölkert und verheert. Mehr als zehn Königreiche, größer als ganz
Spanien, Portugal und Aragón eingeschlossen, einst von Menschen mit hoher
Kultur bewohnt, sind heute entvölkert;“82
Wenngleich derartige Berichte und Appelle die vorherrschende Situation nicht zu
ändern vermochten, „sind sie doch bedeutungsvoll als Zeugnisse einer Gewissensgründung, wie sie die europäische Expansion nach Übersee bis in unser Jahrhundert
begleitet hat“,83 resümiert im Zusammenhang etwa Urs Bitterli. Zwar folgte noch vor
Mitte des 16. Jahrhunderts die Ausarbeitung von Gesetzen, die den Umgang mit der
Ureinwohnerschaft regeln sollten, sowie die Einrichtung eines Verwaltungsapparates,
bestehend aus politischen, gerichtlichen und städtischen Institutionen, dies gereichte
den indigenen Einwohnern aber nicht zwangsläufig zum Besseren. Die enorme Dezimierung der ortsansässigen Bevölkerung im Laufe des 16. Jahrhunderts markierte „das
Ende der präkolumbianischen Kulturen“,84 ‚ermöglichte‘ allerdings – ausschließlich für
die Spanier von Vorteil – im gleichen Zuge das Entstehen einer neuen, widerstandsfähigen kolonialen Gesellschaft. Letzteres auf Grundlage der „nunmehr übereinstimmenden Ziele des imperialen Staates mit denen der frühen Gruppen privater Kolonisten [...]
und [...] der Fähigkeit der Einheimischen [...] zu widerstehen und sich den Forderungen
ihrer neuen Herren anzupassen.“85
Mit Blick auf die indigenen Reiche jener Zeit, beispielsweise das Aztekenreich, ist also
festzuhalten, dass diese den Europäern völlig fremden Kulturen just zu dem Zeitpunkt
„in das Licht der europäischen Aufmerksamkeit [... rückten ...], als durch die spanische
Eroberung ihre eigenständige Geschichte zu einem abrupten Ende kam.“86 Die knapp
fünfzig Jahre von der endgültigen Rückeroberung Iberiens von den Mauren im Jahre
1492 zur eigenmächtigen Eroberung fremder Gebiete in der Neuen Welt unter Inkaufnahme der Auslöschung ganzer Ethnien bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hatte Spanien also den Weg zur Großmacht bereitet. Doch während der frühneuzeitliche Kolonialismus für die Spanier Reichtum, Ruhm und den Status einer Weltmacht bedeutete,
waren die Indios mit dem Untergang ihrer angestammten Welt konfrontiert.
82
83
84
85
86
De las Casas, Greueltaten der Spanier, S. 52 f.
Bitterli, Entdeckung der Welt, S. 19.
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 50.
Ebd., S. 50; ebd. S. 49 ff.
Prem, Die Azteken, S. 7.
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Der spanische Kolonialismus – Ein Sonderfall?
Nachdem im Verlaufe dieser Arbeit zum einen recht deutlich wurde, dass Kolonialismus ein überaus weit ausgreifendes, vielgestaltiges und nur schwer zu definierendes
Phänomen ist und zum anderen das Werden des spanischen Kolonialreiches – als ein
Beispiel von Kolonialismus – dargelegt wurde, stellt sich abschließend noch die Frage
nach dem Wesen des frühneuzeitlichen spanischen Imperiums. Konkret: Wie war das
spanische Kolonialreich beschaffen und wie ist der spanische Kolonialismus zu bewerten?
Dass der spanische Kolonialismus womöglich einen Sonderfall oder zumindest etwas Eigenes innerhalb der Kolonialismusforschung darstellt, implizieren beispielsweise Josep Fradera oder Osterhammel/Jansen. Wo Ersterer wiederholt etwa vom
„spanischen Modell“87 spricht und sogar die Frage stellt: „War das spanische Imperium ‚kolonialistisch‘?“,88 klassifizieren Letztgenannte mit der Beherrschungs-, der Stützpunkt- sowie der Siedlungskolonie89 drei Ausformungen. Bei der Beherrschungskolonie – meist eine Folge militärischer Eroberung zum Zwecke wirtschaftlicher Ausbeutung und Prestigesteigerung, wobei die Landnahme durch eine relativ kleine Anzahl
von „Zivilbürokraten, Soldaten [und] Geschäftsleuten“90 erfolgt – ist die Rede von der
„Variante Spanisch-Amerika“.91 Also einer spezifischen Form des Kolonialismus, bei der
„europäische Einwanderung [...] zu städtischer Mischgesellschaft mit dominierender
kreolischer92 Minderheit“93 führt, die es demnach nur im spanisch-amerikanischen Einflussbereich gegeben hat. Dass dem tatsächlich so war, also dass im hispanoamerikanischen Raum tatsächlich eine Mischgesellschaft entstanden ist, hat sich durchaus
im Verlaufe der hier vorliegenden Untersuchungen bestätigt. So war der Aufstieg der
spanischen Kolonien offenbar wesentlich mit ebendieser Entwicklung verbunden und
erst die Entstehung einer derartigen neuen Gesellschaft hat das spanische Kolonialreich schließlich zu seiner Blüte im 17. beziehungsweise 18. Jahrhundert geführt.
Ob dies allein reicht, um vom spanischen Kolonialismus als Sonderfall sprechen zu
können, geschweige denn diesen in seinem Wesen komplett zu erfassen, sei allerdings
dahingestellt. An anderer Stelle und mit Blick auf die modernen Imperien verweisen
Osterhammel/Jansen nämlich auch darauf, dass selbige in keiner Zeit „administrativ
homogen“94 waren. Wenngleich die Autoren den Schwerpunkt hier verstärkt auf das
18. bis 20. Jahrhundert legen, lässt sich diese Feststellung doch auch auf die Kolonialreiche der Frühen Neuzeit anwenden. So meint etwa Reinhard Wendt mit Bezug auf
die frühneuzeitlichen Kolonialreiche Spanien und Portugal: „Strukturell unterschieden
87
88
89
90
91
92
93
94
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 53, 66 f.
Ebd., S. 51.
Zur detaillierten Klassifikation siehe Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 16–18.
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 17.
Ebd.
Das Adjektiv „kreolisch“, abgeleitet von „Kreole“ verweist auf die Nachkommen weißer romanischer Einwanderer
in Süd- und Mittelamerika beziehungsweise auf die Nachkommen schwarzer Sklaven in Brasilien. Kreole, in: Duden online, [http://www.duden.de/rechtschreibung/Kreole_Nachkomme_Einwanderer], eingesehen 12.6.2015.
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, S. 17.
Ebd., S. 61.
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Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien
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sich beide Imperien [...] grundlegend. Verantwortlich dafür waren nicht divergierende
Interessen der jeweiligen Mutterländer, sondern die Bedingungen vor Ort.“95 Das heißt
also, welche Form Kolonialimus im Einzelnen annimmt, hängt von verschiedenen Faktoren ab und muss demnach individuell an die jeweiligen Gegebenheiten der kolonialiserten Gebiete angepasst werden. Für eine eindeutige(re) Verortung des spanischen
Kolonialismus müsste hier freilich ein Vergleich mit anderen Kolonialmächten der Zeit
angestellt werden, was den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen würde. Deshalb sei an dieser Stelle auf entsprechende Einzeldarstellungen verwiesen, wie sie beispielsweise Robert Aldrichs Sammelband „Ein Platz an der Sonne“ bietet.
Für das spanische Kolonialreich sei jedenfalls das Folgende festgehalten: Die Frage nach
einem Sonderfall in Bezug auf das spanische Imperium rührt vermutlich daher, dass es
offiziell nie Kolonien besaß, da bis ins 18. Jahrhundert entsprechendes Vokabular nicht
verwendet wurde.96 So war nie von colonia, sondern offiziell von den reynos de las In
dias, also den ‚indischen Königreichen‘ die Rede, bei denen es sich staatsrechtlich um
„selbstständige Teilreiche der Krone Kastilien, nicht um Untertanenländer des Landes
Kastilien“97 gehandelt hatte. Eine juristische Haarspalterei, die kaum über die „Unterwerfung und Entmündigung der Eingeborenen“98 noch über deren „tendenzielle[...] wirtschaftliche[...] Abhängigkeit von Europa“99 hinwegzutäuschen vermag.100 Oder anders
ausgedrückt: „[S]ozioökonomisch handelt es sich unzweifelhaft um Kolonien und dieser Sachverhalt findet durchaus auch Niederschlag in der Herrschaftsorganisation.“101
Insofern ist der spanische Kolonialismus bei all seinem Eifer zur Erschließung neuer
Edelmetallvorkommen, Missionierung mit päpstlichem Wohlwollen und dem allgemeinen Weltmachtstreben von umfassender Dezentralität gekennzeichnet.102 Dies,
weil der spanischen Expansion ursprünglich kein fester Plan zugrunde lag, wenngleich
die spätere Organisation des Weltreiches anderes vermuten lässt. Die Regierung unterstand jedenfalls über lange Zeit hinweg – das heißt bis in das 18. Jahrhundert hinein und trotz der augenscheinlichen Eigenverwaltung der ‚indischen Königreiche‘ –
direkt der spanischen Krone im fernen europäischen Mutterland. Gerade deshalb ist
in höchstem Maße bemerkenswert, dass das hispano-amerikanische Imperium, etwa
nach Fraderas Bewertung, letztlich trotzdem eine „planvoll durchdachte, nach einheitlichen Aspekten bis ins Einzelne geregelte staatliche Schöpfung darstellt, wie sie sonst
nirgends zur Durchführung gelangte, und vier Jahrhunderte die Herrschaft sicherte.“103
Also durchaus ein Sondermodell, dass sich erst mit dem Einmarsch Napoleons im europäischen Mutterland und der damit einhergehenden größeren politischen Liberalität
für die Kolonien im 19. Jahrhundert aufzulockern begann, was allerdings gleichbedeu-
95
96
97
98
99
100
101
102
103
Wendt, Begegnung der Kulturen, S. 72.
Hierzu auch Anmerkung 15.
Reinhard, Die Neue Welt, S. 69.
Ebd.
Ebd.
Ebd., S. 69 f.; Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 53.
Reinhard, Die Neue Welt, S. 69.
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 48.
Ebd., S. 67.
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177
tend mit dem Niedergang des spanischen Imperiums war. Denn: „Mit der Lockerung
seiner Herrschaft über Amerika hörte Spanien auf, eine den Atlantik überspannende
Nation zu sein, [...].“104
Schluss
Beschäftigt man sich mit frühneuzeitlichen Kolonialismen, begibt man sich gleichermaßen in ein höchst interessantes aber auch höchst komplexes Feld. So ist allein der
Begriff „Kolonialismus“ nur schwer definierbar, ähnlich der (wort-)verwandten Termini, wie „Kolonisation“ oder auch „Imperialismus“ und „Expansion“. Dennoch lässt sich
im Allgemeinen festhalten, dass kolonialistische Herrschaft durchaus begründet zumeist negativ konnotiert ist, da sie in der Regel mit der Expansion einer Macht über
„ihren angestammten Lebensraum hinaus“ einhergeht, wie etwa Osterhammel/Jansen
so treffend formulierten. Hinzu kommt oft noch ein gewisses Weltmachtstreben, wie
es auch dem spanischen Kolonialreich spätestens seit dem 16. Jahrhundert eindeutig
zugrunde lag.
Als exemplarisches Beispiel dieses vielgestaltigen Phänomens zeichnet sich das spanische Kolonialreich, das von der Entdeckung Amerikas durch Columbus 1492 bis zur
Unabhängigkeit der letzten verbliebenen Kolonien 1898 knapp vier Jahrhunderte
überdauerte, durch Dezentralität und mitunter auch enorme Gewalt aus. Ersteres, da
die Regierung lange Zeit, das heißt bis ins 18. Jahrhundert, direkt der Krone im räumlich weit entfernten Mutterland unterstand, letzteres verdeutlicht sich nicht zuletzt an
der bedenkenlosen Ausbeutung von Land und Leuten, die gerade in den Anfängen
der spanischen Expansion gen Übersee eine enorme Dezimierung der indigenen Bevölkerung zur Folge hatte.
Gerade diese Anfänge des spanischen Ausgreifens auf die Welt waren dabei Hauptinteressenspunkt der hier vorliegenden Untersuchung. Bereits seit der Antike war die
Pyrenäenhalbinsel immer wieder kolonialisiertes Gebiet, etwa durch die Phönizier, die
an den Küsten Handelsstützpunkte errichteten, oder durch die Römer, die weiter ins
Landesinnere vordrangen. Unter dem Eindruck der seit dem achten nachchristlichen
Jahrhundert auf der Halbinsel expandierenden islamischen Herrscher begannen sich
die ortsansässigen Ethnien aber scheinbar zu emanzipieren, sodass es seit dem 13.
Jahrhundert zur Etablierung der so genannten christlichen ‚Fünf Reiche‘ kam. Aus diesem noch im 15. Jahrhundert bestehenden Konglomerat kleiner und mittlerer Königreiche und Fürstentümer auf der Iberischen Halbinsel entstanden schließlich zwei der
ersten Kolonialmächte der Frühen Neuzeit: Portugal und Spanien.
Im iberischen Raum jener Zeit scheinen also in der Tat ganz bestimmte Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen in absolut begünstigender Weise für eine Überseeexpansion der dort ansässigen Mächte zusammengeflossen zu sein: Mit der Personalunion von Aragón und Kastilien fanden 1469 – neben Portugal – die zwei mächtigsten
und einflussreichsten iberischen Mächte zusammen, die sich durch ihren jeweils ei104
Fradera, Moderner Kolonialismus, S. 66.
178
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genen Expansionswillen auszeichneten und mit der Formierung eines zentralisierten
Staates letztlich die Grundlage für ein spanisches Großreich schufen. Die anhaltende
Konkurrenz mit Portugal auf der Suche nach einem Seeweg gen Indien, der die Portugiesen um Afrika herum geführt hatte und Kastilien-Aragón nur noch die Alternative
gen Westen offen ließ, in Kombination mit Columbus‘ Zufallsentdeckung – Amerika –
tat das Übrige zur Gründung eines Weltreiches. Denn neben all diesen teils historisch
zufällig zusammenspielenden Faktoren, die eine spanische Expansion begünstigten,
waren es letztlich die Kolonien im neu entdeckten Mittel- und Südamerika, die Spaniens Hegemonialstellung nicht nur begründeten, sondern langfristig stützten. Unter
dem Eindruck eines grundsätzlichen Expansionsstrebens der Zeit, gepaart mit den
Resten mittelalterlicher Ritterromantik, Abenteuerlust und den ganz realen Versprechungen auf persönlichen Besitz und Reichtum, fanden sich seit der Entdeckung des
Columbus 1492 immer mehr Europäer in der Neuen Welt ein. So wurde bis 1496 die Karibik in Besitz genommen, 1519 bis 1529 folgte das mesoamerikanische Aztekenreich,
bis Mitte der 1540er-Jahre das Inkareich und in den 1560ern schließlich die Philippinen.
Bereits zum Ende des 16. Jahrhunderts konnte Spanien also tatsächlich auf ein Weltreich blicken, das durch entsprechend straffe Organisation und Verwaltung bis ins 19.
Jahrhundert Bestand hatte.
Die Erschließung dieser seinerzeit noch völlig unbekannten Gebiete war wesentlich
an die so genannten Conquistadoren gebunden. Glücksritter auf der Suche nach Ruhm
und Reichtum in der Neuen Welt, die seit Beginn des 16. Jahrhunderts zunächst die
Küstengebiete Südamerikas erkundet hatten und spätestens seit den 1530ern mit
Hernán Cortéz tiefer in das als goldreich geltende Landesinnere eines unerforschten
Kontinentes vordrangen. Der angebliche Goldreichtum der indigenen Hochkulturen und die fraglos faszinierenden Eindrücke dieser Fremde trugen wohl mit zu dem
Wunsch bei, diese Gebiete erobern und unter eigene Herrschaft bringen zu wollen.
Ein Ansinnen, das für die Europäer, allen voran die Spanier, vor allem durch den Einsatz der den Indios unbekannten Feuerwaffen von Erfolg gekrönt war. Auch wenn die
Landnahme nicht immer von der absichtlichen Vernichtung der ansässigen Ureinwohnerschaft bestimmt war, führten vor allem die eingeschleppten Krankheiten sowie die
bedenkenlose Ausbeutung der indigenen Arbeitskräfte noch im 16. Jahrhundert zur
regelrechten Entvölkerung Mittel- und Südamerikas, was auch Eingang in zeitgenössische Quellen fand.
Der Aufstieg Spaniens – das zu Beginn des spanischen Kolonialismus unter diesem
Namen eigentlich noch gar nicht existierte – am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert ist also gleichbedeutend mit dem Übergang von der Reconquista, also der Rückeroberung der eigenen Landstriche in Europa, zur Conquista, der Eroberung der Neuen
Welt in Übersee. Die Entdeckung und Landnahme der neu entdeckten Gebiete jenseits
des Atlantiks war dabei Grundlage und Stütze der neuen Hegemonialmacht Spanien,
die bis ins 17. Jahrhundert tonangebend im europäischen Mächtekanon war. Zugleich
hatten die Entdeckungsfahrten des Columbus auch für andere europäische Mächte
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ein Tor zu neuen Welten und Möglichkeiten geöffnet, sodass im Kontext der europäischen Expansion die spanische immer mitgedacht werden muss.
Insofern haben sich die eingangs aufgestellten Hypothesen also durchaus bestätigt,
auch was den Aufstieg und Fall ganzer Reiche im Zuge des frühneuzeitlichen Kolonialismus anbelangt. So ging die Großmachtwerdung Spaniens ganz klar mit dem
zeitgleichen Niedergang der präkolumbianischen Kulturen Mittel- und Südamerikas
konform, wie etwa am Beispiel des Hernán Cortés und des Aztekenreiches unter Moctezuma angedeutet. Der Umfang der vorliegenden Arbeit hat es nicht gestattet, hier
näher ins Detail zu gehen, wobei ein exemplarisches Beispiel – ausgerechnet der von
Osterhammel/Jansen als Sonderfall deklarierte Eroberungszug des Cortés – die Situation vermutlich auch nicht ausreichend beleuchtet hätte. Ebenso wie in Hinblick auf
eine eindeutige Bewertung des spanischen Kolonialismus wäre auch in Bezug auf die
indigenen Reiche zur Zeit der europäischen Übersee-Expansion ein Vergleich mehrerer
Beispiele gefragt.
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2008/11/14373.html], eingesehen 16.6.2015.
Wendt, Reinhard, Seit 1492: Begegnung der Kulturen, in: Anette Völker-Rasor (Hrsg.),
Frühe Neuzeit (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch), München 20103, S. 69–86.
historia.scribere 08 (2016)
Lisa-Marie Gabriel
181
Quelle
Bartolomé de las Casas, Die Greueltaten der Spanier (Auszug aus Brevissima Relación),
in: Urs Bitterli (Hrsg.), Die Entdeckung und Eroberung der Welt. Dokumente und Berichte, Bd. 1, Amerika, Afrika (Beck’sche Sonderausgaben), München 1980, S. 51–53.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Herbers, Klaus, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich
bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 181.
Abbildung 2: Herbers, Klaus, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich
bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 187.
Lisa-Marie Gabriel ist Studentin der Geschichtswissenschaften sowie des Lehramtsstudiums Deutsch/Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung im 8. Semester an
der Universität Innsbruck. lisa-marie.gabriel@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Lisa-Marie Gabriel, Neuzeitliche Kolonialismen: Das Kolonialreich Spanien. Der Aufstieg
des spanischen Kolonialreiches an der Wende zur Frühen Neuzeit, in: historia.scribere 8
(2016), S. 161–184, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
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Runner-Up-Awards 2016
gesponsert von der Historisch-Philosophischen Fakultät und den Emeriti
Josef Riedmann, Franz Mathis
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Bachelor-Seminare 2016
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„Walliser off Gultüre.“ Die Wanderungsbewegung der Walser
und Galtür
Jakob Kathrein
Kerngebiet: Wirtschafts- und Sozialgeschichte
eingereicht bei: ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum
eingereicht im Semester: SS 2014
Rubrik: BA-Arbeit
Abstract
„Walliser off Gultüre.“ The Walser migration movement and Galtür
This bachelor thesis focusses on the history of the Walser migration in general
and the settlement of Galtür in particular, looking at the reasons why the
Walser people left their homeland and at the conditions of establishing new
settlements. In addition, this paper tries to find out whether traces of the Walser
people and their culture still exist, particularly with reference to Galtür. Does a
commemorative culture in the centres of the Walser migration and settlement
exist in today’s Galtür? Do people there identify themselves as Walsers?
Einleitung
„Alle drei Jahre trifft sich die große Walser-Familie, blickt auf die gemeinsame faszinierende Geschichte zurück, tauscht sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede aus, macht die Tradition im Sprechen der Walserdialekte und dem Tragen der Trachten erlebbar, pflegt und knüpft bewusst Walserfreundschaften.“1
Dieser Auszug aus dem Vorwort des Programmhefts des „Walsertreffens“ vom September 2013 verdeutlicht die Aktualität der Walser2 und ihrer Kultur. Seit 1962 kommen alle
drei Jahre an die dreitausend Menschen abwechselnd in einem der zahlreichen Wal1
2
Programmheft Walsertreffen 2013, Vorwort, [http://www.walsertal.at/Walsertreffen%202013], eingesehen
9.4.2014.
Der Terminus „Walser“ wird in dieser Arbeit als ein aus den Quellen und der Literatur abgeleiteter, historischer
Begriff verwendet und fungiert dabei als Sammelbegriff für Frauen, Männer und Kinder gleichermaßen. Eine
genauere Begriffsdefinition ist im weiteren Verlauf des Textes gegeben.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.468ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
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„Walliser off Gultüre“
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serorte zum sogenannten „Walsertreffen“ zusammen. Zuletzt fand dieses im Großen
Walsertal und der Gemeinde Damüls statt, im Jahr 2004 war die Gemeinde Galtür im
Paznaun Veranstaltungsort. Die Walser und ihre Kultur sind „in“. Seit den 1960er-Jahren
entstanden mehrere Vereinigungen und Organisationen, die die einzelnen Walsergemeinden und Walsergebiete miteinander verknüpfen. Die Walserkultur wird durch
Veranstaltungen verschiedenster Art sowie durch die regelmäßige Herausgabe von
Zeitschriften, in denen die wichtigsten Ereignisse einer Gemeinde in Dorfchroniken
festgehalten werden, gepflegt und gefördert.
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit der historischen Wanderungsbewegung der Walser und setzt sich genauer mit der Walser-Siedlung auf dem Gebiet
der Tiroler Gemeinde Galtür im Paznaun auseinander. Damit verbunden ist vor allem
die Frage nach der heutigen Erinnerung an diese historische Migration. Die Forschung
hat sich – hauptsächlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – intensiv mit der
Geschichte der Walser auseinandergesetzt. Die historische Migrationsforschung aber,
die heute eine stark wachsende Teildisziplin der Geschichtswissenschaft darstellt und
sich in ihrer gegenwärtigen Form erst im Laufe der letzten Jahrzehnte innerhalb eines
Prozesses ausdifferenzierte, der immer noch anhält, hat das Thema „Walser“ bisher weitgehend ausgelassen. Insofern kann diese Arbeit auch als Versuch einer moderneren
Annäherung an eine historisch viel behandelte Materie gelten.3
Die ersten Walser verließen Ende des 12. Jahrhunderts das Gebiet um den heutigen
Schweizer Kanton Wallis und siedelten sich in der übrigen Schweiz, in Norditalien,
Liechtenstein, Vorarlberg und Tirol an. Anfang des 14. Jahrhunderts, so die heute gängige Forschungsmeinung, erreichten sie Galtür. Die Gemeinde ist die östlichste aller
Walsersiedlungen – die Umstände der Walserniederlassung in Galtür waren jedoch
lange Zeit rätselhaft. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, wie und von wo aus die
Walser nach Galtür gelangten.
Fragestellung und Ziel
Diese Arbeit gliedert sich grundsätzlich in drei Teile. Zunächst stehen die allgemeinen
historischen Umstände und Zusammenhänge der Walserwanderungen im Vordergrund. Folgende Fragestellungen werden dabei besonders behandelt: Wer sind die
Walser? Was waren die Gründe und Motive für ihre Wanderzüge? Wie gestalteten sich
diese?
Der zweite Teil bezieht sich konkret auf die Niederlassung der Walser in Galtür. Der
Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei neben der Besiedlungsgeschichte Galtürs
auf der Ansiedlung der Walser – hierzu gibt es mehrere Theorien – sowie der Beziehung zwischen den Neuankömmlingen und der autochthonen Bevölkerung.4 Der
letzte Teil behandelt die Erinnerungskultur im Zusammenhang mit den Walsern. Nach
generellen Ausführungen konzentriert sich diese Arbeit auf die Erinnerung in Galtür:
3
4
Zur historischen Migrationsforschung siehe Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frankfurt a. M. 2012.
Es handelt sich dabei im Kern um die ansässige romanische Bevölkerung.
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Jakob Kathrein
189
Auf welche Art und Weise erinnert man an die Ansiedlung der Walser und ihre Kultur?
Wie steht es um das „Walserbewusstsein“ der Galtürerinnen und Galtürer? Zur Beantwortung dieser Fragen wird neben der Literatur auch ein qualitatives Interview mit
Elisabeth Kathrein – einer älteren Galtürerin – verwendet. Dazu wird die Hypothese
aufgestellt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Walser Identität und die
Erinnerungskultur von idealistischen Vorstellungen gekennzeichnet sind und Identität
konstruiert wird. Ziel dieser Arbeit ist es schlussendlich, neben der Klärung von allgemeinen Fragen der Walserwanderungen, einen Überblick über die Erinnerungslandschaft zu geben – speziell bezogen auf Galtür – und eventuell neue Anregungen zu
einem kritischeren Umgang mit der Walserkultur zu liefern.
Forschungsstand und Quellenlage
Die Ursprünge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Walsern führen bis ins
16. Jahrhundert zurück. Bis Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigten sich Gelehrte und
Gebildete aller Art mit den Bewohnerinnen und Bewohnern deutscher Sprachinseln
in Graubünden und Italien. Das Interesse richtete sich auf deren ursprüngliche Herkunft. Der Chronist Ägidius Tschudi (1505–1572) hielt die Walser für eine alteingesessene Bevölkerung gallischer oder germanischer Herkunft. Ulrich Campell (1510–1582),
den einige als den Vater der Walser Geschichtsschreibung sehen, hat die Herkunft der
Davoser, die „Valliser“ oder „Vallser“ genannt wurden, auf das Wallis zurückgeführt. Seit
Campell setzte sich die These des Oberwalliserischen Ursprungs der Walser allmählich
durch. Auch die besonderen Rechte der Walser wurden erkannt und bereits wissenschaftlich behandelt. Im 19. Jahrhundert erreichte die Forschung eine neue Dimension. Die Besiedlungsgeschichte, das Walserrecht, die Sprache und das Brauchtum der
Walser standen im Fokus der Wissenschaft. Über die Oberwalliser Herkunft der Bewohner der einzelnen Walsergebiete war man sich inzwischen einig. Unklar blieb jedoch,
wer die Oberwalliser ursprünglich waren. Manche hielten sie für eingewanderte Alemannen, andere wiederum für Burgunder. Auch zum Ursprung der Sprache der Walser
– alemannisch oder burgundisch – gab es unterschiedliche Meinungen. Der Philologe
und Dialektologe Albert Bachmann (1883–1934) konnte schließlich überzeugende Argumente für eine alemannische Besiedelung des Oberwallis liefern. Im 20. Jahrhundert
wurden vor allem die Wanderzüge der Walser und deren Ursachen untersucht, ihre
Geschichte, ihre Kultur, das Brauchtum und ihre Sprache durch alle wissenschaftlichen
Disziplinen hindurch erforscht. Insbesondere durch sprachwissenschaftliche Erkenntnisse konnten die Wege der Walserwanderung nachgezeichnet werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung in allen Bereichen verursachte unter den Bewohnerinnen
und Bewohnern der Walsergebiete ein neues Bewusstsein für die eigene Herkunft und
Kultur. Im Vordergrund stand die Frage nach Elementen, die alle Walser verbinden.
Hinsichtlich des Walserrechts ist der Rechtshistoriker Peter Liver zu erwähnen, der in
den 1930er- und 40er-Jahren maßgebliche Erkenntnisse lieferte. Seitdem wurde das
190
„Walliser off Gultüre“
historia.scribere 08 (2016)
Walserrecht von vielen Autoren, Liver folgend, mit dem mittelalterlichen Kolonistenrecht verknüpft behandelt.5
In der Bibliografie „Walserforschung 1800–1970“ des Rechtshistorikers Louis Carlen aus
dem Jahr 1973 sind 1.113 Titel vermerkt.6 Heute könnte man diese Liste um zahlreiche
Werke erweitern. Hinsichtlich der Forschung zu den Walsern liegt also kein Mangel an
Publikationen vor. Einige wichtige Arbeiten haben sich als Standardwerke etabliert,
die bei keiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Walsern fehlen sollten.
Besonders zu nennen ist Paul Zinsli7 mit seinem Werk „Walser Volkstum“, erstmals erschienen 1968, in dem er Antworten zu den brennendsten Fragen rund um die Walser
liefert, die er durch jahrelange Forschung und Sammeln von Material ausgearbeitet
hat. Seit den 1970er-Jahren beschäftigt sich auch die italienische Forschung vermehrt
mit den Walsern. Der Mailänder Historiker Enrico Rizzi8 hat sich dabei besonders ausgezeichnet. Er konnte nachweisen, dass Walser Kolonisten von italienischen Feudalherren
aus dem Piemont und dem Wallis sowie von Klöstern gezielt angesiedelt wurden. Eine
neuere Darstellung der Walser und ihrer Geschichte bietet Max Waibel.9 Sein Werk „Unterwegs zu den Walsern“ stellt einen guten Überblick zur Walser-Thematik dar und wird
in dieser Arbeit mehrmals verwendet. Zu den Walsern in Vorarlberg sind besonders die
Werke des Volkskundlers Karl Ilg10 erwähnenswert. Die Walser in Galtür werden in den
Werken Zinslis, Renzis und Waibels – wenn auch eher am Rande – ebenfalls behandelt.
Mit ihnen hat sich erstmals der Historiker Otto Stolz11 genauer befasst. Eine der aktuellsten Auseinandersetzungen mit den Galtürer Walsern lieferte der Jurist und Historiker
Nikolaus Huhn.12 In seiner Dissertation beschäftige er sich mit der „spannungsreichen“
Beziehung Galtürs zu Ardez (Graubünden) und behandelte dabei auch ausführlich die
Besiedlungsgeschichte Galtürs und die Ansiedlung der Walser. 1999 erschien das „Galtür-Buch“,13 in dem sich Autoren unterschiedlichster Richtungen mit der Geschichte
und Kultur sowie dem gesellschaftlichen Leben des Dorfes auseinandersetzen.
Die Quellenlage zu den Walsern ist teilweise vielversprechend. Es existieren zahlreiche
Urkunden, Urbare und andere Aufzeichnungen und Notizen, meist im Zusammenhang mit grundherrschaftlichen Angelegenheiten und Abgaben, die Rückschlüsse auf
die Walser Siedlungstätigkeit und ihre rechtliche Situation zulassen. Vor allem für den
Siedlungsraum Vorarlberg kann auf Walser-Urkunden zurückgegriffen werden. Alois
Niederstätter fasste die wichtigsten dieser Urkunden jüngst in einem Aufsatz der Zeit-
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Max Waibel, 500 Jahre Walserforschung – Ein kritischer Rückblick, in: Wir Walser 1 (2007), S. 19–33.
Louis Carlen, Walserforschung 1800–1970. Eine Bibliographie, Visp 1973.
Paul Zinsli, Walser Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Italien. Erbe, Dasein, Wesen, Chur
1968, 61991 sowie Ders., Die Walser, in: Paul Hugger (Hrsg.), Handbuch der schweizerischen Volkskultur II, Zürich
1992, S. 847–858.
Enrico Rizzi, Geschichte der Walser, Anzola d‘Ossola 1993.
Max Waibel, Unterwegs zu den Walsern. In der Schweiz, in Italien, in Frankreich, Liechtenstein Vorarlberg und dem
Tirol, Frauenfeld 2003.
Karl Ilg, Siedlungsgeschichte und Siedlungsformen der Walser einschließlich des Montafons (Geschichte und
Wirtschaft II), Innsbruck 1968.
Otto Stolz, Die Niederlassung der Walser im Paznauntale, Innsbruck 1910.
Nikolaus Huhn, Galtür und Ardez. Geschichte einer spannungsreichen Partnerschaft, Univ. Diss. Innsbruck 1997.
Gemeinde Galtür (Hrsg.), Galtür. Zwischen Romanen, Walsern und Tirolern, Galtür 1999.
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schrift „Walserheimat“ zusammen.14 Auch zu den Walsern in Galtür liegen historische
Zeugnisse und Dokumente vor, die Auskunft über das Erscheinen der Walser in Galtür
und ihre Siedlungstätigkeit geben. Sie werden im Laufe dieser Arbeit genauer behandelt und analysiert.
Konzeption und Methodik
Im folgenden Hauptteil wird zunächst definiert, um wen es sich überhaupt handelt,
wenn man von „den Walsern“ spricht. Anschließend werden Motive, Thesen und Hintergründe der Walser Wanderzüge ausführlich dargelegt. Es wird auch ausgeführt, wie
diese Wanderungen vonstattengingen. Besondere Behandlung erfahren die Walserwanderungen nach Vorarlberg und Tirol, die aufgrund des Vorliegens von historischen
Zeugnissen – in erster Linie Urkunden – relativ gut dokumentiert sind. Darauf folgt
der Blick auf die Ansiedlung der Walser in der Gemeinde Galtür. Die Umstände dieser
Niederlassung waren lange Zeit ungeklärt und sind es zu einem gewissen Grad noch
immer, da es Aspekte gibt, zu denen mangels historischer Beweismaterialien nur Vermutungen angestellt werden können. Bis heute haftet den Walsern in Galtür etwas
Geheimnisvolles an. Wissenschaftliche Nachweise für ihre Niederlassung wurden relativ spät entdeckt. Die Lage des Orts im hintersten Paznaun – von Westen aus nur über
hohe Gebirgspässe erreichbar – birgt auch die interessante Frage, von wo aus und wie
die Walser nach Galtür kamen. In der Wissenschaft hat sich bisher die These durchgesetzt, dass Walser Gruppen vom Montafon (Vorarlberg) aus über das Zeinisjoch nach
Galtür gelangt wären. Nicht abschließend geklärt ist, wer hinter ihrer Ansiedlung gestanden haben könnte. Dazu existieren ebenfalls mehrere Hypothesen, die aufgezeigt
werden. Auch über das Verhältnis zwischen Walser Neusiedlern und „einheimischen“
Romanen lassen sich mehrheitlich nur spekulative Aussagen treffen. All diesen genannten Unklarheiten wird daher nachgegangen.
Im Anschluss daran folgt ein wichtiger Aspekt dieser Arbeit: Die Beschäftigung mit
der Erinnerung an die Walser und ihre Kultur, insbesondere in der Gemeinde Galtür.
Zunächst liegt der Fokus auf den „drei Entdeckungen“ der Walser, die Max Waibel bereits ausführte. Dem zu Grunde liegt Waibels Feststellung, dass die Walser zunächst
von der Wissenschaft und dann von „sich selbst“ entdeckt wurden. Das Bewusstsein
der Bewohnerinnen und Bewohner der Walsergebiete für ihrer eigene Herkunft und
Geschichte – das „Walserbewusstsein“ – wurde Schritt für Schritt geweckt und fortan
gepflegt. Eine dritte „Entdeckung“ erfuhren die Walser schließlich durch den Tourismus.
Nach einem kurzen Resümee und kritischen Blick auf den Umgang mit der Walserkultur wird versucht, einen Überblick der Galtürer Erinnerungskultur bezüglich der Walser und ihrer Ausgestaltung zu geben. Anhand vorhandener Literatur, Ereignissen wie
dem Walsertreffen in Galtür im Jahr 2004 sowie eines qualitativen, halbstrukturierten
Interviews wird auch das „Walserbewusstsein“ der Galtürerinnen und Galtürer thematisiert. Zuletzt folgt der Schlussteil, in dem die wichtigsten Fragestellungen noch einmal
14
Alois Niederstätter, Die ältesten Vorarlberger „Walser“-Urkunden, in: Walserheimat 91 (2012), S. 68–79.
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aufgegriffen werden und eine abschließende Zusammenfassung der Erkenntnisse gegeben ist.
Geschichte der Walser
Wer sind die Walser?
Die sog. Walser stammen ursprünglich aus jener Region, die den heutigen Schweizer
Kanton Wallis darstellt. Ab ca. 500 n. Chr. kam es zur Ansiedlung von alemannischen Bevölkerungsgruppen im von Kelten und Romanen bewohnten Gebiet der ehemaligen
römischen Provinz Helvetien sowie im nordöstlichen Rätien.15 Mit der Zeit vermischten
sich die Einwanderer mit der ansässigen Bevölkerung. Nach dieser ersten Landnahme,
die nach jahrhundertelangen Beutezügen alemannischer Gruppen größtenteils friedlich verlaufen sein dürfte, erstreckte sich das Siedlungsgebiet vom unteren Bodensee
bis zur Mündung des Aare-Flusses. Anschließend breiteten sich alemannische Siedlerinnen und Siedler weiter nach Osten aus und erreichten im 8. Jahrhundert das Berner
Oberland.16
In der Wissenschaft wird davon ausgegangen, dass alemannische Migrantengruppen
vom Berner Oberland in das Rhône-Gebiet einwanderten und sich dort niederließen.
Wann genau dies geschah, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Paul Zinsli vermutete jedoch, dass die Ansiedlung im Wallis noch vor dem Jahr 1000 n. Chr. begann.17
Etwa ab dem Ende des 12. Jahrhunderts verließen einige der vormals alemannischen
Walliserinnen und Walliser das Oberwallis und zogen weiter. Diese Aussiedler werden
– in Abgrenzung zu den dagebliebenen Wallisern – als „Walser“ bezeichnet. Ihr Name
weist damit weiterhin auf ihre eigentliche Herkunft hin. Eine Definition dessen, wer als
„Walser“ zu bezeichnen ist, lieferte Zinsli:
„Die Walser sind ursprünglich eine einfache bergbäuerliche Sprach- und
Schicksalsgemeinschaft alemannischer Herkunft. Aber die neue Zeit hat ihre
Lebensgrundlagen völlig verändert. Als ein ‚Walser‘ mag sich heute mit Recht
betrachten, wer in der alten Heimat oder in den tieferen Tälern Walserdeutsch
spricht oder wer einer Walsersippe angehört, sei es, dass er einen walserischen
Familiennamen trägt, oder, ebenso, als ‚Herkunftswalser‘, von der Mutterseite,
in diese Verwandtschaft hineingehört“.18
Neben dieser Definition, die in ihrer Diktion volkstümliche Aspekte in den Vordergrund
zu stellen scheint und sich in erster Linie auf die Nachkommen der Walser bezieht,
15
16
17
18
Die Alemannen waren dabei eine von vielen Bevölkerungsgruppen germanischen Ursprungs, die in der Alpenregion und den Alpenausläufern zu siedeln begannen (vgl. etwa die Bajuwaren). Die Bezeichnung „Alemannen“ leitet sich von „Mann“ ab und bedeutet wörtlich „alle Mannen“, sprich „Menschen insgesamt“, was darauf schließen
lässt, dass es sich bei den Alemannen um keine einheitliche ethnische Gruppe, sondern Menschen unterschiedlichster Herkunft handelte. Der griechische Geschichtsschreiber Agathias beschrieb sie im 6. Jh. als „gemischten
Haufen von Stämmen und Völkern“, siehe Rizzi, Geschichte der Walser, S. 19.
Zinsli, Walser Volkstum, S. 17 f.
Ebd., S. 19.
Zinsli, Walser Handbuch, S. 856.
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werden die historischen Walser laut Alois Niederstätter in der heutigen Forschung vor
allem als Personengruppen mit einer speziellen rechtlichen Stellung gesehen:
„Als ‚Freie‘ waren sie nicht an die Scholle und den Herrn gebunden, keinen
Heiratsbeschränkungen unterworfen, sie schuldeten keine Leibeigenenabgaben und leisteten keine Frondienste. Sie hatten die ihnen überlassenen Güter
zu Erbleihe gegen einen auf Dauer fixierten Zins inne und bildeten vielerorts
eigene Gerichtsgemeinden.“19
Diese besonderen Rechte werden in ihrer Gesamtheit als das sogenannte „Walserrecht“
bezeichnet.20 Laut der Definition von Niederstätter werden korrekterweise nur jene Bevölkerungsgruppen als Walser betitelt, die über diese besonderen Rechte verfügten.21
In den heute etwa 150 historischen Walsersiedlungen, die sich auf einem Gebiet von
dreihundert km Luftlinie erstrecken, leben ca. 40.000 Menschen.22 Merkmale, die tatsächlich alle gegenwärtigen Nachkommen der Walser im Alpenraum miteinander verbinden, können heute kaum mehr ausgemacht werden. Ein markantes Charakteristikum sind in jedem Fall die gemeinsamen sprachlichen Elemente des Walserdialekts,
die das wichtigste Bindeglied zwischen den Walsern und ihrer gemeinsamen Herkunft
darstellen. Das Walserdeutsch gehört als ein „wertvolles Überbleibsel des Althochdeutschen“ (Matteo Rizzi) zur Sprachfamilie des Süd- oder Hochalemannisch, der auch alle
schweizerischen Dialekte angehören. Eine Besonderheit besteht im archaischen Charakter dieser Sprache, da in ihr „ursprüngliche Strukturen und Eigenheiten“ bewahrt
wurden, die sich nicht in der Weise anderer deutscher Dialekte verändert haben. Des
Weiteren verweist die Bildung eigener spezifischer Laute und Wörter auf eine „einzigartige sprachliche Autonomie“.23 Oft werden auch bestimmte Traditionen, Bräuche und
Rituale als Zeichen der Zusammengehörigkeit der Walser gesehen. Tatsächlich gibt es
aber weder eine einheitliche Tracht oder Architektur, noch Bräuche, die von allen Walsern praktiziert werden. Am ehesten lassen sich religiöse Traditionen, wie die Verehrung
von Heiligen, besonders des hl. Theodul und des hl. Nikolaus in zahlreichen Walsersiedlungen, als Anzeichen für eine Verbundenheit ausmachen.24 Zudem gibt es in vielen
19
20
21
22
23
24
Alois Niederstätter, Die Zuwanderung der Walser nach Vorarlberg, in: Vorarlberger Walservereinigung (Hrsg.), Stefan Heim, Walserweg Vorarlberg. ln 25 Etappen vom Brandnertal über Triesenberg nach Laterns und Damüls, ins
Große und Kleine Walsertal und über den Tannberg ins Silbertal nach Galtür, Innsbruck-Wien o. D., S. 18–23, hier
S. 18. Interessant ist, dass der Historiker Niederstätter im Vergleich zu Zinsli eine rein rechtliche Definition bietet,
die frei von ethnischen Zuordnungsversuchen und Bezügen auf eine nicht überprüfbare „Herkunft“ auskommt.
Die Definition des Volkskundlers und Sprachwissenschaftlers Zinsli ist insofern immer im Kontext seiner eigenen Zeit und der spezifischen Fachgeschichte der Volkskunde bzw. Ethnologie zu sehen, siehe dazu Ingeborg
Weber-Kellermann/Andreas C. Bimmer/Siegfried Becker, Einführung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie.
Eine Wissenschaftsgeschichte (Sammlung Metzler 79), Stuttgart-Weimar 32003. Außerdem ist Zinslis Forschungsschwerpunkt, der in der Namensforschung liegt, zu beachten. Im Übrigen versucht Zinsli auch eine Begriffserklärung für die Nachfahren der eigentlichen Walser zu finden, während sich Niederstätter nur auf die historischen
Walser bezieht.
Das „Walserrecht“ wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer behandelt.
Niederstätter, Zuwanderung der Walser, S. 18.
Fritz Tiburt, Über die Walser, Vorarlberger Walservereinigung, o. D., [http://www.vorarlberger-walservereinigung.
at/ueber-die-walser/], eingesehen 7.11.2014.
Rizzi, Geschichte der Walser, S. 224.
Ebd., S. 221.
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Gebieten typische Familiennamen, die auf eine walserische Herkunft hinweisen.25 Das
einzig klar feststellbare Element walserischer Identität stellt, wenn überhaupt, nur die
gemeinsame Sprache dar.26
Die Wanderungsbewegung der Walser
Das Phänomen der Migration war im Mittelalter nichts Ungewöhnliches.27 Durch Kriege,
die Erschließung von neuen landwirtschaftlichen Flächen und das Abhängigkeitsverhältnis der Mehrheitsbevölkerung im Feudalsystem kam es zu großen Bevölkerungsbewegungen. Ein Beispiel dafür war die Deutsche Ostsiedlung.28 Der Historiker Harald
Kleinschmidt kam zu dem Schluss, dass Migrationsbewegungen in der gesamten Zeit
des Mittelalters sehr häufig in verschiedenen Ausprägungen vorkamen. Er hielt außerdem fest, dass sich diese Ausprägungen im Verlauf von Früh- zu Hoch- und Spätmittelalter umkehrten. Waren zunächst Wanderungen in großen, autonom agierenden Gruppen die Regel – auch mit Blick auf die großen Völkerwanderungen –, trat in späteren
Zeiten die Einzelmigration in den Vordergrund, die oft auch unter der Vormundschaft
von Territorialherrschern oder Stadtregierungen organisiert wurde.29 Migration im Mittelalter definierte Kleinschmidt allgemein als „permanente Wohnsitzveränderung über
Grenzen von anerkannter Signifikanz hinweg“ und unterschied diese klar vom Begriff
„Reisen“, der mit der Absicht zur Rückkehr an einen Ausgangsort verbunden sei.30
Die Wanderungsbewegung der Walser muss jedenfalls im Kontext ihrer Zeit gesehen
werden und erfolgte verglichen mit anderen Bevölkerungsbewegungen relativ spät.
Zu den ersten Zeugnissen der walserischen Kolonisation zählt ein Dokument aus Galtür in Tirol. Es stammt damit „paradoxerweise aus dem östlichsten Punkt ihrer [der walserischen] Siedlungstätigkeit“.31 Im Rechnungsbuch Heinrichs von Tirol (ca. 1265–1335)
ist in einer Notiz des Nauderer Richters Jacobus Moser von den „homines dicti Walser
de Cultaur“ die Rede, die 1320 in Galtür (= Cultaur) angekommen seien. Die Walser
werden hier als Kolonisten erstmals beim Namen genannt.32 Die Entdeckung dieses
25
26
27
28
29
30
31
32
Siehe dazu Zinsli, Walser Volkstum, S. 64–78.
Rizzi, Geschichte der Walser, S. 224; Zu neueren Ausführungen zum Thema der gemeinsamen Walser Identität
siehe Silke La Rosée, Wie der Walser entstand. Neue Antworten auf alte Fragen, in: Wir Walser 2 (2010), S. 5–21.
Der Begriff „Migration“ wird hier mit dem Hinweis darauf verwendet, dass diese Bezeichnung im Zusammenhang mit historischen Forschungen zum Mittelalter lange Zeit nicht gebraucht wurde. Man sprach eher von
Wanderungen oder Mobilität im Allgemeinen. Die moderne Mittelalterforschung entwickelt sich mittlerweile in
Richtung einer Öffnung zu transkulturellen Konzepten, weshalb auch die Kategorie „Migration“ als gesamtgesellschaftliches Phänomen in den Vordergrund tritt, siehe dazu Hahn, Historische Migrationsforschung, S. 71.
Siehe dazu Robert Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisation und kultureller
Wandel von 950 bis 1350, München 1998, sowie Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters 9. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 1994.
Harald Kleinschmidt, Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung, Göttingen
2002, S. 61 f.
Ebd. S. 45.
Rizzi, Geschichte der Walser, S. 32.
Zit. n. Nikolaus Huhn, zur Siedlungsgeschichte von Galtür, in: Gemeinde Galtür (Hrsg.), Galtür, S.16–29, hier S. 22;
das Original befindet sich im Staatsarchiv München, „Tirol“, n.11, fol.88 a. Entdeckt wurde diese Notiz 1909 vom
Historiker Otto Stolz (1881–1957). Huhn verglich dies mit der Entdeckung Trojas durch Heinrich Schliemann und
brachte damit zum Ausdruck, dass mit dieser Notiz ein handfester historischer Beweis für die Walserkolonisation
gen Westen vorlag, nachdem das Thema Walser zuvor mehr als unklar und von vielen verschiedenen, teils sagenhaften, Vermutungen und Theorien geprägt war.
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Jakob Kathrein
195
Dokuments im Jahr 1909 stellte einen eindeutigen historischen Nachweis für die Wanderungsbewegung der Walser dar.
Motive, Thesen, Hintergründe
Die bisher vermuteten Gründe und Motive für die Auswanderung der Walser aus dem
Wallis sind äußerst vielfältig. Sie reichen von einer angeblichen Überbevölkerung im
Oberwallis bis hin zu Naturkatastrophen als Auslöser. So stützten sich einige Vermutungen auf eine Klimaveränderung, die im Gebiet der Rhône für große Trockenheit gesorgt haben soll. Des Weiteren galten die allgemeine Intensivierung der Alpwirtschaft,
aber auch die Pest und andere Seuchen sowie kriegerische Auseinandersetzungen als
Motive für Wanderzüge. Manche argumentierten auch schlicht und einfach mit dem
Abenteuerwillen der walserischen Siedler. Das Angebot an Theorien zu den Walserwanderungen ist also groß. Sie bewegen sich aufgrund des Mangels an Dokumenten
und Aufzeichnungen sowie eindeutig belegbaren historischen Tatsachen oftmals im
Bereich der Spekulation. Ein wichtiger Aspekt wurde in der jüngeren Forschung jedoch
immer mehr in den Vordergrund gerückt: die politisch-sozialen Gegebenheiten der
Feudalzeit.33
„Wo immer es zur Gründung von Walsersiedlungen kam, da waren handfeste Interessen der Feudalherren im Spiel“,34 führte Max Waibel aus. Die These der Feudalherren als
maßgeblichen Trägern der Walseransiedlung hat sich in der Forschung durchgesetzt.
Dahinter steht der Gedanke, dass walserische Siedlergruppen gezielt angeworben
wurden – aus mehreren Gründen. Einerseits konnten die Grundherren durch die Ansiedlung von Walsern die Urbarmachung neuer Anbauflächen in unwirtlichen Höhen
gewährleisten. Die Walser boten sich dazu ganz besonders an, da sie Techniken entwickelt hatten, die ihnen das Bewirtschaften von hoch gelegenen Regionen erlaubten.35 Der Mehrwert für den Feudalherrn bestand in den Zinseinnahmen, die er daraus
lukrieren konnte. Ein anderes Motiv für die Anwerbung lag in der Durchsetzung von
Herrschaftsansprüchen. Walsersiedlungen wurden deshalb auch oft in der Nähe von
Pässen angelegt, um die Kontrolle über die Gebirgsübergänge sicherzustellen oder ein
Gebiet wehrhaft zu machen.36 Auch militärische Aspekte dürften eine Rolle gespielt
haben – dabei nicht zuletzt auch die Anwerbung der Walser als Söldner. Laut Waibel
wurde die Bedeutung des Kriegsdienstes im Zusammenhang mit der Walseransiedlung von der Forschung zunächst überschätzt, später wiederum allzu sehr herunter
gespielt.37
33
34
35
36
37
Zinsli, Walser Handbuch, S. 851.
Waibel, Unterwegs, S. 34. Das Netzwerk zwischen den Feudalherrn sieht Waibl als das zentrale Rückgrat der Walserwanderungen. Eine kompakte Zusammenfassung bezüglich der Walserwanderungen bietet Max Waibl, Die
mittelalterlichen Walserwanderungen, in: Walserheimat 91 (2012), S. 83–92.
Siehe dazu Rizzi, Geschichte der Walser, S. 165–195, sowie Karl Ilg, Die Walserwanderung in Vorarlberg und ihre
Bedeutung für Österreich, in: Festschrift zum 75. Geburtstag von Helmut Prasch, Spittal 1985, S. 204–213 und Karl
Ilg, Die Walser und die Bedeutung ihrer Wirtschaft in den Alpen, in: Vierteljahrschrift für Sozial und Wirtschaftsge
schichte 39 (1952), S. 63–75.
Waibel, Unterwegs, S. 34.
Ebd., S. 39. Für die These einer organisierten Ansiedlung spricht auch die Tatsache, dass der Statuswechsel vom
Migrant bzw. von der Migrantin zum Siedler bzw. zur Siedlerin durch die sich ausdifferenzierende Territoriali-
196
„Walliser off Gultüre“
historia.scribere 08 (2016)
Der Grund, warum tatsächlich so viele Walser in neue Gegenden aufbrachen, ist nicht
zuletzt in der Möglichkeit zu sehen, sich durch die Auswanderung grundherrlicher
Lasten zu entledigen, und – in weiterer Konsequenz – eine besondere Rechtsstellung
zu erlangen. Die bereits angesprochene, vermutete Überbevölkerung des Oberwallis
dürfte dabei zusätzlich eine Rolle gespielt haben. Das „Walserrecht“ stellte wahrscheinlich den größten Anreiz für die Auswanderer dar. Laut Waibel war es als Vertrag zwischen Grundherrn und Walser Siedlern gleichzusetzen mit dem mittelalterlichen europäischen Kolonistenrecht.38 Grundsätzlich umfasste es folgende Privilegien und Rechte:
Einerseits die persönliche Freiheit, in der auch das freie Abzugsrecht („Zugrecht“) enthalten war. Inhaber waren damit von der Schollengebundenheit und anderen Bindungen wie Frondiensten und Heiratsbeschränkungen befreit. Des Weiteren wurde das
Recht auf kommunale Selbstverwaltung der eigenen Gemeinde gewährt. Das brachte
die freie Ammanwahl (vergleichbar mit der Wahl eines Bürgermeisters) sowie die niedere Gerichtsbarkeit mit sich.39 Zuletzt stand die freie Erbleihe, nach der die Walser vor
willkürlichen Erhöhungen der Abgaben geschützt wurden, was dem Grundherrn im
Gegenzug eine fixe Grundrente garantierte. Durch eine zunehmende Geldentwertung
kam diese Regelung den Walsern zugute. Die Pflichten, die mit dem Erwerb des Walserrechts entstanden, betrafen einerseits den Waffendienst, den die Walser laut Waibel
jedoch mehr und mehr auf die eigenen Landesgrenzen beschränken konnten. Andererseits gab es zu leistende Abgaben in Form eines jährlichen Zinses, der aus Naturalien
bestehen konnte, jedoch immer öfter auch durch Geld beglichen wurde.40
Wichtig ist es zu erwähnen, dass das Walserrecht prinzipiell „jeder beliebige Siedler“
erlangen konnte, wie Enrico Rizzi betonte. Folgt man Rizzi, so wurde die Bezeichnung
„Walserrecht“ allgemein für die Rechte von Kolonisten in den alpinen Siedlungsgebie-
38
39
40
sierung von Herrschaft im Hoch- und Spätmittelalter immer schwieriger wurde. Das bedeutet, dass die Siedlungstätigkeit parallel zur Ausbildung zentrifugaler Kräfte, Landesherrschaften und administrativer Flächenstaaten stärker überwacht und kontrolliert wurde. Eine autonome Ansiedlung scheint daher eher unwahrscheinlich;
siehe dazu Kleinschmidt, Menschen in Bewegung, S. 53. Kleinschmidt spricht in diesem Zusammenhang auch
von einer Art Zwischenstatus der „dauernd wohnhaften Auswärtigen“, und vergleicht diese Situation mit jener
der sog. „Metöken“ im antiken Griechenland, die als dauernd wohnhafte Fremde ohne Bürgerrecht, d. h. ohne
politische Gestaltungsrechte galten. Inwiefern diese Kategorie auf die Walser anwendbar ist, ist allerdings mehr
als fraglich, sind die Metöken doch am ehesten mit den im Mittelalter im städtischen Bereich als „Beisassen“ oder
„Hintersassen“ bezeichneten Gruppen zu vergleichen, dazu Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter
1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien 2012.
Waibel, Unterwegs, S. 35. Diese Ansicht vertraten auch Paul Zinsli und Enrico Rizzi. Maßgeblich für die Erforschung des Walserrechts und seiner Herkunft waren die Arbeiten Peter Livers, der es erstmals mit dem allgemeinen Kolonistenrecht gleichsetzte. Obwohl sich diese These in der heutigen Forschung gemeinhin durchgesetzt hat, gibt es auch andere Theorien, etwa dass die Walser diese Rechte bereits gekannt und aus ihrer Heimat
mitgenommen hätten, siehe dazu Heinrich Büttner, Anfänge des Walser Rechtes im Wallis, in: Das Problem der
Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte. Mainauvorträge 1953 (Vorträge und Forschungen 2),
Sigmaringen 1953 sowie Silke La Rosée, Die Rechte der Walser in den ennetbirgischen Siedlungsgebieten in ihrer
rechtshistorischen Relevanz, Diss. Innsbruck, 2004 und Silke La Rosée, Alte Freiheit in neuem Licht. War Walser
Recht Kolonistenrecht?, in: Wir Walser 2 (2011), S. 5–18. Einen Überblick zur Kontroverse rund um das Walserrecht
bietet Hans Steffen, Rechte der Walser. Zwischen Mythologisierung und Verleugnung, in: Wir Walser 2 (2009),
S. 5–13; eine Verteidigung der These des Walserrechts als Kolonistenrecht nahm jüngst Florian Hitz mit seinem
Aufsatz vor: Walser Recht und Walser Freiheit, in: Wir Walser 2 (2011), S. 19–30.
Die Hochgerichtsbarkeit blieb in der Regel dem Feudalherrn vorbehalten. Sie umfasste die Verfügung über Leib
und Leben und betraf vor allem Delikte, wie Diebstahl, Mord etc., die mit körperlichen Strafen bis hin zur Todesstrafe geahndet werden konnten.
Waibel, Unterwegs, S. 35–40.
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Jakob Kathrein
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ten verwendet und konnte demnach auch Gruppen von Siedlern betreffen, die ursprünglich nicht aus dem Oberwallis kamen.41 Außerdem wurde das volle Walserrecht
nicht in allen Walsersiedlungen gleich angewandt bzw. überhaupt gewährt. So kam es
vor, dass nur das Recht auf persönliche Freiheit zugebilligt wurde, was allerdings auch
schon als erstrebenswert galt.42
Es ist jedenfalls festzuhalten, dass das Walserrecht ein hohes Gut darstellte, das seinen
Inhaberinnen und Inhabern einen besonderen Status zusicherte, der diese von den
übrigen Bewohnerinnen und Bewohnern einer Grundherrschaft deutlich unterschied.
Davon zeugt auch der Ausspruch „Walserluft macht frei“, der in Anlehnung an die bekannte Devise „Stadtluft macht frei“ getätigt wurde.43
Die Kolonisation der Walser
Die Kolonisation der Walser erfolgte über mehrere Siedlungsphasen. Prinzipiell zogen
die Walser in alle Himmelsrichtungen, besonders aber in den Osten. Grundsätzlich erfolgten solche Wanderungen immer in einzelnen Schüben und in Form von kleineren
Gruppen. Wenn also eine neue Walsersiedlung gegründet wurde, kamen einerseits
schnell weitere Walser hinzu, andererseits dauerte es nicht allzu lange, bis einzelne
Familien und Sippen weiterwanderten und ihrerseits wieder neue Kolonien bildeten.
Viele der Gebiete, in denen sich Walser niederließen, waren bereits von Rätoromanen
und Italienern besiedelt. Unter dem Slogan „Friedliche Kolonisation mit Axt und Sense“ wurde in der Forschung lange Zeit das Narrativ einer konfliktfreien Ansiedlung der
Walser vertreten. Zu Unrecht, wie Waibel betonte. Es kam vor, dass sich die ansässigen Romanen in kürzester Zeit durch die vermehrten Niederlassungen von Walsern
in der Minderheit sahen. Dies führte zu Ängsten und Widerstand unter den Romanen,
in manchen Fällen sogar zur Abwanderung der autochthonen Bevölkerung.44 Einen
weiteren Grund für Differenzen bot die Tatsache, dass die Ansiedlung von Walsern vermutlich zumeist unter der Schirmherrschaft des Grundherrn stattfand, der ihnen Land
zur Bewirtschaftung zuteilte, das nicht selten zuvor der romanischen Bevölkerung als
Lehen gegeben worden war. Von dem Bild einer friedlichen Kolonisation sollte in diesem Sinne Abstand genommen werden.45
Einen Überblick zu behalten, wohin Walser Siedler in welchen Zeiträumen gelangt sind,
ist komplex. Nur in den wenigsten Fällen konnten historische Dokumente gesichert
werden, die eine genaue Auskunft über Ansiedlungen geben. So können oft nur Ver41
42
43
44
45
Rizzi, Geschichte der Walser, S. 151. Rizzi outet sich als Anhänger eines weit gefassten Walserrechts-Begriffs, der nicht
auf eine konkrete Herkunft, etwa aus dem Oberwallis, oder Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen beschränkt
ist. Es zeigt sich jedenfalls, dass mit einer allzu engen Definition des Walserrechts den schwer rekonstruierbaren
rechtlichen Bedingungen dieser Zeit kaum beizukommen ist. Wichtig ist es, zu differenzieren. Plausibler erscheint
die Einschätzung, dass auch mehrere Ausgestaltungen dieses rechtlichen Status nebeneinander existierten und
die Grenzen fließend verliefen.
Waibel, Unterwegs, S. 40.
Siehe dazu Zinsli, Walser Volkstum, S. 82.
Waibel skizziert dies am Beispiel der Romanen im unteren Rheinwald, die ins Schams auswanderten, siehe Waibel,
Unterwegs, S. 42.
Ebd., S. 40–44.
198
„Walliser off Gultüre“
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mutungen angestellt werden, die sich auf andere Indizien stützen müssen. Von einer
Niederlassung der Walser in Hochsavoyen, die zu den frühesten gehört haben muss,
zeugen etwa nur deutsche Flurnamen, die Höhenlage der Siedlungen sowie die Nähe
zum Oberwallis.46 Zu weiteren anfänglichen Wanderungen im 13. Jahrhundert zählen
Vorstöße nach Süden in die italienischen Alpentäler um das Monte-Rosa-Massiv. Ebenfalls in diese Zeit fallen Züge ins Berner Oberland, ins Tessin sowie über das Userental
ins Bündner Oberland.47 Von diesen Gebieten aus gelangten Walser weiter nach Osten.
Wanderungen nach Vorarlberg und Tirol
Im Zusammenhang mit dieser Bachelorarbeit ist vor allem die Ansiedlung in Vorarlberg
und Tirol interessant. Es wird davon ausgegangen, dass die Vorarlberger Walser einer
eigenen Kolonistengruppe angehörten, die zusammen mit der sog. „Davoser Gruppe“
und den in Liechtenstein angesiedelten Walsern aus dem unteren Oberwallis auswanderte. Von ersten Gründungen („Mutterkolonien“) ausgehend wurden nach und nach
weite Teile Vorarlbergs besiedelt. Die beiden ältesten Vorarlberger Walserurkunden
stammen aus dem Jahr 1313 und dokumentieren Lehensvergaben an Walser Siedler
durch die Grafen von Montfort.48 Wichtige Eckpunkte der Walseransiedlung in Vorarlberg sind vor allem das Große und Kleine Walsertal und das Montafon. Aber auch im
Bregenzerwald und an den Hängen des Rheintals kam es zu zahlreichen Niederlassungen. Besonders im Montafon müssen laut Waibel viele Walser ansässig gewesen sein
– im Silbertal gab es bis 1453 sogar ein eigenes Walser Gericht. Laut Waibel gelangten
Walser Kolonisten über das Montafon auch ins Paznaun. Von Partenen im Montafon
seien sie über das Zeinisjoch nach Galtür gekommen. Weitere Spuren der Walserbesiedlung lassen sich im Paznaun auch für Mathon und Ischgl feststellen.49 Bezüglich
der Walser Siedlungstätigkeiten in Tirol gibt es weitere Mutmaßungen, die jedoch nicht
gänzlich geklärt sind. So sollen sich Walser im Stanzertal (St. Anton am Arlberg) und im
oberen Lechtal niedergelassen haben, was aufgrund der Nähe zu Vorarlberg und dem
Paznaun noch am ehesten plausibel erscheint. Sogar in Praxmar im Sellraintal, einem
Seitental des Inntals im heutigen Bezirk Innsbruck-Land, soll es Walser gegeben haben.
1452 soll dort ein gewisser Heinrich Walser einen Schwaighof betrieben haben. Eine
noch gewagtere Theorie über Walser Siedler im Tuxertal, einem Seitental des Zillertals,
wies Karl Ilg jedoch als äußerst fragwürdig zurück.50
46
47
48
49
50
Waibel, Unterwegs, S. 15 f.
Ebd., S. 15–26.
Innerhalb ihrer Herrschaft Feldkirch belehnten die Grafen Rudolf und Berthold von Montfort in der ersten Urkunde eine Gruppe von vier Walsern mit dem „Gut“ Laterns und der Alpe Gapfohl (heutiges Laternsertal). In der
zweiten vergaben sie die Alpe Uga (bei Damüls) an Walser Siedler, siehe dazu Alois Niederstätter, Die ältesten
Vorarlberger „Walser“-Urkunden, in: Walserheimat 91 (2012), S. 68–79.
Waibel, Unterwegs, S. 27–29, siehe auch Zinsli, Walser Volkstum, S. 37–41. Mit der Walser Ansiedlung in Vorarlberg
hat sich besonders der Volkskundler Karl Ilg auseinandergesetzt, siehe Karl Ilg, Siedlungsgeschichte und Siedlungsformen der Walser einschließlich des Montafons (Geschichte und Wirtschaft II), Innsbruck 1968.
Vgl. Zinsli, Walser Volkstum, Anmerkungen, S. 429, sowie Rizzi, Geschichte der Walser, S. 130; Zu den vorgebrachten Theorien der Walseransiedlung siehe im Detail Karl Ilg, Die heutige Lage des Walservolkstums in Vorarlberg,
in: Wir Walser 2 (1963), S. 8; Louis Carlen, Die Walser in Tirol, Separatdruck aus Wir Walser 2 (1968); Otto Stolz, Die
Niederlassung der Walser im Paznauntale, Innsbruck 1910.
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Die Walser in Galtür
Allgemeine Besiedlungsgeschichte von Galtür
Von den heutigen Walsergemeinden ist Galtür die östlichste – und damit am weitesten
vom ehemaligen Siedlungsgebiet der Walser im heutigen Schweizer Kanton Wallis entfernt. Galtür bildet einen Schnittpunkt alemannischer, rätoromanischer und bairisch-tirolerischer Kultur. Die früheste Erwähnung findet der Ort in der bereits erwähnten Notiz des Nauderer Richters Jacobus Moser. In ihr ist von der Ankunft der Walser in Galtür
im Jahre 1320 die Rede: „nota postmodum anno domini MCCCXX homines dicti Walser
de Cultaur advenientes […]“.51 Die Hochtäler im inneren Paznaun wurden zunächst von
Bauern aus dem Engadin als Almen genutzt, bis sich romanische Siedler rund um den
Talboden niederließen. Durch Aufzeichnungen Goswins von Marienberg im Vinschgau
ist die erste Phase der Besiedlung Galtürs (11. und 12. Jahrhundert) gut dokumentiert.
Goswin hat im 14. Jahrhundert zum Zweck der Auflistung der Güter und Einkünfte seines Klosters auch alle älteren Urkunden, die Rechte des Klosters oder erhaltene Güter
bekunden, kopiert. Daher ist bekannt, dass weite Teile des hinteren Paznauntales von
den Herren von Tarasp an das Kloster Marienberg verschenkt wurden.52 Es ist davon
auszugehen, dass der Talboden von Galtür größtenteils aus Sumpfland bestand und
daher anfangs nicht bewohnt war. Die Bezeichnung „Cultaur“ oder „Cultura“ (davon abgeleitet Galtür) weist auf die Kultivierungsarbeit der romanischen Siedler hin, die über
die Jahrhunderte durch Rodungen, den Bau von Hochwasserdämmen sowie durch
die Trockenlegung und Düngung von Weiden eine Infrastruktur errichteten, und so
allmählich den Talgrund erschließen konnten. Rätoromanische Siedler waren von mehreren Seiten nach Galtür eingewandert. Bemerkenswert erscheint die Besiedlung aus
dem Süden, die laut Nikolaus Huhn keineswegs einer „topographischen Logik“ gerecht
wurde. Die Pässe der Zentralsilvretta sind beinahe tausend Meter höher und damit ungleich schwerer zu überqueren als die Übergänge des Zeinisjochs und der Bielerhöhe,
die Galtür mit dem Montafon verbinden. Klassische Push- und Pull-Faktoren haben laut
Huhn eine Besiedlung aus dem Engadin ausgelöst: Überbevölkerung, damit verbundene Landknappheit und Einschränkungen, die mit dem Herrschafts- und Sozialsystem
einhergingen, trieben die Menschen dazu an, die hohen Gebirgspässe der Zentralsilvretta zu überwinden. Auf der anderen Seite fanden sie kaum besiedeltes Gebiet mit
ausreichendem Flächenangebot, das nur darauf wartete, bewirtschaftet zu werden.53
51
52
53
Zit. n. Nikolaus Huhn, zur Siedlungsgeschichte von Galtür, in: Gemeinde Galtür, Galtür, S. 22; das Original befindet
sich im Staatsarchiv München, „Tirol“, n.11, fol.88 a.
Huhn, Siedlungsgeschichte, S. 16.
Ebd., S. 21.
200
„Walliser off Gultüre“
historia.scribere 08 (2016)
Walseransiedlung
„ […] die Landlüte in Patznün, alle Walliser zu Tamuls, zum Sonnentage, in Glatterns unnd [sic] am Tunserberg, und alle ander Walliser die zu uns gehörent, alle
Walliser zu Montafun mit den Silbern daselbst, und alle Walliser off Gultüre.“54
Dieser Auszug stammt aus der „Konstanzer“ bzw. „Appenzeller Richtung“ vom 4. April
1408, einem Vertragswerk, das kurz nach dem Friedensschluss zu den Appenzellerkriegen entstand. Darin werden alle Beteiligten des Konflikts aufgezählt, unter anderem auch die „Landlüte in Paznün“ – die damaligen Bewohner des Paznaun – und die
„Walliser off Gultüre“, womit offenbar die in Galtür angesiedelten Walser gemeint waren. Laut Nikolaus Huhn, wurden die Walser in Galtür durch die erstmalige Analyse
der Konstanzer Richtung im 19. Jahrhundert überhaupt erst entdeckt und „in das Licht
des historischen Interesses gerückt“.55 Damit war – noch vor der Entzifferung der Notiz
des Nauderer Richters durch Otto Stolz Anfang des 20. Jahrhunderts – ein historisches
Zeugnis für die Anwesenheit von Walsern im Paznaun gefunden.
Die Ansiedlung der Walser in Galtür ist aus mehreren Gründen überraschend und außerordentlich bemerkenswert. Zunächst aufgrund des Zeitpunkts ihrer Niederlassung.
Es wird davon ausgegangen, dass die Walser zwischen 1310 und 1315 Galtür erreichten, was bedeutet, dass sie zur selben Zeit siedelten, wie die Kolonisten in Vorarlberg
– wenn nicht sogar noch früher. Die ersten Niederlassungen in Vorarlberg, Damüls und
Laterns, sind urkundlich für 1313 nachgewiesen. Ein weiterer Aspekt ist die geographische Lage Galtürs als östlichster Punkt der Walser Kolonisation, die anderen Theorien
zur Walseransiedlung in Tirol einmal ausgenommen, und der damit verbundenen großen Entfernung zum Oberwallis, der ursprünglichen Heimat der Kolonisten. Interessant ist aber vor allem der genaue Standort ihrer Siedlungstätigkeit. In der Regel ließen
sich Walser Kolonisten immer in Höhenlagen nieder, nicht in den Talgründen. Das hat
auf der einen Seite mit ihren Fähigkeiten und Techniken in Hinblick auf die Bewirtschaftung in Extremlagen zu tun. Aber auch schlicht und einfach damit, dass die Ebenen
nicht bewohnbar oder schon bewohnt waren. Im Fall von Galtür, so Huhn, gelte es als
gesichert, dass sich die Walser gerade im Talgrund niederließen, während die Romanen
größtenteils in den Randlagen verblieben. Nun darf aber davon ausgegangen werden,
dass auch romanische Siedler im Talkessel ansässig waren und das ehemals versumpfte
Gebiet bereits kultiviert hatten (Stichwort „Cultura“). Das Aufeinandertreffen der neuen
Siedler mit den ansässigen Bewohnern dürfte daher zu Differenzen geführt haben.56
Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, wie die Ansiedlung der Walser in Galtür organisiert wurde. Denn eines sei klar, wie Huhn betonte: „Die Neusiedler
saßen auf jeden Fall inmitten eines hochkomplexen, durchorganisierten Wirtschafts-,
Sozial- und Rechtsgefüges, sie trafen auf feste, abgesicherte Besitzverhältnisse“. Das
54
55
56
Joseph Bergmann, Untersuchungen über die freyen Walliser oder Walser in Graubünden und Vorarlberg, Wien
1844, S. 45 f., zit. n. Nikolaus Huhn, Galtür und Ardez. Geschichte einer spannungsreichen Partnerschaft, Diss.
Innsbruck 1997, S. 79.
Huhn, Galtür und Ardez, S. 79.
Huhn, Siedlungsgeschichte, S. 22–24.
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Jakob Kathrein
201
heißt, es müsste einen Förderer in Form eines Grundherrn – ob Fürst oder Institution
(Kloster) – gegeben haben, unter dessen Schirmherrschaft die Niederlassung der Kolonisten im Paznaun vonstattenging.57
Zur Walseransiedlung in Galtür existieren mehrere Hypothesen. Bisher wurden dafür
mehrere „Machtträger“ ins Spiel gebracht:
(1) Die Grafen von Tirol
Für diese Hypothese spricht, dass die erste Erwähnung der Walser in einem Tiroler
Rechnungsbuch (Notiz des Nauderer Richters) zu finden ist. Weiters hatten die Grafen
von Tirol um die Zeit der Walser Ansiedlung in Galtür die Vogtei über das Kloster Marienberg inne. Außerdem waren die Walser ab 1360 nach Wiesberg zinspflichtig. Die
Lehensherren der Herren von Wiesberg waren die Grafen von Tirol. Dagegen spricht
allerdings die Tatsache, dass die Tiroler Grafen nicht Grund-, sondern nur Landesherrn
der Galtürer und damit der Walser waren. Überdies wäre eine Walseransiedlung von
Tiroler Seite nicht notwendig gewesen, da es zu dieser Zeit, folgt man Huhn, genügend
Tiroler Bauern gegeben habe, die mit der Kultivierung in Höhenlagen vertraut gewesen wären.58
(2) Die Herren von Matsch
Die Hypothese der Herren von Matsch als Ansiedler der Walser erscheint eher unwahrscheinlich. Die Matscher waren mit den Montfortern verwandt, die die Walser in Graubünden und Vorarlberg angesiedelt hatten. Huhn führt einen gewissen „Ritter Gebhard
von Tarasp“ an, der um 1305 für die Verwaltung der Besitzungen des Klosters im Paznaun, und damit vermutlich auch für eine Ansiedlung der Walser zuständig gewesen
sei. Diese Annahme bewegt sich aber, wie er selbst betont, im Bereich der Spekulation.59
(3) Das Kloster Marienberg
Das innere Paznaun war Grundbesitz der Benediktiner Abtei Marienberg im Vinschgau.
Insofern erscheint eine Walseransiedlung unter Marienberger Aufsicht einleuchtend.
Es bestand laut Huhn ein „unmittelbares Interesse, ihre [die Marienberger] Besitztümer
im innersten Paznaun auszubauen und abzurunden.“ Das durchaus auch mittels einer
Ansiedlung von den gerngesehenen Walser Kolonisten. Ein Anhänger dieser Hypothese war auch Enrico Rizzi.60 Zweifel an der Marienberg-Hypothese kamen Huhn durch
die Tatsache, dass im schon erwähnten Urbar Goswins von Marienberg, das die erste
Phase der Besiedlung Galtürs dokumentiert, explizit keine Abgaben von Walsern angeführt werden. Hätte es solche aber gegeben, hätte sie Goswin keinesfalls ausgelassen.
57
58
59
60
Huhn, Siedlungsgeschichte, S. 24.
Ebd., S. 24–26.
Ebd., S. 27.
Siehe Rizzi, Geschichte der Walser, S. 127.
202
„Walliser off Gultüre“
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Ein weiterer Zweifel besteht in den historischen Umständen. Das Kloster Marienberg
war Anfang des 14. Jahrhunderts in mehrere Konflikte verwickelt. Einerseits gab es
Differenzen mit dem Bischof von Chur, die schlussendlich zur völligen Abhängigkeit
Marienbergs vom Hochstift Chur führten. Außerdem wurde Marienberg infolge eines
Streits mit Ulrich II. von Matsch – dem Vogt des Klosters – von ebendiesem geplündert.
Es liegt daher nahe, dass Marienberg zur Zeit der Walseransiedlung in Galtür gar nicht
im Stande war, eine eigene Siedlungspolitik zu verfolgen, geschweige denn seine „Besitzungen im fernen Paznaun wirkungsvoll zu verteidigen“.61
(4) Die Bischöfe von Chur und die Montforter
Grundsätzlich, so Huhn, hätte der Bischof von Chur die Möglichkeiten gehabt, Walser
auf Marienberger Grundbesitz anzusiedeln. Nach heftigen Differenzen der Marienberger – die vor allem ihre wirtschaftliche Selbständigkeit verteidigen wollten – mit dem
Bischof von Chur wurde der Abt von Marienberg exkommuniziert und durch einen
dem Bischof loyalen Mann ersetzt. Fortan bestimmte das Hochstift von Chur, was auf
dem Grundbesitz von Marienberg vor sich ging. Von 1298 bis 1321 war Siegfried von
Gelnhausen Bischof von Chur. Er starb 1321 – genau in dem Zeitraum, der für die Niederlassung der Walser in Galtür in Frage kommt. Er weilte aber selten in seiner Diözese
und ernannte Rudolf von Montfort (ca. 1260 oder 1275 bis 1334) im Jahre 1310 zum
Generalvikar. Damit hatten die Montforter im entscheidenden Zeitabschnitt faktisch
die Kontrolle über das Hochstift von Chur. Im Rahmen eines bewaffneten Konflikts
zwischen mehreren Adeligen und gegen Heinrich VII. kämpfte Rudolf 1311 und 1312
auch gegen den Grafen von Tirol. Huhn argumentierte, dass Rudolf einige seiner Walser Söldner im Paznaun angesiedelt haben könnte und damit sozusagen zwei Fliegen
mit einer Klappe schlug. Er setzte „seine“ Leute ins Paznaun, das politisch der Grafschaft
Tirol angehörte, und schwächte damit seine Gegner. Gleichzeitig zeigte er dem Kloster Marienberg als eigentlichem Grundbesitzer von Galtür, wer im Bistum das Sagen
hatte.62
Mit der Walseransiedlung in Galtür hat sich auch der Historiker Klaus Brandstätter auseinandergesetzt.63 Brandstätter schrieb seinen Aufsatz als Ergänzung zu den Ausführungen Huhns. Er bestätigte ganz klar die These der Ansiedlung durch einen Grundherrn,
die von Huhn vorgeschlagenen Machtträger erschienen ihm aber nicht ausreichend
und nicht überzeugend genug. Brandstätter hob deshalb die sog. „Wiesberg“-Hypothese hervor, die Huhn nur streifte. Demnach wären es die Besitzer der am Eingang
des Paznauntals gelegenen Burg Wiesberg gewesen, die die Ansiedlung der Walser
in Galtür organisiert hätten. Dafür würde auch sprechen, dass Grundzinse aus Galtür
an Wiesberg gingen. Brandstätter konstatierte schlussendlich, dass die Herren von
Remüs die Walser nach Galtür geholt hätten bzw. maßgeblich an ihrer Siedlungstä-
61
62
63
Huhn, Siedlungsgeschichte, S. 26 f.
Ebd., S. 27 f.
Klaus Brandstätter, Die Walser in Galtür. Bemerkungen zur Besiedlungsgeschichte und Gerichtsorganisation, in:
Tiroler Heimat 64 (2000), S. 75–92.
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Jakob Kathrein
203
tigkeit beteiligt gewesen wären. In deren Besitz befand sich auch die Burg Wiesberg
zur mutmaßlichen Siedlungszeit Anfang des 14. Jahrhunderts. Seine Argumentation
stützt Brandstätter hauptsächlich auf das Rottenburger Urbar, das gegen Ende des 14.
Jahrhunderts von den Rottenburgern – den Nachfolgern der Herren von Remüs als Besitzer Wiesbergs – angelegt worden sein soll. Im Tiroler Haupturbar von 1412 wird die
Abgabe aus Galtür ebenfalls erwähnt: „[…] die ab Kaltür geben alle iar järlich VI mark
perner meraner münz auf sand Marteinstag […].“64 Die auf Quellen basierende These
Brandstätters erscheint letztendlich viel wahrscheinlicher als die Hypothesen Huhns,
die mangels historischer Belege und aufgrund ihres spekulativen Charakters nicht abschließend überzeugen können.
Romanen – Walser – Tiroler
Die Frage nach der Ausgestaltung des Zusammenlebens der ansässigen Bevölkerung
mit den Neusiedlern stellte sich schon mehrmals. Zwei Indizien sprechen dafür, dass
sich die Integration der Walser eher schleppend vollzog. 1383 wurde die erste Galtürer
Kirche durch den Churer Bischof Johannes II. (starb 1388) geweiht. In der Weiheurkunde ist von „incolis“ (Einwohner) und „vallensis“ (Walser) die Rede. Die Walser wurden
also getrennt von den Einwohnern genannt.65 Auch in der Konstanzer Richtung von
1408 stehen die „Landlüte in Paznün“ getrennt von den „Wallisern off Gultüre“. Wie lange wurden die Walser als „Fremde“ wahrgenommen? Laut Waibel war Galtür ca. ab der
Mitte des 16. Jahrhunderts deutschsprachig. Das heißt, die Romanen hatten sich den
Neusiedlern auf kurz oder lang entweder angepasst, oder waren abgewandert. Beides
wird in unterschiedlichem Ausmaß der Fall gewesen sein. Nicht außer Acht gelassen
werden darf, dass immer wieder neue Walser Sippen nach Galtür kamen. So ist belegt,
dass einzelne Walserfamilien auswanderten bzw. ausstarben und oftmals sogar deren
hinterlassene Höfe wieder von neuen Walsern bezogen wurden.66 Hinzu kommt, dass
mit der Zeit ebenso Tiroler Bauern und Händler im Paznaun sesshaft wurden und darüber hinaus eine Vermischung der Galtürer Bevölkerung mit den Montafonern stattfand.
Von all diesen Entwicklungen zeugen die Flurnamen: Neben rätoromanischen Benennungen (Bsp. Galtür = kultivierte Fläche, Zeinis = ergiebiges Weidegebiet, etc.) kam es
auch zu deutschen, vorwiegend walserischen Bezeichnungen (Bsp. Binta = eingezäunter Grund, Sunnaberg = Sonnenberg).67 Ein weiterer Bereich, in dem die unterschiedliche Besiedelung und Herkunft der Bewohnerinnen und Bewohner des Paznauntals
deutlich werden könnte, ist jener der Trachten: „Während die Musikanten von Kappl,
See und Langesthei grüne Joppen und rote Leibchen tragen, haben die von Ischgl
64
65
66
67
TLA, Urbar 1/2, fol.224 (alte Folierung 226), zit. n. Brandstätter, Walser, S. 80; Brandstätter berief sich ebenso auf ein
neuzeitliches Urbare Wiesbergs, in dem die Galtürer Abgabe weiterhin geführt wird. Es habe sich dabei bis ins
17. Jahrhundert um eine „gemeinschaftlich zu leistende Zahlung“ gehandelt. In späteren Katastern werden die
Zahlungen aus Galtür als auf einzelne Güter verteilt bzw. explizit „grundherrlich“ angeführt.
Nikolaus Huhn, Galtür 1320 – „Homines dicti Walser“, in: Walserheimat 91 (2012), S. 80–82, hier S. 80 f.
Zinsli, Walser Volkstum, S. 210 f.
Waibel, Unterwegs, S. 307 f.; siehe auch Reinhard Jaufer, Die romanischen Orts- und Flurnamen des Paznauntales
(Romanica Aenipontenta 7), Innsbruck 1970; sowie Marialuise Haslinger, Die Flurnamen von Galtür, in: Gemeinde
Galtür, Galtür, S. 52–57.
204
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und Galtür gelbe Leibchen und blaue Joppen.“68 Das Thema Tracht ist allerdings nicht
zuletzt aufgrund des jeweiligen Entstehungskontextes differenziert zu behandeln und
es ist daher schwer, Aussagen zu treffen. Auffallend ist jedenfalls, dass in den Gemeinden Ischgl und Galtür andere Tracht getragen wird als im übrigen Paznaun. Beide Orte
haben einen Bezug zu den Walsern.
Sprachliche Entwicklung
Die sprachliche Entwicklung Galtürs ist hochinteressant. Der alemannische Dialekt, der
für die Walser Identität so bedeutend ist, konnte sich dort nicht halten. Bereits in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde er laut Waibel sozusagen nur mehr von
den „alten Weibern“ untereinander gesprochen. Das Verschwinden der Walser Mundart könnte ein Grund sein, warum der Walserkolonisation von Galtür bis heute etwas
Geheimnisvolles anhaftet.69
Der Wechsel vom Walserisch-Alemannischen zum Bairischen ist teilweise dokumentiert und setzte ab ca. 1850 ein. Interessant ist, dass die höchstalemannische Mundart,70
die die Galtürer Walser zunächst sprachen, bereits in der Nachbargemeinde Ischgl
und vor allem im äußeren Paznaun äußerst schwer verstanden wurde.71 Sie war dem
heutigen Montafonerischen sehr ähnlich. Um ein Beispiel zu geben: Die „alten“ Galtürerinnen und Galtürer sagten „I bin gsii“ (Ich bin gewesen), während es im übrigen
Paznaun hieß: „I bin gwäst“. Galtür bildete also früher die Sprachgrenze zwischen dem
Alemannischen und Bairischen. Heute wird der Ausdruck „gsii“ in Galtür nicht mehr
verwendet und im Allgemeinen als Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem Montafonerischen und dem Dialekt der Vorarlberger, die man im Volksmund auch „Gsii-Berger“
nennt, gesehen. Die Galtürerinnen und Galtürer haben sich sprachlich dem übrigen
Paznaun angepasst. Dennoch ist der Galtürer Dialekt etwas Besonderes geblieben und
auch heute noch finden sich einzelne alemannische Elemente im Sprachgebrauch.
„Gotta und Getti“ sind „Patin und Pate“ (bairisch: „Tota und Teti“), „gooma“ bedeutet, auf
die Kinder aufzupassen und der „Neaßarar“ ist der Hirte von Kleinvieh (von „Neaßar“ =
Kleinvieh, Schafe und Ziegen). Im Gegensatz zur Anpassung der Galtürer Mundart ans
Bairische gibt es gleichwohl Wörter walserischen Ursprungs, die sich auch über Galtür
hinaus im Paznauner Obertal durchsetzen konnten. Ausdrücke wie „Meika“ (Mädchen),
„Guxa“ (Schneesturm) und „guxna“ (so viel wie „stürmen und schneien“) finden sich
auch in Mathon oder Ischgl.72
Der Dialekt in Galtür genießt laut Eveline Vogt einen hohen Stellenwert. Vogt betont,
dass dieser viel mehr Funktionen als die bloße Verständigung einnimmt. Die Mund-
68
69
70
71
72
Georg Juen, Tracht in Galtür, o. D. [http://www.vorarlberger-walservereinigung.at/kultur/trachten/galtuer/], eingesehen 17.10.2014.
Waibel, Unterwegs, S. 307 f.
Das Höchstalemannisch ist eine Spielart alemannischer Dialekte, die heute fast ausschließlich in der Südwestschweiz gesprochen wird.
Zinsli, Walser Volkstum, S. 230 f.
Eveline Vogt, … als die Galtürer noch „Gsii-Berger“ waren. Der Galtürer Dialekt im Wandel der Zeit, in: Gemeinde
Galtür, Galtür, S. 48–50.
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205
art bedeutet auch Identität, Individualität, Tradition – sie verbindet die Menschen untereinander. Deshalb birgt die ganz natürliche Veränderung des Dialekts auch nicht
die Gefahr eines Dialektverlusts.73 Sprache ist eben etwas Dynamisches. Sie ist durch
eine permanente Entwicklung und Veränderung geprägt. Man denke nur an die heute
gängigen Anglizismen, die auf die deutsche Sprache – vor allem die der jüngeren Generationen – einwirken und sie nachhaltig verändern. Besonders durch die rasant angestiegene Bedeutung des Internets und von sozialen Netzwerken im Alltag hat dies
eine neue Dimension erreicht. Die größtenteils natürlichen Prozesse der Sprachveränderung werden von manchen sehr kritisch gesehen – aufzuhalten sind sie aber nicht.
Erinnerungskultur im Zusammenhang mit den Walsern
Die „drei Entdeckungen“ der Walser
Folgt man Max Waibel, so wurden die Walser insgesamt dreimal „entdeckt“. Die erste
Entdeckung war eine wissenschaftliche. Schon im 16. Jahrhundert beschäftigte sich
der Chronist Ägidius Tschudi (1505–1572), der als erster Schweizer Historiker gilt, mit
den Walsern. Er hielt sie für ein autochthones Alpenvolk gallischer oder germanischer
Herkunft, das sich in die Höhenlagen zurückgezogen hatte. Tschudi nannte die Walser
„Lepontier“ und hob besonders ihre deutsche Sprache als interessantes Merkmal hervor: „Dieselben Lepontier […] noch hüt by tag guot heyer tütsch redend, sind vonn iren
altuodren und harkommen nie ander spraach gewesen […].“74 Tschudi vermutete, dass
diese „Lepontier“ als „Ureinwohner der Alpen“ auch immer schon deutsch gesprochen
hätten. Wieder andere wollten in den Bewohnerinnen und Bewohnern der Berghöhen Reste germanischer Heereszüge erkennen – ob Reste von Kimbern und Teutonen,
die im 2. Jh. v. Chr. in Italien einfielen, oder Überbleibsel von Burgundern, Sachsen
und Langobarden aus der Zeit der Völkerwanderung. Erst die neuere Forschung des
20. Jahrhunderts wies diese teils fantasievollen Vermutungen in die Schranken.75
Die Forschung zu den Walsern ist von einem die wissenschaftlichen Disziplinen übergreifenden Charakter geprägt. Neben Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern widmeten sich vor allem Historikerinnen und Historiker, Ethnologinnen und
Ethnologen sowie Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler den Walsern. Für die historische Auseinandersetzung waren besonders die Walserwanderungen, ihre Ausgestaltung und die Gründe und Motive dafür interessant. Nach wie vor
existieren hierzu zahlreiche unterschiedliche Theorien. Vor allem aus wirtschaftshistorischer Sicht wurden die Walser untersucht.76 Interessant ist, dass erst die Verbindung
mehrerer Einzelstudien zur Erkenntnis führte, dass alle Walser auf alemannische Siedlerinnen und Siedler aus dem Oberwallis zurückzuführen sind. Dies wurde lange Zeit
auch von namhaften Historikern bestritten. Eine ganz wichtige Rolle spielten rechtshis73
74
75
76
Gemeinde Galtür, Galtür, S. 51.
Max Waibel, Unterwegs, S. 45.
Zinsli, Walser Volkstum, S. 15 f.
Waibel, Unterwegs, S. 45 f.
206
„Walliser off Gultüre“
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torische Untersuchungen zum „Walserrecht“ als einem wichtigen historischen Identifikationsmerkmal der Walser.77
Vertreterinnen und Vertreter aus der Ethnologie, wie auch der Soziologie, beschäftigten sich in erster Linie mit überlieferten Bräuchen und Traditionen, den Trachten und
Gebrauchsgegenständen, um die kulturelle Lebenswelt der Walser zu untersuchen. Für
die Forschung zu den Walsern war auch die Linguistik von besonderer Bedeutung, da
sich die Verbindung der einzelnen Walsersiedlungen und ihrer Bewohnerinnen und
Bewohner vor allem durch sprachwissenschaftliche Erkenntnisse über die gemeinsamen sprachlichen Merkmale herstellen ließ.78 Durch die Entdeckung der gemeinsamen
Mundart wurde – noch vor dem historischen Nachweis durch urkundliche Zeugnisse – eine Klammer der Walser Kultur und ihrer überregional angesiedelten Träger aufgespürt.79 So konnte man die Walserkolonisation teilweise auch durch sprachwissenschaftliche Erkenntnisse rekonstruieren.80
Die zweite Entdeckung ereignete sich laut Waibel durch die Walser bzw. deren Nachkommen selbst. Waibel argumentierte, dass das Wissen um die walserische Herkunft
über die Jahrhunderte zum Teil verloren ging, da es nicht von Bedeutung war. Laut
Waibel wurde es wenn, dann vor allem in katholisch geprägten Regionen bewahrt, wo
man den hl. Theodor von Sitten (auch „Theodul“ und „St. Joder“) verehrte.81 Die Walser
mussten sich also erst wieder selbst entdecken. Laut Waibel war die Voraussetzung für
die Ausbildung eines Walserbewusstseins das Anwachsen des Wohlstands sowie die
Trennung von Arbeit und Freizeit. Diese Entwicklungen setzte Waibel in den 1950erJahren an. Erkenntnisse der Wissenschaft fanden allmählich ihren Eingang in das Bewusstsein der Menschen, was vor allem durch bestimmte Personen gewährleistet
wurde, die einerseits selbst Vorträge hielten, andererseits WissenschaftlerInnen zu Diskussionen luden.82 Den nächsten Schritt stellte die Bildung von Zusammenschlüssen
dar, die sich der Walserkultur und ihrer Bewahrung widmeten. Neben überwiegend
regional bezogenen Organisationen wie der 1960 entstandenen Walservereinigung
Graubünden (WVG) und der seit 1967 existierenden Vorarlberger Walservereinigung
(VWV) ist vor allem die 1963 gegründete Internationale Vereinigung für Walsertum
(IVfW) zu nennen, die als ein gemeinsames Bindeglied zwischen allen Walsersiedlungen auftritt. Die Tätigkeiten dieser Vereinigungen erstrecken sich von der Organisation
diverser Veranstaltungen, der Herausgabe von Zeitschriften und Büchern bis zu einer
aktiven Präsenz im Netz.83 Vor allem Plattformen und Websites im Internet gewannen in
den letzten Jahren an Bedeutung. So entstand etwa das „Virtuelle Walsermuseum“, eine
77
78
79
80
81
82
83
Zinsli, Walser Volkstum, S. 49.
Waibel, Unterwegs, S. 45.
Zinsli, Walser Volkstum, Einführung.
Einen detaillierten Überblick zur Walserforschung über die Jahrhunderte hinweg bietet Max Waibel, 500 Jahre
Walserforschung – Ein kritischer Rückblick, in: Wir Walser 1 (2007), S. 19–33.
Dies war etwa besonders in Obersaxen und Vals (Vorderrheintal), in Triesenberg (Liechtenstein) und in Vorarlberg
der Fall, Waibel, Unterwegs, S. 46. Der hl. Theodul starb um 400 n. Chr. und ist noch heute der Landespatron des
Kantons Wallis.
Waibel erwähnt hier vor allem Tita von Öttingen, die in ihrem Haus in Saas Fee mehrmals zu Zusammenkünften
rund um das Thema Walser lud, Waibel, Unterwegs, S. 46.
Ebd., S. 46 f.
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Website, auf der man wie in einem echten Museum „Räume“ besuchen kann, die sich
regionenübergreifend mit den einzelnen Bräuchen und Traditionen, Trachten und Objekten der Walserorte auseinandersetzen.84 All diese Entwicklungen können weitestgehend in einen Prozess der Musealisierung und Historisierung eingebettet werden, der
laut Cristoph Cornelißen mit einer „grundlegenden mentalitätsgeschichtlichen Wende
seit Mitte der 1970er-Jahre“ einher geht, die – verbunden mit ökonomischen Krisen –
erst das Bedürfnis nach der „dinglichen Vergegenwärtigung der Vergangenheit“ und
nach Identität hervorbrachte.85
Eine besondere Stellung im Walser-Diskurs besitzt das sog. „Walsertreffen“, das seit 1962
alle drei Jahre in einem anderen Walserort stattfindet und tausende Menschen anzieht.
Im Jahr 2004 war die Gemeinde Galtür Veranstaltungsort dieser Zusammenkunft. Zuletzt ereignete es sich im September 2013 im Großen Walsertal und der Gemeinde
Damüls, 2016 wird das „Walsertreffen“ bereits zum 19. Mal stattfinden und in Arosa im
Kanton Graubünden abgehalten werden.86
Eine dritte und bislang letzte Entdeckung erfolgte laut Waibel in touristischer Hinsicht. Dahinter steht die Idee, für Touristen in den Walserorten eine Kombination aus
„Sport und Walserkultur“ anzubieten. So gibt es zahlreiche Wanderwege, die sich die
Walser zum Thema gemacht haben. Des Weiteren existieren etliche Hotels mit Bezug
zu den Walsern sowie viele Gastronomiebetriebe, die mit speziellen Walsergerichten
aufwarten.87 Es stellt sich daher auch die Frage, inwiefern die Bewahrung oder Auseinandersetzung mit der Walserkultur der touristischen Vermarktung dient. „Fast an allen
Orten werden Veranstaltungen unter dem Markenzeichen ‚Walser‘ durchgeführt“, wie
Max Waibl hervorhob. Das Angebot reicht von historischen Vorträgen und geführten
Wanderungen bis hin zu „Brotbacken, Wollherstellung“ und sonstigen „folkloristischen
Darbietungen“.88
Es entsteht der Eindruck, dass für den Boom der Beschäftigung mit der Walserkultur
neben dem Interesse an der eigenen Herkunft auch die Aussicht auf neue Möglichkeiten im Tourismus verantwortlich ist.
Durch den Zusammenschluss der Walsergebiete in den schon angeführten Vereinigungen entstand jedenfalls eine nach außen hin einheitlich erscheinende Kulturgemeinschaft, die ihr Selbstverständnis als „Walser“ auch in der modernen Zeit pflegt:
„Es hat sich vieles verändert in den letzten Jahrzehnten. Vielfach wurden die
Walserhäuser durch Gästehäuser, die Bergbauerngehöfte durch Pensionen ersetzt. Wenn auch in den meisten Gemeinden der Tourismus überwiegend zur
Existenzgrundlage geworden ist […] die Erwerbsgrundlage [sich] vielfach ver84
85
86
87
88
Siehe unter Walser Vereinigung (Hrsg.), 2016, Virtuelles Walsermuseum, [http://www.walser-museum.ch/museum.html], eingesehen 17.10.2014.
Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, [http://docup
edia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_Corneli.C3.9Fen?oldid=106410], eingesehen 20.1.2015.
Siehe dazu Interreg IIIb Projekt „Walser Alps“ (Hrsg.), Walsertreffen, o. D., [http://www.walser-alps.eu/kultur-1/
anlaesse-und-feste/walsertreffen-1], eingesehen 17.10.2014.
Waibel, Unterwegs, S. 47 f.
Ebd., S. 48.
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„Walliser off Gultüre“
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ändert hat, ist das Walservolk über Jahrhunderte und über Alpenpässe hinweg
unverwechselbar geblieben.“89
Davon abgesehen, dass die Darstellung einer Jahrhunderte überdauernden Kontinuität des „Walservolks“ konstruiert und idealistisch – was wäre dieses „Unverwechselbare“? Nur die Sprache – da ist sich die Wissenschaft einig – kann als verbindendes Merkmal der Walsergebiete genannt werden. In Galtür aber ist die alemannische Mundart
gar nicht mehr vorhanden. Warum fühlt man sich also trotzdem so verbunden? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Wie ausgeführt, wurden die Walser dreimal „entdeckt“ – von der Wissenschaft, von den Walsern bzw. ihren Nachkommen selbst und
aus touristischer Sicht. Es drängt sich unweigerlich eine weitere Frage auf, nämlich ob
diese „Selbst-Entdeckung“ der Walser nicht Züge einer „invented tradition“ im Sinne
Eric Hobsbawms90 trägt? Hinsichtlich des Umgangs mit der Walserkultur gilt es zu klären, wie das Hobsbawm‘sche Modell einer „erfundenen Tradition“ anzuwenden ist bzw.
ob es überhaupt passend erscheint. Kann man – in transnationaler Perspektive gedacht – eine vermeintliche Konstruktion der Walserkultur mit der Erfindung der Hochlandtradition in Schottland im 18. Jahrhundert vergleichen? Damals sind den Studien
des britischen Historikers Hugh Trevor-Roper zufolge die heute als „typisch schottisch“
bekannten Merkmale wie die Kilts oder das Ossian-Epos „als angeblich jahrhundertealte Symbole der schottischen kulturellen Identität etabliert“91 worden. Diese Konstruktion sei im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts gefestigt worden und wäre demnach
so erfolgreich gewesen, dass sie heute zum Inbegriff „schottischer Kultur“ geworden
sei. Interessant könnten in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen Terence
Rangers zur Konstruktion einer „britischen“ Identität während der Zeit der britischen
Kolonialherrschaft, und parallel dazu der Erfindung von afrikanischen Stammestraditionen und ganzen Stämmen durch die Briten selbst, werden.92
In Bezug auf die Walser stellt sich nicht zuletzt die Frage, warum eine Auseinandersetzung mit einer Walser-Identität im heutigen Sinn überhaupt notwendig wurde
und wer von einer mutmaßlichen Konstruktion einer solchen profitiert? Kann wirklich
der Tourismus als Motor einer breitenwirksamen Kultur, die nur auf ihre „Wiederentdeckung“ wartete, ausgemacht werden? Oder ist das Bedürfnis von Menschen nach
Identität und Tradition in Zeiten zunehmender Beschleunigung und Modernisierung
ausschlaggebend? All diese Überlegungen können hier nur kurz angedacht werden
und sind auch von anderen Autorinnen und Autoren stiefmütterlich behandelt worden. Sie bedürften daher einer eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Eines erscheint in
89
90
91
92
Fritz Tiburt, Über die Walser, o. D., [http://www.vorarlberger-walservereinigung.at/ueber-die-walser/], eingesehen
20.10.2015.
Siehe dazu Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1992; im Kern geht es
bei dem Konzept „invented tradition“ darum, dass bestimmte Traditionen konstruiert werden, die historisch nicht
verbrieft, sprich fiktiv, sind und in der jeweiligen Gegenwart ihrer Konstruktion einem gewissen Zweck dienen
sollen. Dieser kann in der Herstellung einer Identität, künstlicher historischer Kontinuität oder der Legitimation
bzw. Stabilisierung von Wertvorstellungen und Strukturen bestehen. Hobsbawms Konzept spielt auch für gesellschaftskritische Untersuchungen zur Konstruktion von Macht und Autorität eine Rolle.
Forum Interkultur (Portal für Austausch und Information), „Erfundene Traditionen“, o. D., [http://www.forum-inter
kultur.net/Erfundene-Traditionen.201.0.html], eingesehen 20.1.2015.
Ropers und Rangers Thesen sind im Sammelband von Hobsbawm/Ranger „Invention of Tradition“ nachzulesen.
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jedem Fall einleuchtend: Die fortschreitende Globalisierung in unserer modernen Welt
führt dazu, dass Traditionen und Traditionsbilder wieder stärker in den Vordergrund
rücken. Auch diese Tatsache könnte einen wichtigen Faktor für die anhaltende Konjunktur der Walserkultur darstellen.
Erinnerungskultur in Galtür
Wie steht es nun um die Galtürer Erinnerung an die Walser? In der Einleitung wurde
die Hypothese aufgestellt, dass die Erinnerung an die Walser in Galtür sehr präsent sei.
Dazu ist zunächst zu sagen, dass die Galtürer Erinnerungskultur in jüngerer Zeit von
einem einschneidenden Ereignis geprägt wurde. Im Februar 1999 kam es in Galtür zu
einer der größten Lawinenkatastrophen in der Geschichte Österreichs. Im Zuge des
Unglücks starben 31 Menschen – unter ihnen sechs Einheimische. Durch das enorme
mediale Interesse wurde Galtür international bekannt und ist seitdem ein „Synonym
für extreme Lawinenereignisse in den Alpen“.93 Diese Katastrophe hat tiefe Spuren im
kollektiven Gedächtnis der Galtürerinnen und Galtürer hinterlassen. Nach einer Phase
der Trauer wurde mit der Aufarbeitung der Ereignisse begonnen. An der Stelle, an der
die Lawine das Dorf traf, wurde eine Lawinenschutzmauer errichtet. Direkt anschließend an die Mauer entstand das Alpinarium Galtür – ein Museum und neues Zentrum
der Dorfkultur, in dem bereits mehrere Ausstellungen stattfanden. Die Ausstellung „Die
Mauer – Leben am Berg“ gab Einblicke in die Galtürer Geschichte und nahm auch
Bezug auf die Walser. Eine konkretere Behandlung etwa in Form einer eigenen WalserAusstellung fand bisher allerdings nicht statt. Dennoch ist mit dem Alpinarium ein Ort
entstanden, der Vergangenheit und Zukunft verbindet sowie das kulturelle und gesellschaftliche Leben des Dorfes – darin eingebunden die Erinnerung an und die Beschäftigung mit der Vergangenheit – abbildet.
Verarbeitung des WalserStoffs in der Literatur
„Von der Bergkette um das Matterhorn und den Monte Rosa ziehen Täler nach
Norden der Rhone, im Süden dem sonnigen Aostatal im Piemont zu. Walliser nannte man ihre Bewohner; […] Sie zogen eines Tages nach Norden und
ließen sich als Spezialisten für die Bergbauernwirtschaft in Graubünden, Vorarlberg und auch in Galtür nieder. Was sie veranlaßte [sic], ihre Heimat zu verlassen, wissen wir nicht genau, […] eines aber wissen wir: In der Nutzung und
Bearbeitung hochalpiner Lagen waren sie unerreichte Meister.“94
Diese Zeilen stammen von Dr. Walter Köck (1922–2011), dem langjährigen Paznauner
Talarzt und Ehrenbürger der Gemeinde Galtür. Nach seiner beruflichen Tätigkeit als
Arzt wurde er Autor und verfasste mehrere Bücher, die interessante Einblicke in die
Geschichte des Paznaun und das Leben seiner Bewohnerinnen und Bewohner geben.
93
94
Bernd Rieken, Schatten über Galtür? Gespräche mit Einheimischen über die Lawine von 1999. Ein Beitrag zur
Katastrophenforschung, Münster 2010, S. 186.
Walter Köck, Paznaun. Stürmisch bis heiter. Allerlei aus dem Paznaun, Landeck-Innsbruck 1997, S. 214.
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Das obige Zitat ist seinem Buch „Paznaun. Stürmisch bis heiter“ (1997) entnommen,
in dem Geschichten und Anekdoten aus Galtür und dem übrigen Paznaun zusammengetragen wurden. So wird auf zwei Seiten auch über die „Siedler vom Süden“, die
Walser, berichtet, die sich – so Köck – vor allem durch ihre Tüchtigkeit ausgezeichnet
und die Entwicklung des Paznaun bis in die heutige Zeit geprägt hätten.95 Der Topos
von den Walsern als besonders fleißige Bergbewohner ist charakteristisch für die literarische Verarbeitung des Walser-Stoffs und prägt auch das Walser-Bild der heutigen
Bewohnerinnen und Bewohner von Galtür. Hinzu kommt die Ansicht, dass die Walser
fleißiger und strebsamer gewesen seien als ihre rätoromanischen Zeitgenossen.
Der US-amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway (1899–1961), der in den 1920erJahren das Montafon besuchte, erzählt in seiner Kurzgeschichte „Ein Gebirgsidyll“ von
einem Bauern, der die gefrorene Leiche seiner Frau als Laternenpfahl in seinem Schuppen verwendete. Hemingway griff damit eine alte Sage auf, die sich laut Huhn in vielen
Alpentälern vorfinden lässt, aber vor allem in Galtür überliefert wurde. Da man im Winter die Toten nicht begraben konnte, habe man sie erst im Frühling übers Joch getragen und bestattet. Dahinter steht die Überführung verstorbener Romanen nach Ardez
ins Engadin, um sie dort beizusetzen. Da die Gebirgsübergänge im Winter oft nicht
passierbar waren, mussten die Leichen bis zum Frühjahr aufbewahrt werden. Dieser
Umstand wird in Hemingways Erzählung auf schaurige Art und Weise geschildert. Ob
diese „Zwischenlagerung“ der Toten tatsächlich geschah, ist nicht gesichert, es dürfte
sich vielmehr um einen Mythos handeln. Huhn deutete ihn in Bezug auf das Verhältnis
zwischen Romanen und Walsern in der ersten Zeit des Zusammenlebens. Er wollte in
der Sage von unbestatteten Romanen Vorurteile der Walserischen Siedler erkennen,
denen ihre romanischen Nachbarn „sitten- und gottlos“ erschienen seien.96
Walserkultur und Galtürer Identität
Im Jahr 2004 fand das 15. Internationale Walsertreffen in Galtür statt. Es war durch vielfältige Veranstaltungen geprägt – von Festumzug und Konzert der Dorfkapelle mit
Prozession über Einkaufsbummel und Kennenlern-Abend bis zur Präsentation von
Walserliteratur. Interessant ist auch, dass mehrere Wanderungen unter dem Motto
„Walserwege“ angeboten wurden, welche die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die
Spuren der Walser führen sollten. So wurde mit der Wanderung vom Montafon über
das Zeinisjoch nach Galtür jene Route verfolgt, die auch die ersten Walser genommen
haben sollen.97
Wichtige Beiträge für die Galtürer Auseinandersetzung mit der Walser Kultur werden
durch die Halbjahreszeitschrift „Walserheimat“, die von der Vorarlberger Walservereinigung herausgegeben wird, geliefert. Neben den Chroniken aller 19 Walserdörfer der
95
96
97
Köck, Paznaun. Stürmisch bis heiter, S. 214 f.; weitere Publikationen Köcks sind Walter Köck, Ins Paznaun geschaut.
Geschichten, Begegnungen, Erinnerungen. Ein Lesebuch, Galtür 1992; Walter Köck, Sturm über Galtür. Im lawinen-, kapellen- und sagenreichen Paznaun, Galtür 2000 sowie Walter Köck, 80 Jahre im Paznaun. Zeit zu lachen,
Zeit zu weinen, Zeit zu sammeln, Galtür 2003.
Huhn, Galtür und Ardez, S. 122 f.
Georg Juen, 15. Internationales Walsertreffen in Galtür, in: Walserheimat 74 (2004), S. 235–238.
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Vereinigung, zu denen auch Galtür zählt, kommen regelmäßig Wissenschaftler wie
Alois Niederstätter, Max Waibel oder Nikolaus Huhn zu Wort, die sich mit der Walser
Geschichte und Kultur auseinandersetzen und neue Erkenntnisse publizieren können.
Insofern entwickelte sich die „Walserheimat“ auch als ein Medium, das den aktuellen
wissenschaftlichen Diskurs um die Walser für alle Interessierten zugänglich macht und
mit Beiträgen über das Dorfleben und die Dorfkultur verbindet. In Heft 91 vom August
2012 (Titel „700 Jahre Walser in Vorarlberg, Tirol und Liechtenstein“) wurden Bewohnerinnen und Bewohner aus Walsergemeinden in Tirol, Vorarlberg und Liechtenstein zum
Thema „Walserbewusstsein“ befragt. Klaus Raggl aus Galtür antwortete: „Walser zu sein
bedeutet für mich zu wissen, woher unsere Wurzeln sind […], die Gemeinschaft im
Dorf und die Natur so zu nehmen, wie sie ist, mit allen Vor- und Nachteilen“.98 Alexandra
Mattle, die mit dem Zusatz „Studentin“ versehen wurde, antwortete: „Walserin zu sein
bedeutet für mich, aus dem einzigen Tiroler Dorf mit Walserwurzeln zu kommen!“99 Es
sind dies nur zwei individuelle Beispiele für ein ausgedrücktes Walserbewusstsein in
der Bevölkerung und daraus können keine Generalisierungen abgeleitet werden. Die
Vermutung liegt aber nahe, dass man sich in Verbindung mit den Walsern als etwas „Besonderes“ definiert und durch die Tatsache einer walserisch geprägten Geschichte von
Anderen abgrenzen möchte. Diese Abgrenzung und damit verbunden die Herstellung
eines Gemeinschaftsgefühls, die sich keinesfalls in einem negativen Sinn oder in Form
eines Überlegenheitsgefühls äußern, spielen laut Bernd Rieken in einem vom Tourismus geprägten Ort wie Galtür eine ganz besondere Rolle: Es herrsche eine permanente Auseinandersetzung mit „dem ‚Fremden‘ in Gestalt der Touristen“. Insofern seien die
Betonung von zusammenstehender Dorfgemeinschaft, von Selbständigkeit und Unabhängigkeit von großer Bedeutung.100 Die Walser werden neben ihrer beinahe sprichwörtlichen Tüchtigkeit auch gerne mit ihrem angeblichen Freiheitssinn in Verbindung
gebracht, und dies fügt sich nahtlos ein in das Selbstverständnis der Galtürerinnen und
Galtürer, die ihre Gemeinde als das „eigensinnigste Dorf Österreichs“ bezeichnen.101 Darüber hinaus lässt sich auch eine Abgrenzung der Galtürerinnen und Galtürer zu ihren
nächsten Nachbarn im Paznaun, den Ischglerinnen und Ischglern, feststellen. Gegenüber dem häufig mit Massentourismus, Après-Ski Party und grenzenlosen Hotel- und
Liftanlagen in Verbindung gebrachten Ischgl versucht sich Galtür in einer teils auch
idealisierten Vorstellung als besonnenes, familiäres Bergdorf darzustellen, dessen Uhren nicht nach dem Profit gehen und das mit der Natur noch in Einklang lebt. Inwiefern
diese Abgrenzung auch mit den walserischen Wurzeln des Dorfes und der Tatsache,
dass Ischgl weniger walserisch geprägt ist, zusammenhängt, kann nicht festgestellt
werden. Die Galtürer Devise „Bewahren statt Erschließen“ ist jedoch nicht aus der Luft
gegriffen. 1976 wurde tatsächlich die geplante Erschließung eines „Gletscher-SommerSchigebiets“ im Jamtal durch die Abstimmung der Galtürer als Grundbesitzer in der au98
99
100
101
Monika Bischof, Walserbewusstsein – Blitzlichter aus den Walsergemeinden, in: Walserheimat 91 (2012), S. 115–
118, hier S. 117.
Ebd., S. 118.
Rieken, Schatten über Galtür?, S. 135.
Charles E. Ritterband, Dem Österreichischen auf der Spur. Expeditionen eines NZZ-Korrespondenten, Wien-KölnWeimar 2010, S. 55.
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ßerordentlichen Vollversammlung des Tourismusverbands mit 244 Nein-Stimmen von
246 Abstimmenden abgelehnt. Franz Lorenz, bekannter Bergführer, Wirt der Jamtalhütte und selbst jahrelang Obmann des Galtürer Tourismusverbandes, formulierte die
damals vorherrschende Maxime: „So lange wir leben, bleiben Gletscher und Berge für
unsere Nachkommen unberührt erhalten und unser Galtür als Dorf intakt“.102
Eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit der Identität und dem Selbstverständnis
der Galtürerinnen und Galtürer nimmt sicher das Buch „Galtür. Zwischen Romanen,
Walsern und Tirolern“ ein, das 1999 von der Gemeinde Galtür herausgegeben wurde
und Fragen wie „Wer sind wir? Woher kommen wir?“ etc. zu beantworten versucht. In
der schlicht als „Galtür-Buch“ bekannten Publikation wird die eigene (Entwicklungs-)
Geschichte und Kultur ausführlich behandelt. Neben Beiträgen von Nikolaus Huhn zur
Geschichte des Dorfes – detaillierte Darstellung der Walser inbegriffen – werden bekannte Persönlichkeiten, die Mundart, die Kunst, die eigene touristische Entwicklung,
aber auch die Lawinen-Katastrophe von 1999, veranschaulicht und verarbeitet. Das
„Galtür-Buch“ ist in gewisser Weise für die Galtürerinnen und Galtürer selbst identitätsstiftend geworden.
Interview mit Elisabeth Kathrein
Am 17. Dezember 2014 befragte ich meine Großmutter Elisabeth Kathrein, geboren
als Elisabeth Lorenz im Jahr 1924 in Galtür, zum Thema Walser. Die Lorenz gehen auf
das Walsergeschlecht der „Loretz“ zurück, das urkundlich bereits im 15. Jahrhundert
im Montafon nachweisbar ist. Von dort aus wanderten die Vorfahren der Lorenz nach
Galtür und in andere Täler. In Galtür werden die Lorenz auch „Balluner“ genannt, da ihr
Stammhof im Weiler Wirl direkt unter der Ballunspitze lag. Mitglieder der Familie Lorenz
konnten sich einen Namen als Bergführer machen und nahmen an zahlreichen Erstbesteigungen teil, darunter vor allem Elisabeth Kathreins Großvater Gottlieb Lorenz und
dessen Bruder Ignaz, sowie Elisabeths Vater Albert Lorenz. Auch im Hüttenwesen sind
die Lorenz bis heute tätig.103
In dem etwa halbstündigen, halboffenen, halbstrukturierten Interview wurde der Interviewperson eine große Erzählfreiheit gewährt und nur durch einige Leitfragen versucht, Impulse zu setzen.
Die Eingangsfrage lautete, was Elisabeth Kathrein mit den Walsern in Verbindung bringe und ob es etwas gebe, dass ihr als „typisch Walserisch“ gelte. Spontan nannte sie
dazu die „alten Häuser in Galtür“, von denen nur mehr ganz wenige da seien, und Erzählungen in ihrer Kindheit, unter anderem auch die bereits angesprochene Sage von
den unbestatteten Toten:
„Es wurde viel erzählt, wie es früher war, wie die Toten, die hat man ja früher
über den Winter gar nicht begraben können und dann hat man sie über den
102
103
Franz Lorenz, Bewahren statt Erschließen, in: Gemeinde Galtür, Galtür, S. 187.
Thomas Parth, Balluner Chronik. Die Lorenz im Paznaun, o. O. 2005, S. 2–4.
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Futschöl-Pass hinüber getragen im Frühjahr. Die hat man einfach eingefroren,
würde man heute sagen.“104
Überdies erinnerte sie sich auch daran, dass manche älteren Galtürerinnen und Galtürer „ganz alte Wörter“ und „andere Ausdrücke“ benutzt hätten, die es so heute nicht
mehr gebe. Verantwortlich dafür sieht sie auch den „Fremdenverkehr“, da man sich
durch ihn „an vieles anpassen“ musste. Angesprochen auf die walserische Herkunft,
speziell auch ihrer eigenen Familie, sagte Elisabeth Kathrein, dass diese in ihrer Kindheit nicht ausdrücklich thematisiert worden sei. Ein „Walserbewusstsein“ manifestierte
sich höchstens in Geschichten und Erzählungen. Es stellte sich die Frage, ob man die
Lorenz als Walserfamilie wahrgenommen hatte, da sie sozusagen in der Tradition ihrer
Vorfahren, die vom Wallis über die Berge bis nach Galtür gekommen waren, besonders
gut mit den Bergen und den Höhenlagen zurechtkamen und vielleicht auch deshalb
so gut als Bergführer geeignet waren. Die Tatsache, dass die Lorenz als besonders fähige Bergführer galten, war aber laut Elisabeth Kathrein nicht mit ihrer walserischen
Herkunft verknüpft worden:
„Von etwas haben sie dann ja leben müssen, nicht, dann ist der Fremdenverkehr gekommen, nicht, und da ist ja schon der Ballun [gemeint ist ihr Großvater Gottlieb Lorenz] staatlich geprüfter Bergführer gewesen und da waren die
Balluner eine der ersten […]; irgendwie glaube ich sind sie einfach noch so Naturmenschen gewesen, einfach verbunden […]. Die Jamtalhütte, da haben sie
das Holz noch von Galtür hinaufgetragen, die ganzen Balken und alles. Später,
als wir Kinder waren, hat man dann schon Rösser gehabt.“105
Darauf angesprochen, ob sich die Galtürerinnen und Galtürer denn als etwas Besonderes sehen würden, sagte sie:
„Mir kommt einfach vor, dass sie immer am Boden geblieben sind […] das ist
immer so gewesen. In Ischgl ist [sic] der Dorfkern und die Häuser ja schon ganz
anders gewesen, da sind viele, wie soll ich sagen, mächtigere Häuser gewesen
als wie in Galtür. In Galtür ist man nicht allem so nachgerannt, und einfach
auch, wie soll ich sagen, wir haben einfach gelernt wie man mit der Natur lebt,
und den Jahreszeiten. […] Die Ischgler haben sich immer so ein bisschen, ja,
der Papa [damit meint sie nicht ihren eigenen Vater, sondern ihren Ehemann]
hat immer gesagt die großkopferten Ischgler, die haben sich halt immer so
ein bisschen als etwas Besseres gefühlt. […] Warum die Ischgler immer so ein
bisschen höher dran waren weiß ich nicht, da werden halt auch so ein paar
Familien gewesen sein, die, ja, mehr Geld gehabt haben oder mehr gehandelt
haben wahrscheinlich.“106
Auch trotz des Tourismus, der vieles verändert habe, sei man in Galtür also nicht „allem
Neuen“ nachgerannt, sondern sei genügsam geblieben. Abschließend betonte Elisa104
105
106
Elisabeth Kathrein, Interview, 17.12.2014.
Ebd.
Ebd.
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beth Kathrein, dass sie sich selbst nicht unbedingt als Walserin, sondern als Galtürerin
fühle:
„Ich habe mich wirklich immer als Galtürerin gefühlt, habe es auch nie verleugnet, verleugne auch den Dialekt nicht […] und wie soll ich sagen, Neni und
Nona [gemeint sind ihre Eltern] sind immer für alles offen gewesen, die sind
auch irgendwie mit der Zeit gegangen, aber halt immer am Boden geblieben
[…] Ich selbst bin einfach geblieben, wie ich mich gefühlt habe und am Boden
gelassen haben mich auch meine Kinder.“107
Aus dem Interview mit Elisabeth Kathrein konnten einige wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, auch wenn immer bedacht werden muss, dass ihnen subjektive Erzählungen und Empfindungen zu Grunde liegen. Elisabeth Kathrein sieht sich selbst –
trotz ihrer Herkunft aus einer alten Walserfamilie – nicht als Walserin, sondern betonte
explizit, Galtürerin zu sein. Aus ihren Erzählungen kann vor allem die Akzentuierung
einer Naturverbundenheit, die sie ihren Vorfahren und ebenso sich selbst attestierte,
herausgelesen werden. Erkennbar wurden auch Züge eines starken Gemeinschaftsgefühls innerhalb des Dorfes, das Elisabeth Kathrein durch eine Abgrenzung zu den
Ischglern ausdrückte. Diese steht aber offenbar in keiner Verbindung zu ihrer walserischen Herkunft. Interessant ist auch ihre Aussage bezüglich des Dialekts, indem sie
betont, diesen nie verleugnet zu haben. Wie sich bereits gezeigt hat, stellt die gemeinsame, regionale Sprache in Galtür ein wesentliches identitätsstiftendes Element dar.
Mehrmals erwähnte sie die Bodenständigkeit als ein hervorstechendes Merkmal der
Galtürerinnen und Galtürer. Diese Einschätzung passt auch zum aktuellen Selbstbild
der Gemeinde.
Schluss
Beim Verfassen dieser Arbeit wurde eine deduktive Vorgehensweise gewählt. Zunächst
standen allgemeine Fragen betreffend die Walser und deren Wanderungen im Vordergrund. Es wurde definiert, was man sich unter „Walsern“ vorzustellen hat. Dabei spielten
vor allem das „Walserrecht“ sowie das „Walserdeutsch“ eine Rolle. Des Weiteren wurden
Gründe und Motive für die Wanderzüge der Walser ab dem Ende des 12. Jahrhunderts
diskutiert. Es hat sich gezeigt, dass dazu zahlreiche Theorien existieren, die in ihrer Verschiedenheit auch weiterhin relevant sein werden. Eine abschließende Klärung ist derzeit nicht zu erwarten. Als plausibel erscheinen jedoch folgende Gründe: Eine Überbevölkerung, die die Menschen zum Verlassen ihrer ursprünglichen Heimat bewegte und
gleichzeitig eine gezielte Anwerbung von Walsern durch einzelne Landesfürsten, die
die Walser aufgrund ihrer Fähigkeiten hinsichtlich der Bewirtschaftung von hoch gelegenen Regionen in ihrem Herrschaftsbereich ansiedeln wollten. Zum zeitlichen Ablauf
der Walserzüge ist zu sagen, dass diese in Schüben verliefen und meist von mehreren,
kleineren Kolonisten-Gruppen durchgeführt wurden.
107
Elisabeth Kathrein, Interview, 17.12.2014.
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Jakob Kathrein
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Die Ansiedlung von Walsern in Galtür stellt ein besonders interessantes Kapitel der
Walsergeschichte dar, das bis heute nicht restlos aufgearbeitet zu sein scheint. Durchgesetzt hat sich die Annahme, dass die Galtürer Walser schon zwischen 1310 und 1315
von Vorarlberg aus über das Zeinisjoch einwanderten. Das Bemerkenswerte dabei ist
der Zeitpunkt der Niederlassung, denn auch die ersten Vorarlberger Walserkolonien
sind urkundlich ab 1313 feststellbar. Die Kolonisation von Galtür geschah demnach
zeitgleich. Bezüglich der Organisation bzw. der Triebkräfte hinter der Niederlassung in
Galtür können nur Vermutungen getätigt werden. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass
die Galtürer Walser durch einen Grundherrn oder eine Institution gefördert wurden.
Die These, nach der das Kloster Marienberg als Schirmherr der Galtürer Walser-Ansiedlung in Frage käme, erschien dem Autor in Bezug auf Rizzi und trotz Einwänden Huhns
zunächst am überzeugendsten. Nach der Durcharbeitung der Literatur muss aber vor
allem auf die „Wiesberg“-Hypothese von Klaus Brandstätter Rücksicht genommen werden, nach der die Burgherren von Wiesberg als wahrscheinlichste Träger der WalserAnsiedlung anzusehen sind.108
Die Galtürer Walser wurden lange Zeit getrennt von den ansässigen Romanen wahrgenommen. Davon zeugen Dokumente wie die Weiheurkunde der Galtürer Kirche von
1383, in der von den Einwohnern („incolis“) und den Walsern („vallensis“) die Rede ist,
sowie die „Konstanzer Richtung“ von 1408, in der die jeweiligen Bevölkerungsgruppen
getrennt aufgeführt werden. Spätestens ab der Mitte des 16. Jahrhunderts erscheinen
die Walser jedoch als die dominante Ethnie. Interessant ist die sprachliche Entwicklung
Galtürs. Der alemannische Dialekt, der die Galtürer lange Zeit von den übrigen Bewohnern des Paznaun unterschied, wich ab ca. 1850 dem Bairischen und ist heute nur
mehr durch einige wenige Wortrelikte präsent. Auch wenn sich die Mundart geändert
und den Paznauner Nachbarn angepasst hat, besitzt sie nach wie vor eine große Bedeutung im Zusammenhang mit der Identität der Galtürerinnen und Galtürer.
Zur heutigen Erinnerungskultur an die Walser ist Folgendes festzuhalten: Sie ist in
erster Linie von Vereinen geprägt, die aus Zusammenschlüssen der einzelnen Walserorte in den 1960er-Jahren entstanden sind und sich die Pflege und Erhaltung der
Walserkultur zur Aufgabe gemacht haben. Was unter dieser Walserkultur verstanden
wird, ist nicht gänzlich klar, denn es kann eigentlich keineswegs von einer einheitlichen Kultur gesprochen werden. Nur die alemannische Mundart gilt als verbindendes Element zwischen den Walsergebieten, und selbst diese wird nicht mehr überall aktiv gesprochen. Die einzelnen Walserorte fühlen sich dennoch miteinander
verbunden, sei es durch die ähnlichen historischen Voraussetzungen oder andere
Gemeinsamkeiten wie den Tourismus. Um noch einmal die Ausgangshypothese dieser Arbeit aufzugreifen: Hinsichtlich der Pflege der Walserkultur und der bisherigen
wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr, ist jedenfalls ein gewisses Maß an konstruierter Identität erkennbar. Das Fehlen von eindeutigen, verbindenden Elemen
108
Brandstätter, Walser, S. 75–92.
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ten, von „lieux de mémoire“ im Sinne Pierre Noras,109 führt dies zwangsläufig mit sich. Es
wird daher versucht, Symbole eines Walsertums zu finden und etwas „unverwechselbar Walserisches“ zu definieren. Als walserischer „Erinnerungsort“ im Sinne Noras könnte – wenn überhaupt – die alemannische Mundart gesehen werden. Auch wenn sie
nicht von allen, die sich als „Walser“ sehen, gesprochen wird, kann sie dennoch als Bestandteil der walserischen Identität gelten. Was jedenfalls festgestellt werden kann, ist
der hohe Grad an Institutionalisierung rund um die Walserkultur. Die angesprochenen
Vereinigungen und Zeitschriften stellen folglich eine Art „Erinnerungs-Institutionen“
bzw. Werkstätten zur Reproduktion von Erinnerung und zur Identitätsbildung dar. Als
„moderner Erinnerungsort“ könnte zuletzt noch der Tourismus bezeichnet werden, der
sich als verbindendes Element durch alle heutigen Walserorte zieht. Vielleicht ist aber
genau der vermeintliche Mangel an Gleichartigkeit die Stärke der Walserkultur, denn
dadurch steht statt Abgrenzung die Suche nach Gemeinsamkeiten im Vordergrund.
Diese Suche allein wirkt bereits identitätsbildend. Insofern ist ein Phänomen, das hier
als „Gleichartigkeit des Ungleichartigen“ umschrieben werden soll, ausreichend für die
Konstruktion einer Identität. Diese Bezeichnung wird in Anlehnung an den Begriff der
„Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ getätigt, der im Kern zunächst von dem Philosophen Ernst Bloch verwendet und später durch Historiker wie Rudolf Schlögl und
Reinhard Koselleck fest in der Geschichtswissenschaft, insbesondere der Forschung zur
Frühen Neuzeit, verankert wurde.110 Die Bedeutung von „Gleichartigkeit des Ungleichartigen“ ist freilich eine andere als jene des bekannten Pendants der Ungleichzeitigkeit.
Der Neologismus dient in dieser Arbeit als eine Art Hilfsbeschreibung für das Phänomen der Walser-Identität, das auch mangels detaillierter wissenschaftlicher Arbeiten
der Walserforschung zum eigenen Identitätsbegriff kaum fassbar erscheint. Die WalserIdentität wird zwar untersucht, in erster Linie jedoch um Gemeinsamkeiten zu finden
und sie damit zu rechtfertigen. Die wichtige Frage nach der grundsätzlichen Entstehung dieser Identität und dem – banal gesagt – „wie und warum“, kommt zu kurz. Der
Mehrwert dieser Bachelorarbeit für die wissenschaftliche Forschung zu den Walsern
und der Walserkultur könnte zuletzt darin bestehen, diese Lücke anzusprechen und im
Idealfall die Forschung durch die Eröffnung neuer Perspektiven anzukurbeln.
Es ist schlussendlich davon auszugehen, dass die Beschäftigung mit der Walserkultur
in Zukunft nicht an Bedeutung verlieren wird. In den Zeiten von Massentourismus und
Globalisierung scheint die regionale Identität besonders an Reiz zu gewinnen. Die
Berufung auf Charakteristika, die mit den Walsern in Verbindung gebracht werden,
109
110
Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1998 bzw. Pierre Nora, Les Lieux de mémoire,
7 Bde., Paris 2001. Nora versuchte mit seinem Konzept der „lieux de meoire“ durch den flexiblen Begriff des „Erinnerungsorts“ – welcher sich nicht auf die herkömmliche Bedeutung des Wortes „Ort“ beschränkt – Bezugspunkte
für die Identität einer sozialen Gruppe zu definieren. Nora arbeitete dies am Beispiel der französischen Nation
heraus. Sein sieben Bände umfassendes Werk „Erinnerungsorte Frankreichs“ behandelt etwa den Mythos um
Jeanne d’Arc oder die Nationalhymne Frankreichs, die Marseillaise, als identitätsstiftende „Erinnerungsorte“ der
Französinnen und Franzosen. Der Versuch, vergleichbare Faktoren für eine Walser-Identität zu finden, gestaltet
sich komplex und bedürfte vermutlich einer eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M. 1973, bzw. Rudolf Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850, Frankfurt a. M. 2013 und Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft.
Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 2000.
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kann dabei allerdings mitunter in Romantisierung abgleiten:
„‚Allzit fri Walser!‘ – Der hoffnungsfrohe Klang dieses Rufs weht in der Zeit touristisch voll erschlossener Bergregionen nur noch selten in unseren Hochtälern
– der aufmerksame Wanderer oder Skifahrer aber vermag ihn vielleicht auch
heute noch hier oder dort zu hören.“111
Zur spezifischen Galtürer Erinnerungskultur und der Beschäftigung mit den Walsern
konnten einige wichtige Erkenntnisse gewonnen werden. Von den Galtürer Walsern
zeugen heute noch örtliche Bezeichnungen und Flurnamen, einige wenige Begriffe
alemannischen Ursprungs sowie die Familiennamen (Lorenz, Mattle, Walser, etc.) vieler
Galtürerinnen und Galtürer. Die alemannische Sprache, die bisher von der Wissenschaft
als einzig mögliches verbindendes Element aller Walsergebiete ausgemacht wurde,
wird in Galtür nicht mehr verwendet. Dennoch existiert ein spezifisches Galtürer „Walserbewusstsein“. Es wird vor allem in Form kulturell-gesellschaftlicher Ereignisse, meist
im Kontext von Veranstaltungen der Vorarlberger Walservereinigung, ausgedrückt (siehe Walsertreffen, etc.) und spiegelt sich auch in literarischen Abhandlungen und Erzählungen wider. Dieses Bewusstsein gilt jedoch nicht generell, denn ob und wie sich die
einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinde als Walser definieren, scheint
individuell verschieden zu sein. Im Großen und Ganzen ist jedenfalls festzuhalten, dass
sich Galtür in seinem Selbstbild als etwas Besonderes wahrnimmt, ob nun als „eigensinnigstes Dorf Österreichs“, westlichste Gemeinde Tirols, östlichste Walsersiedlung,
oder auch als umwelt- und naturbewusster Tourismusort inmitten von überlaufenen
Skimetropolen. Genau deshalb könnten die Walserkultur und die Auseinandersetzung
mit ihr in Zukunft sogar noch an Bedeutung gewinnen.
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Quellen
Kathrein, Elisabeth, Interview, 17.12.2014.
Jakob Kathrein ist Student der Geschichtswissenschaften (MA) und des Diplomstudiums Rechtswissenschaften an der Universität Innsbruck. jakob.kathrein@student.uibk.
ac.at
historia.scribere 08 (2016)
Jakob Kathrein
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Zitation dieses Beitrages
Jakob Kathrein, „Walliser off Gultüre“. Die Wanderungsbewegung der Walser und Galtür,
in: historia.scribere 8 (2016), S. 187–222, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
historia
scribere
Seminare 2016
08 (2016)
historia
scribere
08 (2016)
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt:
Historischer Abriss und exemplarische Quellenarbeit mit
Briefen von Angehörigen der Ermordeten
Julia Tapfer
Kerngebiet: Wirtschafts- und Sozialgeschichte
eingereicht bei: ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum
eingereicht im Semester: SS 2014
Rubrik: SE-Arbeit
Abstract
Hartheim Castle – From Curing to Killing. A Historical Summary and
Primary Source Research with Letters from Relatives of the Murdered
This paper is about the history of Hartheim Castle in Upper Austria that was
transformed into a euthanasia centre during the nazi regime. 18,269 mentally
ill people were killed in Hartheim. The seminar paper is divided into two parts
– the historical summary and the analysis of the primary sources. The latter
are letters from relatives of the murdered, who wrote to the „Evangelisches
Diakoniewerk Gallneukirchen“ to get information about their (dead) family
members.
Einleitung
Wenn die Herrschaft der Nationalsozialisten heute zu Recht als das dunkelste Kapitel
des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird, so muss die NS-Euthanasie – der Massenmord
an geistig und körperlich beeinträchtigten Menschen während jener Zeit – der Metaphorik folgend als tiefschwarzes Unterkapitel auftreten. In der breiten Öffentlichkeit
kaum bekannt, war die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie als Rassenhygiene bezeichnete Ausmerzung „unwerten Lebens“ auch in der Forschung lange Zeit ein
kaum behandeltes Thema. Die HerausgeberInnen des Sammelbandes „Tötungsanstalt
Hartheim“, die sehr detailreiche Aufarbeitung betreiben, beschreiben in ihrem Vorwort
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.473ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
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Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
historia.scribere 08 (2016)
die Literatursuche zum Thema vor circa 25 Jahren als mehr als unbefriedigend: Sie
führte „damals nur zu ein paar Zeitungsartikeln der Nachkriegszeit und einer maschingeschriebenen Hausarbeit als einzigem wissenschaftlichen Bearbeitungsversuch“.1
Dass sich die heutige Forschung vermehrt um dieses Thema bemüht, ist angesichts
der 200.000 Opfer der NS-Euthanasie ein folgerichtiger und wichtiger Lichtblick darauf.
Als erster systematisch geplanter Massenmord des NS-Regimes ist die NS-Euthanasie
auch als „Wegbereiter“ zur Tötung in Konzentrationslagern zu begreifen. Sie wurde zum
Modell weit größerer Massenmorde, die ersten Kommandanten von Belzec, Sobibor
und Treblinka kamen aus der „T4“ 2– jener „Aktion“ der Nationalsozialisten, in der InsassInnen von Heil- und Pflegeanstalten in Tötungsanstalten ermordet wurden.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Schloss Hartheim in Linz und dessen Weg
von der Pflege- zur Tötungsanstalt. In einem einleitenden Kapitel soll der Kontext der
Ermordungen von behinderten Menschen in Hartheim erschlossen werden, weshalb
die „Aktion T4“ und die Organisation des Tötens anhand ausgewählter Fachliteratur erklärt werden. Im folgenden Kapitel wird der Fokus auf Hartheim gelegt und dessen
Rolle in der NS-Tötungsmaschinerie erläutert, ein Unterkapitel wird sich auch mit Hartheim als Gedenkort befassen. Im abschließenden Kapitel wird ein besonderer Aspekt
der NS-Euthanasie anhand einer kleinen Quellenstudie thematisiert, nämlich die Reaktion der Angehörigen von Ermordeten. Diese exemplarische und in einem sehr kleinen
Rahmen durchgeführte Untersuchung ist möglich, da im Evangelischen Diakoniewerk
Gallneukirchen Briefe aus dem Jahr 1941 aufgefunden und im Buch „Hartheim. Wohin unbekannt“ veröffentlicht wurden. Durch die Analyse der Briefe von Eltern und
Angehörigen von Ermordeten soll aufgezeigt werden, dass der unnatürliche Tod der
Pfleglinge wenn nicht gewusst, so doch geahnt wurde. Auch sollen verschiedene Verhaltensmuster und Reaktionen in den Briefen herausgearbeitet werden.
Der ausschlaggebende Grund für die Themenwahl dieser Arbeit war eine Exkursion an
den Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim. Auch zwei Jahre nach dem Besuch der Gedenkstätte und der Ausstellung „Lebensunwertes Leben?“ sind die damit verbundenen
Gefühle unbeschreiblich: Wut. Trauer. Bestürzung. Unverständnis. Sprachlosigkeit. Die
Gewissheit, dass der junge Mann mit Down-Syndrom, der das Essen für die Besucher
in der Cafeteria serviert – hätte er 75 Jahre früher gelebt – mit hoher Wahrscheinlichkeit nur wenige hundert Meter entfernt vergast worden wäre, macht sprachlos. Und
dennoch kann und darf darüber nicht geschwiegen werden. So schwer das Sprechen
über den Massenmord der Nationalsozialisten – auch unserer Vorfahren –fällt, es ist
notwendig.
Die „Aktion T4“ – Morden mit System
Bevor sich der Blick auf das Schloss Hartheim und dessen Geschichte als Tötungsanstalt
in der NS-Zeit richtet, erscheint es als zielführend, den Kontext zu erschließen und die
1
2
Brigitte Kepplinger/Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, Linz 2008², S. 13.
Götz Aly, Die „Aktion T4“ – Modell des Massenmordes, in: Götz Aly (Hrsg.), Aktion T4 1939–1945, Die „Euthanasie“Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1989², S. 11–20, hier S. 12.
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Julia Tapfer
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Verordnungen aufzuzeigen, die das Morden in Hartheim bedingten. Nimmt man die
NS-Euthanasie in den Fokus der Betrachtung, bedarf es zunächst einer Begriffsklärung.
Zu schnell kann es sonst passieren, dass die Diktion der Nationalsozialisten gedankenlos übernommen wird. „Euthanasie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet
„schöner Tod“. Die Nationalsozialisten bezeichneten die Ermordung von geistig und
körperlich behinderten Menschen auch euphemistisch als „Gnadentod“.3 Da das systematische Morden in Gaskammern, durch Spritzen oder Verhungern-Lassen aber alles
andere als ein „schöner Tod“ ist, soll dieser Hinweis auf den problematischen Begriff
das Kapitel einleiten. Der in heute gegenwärtigen Diskussionen verwendete Begriff
der Euthanasie als Sterbehilfe von unheilbar Kranken ist für die NS-Zeit auch schon
deshalb nicht gleichsetzbar, da die Opfer der Nationalsozialisten nicht selbst über ihren
Tod bestimmten.4
Hitlers Weisung
Die NS-Euthanasie war in verschiedene Phasen und Aktionen gegliedert:5
•
Die Kindereuthanasie 1939–1945: „Missgebildete“ Neugeborene und behinderte Kleinkinder, später auch Jugendliche bis 17 Jahre, werden in Kinderfachabteilungen getötet.
•
Die „Aktion T4“ 1940–1941: Die InsassInnen von Heil- und Pflegeanstalten werden in Tötungsanstalten ermordet.
•
Ab September 1939: PatientInnen psychiatrischer Anstalten in besetzten Ländern Europas (vor allem in Polen und der Sowjetunion) werden ermordet.
•
Die Aktion „14f13“ 1941–1944: In den Euthanasietötungsanstalten werden
auch unliebsame und arbeitsunfähige Häftlinge von Konzentrationslagern getötet.
•
Ab 1943: Psychisch kranke „Ostarbeiter“ werden in den Euthanasieanstalten
getötet.
•
„Wilde Euthanasie“ 1941–1945: Das Morden geht nach Abbruch der „Aktion T4“
dezentral in den Heil- und Pflegeanstalten weiter.
In dieser Arbeit wird vor allem die „Aktion T4“ behandelt, da sie für Hartheim eine besondere Relevanz aufweist. Auch die „Sonderbehandlung 14f13“ wird im Folgenden
kurz angesprochen. Die Gründe und Motive, die zum Massenmord an psychisch und
körperlich behinderten Menschen im Deutschen Reich führten, liegen in den rassehygienischen Vorstellungen der Nationalsozialisten begründet. Arbeitsunfähige, pfle-
3
4
5
Siehe Hitlers „Gnadentod-Erlass“ am Ende dieses Unterkapitels.
Eine weitergehende Betrachtung des Themas Sterbehilfe und Euthanasie heute würde zu weit über das eigentliche Thema der Arbeit hinausgehen. Fakt ist aber, dass die NS-Euthanasie mit dem heutigen Begriff nichts gemein hat.
Hier aufgelistet nach: Wolfgang Neugebauer, „Die Aktion T4“, in: Kepplinger et al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim,
S. 17–34, hier S. 17.
228
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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gebedürftige Menschen wurden als „unnütze Esser“ und „minderwertig“ gesehen. Die
Angst, dass die Gesunden von den Kranken „überwuchert“ würden, wurde etwa mit
Propagandabildern geschürt. Durch eugenische Maßnahmen sollte der „Ballast“ abgeworfen werden, konkret bedeutete dies: Verhinderung der Fortpflanzung6 oder physische Vernichtung, also Mord. Da erstes den Nationalsozialisten zu wenig effektiv war,
ging man 1939 zur „Vernichtung unwerten Lebens“ über.7
Die konkrete Planung der Maßnahmen der Aktion, die aufgrund des Sitzes der Zentraldienstleitstelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin als „Aktion T4“ in die Geschichte
einging, begann einige Monate vor Kriegsbeginn. Zuständig dafür waren Reichsleiter
Philipp Bouhler und Hauptamtsleiter Viktor Brack. Ein Expertengremium wurde einberufen, doch die Forderung nach einer schriftlichen Legitimation wurde größer.8 So
verfasste Hitler im Oktober das Ermächtigungsgesetz, das auf den Kriegsbeginn am
1. September zurückdatiert wurde. Den Grund für diese Rückdatierung macht der österreichische Historiker Wolfgang Neugebauer in der „negativen Auslese“ in Kriegszeiten fest. Eugenik und Krieg standen für die Nationalsozialisten in einem untrennbaren
Zusammenhang, würden doch durch das Sterben der Gesunden an der Front dem
„Volkskörper“ bloß die Kranken erhalten bleiben.9 Auch die Freimachung von Krankenbetten und die Schaffung von Lazarettraum waren neben der Rassehygiene Gründe
für die Ermordung der InsassInnen von Heil- und Pflegeanstalten, wie Viktor Brack 1946
vor dem Nürnberger Gerichtshof zugibt:
„Letzten Grundes bezweckte Hitler mit der Einleitung des Euthanasie-Programms in Deutschland jene Leute auszumerzen, die in Irrenhäusern und ähnlichen Anstalten verwahrt und für das Reich von keinem irgendwelchen Nutzen mehr waren. Diese Leute wurden als nutzlose Esser angesehen, und Hitler
war der Ansicht, dass durch die Vernichtung dieser so genannten nutzlosen
Esser die Möglichkeit gegeben wäre, Ärzte, Pfleger, Pflegerinnen und anderes Personal, Krankenbetten und andere Einrichtungen für den Gebrauch der
Wehrmacht freizumachen.“10
Im Wortlaut besagt Hitlers „Gnadentoderlass“, den er auf sein privates Briefpapier geschrieben hat:
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass
nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“11
6
7
8
9
10
11
Bereits 1933 wurde ein Gesetz zur Zwangssterilisierung von „Erbkranken“ eingeführt.
Neugebauer, „Die Aktion T4“, S. 18.
Brigitte Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich: Die „Aktion T4“ – Struktur und Ablauf, in: Kepplinger et al. (Hrsg.),
Tötungsanstalt Hartheim, S. 35–62, hier S. 38.
Wolfgang Neugebauer, „Die Aktion T4“, S. 19 f.
Zit. n. ebd., S. 20.
Ermächtigungsgesetz vom 1. September 1939.
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Julia Tapfer
229
Diese Ermächtigung ist nun aber freilich kein Gesetz. Dass sie also keine ausreichende
rechtliche Grundlage für den Massenmord darstellte, war den Nationalsozialisten bewusst. Allerdings wurden jegliche Bemühungen um einen Gesetzesentwurf von Hitler,
aus außen- und kirchenpolitischen Gründen, aber auch um den Widerstand der Bevölkerung nicht zu provozieren, verworfen.12 Bis zum Ende des NS-Regimes war das
Töten der InsassInnen von Heil- und Pflegeanstalten also auch nach NS-Gesetzen nicht
legal.13 Es kam sogar zu Anzeigen gegen Euthanasieärzte. Diese wurden erst fallengelassen, als Reichsleiter Bouhler dem Reichsjustizminister im Jahr 1940 Hitlers Ermächtigungsschreiben vorlegte. Für den Justizminister galt der Führerwille als höhere Rechtsquelle als das geltende Strafrecht.14
Die Organisation des Massenmordes
Dem Protokoll einer Arbeitsbesprechung des Leitungsgremiums der NS-Euthanasie ist
zu entnehmen, dass man „mit 65–70.000 Fällen zu rechnen“15 habe. Zunächst war es
also das Ziel, zwanzig Prozent der InsassInnen in Heil- und Pflegeanstalten zu töten.
Schon am 3. April 1940 aber sprach derselbe Viktor Brack schon von dreißig bis vierzig
Prozent der InsassInnen, die „asoziale oder lebensunwerte Elemente“16 seien. Die Historikerin Brigitte Kepplinger, die selbst maßgeblich an der Entwicklung der Dauerausstellung „Wert des Lebens“ in Schloss Hartheim beteiligt war und die NS-Euthanasie schon
lange erforscht, erklärt diese Inkongruenz der Planungsgröße damit, dass sie entweder
bloß eine fiktive Größe gewesen sei, um die Zustimmung der Experten im Gremium zu
erhalten, oder aber, dass sie durch die Erforderungen des Krieges sehr rasch nach oben
revidiert wurde.17 Unabhängig davon, ob es beim Start der „Aktion T4“ schon genau
festgelegte Zahlen bezüglich der Tötungen gab, war der Massenmord organisatorisch
kein einfaches Unterfangen. Für eine konkrete Planung und Koordination bedurfte es
zunächst genauer Informationen aus den Heil- und Pflegeanstalten. So wurden bereits
am 9. Oktober 1939 zwei Meldebögen und ein Merkblatt an die Anstalten geschickt.
Der erste Meldebogen betraf die PatientInnen, im zweiten wurden detaillierte Angaben zur Anstalt selbst erfragt.18 Im Merkblatt hieß es:
„Zu melden sind sämtliche Personen, die
1. an nachstehenden Krankheiten leiden und in den Anstaltsbetrieben nicht
oder nur mit mechanischen Arbeiten (Zupfen u. a.) zu beschäftigen sind: Schizophrenie, Epilepsie (wenn exogen, Kriegsbeschädigung oder andere Ursache
angeben), senile Erkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Encephalitis, Huntington und andere neurologische Endzustände; oder
12
13
14
15
16
17
18
Aly, Modell des Massenmordes, S. 16.
Neugebauer, „Die Aktion T4“, S. 26 f.
Ebd., S. 27.
Viktor Brack, zit. n. Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich, S. 39.
Ebd., S. 41.
Ebd.
Neugebauer, „Die Aktion T4“, S. 22.
230
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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2. sich seit mindestens fünf Jahren dauernd in Anstalten befinden; oder
3. als kriminelle Geisteskranke verwahrt sind; oder
4. nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht deutschen oder
artverwandten Blutes sind unter Angabe von Rasse und Staatsangehörigkeit.“19
Die ausgefüllten Fragebögen wurden anschließend von drei Begutachtungsärzten mit
„+“ oder „–“ für Leben oder Tod gekennzeichnet.20 Dass so rasch Rückmeldungen aus
den Heil- und Pflegeanstalten kamen – denen im Übrigen nicht mitgeteilt wurde, warum diese Erhebung gemacht wird –, ist auch durch das Honorierungssystem zu erklären: Bis zu fünfhundert Meldebögen brachten hundert Reichsmark im Monat, über
3.500 sogar 400 Reichsmark.21 Es kam aber auch zu Verzögerungen und Abwehr in den
Pflegeanstalten, woraufhin Ärztekommissionen selbst vor Ort die Begutachtung der
PatientInnen durchführten. Die mit einem „+“ versehenen Meldebögen wurden an die
Gemeinnützige Krankentransport GmbH (Gekrat) weitergeleitet, die für die Transporte
in die Euthanasieanstalten zuständig war.
Insgesamt sechs Tötungsanstalten wurden im Deutschen Reich eingerichtet, über deren Standorte entschied letztlich Viktor Brack:22 Grafeneck bei Münsingen, Brandenburg an der Havel, Hadamar in Hessen, Pirna-Sonnenstein in Sachsen, Bund Bernburg
an der Saale und die Landesanstalt Hartheim bei Linz.23
Morden für die Volksgesundheit
Die Erstellung der Transportlisten, die die Verlegung von Insass_innen von Pflege- und
Heilanstalten in die Tötungsanstalten betrafen, geschah in Berlin. Die Pflegeanstalten
erhielten die Liste, um den Transport vorzubereiten. Mit dem Verweis auf die militärische Geheimhaltung erübrigte sich eine Begründung der Verlegung der PatientInnen.24 Am Tag des Transportes wurden die Kranken von PflegerInnen der Gekrat in
Busse mit verschlossenen Fenstern gebracht, wenn die Anstalt nicht über einen eigenen Gleisanschluss verfügte.25 In der Tötungsanstalt angekommen, wurden die Opfer
entkleidet. In Hartheim, das hier als Beispiel für den Ablauf einer Tötung in einer Euthanasieanstalt gilt, entschied dann einer der Ärzte, ob der/die Kranke ein besonderer
19
20
21
22
23
24
25
Neugebauer, „Die Aktion T4“, S. 22.
Aly, Modell des Massenmordes, S. 11.
Neugebauer, „Die Aktion T4“, S. 23.
Brigitte Kepplinger/Hartmut Reese, Massenmord als Arbeitsprozess: Die Organisation einer NS-Euthanasieanstalt
am Beispiel Hartheim, in: Brigitte Kepplinger/Irene Leitner (Hrsg.), Dameron Report, Bericht des War Crimes Investigating Teams No. 6824 der U.S. Army vom 17.7.1945 über die Tötungsanstalt Hartheim, Innsbruck 2012, S. 11–22,
hier S. 11.
Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich, S. 41.
Norbert Aas, Von der Logistik des Todes. Die Verlegung von Bayerischen Anstaltskranken nach Schloss Hartheim
(August 1940 bis August 1941), in: Kepplinger et al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, S. 268.
Ebd., S. 269.
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Julia Tapfer
231
medizinischer Fall sei. Diese wurden gekennzeichnet, um Organe und das Gehirn nach
der Ermordung für die Forschung zu präparieren.26
Bevor die Menschen in die Gaskammer gebracht wurden, wurden die medizinisch interessanten Fälle noch fotografiert. Um die Opfer ruhig zu halten, wurde ihnen beim
Betreten der Gaskammer gesagt, dass sie gebadet würden. Der Hartheimer Arzt Dr.
Georg Renno formulierte zu diesem Täuschungsmanöver: „Ich weiß nicht, wer den Unsinn der Tarnung des Duschraums angeordnet hat. Ein geistig Toter kümmert sich nicht
um seine Umgebung.“27 Die Opfer wurden schließlich mittels Kohlenmonoxid in den
Gaskammern ermordet. Die Tötungsmethode war beim bereits zitierten Treffen am
9. Oktober 1939 ausgewählt worden, da die große Anzahl an Morden durch einzeln
verabreichte Injektionen nicht durchführbar gewesen wäre.28
Nach der Vergasung mussten die Brenner die Leichname zum Krematoriumsofen bringen. Die Routine und Alltäglichkeit des Tötens ist in folgender Aussage eines Brenners
fassbar zu machen:
„Das Wegbringen der Toten vom Gasraum in den Totenraum war eine sehr
schwierige und nervenzermürbende Arbeit. Es war nicht leicht, die ineinander verkrampften Leichen auseinander zu bringen und in den Totenraum zu
schleifen. Diese Arbeit wurde anfänglich auch insofern erschwert, als der Boden holprig war und als man den Boden betonierte, rau gewesen ist. Durch
diese Umstände war das Schleifen in den Totenraum beschwerlich. Später als
der Boden befliest war, haben wir Wasser aufgeschüttet. Dadurch war die Beförderung der Toten bedeutend leichter.“29
Am 24. August 1941 befahl Hitler die Einstellung der Abtransporte von Kranken in die
Euthanasieanstalten zur Vergasung. Die Gründe dafür werden von ForscherInnen unterschiedlich bewertet: Sowohl das Erreichen des angestrebten Ziels von der Freimachung von 70.000 Betten wird genannt, als auch der wachsende Widerstand, der in der
Bevölkerung aufkam.30 Die NS-Euthanasie kam mit diesem mündlichen Befehl Hitlers
allerdings nicht zum Erliegen. In den Heil- und Pflegeanstalten wurde dezentral weitergemordet (Wilde Euthanasie).31
26
27
28
29
30
31
Brigitte Kepplinger, Die Tötungsanstalt Hartheim 1940–1945, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung
– Landeskulturdirektion (Hrsg.), Wert des Lebens. Gedenken – Lernen – Begreifen, Begleitpublikation zur Ausstellung des Landes OÖ in Schloss Hartheim 2003, Linz 2003, S. 85–115, hier S. 94.
Zit. n. Kepplinger, Tötungsanstalt Hartheim 1940–1945, S. 95.
Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich, S. 40.
Zit. n. Kepplinger, Die Tötungsanstalt Hartheim 1940–1945, S. 96.
Neugebauer, „Die Aktion T4“, S. 30; Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich, S. 58.
Peter Schwarz, Mord durch Hunger, „Wilde Euthanasie“ und „Aktion Brandt“ am Steinhof in der NS-Zeit, in: Eberhard Gabriel/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der
NS-Euthanasie in Wien, Teil II, Wien-Köln-Weimar 2002, S. 113–141.
232
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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Die Zahl der Toten bis 1941 belief sich in allen sechs Anstalten auf 70.273.32
Grafeneck
Brandenburg
Bernburg
Hadamar
Hartheim
Sonnenstein
9.839
9.772
8.601
10.072
18.269
13.720
Schloss Hartheim – Kranke pflegen, Kranke töten
Bereits im vorangehenden Kapitel wurde Schloss Hartheim als Beispiel für eine Tötungsanstalt herangezogen. Nun steht es mit seiner Geschichte vor und während der
NS-Zeit, mit seiner Organisation als NS-Tötungsanstalt und der heutigen Umstrukturierung als Gedenkort im Zentrum dieses Kapitels. Leitende Fragen sind dabei: Wie und
wann wandelte sich das Schloss Hartheim von der Pflegeanstalt zur Euthanasieanstalt?
Welches Personal war in der NS-Zeit in Hartheim anzutreffen? Wie präsentiert sich
Schloss Hartheim heute?
Schloss Hartheim – die Zeit „davor“
Heute ist das Schloss Hartheim unwiderruflich mit der NS-Euthanasie konnotiert, die
Bau- und Nutzungsgeschichte des Schlosses vor 1940 ist in der Geschichtsforschung
von geringem Interesse. Auch in diesem Beitrag wird sie nur sehr kurz angeschnitten,
da der Fokus andernorts liegt. Für eine tiefergehende Beschäftigung sei an dieser Stelle
die „Broschüre Baugeschichte des Schlosses Hartheim/Alkoven“ der „Begleitpublikation zur Ausstellung des Landes OÖ in Schloss Hartheim 2003“ empfohlen.
Bereits im Mittelalter gab es einen „Sitz Hartheim“, der jedoch ein recht bescheidenes
Anwesen gewesen sein muss. Viel mehr als einen Turm mit angeschlossenem Wohnhaus umfasste das Anwesen um 1350 nicht.33 Um 1600 wurde für Jakob Aspan ein völliger Neubau, ganz nach den Idealvorstellungen der Renaissance, von oberitalienischen
Baumeistern errichtet.34 Offenbar war Schloss Hartheim reich an aufwändiger Innenausstattung, wovon aber nicht viel erhalten ist. Das Schloss selbst erfuhr in den folgenden Jahrhunderten kaum sichtbare Veränderungen.35 1896 schenkte Camillo Heinrich
Fürst Starhemberg, dessen Familie seit 1799 in Besitz von Schloss Hartheim war, dieses
32
33
34
35
Tabelle nach: Aly, Die „Aktion T4“, S. 13. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Hartheimer Statistik verwiesen,
die akribisch genau die Anzahl der Ermordeten auflistet und die Ersparnisse dadurch berechnet. Eine kritische
Bewertung dieses in Hartheim gefundenen Dokumentes findet sich bei: Andrea Kugler, Die „Hartheimer Statistik“,
„Bis zum 1. September 1941 wurden desinfiziert: Personen: 70.273“, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung - Landeskulturdirektion (Hrsg.), Wert des Lebens. Amt der Oberösterreichischen Landesregierung Landeskulturdirektion, S. 124–131.
Georg Heilingsetzer, „Ain Schenn Fürstlich Gebeu“, Schloss Hartheim und seine Besitzer bis 1897, in: Amt der
Oberösterreichischen Landesregierung - Landeskulturdirektion (Hrsg.), Broschüre „Baugeschichte des Schlosses
Hartheim/Alkoven“, Begleitpublikation zur Ausstellung des Landes OÖ in Schloss Hartheim 2003, Wert des Lebens, Gedenken – Lernen – Begreifen, Linz 2003, S. 6–22, hier S. 6.
Bernd Euler-Rolle, Bau- und Kunstgeschichte von Schloss Hartheim, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung - Landeskulturdirektion (Hrsg.), Broschüre „Baugeschichte des Schlosses Hartheim/Alkoven“, S. 23–39,
hier S. 23.
Ebd., S. 36.
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233
dem Oberösterreichischen Landes-Wohltätigkeitsverein, der dort eine Pflegeanstalt für
geistig behinderte Menschen einrichten sollte.36 Die Schenkungstafel besagte – in der
damals gebräuchlichen Ausdrucksweise:
„Aus Anlass des 50jährigen Regierungsjubiläums Seiner kaiserlich-königlichen
Apostolischen Majestät Kaisers Franz Josef I. widmet Seine Durchlaucht Fürst
Camillo Heinrich Starhemberg dieses Asyl den armen Schwach- und Blödsinnigen, Idioten und Cretinösen im Jahre 1898.“37
Mit diesem Jahr war somit der Grundstein für Schloss Hartheim als Pflegeanstalt gelegt. In den folgenden zehn Jahren folgten einige Umbauarbeiten, um das Gebäude
für dessen neue Bestimmung tauglich zu machen: Dach, Fußböden, Fenster und Türen
wurden erneuert, Abortanlagen eingerichtet und der Festsaal zu einer Kapelle umgebaut. Die Pfleglinge waren im Erdgeschoß und im ersten Stock untergebracht. 1907
konnte auch endlich die Wasserversorgung für alle Stockwerke eingerichtet werden.38
Während des Ersten Weltkrieges kam die Modernisierung der Anstalt etwas ins Stocken, in den 1920er-Jahren wurde diese aber mit der Installation der elektrischen Beleuchtung, neuer Klosetts mit Wasserspülung und der Sanierung der Küche weiter
vorangetrieben. Im dritten Stock wurde eine Arbeitsschule für die Pfleglinge eingerichtet.39 Kepplinger konstatiert der Pflegeanstalt in den 1930er-Jahren „ein nach zeitgenössischen Maßstäben fortschrittliches Modell der Behindertenbetreuung“.40 Ungefähr zweihundert Pfleglinge lebten in Schloss Hartheim und wurden von den Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz von Paul betreut. Die Kosten dafür trugen entweder
die Angehörigen oder – im Falle von Armenpfleglingen – die Heimatgemeinde.41
Die Tötungsanstalt
Im nationalsozialistischen Deutschland hatte in der Zwischenzeit bereits ein Umbruch
in der Pflege begonnen. Nach und nach wurde die konfessionelle Wohlfahrtspflege zurückgedrängt und dem „völkischen Wohlfahrtsstaat“ unterstellt. Nur so konnten die Nationalsozialisten ihren Plan der Rassenhygiene verfolgen. Am 10. Dezember 1938 bekam auch der Oberösterreichische Landes-Wohltätigkeitsverein, Träger der „Schwachsinnigenanstalt Hartheim“, diese einschränkenden Maßnahmen zu spüren und wurde
aufgelöst. Schloss, Gutshof, Inventar und Barvermögen wurden 1939 dem Reichsgau
Oberdonau/Gauselbstverwaltung übertragen. Zum Stichtag 28. Februar 1939 meldete
der scheidende Leiter der Anstalt, Direktor Karl Mittermayer, 191 Pfleglinge. Nun oblag
der Fürsorgeabteilung der Gauselbstverwaltung die Leitung der Pflegeanstalt.42
36
37
38
39
40
41
42
Euler-Rolle, Bau- und Kunstgeschichte von Schloss Hartheim, S. 36.
Hartmut Reese, Schloss Hartheim: Bau- und Nutzungsgeschichte 1898–1999, in: Amt der Oberösterreichischen
Landesregierung – Landeskulturdirektion (Hrsg.), Broschüre „Baugeschichte des Schlosses Hartheim/Alkoven“,
S. 46.
Reese, Bau- und Nutzungsgeschichte, S. 46 f.
Ebd., S. 49.
Kepplinger, Tötungsanstalt Hartheim 1940–1945, S. 85.
Ebd.
Ebd., S. 86.
234
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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Schloss Hartheim sollte für das Taubstummen-Institut in Linz freigemacht werden, es
begannen Umstrukturierungen, die sich jedoch mit der zeitgleich stattfindenden Planung der „Aktion T4“ überschnitten. Hartheim wurde als eine der sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich ausgewählt und musste auf das Massenmorden vorbereitet
werden. Im März 1940 wurden die Pfleglinge aus der nun als ‘Landesanstalt Hartheim’
bezeichneten Einrichtung weggebracht: Frauen und Mädchen wurden nach Baumgartenberg überstellt, Männer und Buben in die Pflegeanstalt in Niedernhart.43
Dr. Rudolf Lonauer, ein Linzer Psychiater, wurde ärztlicher Leiter der Landesanstalt Hartheim, Dr. Georg Renno sein Stellvertreter. Ebenerdig wurden eine Gaskammer, ein Leichenraum und ein Krematoriumsraum mit gemauertem Verbrennungsofen errichtet.
An der Westseite des Schlosses wurde ein Holzschuppen für die Transportbusse angebaut.44 Die Fenster der Euthanasieräume wurden mit Brettern abgedeckt, um Einblicke
zu verhindern.
Der erste Krankentransport traf in der ersten Maihälfte 1940 in Hartheim ein, es waren PatientInnen der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart – einige von ihnen waren
selbst vorher Pfleglinge in Hartheim gewesen, wo sie nun vergast wurden.45 In der
25 Quadratmeter großen Gaskammer der Landesanstalt Hartheim wurden dreißig
bis sechzig Menschen zugleich ermordet. Das Betätigen des Gashahnes war laut Vorschrift der Zentrale Aufgabe des Arztes, aber auch Brennern wurde diese Aufgabe in
der Praxis häufig delegiert. Zehn bis fünfzehn Minuten lang wurde Gas in die Kammer
geleitet, dann waren die Opfer tot. Eine Stunde später wurde die Kammer gelüftet
und die Toten in den Krematoriumsraum gebracht – nicht, ohne vorher alle Goldzähne herausgebrochen zu haben. Die Dauerbelastung des Verbrennungsofens führte
schon einige Monate nach Inbetriebnahme zu einem Kaminbrand, weshalb ein neuer
Kamin errichtet werden musste. Die Asche der verbrannten Opfer wurde zunächst in der
Donau entsorgt, dann begann man sie im ehemaligen Schlossgarten zu vergraben, da
die häufigen Fahrten vom Schloss zum Fluss bei der umliegenden Bevölkerung nicht
unbemerkt blieben. Einen Teil der Asche verwendete man für die Befüllung der Urnen
– Angehörige konnten eine solche anfordern. Dass sich darin nicht die Asche ihres/
ihrer Verwandten befand, war nicht nachprüfbar.46
Für das Morden in Hartheim brauchte es sechzig bis siebzig Personen, viele davon
wohnten im Schloss. Neben dem ärztlichen Leiter gab es auch einen Büroleiter, Christian Wirth. In seine Zuständigkeit fielen das Sonderstandesamt, das Urnenbuch und die
Abwicklung des Schriftverkehrs. Hilfskräfte wurden in der Umgebung angeworben,
die Autobuschauffeure waren allesamt aus Oberösterreich, aber auch Belegschaft aus
der „T4“-Zentrale in Berlin kam nach Hartheim.47 Den Großteil des Personals machten
Büroangestellte aus, was sich durch die Verschleierungstechniken in der NS-Euthanasie
erklären lässt. Der Massenmord an geistig und körperlich behinderten Menschen sollte
43
44
45
46
47
Kepplinger, Tötungsanstalt Hartheim 1940–1945, S. 88.
Reese, Bau- und Nutzungsgeschichte, S. 50 f.
Kepplinger, Tötungsanstalt Hartheim 1940–1945, S. 92.
Ebd., S. 96 f.
Ebd., S. 89 ff.
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Julia Tapfer
235
nicht an die Öffentlichkeit dringen. Aus diesem Grund gab es in den Anstalten auch ein
eigenes Sonderstandesamt, das die Todesfälle beurkundete. Im Normalfall wurden die
Angehörigen eines Patienten/einer Patientin in einem Schreiben über die Verlegung
in eine andere Anstalt informiert, zu diesem Zeitpunkt war das Opfer tot. Nach ein paar
Tagen wurde eine Todesnachricht an die Verwandten geschickt, in dem eine unverfängliche, natürliche Todesursache angegeben wurde: Lungenentzündung, Schlaganfall, Gehirnschwellung oder Ähnliches wurde als Todesursache festgemacht.48
Die Angehörigen wurden bewusst getäuscht, indem ein System des Aktenaustausches
entwickelt wurde: Wurde ein/e Patient/in aus der Umgebung Hartheims dort ermordet, gab nicht die Landesanstalt Hartheim die Todesmeldung an die Angehörigen weiter, sondern eine andere Anstalt, etwa Sonnenstein bei Pirna, erledigte dies. Damit wurde erreicht, dass Angehörige, wenn sie von der Verlegung erfuhren, nicht kurzfristig
zu Besuch kamen, sondern sich dies mit der bald darauf eintreffenden Todesnachricht
erübrigte. Angesichts dieses immensen bürokratischen Aufwandes erstaunt es nicht,
dass 20 bis 25 Büroangestellte während des Mordens in Hartheim in diesem Bereich
beschäftigt waren.49
Im Frühjahr 1941 begann in Hartheim die Sonderaktion „14f13“, die die Ermordung
von kranken KZ-Häftlingen vorsah. Ab Juli 1941 trafen Häftlinge aus Mauthausen und
Gusen in Hartheim ein. Die Aktion „14f13“ benötigte nur die Infrastruktur der Tötungsanstalt, jegliche Bürokratie wurde im Konzentrationslager abgewickelt.50 Aus diesem
Grund sind die Toten aus den Konzentrationslagern auch nicht in der Hartheimer Statistik aufgeführt. 1943 ruhte die Aktion „14f13“, 1944 wurde sie wieder für einige Zeit
reaktiviert. Bis zur Schließung der Tötungsanstalt Ende des Jahre 1944 wurden über
3.000 KZ-Häftlinge in Hartheim ermordet.51
Am 24. August 1941 wurde die „Aktion T4“ telefonisch von Hitler gestoppt. Bis dahin
wurden in Hartheim 18.269 psychisch kranke Menschen ermordet, die vor allem aus
den österreichischen Anstalten kamen. Bei der Verlegung der PatientInnen lässt sich ein
Muster erkennen: Zunächst wurde eine relativ große Anzahl von PatientInnen aus einer
Anstalt nach Hartheim abtransportiert, um in dieser sukzessive Platz für die InsassInnen
von anderen, kleineren Anstalten zu machen. Die Tötungsmaschinerie bewegte sich
so langsam nach Osten.52 Aus dem Gau Tirol-Vorarlberg wurden 707 Menschen in den
Jahren 1940–1942 nach Hartheim deportiert, 360 davon aus der Heil- und Pflegeanstalt
Hall in Tirol.53 780 Betten hatte die Haller Anstalt, was eine Opferquote bezogen auf die
Bettenanzahl von 46,15 Prozent ausmacht. Novo Celje in der Untersteiermark verzeichnete eine Opferquote von 89,25 Prozent, die Anstalt Ybbs eine von 82,66 Prozent. Auch
Klagenfurt (81,47 Prozent), Valduna (70,51 Prozent) und Niedernhart (67,85 Prozent) lie-
48
49
50
51
52
53
Kepplinger, Tötungsanstalt Hartheim 1940–1945, S. 99.
Ebd.
Ebd., S. 101.
Ebd., S. 107.
Ebd., S. 97 f.
Oliver Seifert, „Sterben hätte sie auch hier können“. Die „Euthanasie“-Transporte aus der Heil- und Pflegeanstalt
Hall in Tirol nach Hartheim und Niedernhart, in: Kepplinger et al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, S. 405.
236
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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gen über dem Durchschnitt der Opferquote in der Ostmark. Im Zuge der „Aktion T4“
wurden 62,4 Prozent der AnstaltspatientInnen in der Ostmark ermordet. 54
Nach dem Stopp der Aktion war das Personal in Hartheim vor allem mit der Bearbeitung des vorhandenen Aktenmaterials beschäftigt, Statistiken wurden erstellt und die
Anfragen von Angehörigen beantwortet. Dies bedurfte keines so großen Personalstabs
mehr, weshalb viele Bürokräfte und Pflegerinnen das Schloss verließen. Dabei ist ein
„Personal- und Technologietransfer“55 zu beobachten, kamen etwa einige MitarbeiterInnen auch in der „Aktion Reinhard“, dem Massenmord an der jüdischen Bevölkerung
des Generalgouvernements, zum Einsatz.56 Als 1944 das Kriegsende bereits absehbar
war, wurde die Landesanstalt Hartheim aufgelöst. Ursula Kregelius, eine „T4“-Angestellte aus Berlin, war zur Beseitigung der Akten eigens nach Hartheim versetzt worden, da
das Material nach dem Krieg nicht aufgefunden werden sollte. Zur Tarnung wurde im
Schloss ein Kinderheim des Gau-Fürsorgeamtes eingerichtet und siebzig Kinder aus
Baumgartenberg nach Hartheim verlegt. Im Juni 1945 erreichte das War Crime Investigation Team No. 6824 der U.S. Army Hartheim und begann unter der Leitung von
Charles Dameron den Massenmord in den vorhergehenden Jahren zu untersuchen.
Der Lern und Gedenkort Schloss Hartheim
1948 ging das Schloss Hartheim wieder an den Oberösterreichischen Landes-Wohltätigkeitsverein und wurde zunächst als Unterkunft für Flüchtlinge und Displaced Persons (DPs) genutzt.57 An ein Gedenken der Opfer wurde in dieser Zeit weder von Landes-, noch von staatlicher Seite gedacht. Vielmehr brauchte es zunächst Impulse von
außen, wie etwa ein erstes Denkmal der Erinnerung, das 1950 auf Initiative der französischen Häftlingsorganisation der Überlebenden des Konzentrationslagers Mauthausen
an der Nordseite des Schlosses errichtet wurde.58 In den Folgejahren wurde darüber
nachgedacht, ob das Schloss Hartheim sich als Depot für das Landesarchiv und Landesmuseum eignete, aber das Schloss war schwer beschädigt und es wären aufwändige Renovierungsarbeiten dafür notwendig gewesen. Der Oberösterreichische LandesWohltätigkeitsverein war nie vom Wunsch abgekommen, die Arbeit mit behinderten
Menschen wieder aufzunehmen, doch es dauerte bis 1963, bis das „Institut Hartheim“
unweit des Schlosses eröffnet werden konnte. Es gab immer wieder Überlegungen,
Wirtschaftstreibende im Schloss und in den dazugehörigen Wirtschaftsgebäude unterzubringen – Interessenten wie einen Linzer Eisenhändler hätte es dafür durchaus
gegeben. 1954 ergab sich durch das Donauhochwasser aber eine neue Situation mit
neuem Handlungsbedarf: Betroffene des Hochwassers zogen in Folge in das Schloss
ein und dieses war bis 1999 ein Wohnhaus.59
54
55
56
57
58
59
Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich, S. 52.
Kepplinger, Tötungsanstalt Hartheim 1940–1945, S. 104.
Ebd.
Reese, Bau- und Nutzungsgeschichte, S. 51.
Ders./Brigitte Kepplinger, Gedenken in Hartheim: Die neue Gedenkstätte, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung - Landeskulturdirektion (Hrsg.), Wert des Lebens, S 161–169, hier S. 161.
Reese, Bau- und Nutzungsgeschichte, S. 52 f.
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237
Der Weg bis zur heutigen Gedenkstätte war nach den Anfängen 1950 noch ein langer.
Bis in die 1960er-Jahre hinein besuchten vor allem Angehörige von Opfern aus dem
Ausland den Ort, an dem ihre Verwandten umgekommen waren. So waren die ersten
Gedenktafeln keine österreichischen, sondern in Eigenregie angebrachte Zeichen der
Erinnerung von Angehörigen hier ermordeter französischer oder italienischer Häftlinge der Lager Mauthausen und Dachau. Der Großteil der Tafeln betraf damit die Opfer
der „Aktion 14f13“, solche für die Euthanasieopfer kamen erst später dazu.60
Auf eine daraus entstandene öffentliche Diskussion reagierte der Oberösterreichische
Landes-Wohltätigkeitsverein 1969 mit der Errichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen Aufnahmeraum und der ehemaligen Gaskammer. Es wurden dafür ein Kreuz und
Glasfenster, ähnlich denen in sakralen Räumen, als christliche Symbole angebracht
und eine Gedenktafel aufgehängt.61 Ein neuer Steinfußboden wurde gelegt, die Wände
gestrichen, ein Mauerdurchbruch in die Gaskammer getätigt und darin ein neuer Zementverputz aufgetragen: Spuren aus der Zeit der NS-Euthanasie wurden dabei nicht
beachtet.62
1995 wurde der Verein Schloss Hartheim gegründet, der es sich zum Ziel setzte, die
Geschichte des Schlosses aufzuarbeiten. Das Land Oberösterreich und der Oberösterreichische Landes-Wohltätigkeitsverein sagten 1997 zu, die Neugestaltung der Gedenkstätte zu finanzieren. Da man davon überzeugt war, es seien keine authentischen
Spuren der NS-Euthanasie mehr vorhanden, da 1944/45 alles zurückgebaut worden
war, betraute man einen Künstler, Herbert Friedl, mit der Gestaltung der Räume. Herbert Friedl schreibt über sein Vorhaben:
„Mein wichtigstes Anliegen ist es, einen Erinnerungsprozess in Gang zu halten.
Dies bedingt das Schaffen einer neuen Wirklichkeit, die in Distanz zum historisch-realen Geschehen steht. Darauf habe ich mein Gestaltungskonzept aufgebaut. Ziel ist nicht die Rekonstruktion dieser Einrichtungen und Ereignisse
oder gar deren Inszenierung, sondern mittels einer abstrahierten Gestaltung
Geschehnisse ins Gedächtnis zurückzurufen.“63
Während der Planung der Gedenkstätte brachten bauarchäologische Begehungen
schließlich Funde zutage, mit denen man nicht gerechnet hatte: der Abfluss im Leichenraum, die Halterungen der Gasleitungen, selbst die vermauerte Tür zwischen Gaskammer und Technikraum. Wegen dieser und weiterer Funde wurde das künstlerische
Konzept überdacht, um keine weiteren Spuren zu zerstören. Der Weg durch die Gedenkstätte führt über einen Steg aus Stahlkonstruktionen. Die Tötungsräume können
so durchschritten, aber nicht betreten werden. Damit wurde das Prinzip verfolgt, „nicht
,den Weg der Opfer nachgehen‘, nicht ,Sich-Einfühlen‘, indem man den historischen Ort
des Mordes selbst berührt und begeht, sondern aus der Distanz zur Anschauung des
60
61
62
63
Reese/Kepplinger, Gedenken in Hartheim, S. 162.
Ebd.
Reese, Bau- und Nutzungsgeschichte, S. 54.
Herbert Friedl, Ort des Geschehens – Ort der Erinnerung, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung Landeskulturdirektion (Hrsg.), Wert des Lebens, S. 155–160, hier S. 155.
238
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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Ortes und seiner Bedeutung zu gelangen.“64 Im Herbst 2001 wurden bei Grabungen
Überreste von Habseligkeiten der Opfer entdeckt, kurz darauf Gruben mit menschlicher Asche. Die Gegenstände wurden geboren und als Block zentral im ersten Raum
der Gedenkstätte, dem Aufnahmeraum, aufgestellt, die Überreste der Opfer wurden
beigesetzt und das Gelände zum Friedhof erklärt.65 Die Namen der Opfer wurden auf
Glaspaneele in einer zufälligen Reihenfolge geschrieben. Damit wollte man sich von
den bürokratisierten Listen der Nationalsozialisten entfernen und keine Hierarchie der
Opfer entstehen lassen. Es wurde dabei keine Trennung in Euthanasie- oder KZ-Opfer
vollzogen.66
In der Gedenkstätte selbst wurde keine Didaktisierung vorgenommen, diese findet
man in der im ersten Obergeschoß des Schlosses gelegenen Ausstellung „Wert des
Lebens“, die die Entwicklung der Situation behinderter Menschen vom Zeitalter der
Industrialisierung bis in die Gegenwart zeigt.67
Quellenstudie: Reaktionen der Angehörigen
Bereits in den vorhergehenden Kapiteln wurde versucht zu verdeutlichen, wie die „Aktion T4“ sich verschleiernder Methoden bediente, indem Angehörige von Opfern etwa
nicht über den Abtransport ihrer Verwandten informiert wurden oder sie eine Benachrichtigung von einer weit entfernten Pflegeanstalt erhielten, die sie nicht kurzfristig
für einen Besuch aufsuchen konnten. Im Folgenden sollen die Reaktionen der Angehörigen auf diese Mitteilungen und die damit einhergehende Ungewissheit über den
Verbleib ihrer Verwandten fassbar gemacht werden. Dafür werden Briefe aus dem Jahr
1941 herangezogen, die bei Renovierungsarbeiten im Evangelischen Diakoniewerk
Gallneukirchen Jahrzehnte nach dem Krieg gefunden wurden.
Zwischen dem 13. und 31. Jänner 1941 wurden 64 behinderte Menschen aus den zum
Diakoniewerk gehörenden Heimen ins nur vierzig Kilometer entfernte Hartheim abtransportiert und dort ermordet.68 Die Angehörigen erhielten eine kurze Mitteilung,
dass der Pflegling „aus kriegswichtigen Gründen gemäß einer Anordnung des Herrn
Reichsverteidigungskommiss[a]rs“69 in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein
bei Pirna in Sachsen verlegt worden sei, wenige Tage später erhielten sie von dort auch
die Todesnachricht. Anhand von Auszügen aus den Briefen, die als Faksimile und ohne
Kommentar in „Hartheim, wohin unbekannt. Briefe & Dokumente“ abgedruckt sind, soll
im Folgenden ein Einblick in die Handlungsoptionen und Deutungen der Angehörigen gegeben werden.70
64
65
66
67
68
69
70
Reese/Kepplinger, Gedenken in Hartheim, S. 165.
Ebd., S. 166.
Ebd., S. 169.
Verein Schloss Hartheim, Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim, Folder zum Lern- und Gedenkort.
Johannes Neuhauser/Michaela Pfaffenwimmer (Hrsg.), Hartheim, wohin unbekannt, Briefe und Dokumente,
Weitra 1992, S. 7. Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreichf, S. 55.
Neuhauser/Pfaffenwimmer, Hartheim, wohin unbekannt, S. 136.
Der genaue Wortlaut der Briefe wird in den Auszügen wiedergegeben, etwaige Rechtschreib- oder Grammatikfehler sowie falsche bzw. fehlende Interpunktion werden dabei übernommen. Um die Lesbarkeit zu gewährleisten,
wird auf eine sonst übliche Kennzeichnung mit „[sic!]“ verzichtet.
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Unverständnis und Wut über die Verlegung des Pfleglings
In beinahe allen Briefen der Angehörigen liest sich zunächst Entsetzen und Unverständnis darüber, warum das eigene Kind ohne Verständigung der Eltern in eine andere Anstalt verlegt worden war. Diese Briefe waren meist unmittelbare Reaktionen nach
Erhalt der kurzen Mitteilung aus der Pflege- und Heilanstalt Sonnenstein bei Pirna. Die
Angehörigen forderten von den Schwestern in Gallneukirchen Aufklärung darüber. Die
entsprechenden Stellen aus den Briefen lesen sich etwa so:
„Das ist doch die Höhe das Kind, ohne die Mutter zu verständigen einfach in
eine andere Anstalt zu überstellen!“71
„Durch Zufall erfahre ich von Alberts Übersiedlung ins Altreich. Da Albert keine
Möglichkeit gegeben wurde sich von uns zu verabschieden oder uns irgend
etwas zu sagen, möchte ich Sie mit meinen Zeilen herzlichst bitten, mir doch
alle Einzelheiten dieses Vorganges bekannt zu geben. Ich nehme an, daß Sie
noch dort sind & der Sache beigewohnt haben. Ebenso kann ich nicht umhin
mein Befremden darüber Ausdruck zu geben, doch weder der Hausvater noch
die Hausmutter es für nötig hielten meine Angehörigen in Linz von dem Vorfall
rechtzeitig in Kenntnis zu setzen.“72
Das Ehepaar Mladenov war so erschüttert über die Verlegung ihres Sohnes Vasi, dass
beide nach Gallneukirchen schreiben:
„Ehrwürdige Schwestern! Über die heutige Nachricht, dass mein Sohn, Vasi
Mladenov der Pflegeanstalt Sonnenstein b.Pirna ohne jede weitere Verständigung, zugeführt worden ist, bin ich ganz bestürzt. Morgen wären meine Frau
und ich zu Besuch gekommen, weil mir eigens einen Vertreter bestellt hatten.
Meine Frau hat so grosse Sehnsucht nach den Jungen. Es ist daher verständlich, dass sie einen Weinkrampf erlitten und ganz gebrochen ist. Man hätte
uns unter allen Umständen verständigen sollen.–Bitte geben Sie uns nähere
Aufklärung darüber! Bitte teile Sie uns auch mit, wie man Sonnenstein err[sic!]
reichen kann, weil mir dieser Ort vollkommen fremd ist[.] In Ihrem Schutz und
Schirm, haben wir unser armes Kind gut aufgehoben gewusst und nun ist die
Ruhe dahin… Im vorhinein besten Dank für Ihre rasche Rück antwort! Heil
Hitler!“73
„Liebe Schwester Anna ! Die heutige Nachricht, dass Vasi nicht mehr bei Ihnen
ist, hat mich und meinen Mann ganz bestürzt. Ich kann Ihnen,gute Schw.gar
nicht sagen, wie mir eigentlich zu Mute ist. Ich erhielt heute die Verständigung,
dass Vasi in der Heil-u.Pflegeanstalt Sonnenstein b.Pirna untergebracht ist und
sonst gar nichts!!! Man hat uns gar nicht gefragt[.] Wo ist Sonenstein ? Warum
hat man Vasi dorthin gebracht? Wurde Gallneukirchen ganz oder teilweise aufgelöst? Warum schrieben Sie mir nicht, Schwester? Was ging eigentlich dort
71
72
73
Neuhauser/Pfaffenwimmer, Hartheim, wohin unbekannt, S. 12.
Ebd., S. 22.
Ebd., S. 34.
240
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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vor? Ist die Anstalt Sonnenstein gut? Liebe Schwester, ich bin tief unglücklich
und traurig und möchte über Vasis Unterkunft Gewissheit haben. Der arme
Junge tut uns je so leid! […]“74
Auf Anfragen wie diese antworteten die Schwestern stets gleich. Eine Verständigung
über die Überstellung sei ihrerseits nicht möglich gewesen, weitere Auskünfte könne
man laut Weisung auch keine geben.75 Wie funktional die Täuschungen der „Aktion T4“
über den Aufenthaltsort der Pfleglinge waren, zeigt folgender Ausschnitt eines Briefes
aus Gallneukirchen, in dem die beste Zugverbindung von Wels nach Pirna beschrieben
wird. Eine spontane Reise nach Pirna wäre dem Ehepaar Mladenov nicht möglich gewesen, dauerte eine solche Reise doch ganze 12 Stunden:
„Ich habe mich gleich auf dem Verkehrsbüro in Linz wegen einer Verbindung
nach Sonnenstein bei Pirna erkundigt und konnte mir dort nur die Verbindung
bis Pirna angegeben werden. Der beste Zug verkehrt ab Wels 7 Uhr 37, Linz an
8 Uhr 20, Linz ab 8 Uhr 45, Bodenbach an 17 Uhr 42, Bodenbach ab 18 Uhr 24,
Pirna an 19 Uhr 35. Dort kann man Ihnen gewiss weiteren Bescheid geben.“76
Dass ein Besuch der Eltern ohnehin nicht möglich gewesen wäre, zeigen zwei Telegramme, die 17-jährige Hedwig Gemperle betreffend:
„Telegramm, aufgegeben 28.1.1941, abends ½ 8 Uhr: An Heil–und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna Sachsen[.] Kann ich meine Tochter Hedwig Gemperle Pflegling aus Gallneukirchen morgen besuchen ? Gemperle“77
„Telegramm, eingelangt 29.1.1941, abends 8 Uhr: Nein.Brief abwarten.
Sonnenstein“78
Zwei Tage später erhielt die Familie den Brief aus Sonnenstein, dass ihre Tochter bereits
am 27. Jänner „unerwartet in einem schweren epileptischen Anfall verstorben“79 sei.
Dies teilten sie der Schwester in einem Brief mit, in dem unter anderem zu lesen ist,
dass sogar ein Gesuch an die Reichskanzlei des Führers gestellt worden war, um die
Tochter in die häusliche Pflege rückführen zu können.80
Reaktionen auf die Todesnachricht
In den Briefen der Angehörigen wurde im Sinne des christlichen Glaubens öfters dahingehend argumentiert, dass das Leiden der/des Kranken nun endlich beendet sei.
Mitzi Barth schrieb etwa: „Fritzl hat ausgelitten, ist bei seinem Vater nur Gott wird es
wissen warum er es zugelassen.“81 Marie Höller berief sich mit ihren Worten ebenfalls
auf ein Ende des Leidens: „Das eine muß uns ein Trost sein daß der Arme nun von sei74
75
76
77
78
79
80
81
Neuhauser/Pfaffenwimmer, Hartheim, wohin unbekannt, S. 35.
Ebd., S. 36, 45.
Ebd.
Ebd., S. 101.
Ebd.
Ebd., S. 105.
Ebd., S. 107.
Ebd., S. 78.
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nem schweren Leiden erlöst ist.“82 Dennoch hielten sich die Eltern auch mit ihrer Trauer
nicht zurück:
„Denn ich bin noch in tiefsten Leid über den unerwarteten plötzlichen Tod
meines armen Hannerle. Und wo immer ich in den Ämtern darüber vorsprach
und Aufklärung darüber forderte, erhielt ich nur ungenügende Antworten, u.
wenn man gar nichts mehr zu sagen wußte, die Rede, aber bitte Sie, es war ja
der Tod für ihre Tochter das Beste!! Ja, das braucht mir niemand zu sagen, das
weiß ich wohl selbst […]. Ach, es ist alles so garstig, wenn ich nachdenke, mein
armes Kinderl ist ja von allem erlöst, aber der überlebenden Mutter ist mit diesem Akt ein unauslöschliches Leid zugefügt worden.“83
Die oben schon genannte Frau Mladenov zeigt sich nach der Nachricht über den Tod
ihres Sohnes in ihrem Brief auch ganz erschüttert:
„Der liebe Gott hat mir nicht geholfen und meine Bitte nich erhört! Man hat
mir als Mutter eine Nadel in das Herz gestochen, als ich gestern die Todesurkunde meines,unseres armen Vasi erhalten habe[.] Man gibt als Todesursache
‚Blutvergiftung durch ein Lippenfurunkel an ! Ich könnte zum Himmel schreien, wie grausam man ist! […] Eine Mutter ahnt doch alles! Ich konnte schon
lange keine Nacht ruhig schlagen und immer sah ich Vasi in‘ Anstaltskleidung!
[…] Verzeihen Sie liebe, gute Schwester die Maschinschrift aber meine Hände
zittern und ich kann nicht schreiben…… Mein Schmerz ist so gross und tief,
dass ich nur im Weinen Erleichterung finden kann. Ihre schwergeprüfte Magda
Mladenov“84
Frau Knauer aus Wien ist ähnlich betroffen:
„Der schwere Schicksalsschlag der uns getroffen, hat uns so niedergeschmettert, so daß ich gar nicht fähig bin zu denken. Ich kann es gar nicht fassen,
daß ich mein armes Kind nicht mehr habe und es nicht mehr sehen soll. Mein
Mann ist dadurch um 100% wieder schlechter geworden, er fällt von einem
Weinkrampf in den anderen. […] Wie ich das überleben soll weiß ich noch
nicht, ich lebe jetzt und arbeite wie eine Maschine, die Nächte verbringe ich
schlaflos und immer in Gedanken an Kurt und weinend.“85
Auffällig ist in manchen Briefen die Diktion der Nationalsozialisten, etwa die „geistige
Minderwertigkeit“, die sich selbst Angehörige von behinderten Menschen angeeignet
haben:
„Das arme Wesen ist seit 20 Jahren in Gallneukirchen in bester Obhut gewesen,
und ich war beruhigt, denn wenn sie auch geistig minderwertig ist, so ist und
82
83
84
85
Neuhauser/Pfaffenwimmer, Hartheim, wohin unbekannt, S. 114.
Ebd., S. 16 f.
Ebd., S. 37.
Ebd., S. 162.
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Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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bleibt es doch mein Kind und ich sorge mich genau so um sie, wie um meine
anderen Kinder.“86
Frieda Haar berief sich in ihrem Brief über ihre abtransportierte Mutter auf den „Deutschen Sinn“:
„Es ist furchtbar bitter für uns, obwohl sie schrecklich arm war, jetzt an einen
so plötzlichen Tod glauben mußte, sie war eine Deutsche Frau von 5 Kindern,
wovon leider nur wir zwei am Leben blieben […]. Wenn dies so weiter geht,
einfach mit den alten Leuten abzufahren wenn ihre Kraft ausgedient hat, wir
sind Deutsch bis ins innerste, aber wer dies selber ansehen und erleben muß,
der denkt in manchen, manchen Sachen nach, ob dies wohl richtig Deutscher
Sinn ist.“87
Zweifel und Ahnungen
Trotz der ausgeklügelten Täuschungsmethoden der Nationalsozialisten lässt sich aus
den Briefen ein gewisser Zweifel der Angehörigen herauslesen. Sowohl die Todesursachen erschienen manchen unglaubwürdig, als auch die gehäufte Anzahl der Todesnachrichten: Drei Familien standen so etwa in Briefkontakt, da sie alle ein Kind in Gallneukirchen untergebracht hatten.88 Aus manchen Briefen lässt sich zudem erschließen,
dass die Angehörigen zumindest eine Ahnung von den Morden hatten, natürliche Tode
wurden ausgeschlossen. Im Folgenden einige Ausschnitte, die diese Zweifel belegen:
„Die fürchterliche Ahnung, die mich beschlich als ich die erste Nachricht von
Alberts Verschleppung hatte, finde ich mit Ihren Zeilen bestätigt. […] Der arme
gute Kerl, der niemandem etwas zu Leide tat, dessen größte Freude es war
anderen etwas zu schenken, konnte nicht einmal sein bescheidenen Dasein
durch ein natürliches Ende beschließen. Wie sind die Henkersleute mit den bedauernswerten Menschen umgegangen, ich werde die Vorstellung nicht los,
daß sie noch schlecht behandelt wurden! Und was man dann dort mit ihnen
getrieben hat, daran darf ich gar nicht denken! Was für eine erbarmungslose
Welt! […] Hätte ich s.z. als mein Vater der 13 Monate Krebsleidend im Bette
lag und für hoffnungslos aufgegeben war und von mir gepflegt wurde und
mich immer immer wiederholt bat ihm doch das erlösende Gift zu geben, da
er entsetzliche Schmerzen litt, wirklich diese barmherzige Tat getan, man hätte
mich ins Zuchthaus gesteckt – heute vergiftet man den Rest des Lebens noch
gesunder Leute, denn diese Tat läßt mich nicht mehr los und die Vernunftsgründe, die selbstherrliche Menschen einem entgegenschleudern kann ich in
Alberts Fall nicht gelten lassen.“89
86
87
88
89
Neuhauser/Pfaffenwimmer, Hartheim, wohin unbekannt, S. 12.
Ebd., S. 200.
Ebd., S. 110.
Ebd., S. 24 f.
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Julia Tapfer
243
Zweifel kommen auch Pfarrer Schiefermair aus Rottenmann in der Steiermark, der nach
Gallneukirchen schreibt, weil Johann Landl aus seiner Gemeinde in Sonnenstein verstorben sei:
„War Johann Landl irgendwie verletzt schon in Gallneukirchen, dass er an ‚Blutvergiftung infolge einer Wundrose‘ sterben musste? Oder hat er sich diese Verletzung merkwürdiger Weise erst zugezogen als er in Pirna war? Kommt das
seltsamer Weise öfter vor, dass Pfleglinge abgeholt werden und dass sie dann,
wenn sie von Gallneukirchen weg sind, plötzlich versterben [...]?“90
Pauline Landl schreibt auch wegen Johann Landl nach Gallneukirchen. Interessant in
ihren Ausführungen ist dabei auch die Argumentation, dass dieses Vorgehen bei einem „Irren“ ja auch zu dulden gewesen wäre:
„Ich bin so gebrochen und die schwersten Tage meines Lebens verbringe ich
jetzt. Wenn Hans bei Ihnen dort durch ein Unglück oder Krankheit oder so
irgend ums Leben gekommen wäre, würde ich mich viel leichter beruhigen.
Aber so [i.O.] was? Mein Gedanke wars ja sofort obwohl ich nicht die leiseste
Idee hatte davon. Und ich wollte auch nichts sagen wenn ein Irrer gewesen
wäre. Das war doch nicht der Fall. Wie er sich alles gut ausdenken konnte und
überhaupt alles gewußt und verstanden hat. Nun möchte ich fragen ob dies
der erste Transport war oder ob früher schon einmal welche abgeholt wurden.
(wie Schlachttiere!) Und wieso Hans so schnell drankam. War er schon zu lange
in der Anstalt oder wurde er als erbkrank bezeichnet? Weil noch viele Schwerere dort verblieben.“91
Auch Rosa Netolitzky drückte ihre Zweifel aus:
„Was die Anstalt ‚Sonnenstein‘ schrieb ist doch alles nur Lüge, die zu glauben
ich nicht imstande bin. Sie schickten ein Verzeichnis von Traudis Kleider und
Wäsche, welche ich zugeschickt bekomme. Ich finde das lächerlich, daß man
mit diesen nebensächlichen Dingen aufeinmal so gewissenhaft umzugehen
versucht.“92
Zusammenfassende Bemerkungen
Freilich waren die Ausführungen auf diesen wenigen Seiten keine umfassende Quellenstudie, eine solche war aber auch nicht angestrebt. Vielmehr ging es darum, kleine
Blickfenster auf die Reaktionen der Angehörigen von Ermordeten zu öffnen und exemplarisch einige herausragende Briefauszüge zu beleuchten. Eine systematische Analyse
aller Briefe wäre sicherlich sehr interessant, da sie auf mehreren Ebenen untersucht
werden könnten, sowohl die sprachliche als auch inhaltliche Ebene könnten noch einige Erkenntnisse zutage bringen.
90
91
92
Neuhauser/Pfaffenwimmer, Hartheim, wohin unbekannt, , S. 44.
Ebd., S. 46 f.
Ebd., S. 138.
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Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
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Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgemacht werden, dass in den Briefen die
Bestürzung und das Unverständnis über die plötzliche Verlegung des Pfleglings ohne
Verständigung der Angehörigen durchgängig sind. Die Angehörigen fordern vom Pflegepersonal unverzügliche Aufklärung über die Vorkommnisse – die ihnen aber nicht
gegeben werden kann – und vergessen dabei auch nicht, den Schwestern in Gallneukirchen für ihre hervorragende Pflege bisher zu danken. Besonders bezeichnend sind
die ausgedrückten Zweifel darüber, ob die Meldungen aus Sonnenstein der Wahrheit
entsprechen. Als Ergebnis dieser kleinen Studie kann auch festgemacht werden, dass
es sehr wohl Unruhe unter den Angehörigen gab und dass sie zumindest eine Ahnung von dem hatten, was im Zuge der NS-Euthanasie geschah. Die Ablehnung dieser
Handlungen spiegelt den Unmut in der Bevölkerung zu dieser Zeit wider, der mit als
Grund für den Abbruch der „Aktion T4“ angegeben wird.93
Schlussbemerkung
Ziel dieser Seminararbeit war es, den Weg der Pflegeanstalt Hartheim bis hin zur Tötungsanstalt im Sinne der NS-Euthanasie nachzuzeichnen. Während im ersten Kapitel die Organisation des Tötens im Allgemeinen beschrieben wurde, konnte sich das
zweite Kapitel ganz den Geschehnissen in Hartheim widmen. Dabei waren vor allem
die Forschungen von Brigitte Kepplinger sehr hilfreich, die klar strukturiert in einem
Sammelband bzw. dem Begleitkatalog zur Dauerausstellung in Schloss Hartheim zusammengetragen wurden.
Im letzten Kapitel konnte aufgezeigt werden, wie Angehörige von Opfern mit der Todesnachricht umgingen: Wut, Trauer, Empörung und Verzweiflung lesen sich in den
Briefen, aber es finden sich auch einzelne mit wenigen bis gar keinen emotionalen
Regungen darunter. Als besonders interessant herauszustreichen ist die Tatsache, dass
Zweifel und Ahnungen um die wirkliche Todesursache der Pfleglinge in einigen Briefen
durchaus ausgedrückt werden. Die Täuschungen der Nationalsozialisten fruchteten
also nur bedingt und das „Beseitigen der unnützen Esser“ stieß vorwiegend auf Ablehnung in der Bevölkerung.
In dieser abschließenden Bemerkung soll die Diskussion um die Namensnennung der
Opfer der NS-Euthanasie noch kurz angeschnitten werden. In diesem Beitrag wurden
ganz im Sinne von Götz Aly keine Anonymisierungen vorgenommen. Aly befasst sich in
der Einleitung seines 2013 erschienenen Buches „Die Belasteten“ mit dem „Schweigen
mit Rücksicht auf die lebenden Verwandten“.94 Während Florian Schwanninger in Zusammenhang mit dem „Gedenkbuch Hartheim“ 2008 noch hinzufügt, dass ForscherInnen sich vor Übergabe der Daten verpflichten müssen, die Namen nicht ohne Anonymisierung bzw. ohne Einverständnis noch lebender Verwandter zu veröffentlichen,95
93
94
95
Neugebauer, „Die Aktion T4“, S. 30; Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich, S. 58.
Götz Aly, Die Belasteten, ‚Euthanasie‘ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2013, S. 9.
Florian Schwanninger, Den Opfern einen Namen geben. Die Recherche nach den in Hartheim ermordeten Menschen im Rahmen des Projekts „Gedenkbuch Hartheim“, in: Kepplinger et al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim,
S. 131–143, hier S. 140.
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kann hier Götz Aly zugestimmt werden, der findet: „Es ist an der Zeit, die Ermordeten
namentlich zu ehren […]. Erst dann wird den lange vergessenen Opfern ihre Individualität und menschliche Würde wenigstens symbolisch zurückgegeben.“96 Wenn Anonymisierungen vorgenommen werden, um Personen zu schützen, stellt sich die Frage:
Wer wird geschützt? Noch lebende Verwandte, die sich wegen ihres/r psychisch kranken Vorfahren schämen? Ist ein solcher „Opferschutz“ dann gerechtfertigt und gewollt?
Wenn es nämlich um das Opfer der NS-Euthanasie geht, so sehe ich keinen Grund
zur Anonymisierung – wenigstens jetzt, nach 75 Jahren, sollte es doch möglich sein,
diesen Menschen mehr als nur eine anonyme Nummer zuzugestehen, die sie für die
Nationalsozialisten waren.
Das Thema der NS-Euthanasie bietet noch viel Raum für weitere Forschungen, besonders auf lokaler Ebene gilt es noch einiges an Pionierarbeit zu leisten und Einzelschicksale nachzuzeichnen. Mit dem Film „Tote lügen nicht“ von Heinz Fechner und Bertram
Wolf ist ein wichtiger Schritt unternommen worden, die Geschichte der Psychiatrie in
Hall aufzuarbeiten und an die Öffentlichkeit zu tragen. Es genügt dann aber nicht, betroffen aus dem Kinosaal zu gehen und das Gesehene wieder zu vergessen: Es bedarf
weiterer Aufarbeitung, etwa durch die Behandlung der Thematik in Schulen, wo sie
bisher noch zu kurz kommt. Gedenkstätten wie Hartheim, gekoppelt mit der Ausstellung „Wert des Lebens“, bieten gute Exkursionsmöglichkeiten mit Schulklassen. Derzeit
wird an der Erstellung von Material für die Vor- und Nachbereitung in der Schule gearbeitet, womit die Bereitschaft signalisiert wird, Lehrpersonen bei der Thematisierung
dieses doch recht schwierigen Themas nicht allein zu lassen, sondern sie mit didaktisch
gut durchdachten Materialien zu unterstützen.
Literatur
Aas, Norbert, Von der Logistik des Todes. Die Verlegung von Bayerischen Anstaltskranken nach Schloss Hartheim (August 1940 bis August 1941), in: Brigitte Kepplinger/
Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, Linz 2008², S.
261–317.
Aly, Götz, Die „Aktion T4“ – Modell des Massenmordes, in: Götz Aly (Hrsg.), Aktion T4,
1939–1945, Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1989², S. 11–20.
Ders., Die Belasteten, „Euthanasie“ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt
am Main 2013.
Euler-Rolle, Bernd, Bau- und Kunstgeschichte von Schloss Hartheim, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung – Landeskulturdirektion (Hrsg.), Broschüre „Baugeschichte des Schlosses Hartheim/Alkoven“, Begleitpublikation zur Ausstellung des Landes OÖ in Schloss Hartheim 2003, Wert des Lebens, Gedenken – Lernen – Begreifen,
Linz 2003, S. 23–39.
96
Aly, Die Belasteten, S. 10.
246
Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt
historia.scribere 08 (2016)
Friedl, Herbert, Ort des Geschehens – Ort der Erinnerung, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung – Landeskulturdirektion (Hrsg.), Wert des Lebens. Gedenken – Lernen – Begreifen, Begleitpublikation zur Ausstellung des Landes OÖ in Schloss
Hartheim 2003, Linz 2003, S. 155–160.
Heilingsetzer, Georg, „Ain Schenn Fürstlich Gebeu“, Schloss Hartheim und seine Besitzer
bis 1897, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung – Landeskulturdirektion
(Hrsg.), Broschüre „Baugeschichte des Schlosses Hartheim/Alkoven“, Begleitpublikation
zur Ausstellung des Landes OÖ in Schloss Hartheim 2003, Wert des Lebens, Gedenken
– Lernen – Begreifen, Linz 2003, S. 6–22.
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Julia Tapfer
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al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, S. 356–410.
Verein Schloss Hartheim, Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim, Folder zum Lern- und
Gedenkort.
Julia Tapfer ist Mitarbeiterin im Projekt „Arbeitsmigration in Südtirol seit dem Zweiten Autonomiestatut“, am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck sowie
Studierende der Lehramtsfächer Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung sowie
Deutsch. julia.tapfer@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Julia Tapfer, Schloss Hartheim – von der Pflege- zur Tötungsanstalt: Historischer Abriss
und exemplarische Quellenarbeit mit Briefen von Angehörigen der Ermordeten, in:
historia.scribere 8 (2016), S. 225–248, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
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Runner-Up-Award & Sonderpreis des
Landes Vorarlberg 2016
gesponsert von der Historisch-Philosophischen Fakultät
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Bachelor-Arbeit 2016
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„Wir kommen unter die Metzger.“ Die Umsetzung des
nationalsozialistischen Euthanasieprogramms im Reichsgau
Tirol-Vorarlberg
Thomas Walli
Kerngebiet: Wirtschafts- und Sozialgeschichte
eingereicht bei: ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum
eingereicht im Semester: SS 2014
Rubrik: BA-Arbeit
Abstract
The National Socialist „Aktion T4“ in the „Reichsgau Tirol-Vorarlberg“
The following bachelor thesis is about the „Aktion T4” in Nazi-Germany and its
execution in the „Reichsgau Tirol-Vorarlberg”. Starting with an overview of the
most important ideological influences of the Nazis, like the social Darwinism
or the theories about eugenics of the late 19th century, it focuses on the statewide „Aktion T4”. From 1939 on, the National Socialist regime aimed at killing
all persons with a mental or physical handicap. One of the main hospitals
in western Austria was the „Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol”. This paper
examines the role of Hall within the „Aktion T4”.
Einleitung: Die Erbgesundheit als politisches Prinzip
Spätestens seit dem Fund eines Gräberfeldes nahe der Heil- und Pflegeanstalt (kurz:
HPA) Hall in Tirol rückte die historische Rolle der Psychiatrie im Kontext der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik – und damit das grausame Euthanasieprogramm als solches – in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Insgesamt wurden 221 Skelette
gefunden.1 Ob die Verstorbenen der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ zum Op1
derStandard.at, Ausgrabungen in Hall in Tirol beendet, 14.11.2011, [http://derstandard.at/1319182805511/Psych
iatrie-Friedhof-Ausgrabungen-in-Hall-in-Tirol-beendet], eingesehen 6.5.2014.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.462: 0000-000x-xxxx-xxxx
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„Wir kommen unter die Metzger“
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fer fielen, ist noch nicht vollends geklärt und gilt es weiter zu untersuchen. Für die Nationalsozialisten war die Pflegeanstalt in Hall ein wichtiger Ort für die Umsetzung ihrer
Euthanasiepolitik im Reichsgau Tirol-Vorarlberg. Sie diente während der ersten Jahre
der „Aktion T4“2 – wie der systematische Massenmord an Menschen mit Behinderung
im Nachhinein genannt wurde – in erster Linie als Sammelanstalt. Von hier aus wurden
zahlreiche psychisch Kranke oder geistig behinderte Menschen in die Landesanstalt
Hartheim oder in die Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart bei Linz abtransportiert, wo
sie ermordet wurden. Systematische Tötungen vor Ort in Hall in Tirol im Rahmen der
sogenannten „wilden Euthanasie“ sind bislang nicht belegt. Die Erforschung der Jahre
1942 bis 1945 dauert noch an und dürfte mehr Licht ins Dunkel bringen.
Fest im sozialdarwinistischen und eugenischen Denken verwurzelt galten für die Nationalsozialisten Menschen mit körperlicher oder psychischer Behinderung im gesamten deutschsprachigen Gebiet als „minderwertig“.3 Zwangssterilisationen sollten dafür
sorgen, dass sich „schwaches“ oder „krankes Erbgut“ nicht weiter in der Gesellschaft
verbreitete. Die „Rassenhygiene“ war zentraler Bestandteil der Politik der Nazis. Aber
auch von außerhalb der Partei kamen bereits vor 1933 Forderungen, im Namen der
Eugenik Sterilisationen und „Tötungen lebensunwerten Lebens“ durchzuführen. Dementsprechend waren Befürworter derartiger Maßnahmen vom neuen Reichskanzler
Adolf Hitler und seiner Politik angetan: „Der Führer des Deutschen Reiches ist der erste
Staatsmann, der die Erkenntnisse der Erbbiologie und „Rassenhygiene“ zu einem bedeutenden Prinzip der Staatsführung gemacht hat,“4 meinte einer der damals führenden Rassenhygieniker, Otmar Freiherr von Verschuer, 1935. 1939 schließlich gab der
„Führer“ höchstpersönlich den für zigtausende Menschen verheerenden Befehl, die
InsassInnen von Heil- und Pflegeanstalten zu erfassen und zu ermorden.
Das Programm zur Vernichtung von geistig kranken und körperlich behinderten Menschen war damit der erste systematische Massenmord der Nationalsozialisten.5 Das
unter dem nichtssagenden Namen „Aktion T4“ bekannt gewordene Euthanasieprogramm fand Anwendung im gesamten Deutschen Reich, so auch im Reichsgau TirolVorarlberg. Diese Arbeit widmet sich der Frage, wie die Planung, Vorbereitung und
Umsetzung der NS-Euthanasie in besagtem Gau – und speziell in der Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol – vonstattenging. Insgesamt werden die ideellen und theoretischen
Grundlagen, an die sich die Nationalsozialisten anlehnten, die verschiedenen Phasen,
die beteiligten Personen und die relevanten Orte der „Aktion T4“ im Deutschen Reich
und schließlich im Gau Tirol-Vorarlberg herausgearbeitet und systematisiert.
2
3
4
5
Die Bezeichnung „Aktion T4“ findet sich in dieser Form in den zeitgenössischen Dokumenten nicht; sie hat sich
erst nach 1945 etabliert. In den Quellen wird entweder von der „Aktion“ oder „Eu bzw. E-Aktion“ gesprochen; Brigitte Kepplinger, Tötungsanstalt Hartheim 1940-1945, in: Brigitte Kepplinger/Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese
(Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3), Linz 20133, S. 63–116, hier
S. 67. In dieser Arbeit werden die Bezeichnungen „Aktion T4“, „Aktion“ und „T4“ daher synonym verwendet.
Wolfgang Neugebauer, Die „Aktion T4“, in: Kepplinger et al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, S. 19.
Otmar Freiherr von Verschuer in der Zeitschrift Der Erbarzt, Nr. 7/1935, zit. n. Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten
Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (Die Zeit des Nationalsozialismus 18674), Frankfurt am Main
2010, S. 63.
Neugebauer, „Aktion“, S. 17.
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Thomas Walli
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Insgesamt soll damit ein Bogen gespannt werden. Dieser beginnt mit dem dem nationalsozialistischen Regime übergestülpten ideologischen Überbau. Dessen Wurzeln
und Ursprünge, wie der Sozialdarwinismus und die „Rassenhygienetheorien“ des späten 19. Jahrhunderts, die Etablierung eben dieser Konzepte innerhalb der Wissenschaft
während der Zeit der Weimarer Republik und deren Zusammenführung in der nationalsozialistischen Ideologie, werden dabei in den Blick genommen. Anschließend folgt
die Darstellung der Politik der Nazis im Sinne dieser Ideologie und zum Zweck der
Schaffung eines „reinen Menschengeschlechts“. Schließlich endet der dramaturgische
Bogen bei der Darlegung der unmittelbaren Anwendung dieser politischen Maßnahmen in einem abgegrenzten Gebiet – nämlich dem Reichsgau Tirol-Vorarlberg. Damit
sollen das Leid und der Wahnsinn greifbar gemacht werden, die ihren Ausgang in jenen wissenschaftlichen Konzepten fanden, die im Terrorregime des Dritten Reiches zu
unumstößlichen Ideologien erklärt wurden.
Durch die Arbeit leitet folgende These: Auch der Reichsgau Tirol-Vorarlberg war an der
Umsetzung der „rassenhygienischen“ NS-Politik beteiligt. Insbesondere die HPA Hall in
Tirol erfüllte dabei eine wichtige Funktion: Die Menschen wurden hier erfasst, gesammelt und selektiert, ehe sie in die Tötungsanstalt Hartheim abtransportiert wurden.
Personell ist Dr. Hans Czermak, Leiter der staatlichen Gesundheitsverwaltung im Gau,
neben Gauleiter Franz Hofer an erster Stelle zu nennen. Im Rahmen der HPA Hall war
Primar Dr. Ernst Klebelsberg eine der zentralen Akteure: Er konnte aktiv an den Selektionen mitwirken und machte sich damit mitschuldig am Tod der abtransportierten
AnstaltsinsassInnen.
Zunächst wird die Idee der „Rassenhygiene“ und der Euthanasie mit der Rassenideologie der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht und dargestellt. Im dritten Kapitel
wird die „Aktion“ skizziert: ihr Ursprung, von der Implementierung der ersten Gesetze
zur Zwangssterilisation bis zu Hitlers Befehl zur Tötung von Menschen mit Behinderung, ihre Umsetzung und die relevanten Personen, Orte und Methoden. Dies soll die
Vorarbeit darstellen zu der Beantwortung der Frage nach der Umsetzung der Euthanasiepolitik in Tirol und Vorarlberg, die Inhalt von Kapitel vier ist. Hier werden wiederum
die Vorbereitung, die Durchführung anhand der Darstellung der einzelnen Transporte
in die Anstalten Hartheim und Niedernhart und der Reaktionen – soweit bekannt – von
Opfern und Verwandten und der Widerstand dagegen thematisiert. Zum Schluss wird
die Frage gestellt, was sich nach dem Ende der offiziellen „T4“ im Gau Tirol-Vorarlberg
und vor allem in der HPA Hall in Tirol abspielte.
Die für diese Arbeit relevante Literatur ist eine Kombination aus älteren Werken der
1980er-Jahre, wie etwa Hans-Walter Schmuhls „Rassenhygiene, Nationalsozialismus;
Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘‚ 1890–1945“
von 1987, sowie aktuellen Werken (siehe weiter unten). Schmuhls Werk stellt trotz seines Alters ein Standardwerk für die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema dar.
Florian Leimgrubers erstaunlich umfassende Dissertation „Euthanasie und Sterilisierung im ehemaligen ‚Reichsgau Tirol-Vorarlberg‘ während des II. Weltkrieges 1939–45“
256
„Wir kommen unter die Metzger“
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(1988) wurde insbesondere für das zweite Kapitel herangezogen. Seine Bedeutung
für Kapitel vier hält sich aufgrund der neuen Erkenntnisse der letzten Jahre leider in
Grenzen. Für bestimmte Stellen in Kapitel zwei wurde ebenfalls Peter Emil Beckers „Zur
Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich“ herangezogen. Das Werk sollte
aber mit Vorsicht betrachtet werden, da Becker einst selbst Mitglied der SA und der
NSDAP war. In seiner Entnazifizierungsakte wurde er als „Mitläufer“ deklariert.6
Ein weiteres Standardwerk, das trotz enormer Fülle an Informationen sehr kompakt
wirkt, ist Ernst Klees „‚Euthanasie‘ im Dritten Reich. Die ‚Vernichtung lebensunwerten
Lebens‘“ von 2010. Es handelt sich um eine vollständig überarbeitete Neuausgabe
seines bekannten Buches „‚Euthanasie‘ im NS-Staat“ von 1985. Ein weiteres Grundlagenwerk aus den 1980er-Jahren ist „Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und
Rassenhygiene in Deutschland“ von Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz. Die
Darstellung der NS-(Rassen-) Ideologie darin ist sehr umfassend.
Für Kapitel drei und vier ist neben Klee und Schmuhl vor allem der Sammelband „Tötungsanstalt Hartheim“ (3. Auflage 2013) relevant. Die darin befindlichen Artikel zu
unterschiedlichen Themen in Bezug auf die „Aktion T4“ vor allem in Österreich sind
übersichtlich, sehr gut recherchiert und auf aktuellsten Stand. Besonders Oliver Seiferts Beiträge über die HPA Hall in Tirol, Brigitte Kepplingers Beiträge zu der Anstalt
Hartheim und dem Ablauf von „T4“ in Österreich sowie Wolfgang Neugebauers Beitrag
zur „Aktion“ waren für das Zustandekommen dieser Arbeit von unschätzbarem Wert.
Nicht weniger bedeutend war der Sammelband der „Kommission zur Untersuchung
der Vorgänge um den Anstaltsfriedhof des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall in
Tirol in den Jahren 1942 bis 1945“. Die darin befindlichen Artikel wiederum von Seifert,
Kepplinger und Neugebauer sowie von Elisabeth Dietrich-Daum, Dirk Dunkel, George
McGlynn/Nadine Carlichi-Wijes und Friedrich Stepanek enthalten die aktuellsten Informationen rund um das Thema und sind für diese Arbeit unverzichtbar. Schließlich sei
noch Horst Schreibers Werke genannt, der mit „Nationalsozialismus und Faschismus in
Tirol und Südtirol. Opfer, Täter, Gegner“ ein Standardwerk für diese Epoche im Tiroler
Raum schuf und dessen Artikel über Dr. Hans Czermak einen guten Einblick in die Psyche und persönliche Geschichte eines NS-Täters gibt.
„Was nicht gute Rasse ist auf dieser Welt, ist Spreu“:7 Die nationalsozialistische
Ideologie der „Rassenhygiene“ und deren Ursprung
Sozialdarwinismus
Charles Darwin veröffentlichte sein Hauptwerk „The Origin of Species by Means of
Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life” im
November 1859 in London. Es sollte den Grundstein legen für eine neue Auffassung
6
7
Entnazifizierungsakte Dr. Peter Emil Becker, 9.3.1948, Staatsarchiv Sigmaringen (Landesarchiv Baden-Württemberg), Bestand Wü 13 T 2: Staatskommissariat für die politische Säuberung, [https://www2.landesarchiv-bw.de/
ofs21/olf/struktur.php?bestand=593&sprungId=3232265&letztesLimit=suchen], eingesehen 7.9.2014.
Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1939489, S. 324.
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Thomas Walli
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über das Leben, die Entwicklung des Lebens auf der Erde und in weiterer Folge die
Gesellschaft als einen sich evolutionär entwickelnder Organismus. Darwin ließ den
Menschen zunächst außen vor, doch dauerte es nicht lange, bis seine Theorie auch in
sozialphilosophischen und -politischen Diskursen Eingang fand. Die „Sonderstellung“
des Menschen stellte er selbst zwölf Jahre später allerdings in Frage, als er die Entwicklung des Menschen als Bestandteil des gesamten Evolutionsprozesses ansah.8
Spätestens in den 1880er-Jahren galt der Darwinismus als gefestigt und allgemein
anerkannt. Zur gleichen Zeit gab es auch die ersten tiefer gehenden Überlegungen
zum Sozialdarwinismus, i. e. die wissenschaftlich nicht haltbare Anwendung der Theorien und Konzepte Darwins auf die Gesellschaft(en),9 mit anderen Worten „die Übertragung der Gültigkeit von Darwins Prinzipien auf den sozialen Bereich“.10 Zentral für
Darwin und später den Sozialdarwinismus sind Formeln wie der „Kampf ums Dasein“,
die „natürliche Auslese“ und das „Überleben des Stärksten“, wobei letztere auf eine (unglücklich) gewählte Übersetzung des Ausspruches „survival of the fittest“11 von Darwin
zurückgeht.12
Eugenik
Einer der ersten, der aus den Lehren der Evolutionstheorie sozialpolitische Maßnahmen ableitete, war Darwins Vetter, der Arzt und Anthropologe Francis Galton. Dieser
gilt als Begründer des Begriffs „Eugenik“,13 den er 1883 das erste Mal verwendete. Dabei
theoretisierte er sowohl die positive Eugenik, also die Vermehrung der Erbanlagen von
„Tüchtigen“, als auch die negative Eugenik, die Verminderung von Erbanlagen, die als
negativ betrachtet wurden.14 Einige der von ihm geforderten Maßnahmen wurden in
den folgenden Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten von Amerika umgesetzt: Zum
Beispiel verschiedene Sterilisierungsgesetze, die seit 1907 in mehreren Bundesstaaten
(darunter beispielsweise Kalifornien) eingeführt wurden.15 In Deutschland waren Otto
Ammon und Ernst Haeckel Wegbereiter des Sozialdarwinismus eugenischer Ausprägung. So äußerte sich beispielsweise der Rassenanthropologe Ammon in Bezug auf
„mißratene [sic!] Individuen“, sprich Menschen mit Behinderung, dahingehend, dass
die „Verhinderung ihrer Fortpflanzung“16 von wichtigem Gesellschaftsinteresse sei. Er
8
9
10
11
12
13
14
15
16
Florian Leimgruber, Euthanasie und Sterilisierung im ehemaligen „Reichsgau Tirol-Vorarlberg“ während des II.
Weltkrieges 1939–45, Diss. Innsbruck (1988), S. 57 f.
Horst Schreiber, Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol. Opfer, Täter, Gegner (Tiroler Studien zu
Geschichte und Politik 8), Innsbruck 2008, S. 209.
Peter Emil Becker, Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart, New York 1988, S. 8.
Heute spricht man deshalb eher vom Überleben des am besten Angepassten.
Klee, Euthanasie, S. 19.
Der Begriff stammt vom griechischen eugenḗs und meint so viel wie „wohlgeboren“, „von edler Abkunft“; ,Eugenik‘,
in: Duden, online [http://www.duden.de/node/685055/revisions/1262418/view], eingesehen 8.9.2014.
Klee, Euthanasie, S. 19.
Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75), Göttingen 1987, S. 30.
Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen. Entwurf einer Sozial-Anthropologie
zum Gebrauch für alle Gebildeten, die sich mit sozialen Fragen befassen, Jena 18962, S. 249.
258
„Wir kommen unter die Metzger“
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lehnte eine „künstliche Zuchtwahl“ ab, mit der Begründung, dass der Mensch nicht die
Aufgabe der Natur übernehmen dürfe.17
Ernst Haeckel, seines Zeichens Zoologe, verlangte bereits 1863 in seiner Jungfernrede
vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin, die evolutionsbiologischen Theorien Darwins auf die Menschen zu übertragen, zu einer Zeit, als die
Evolutionstheorie noch keineswegs als gesichert galt.18 Im Sinne der Eugenik machte Haeckel unter anderem auf die „contraselektorischen“ Effekte in der Medizin aufmerksam. Durch medizinische Eingriffe würden, so Haeckel, Erbkrankheiten innerhalb
der Gesellschaft zunehmen. Gleichzeitig stellte er diese Effekte auch in der Tradition
der spartanischen Kindestötungen19 dar, die er als einen „Ausdruck bewußter [sic!]
Erbpflege“20 deutete und wofür er nur positive Worte fand: „Gewiß [sic!] verdankt das
Volk von Sparta dieser künstlichen Auslese oder Züchtung zum großen Theil [sic!] den
seltenen Grad von männlicher Kraft und rauher [sic!] Heldentugend, durch die es in
der alten Geschichte hervorragt.“21 Dass Haeckel über dies hinaus nicht explizit Kindestötungen forderte, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Denn es lag schlichtweg an
Haeckels Interesse an der natürlichen Auslese und damit seiner Abneigung gegenüber
politischen Maßnahmen, die ihn von Forderungen nach Euthanasie absehen ließen.
Er glaubte an ein Ziel, auf das sich die Natur als Ganzes hinbewege, und dass es nicht
nötig sei, sich in diesen Prozess einzumischen. Erst mit dem Ende dieser teleologischen
Sichtweise und dem Aufkommen eines größeren Kulturpessimismus sowie einer umfassenderen Zivilisationskritik gewann der Euthanasiegedanke22 mehr Bedeutung innerhalb der Eugenik.23
„Rassenhygiene“
So etablierte sich in Deutschland – neben den vorrangig britischen Eugenikern jener
Zeit – gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Gruppe von besonders eifrigen Sozialdarwinisten. Es handelte sich um deutsche Ärzte, Biologen und Anthropologen, die als
Vertreter der „Rassenhygiene“ auftraten und diese salonfähig machten. Zu den bedeutendsten unter ihnen zählen Alfred Ploetz, von dem der Begriff der „Rassenhygiene“
stammt, Wilhelm Schallmayer, Fritz Lenz, Christian Freiherr von Ehrenfels sowie die in
ihren Ansichten radikalsten Schriftsteller Ernst Mann und Alexander Tille. Dabei waren
17
18
19
20
21
22
23
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 32.
Ebd., S. 31.
In der Forschung ist man sich weitestgehend einig, dass die spartanischen Kindestötungen, die auf Schilderungen Plutarchs zurückgehen (beschrieben in Plutarch, Vita Lycurgii XVI.), nichts als eine Legende darstellen; Klee,
Euthanasie, S. 606.
Zit. n. Schmuhl, Rassenhygiene, S. 32.
Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben, auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der
Naturwissenschaft, Berlin 18702, [http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=hvd.32044066291840;view=1up;seq=11],
eingesehen 7.10.2014, S. 152.
Der Begriff „Euthanasie“ entstammt dem griechischen euthanasía, das so viel wie „leichter Tod“ bedeutet; ,Euthanasie‘, in: Duden, online [http://www.duden.de/node/685056/revisions/1193702/view], eingesehen 9.9.2014.;
vertiefend zum Begriff und dessen vielseitigen Bedeutungen: Schmuhl, Rassenhygiene, S. 25–28.
Ebd., S. 33.
historia.scribere 08 (2016)
Thomas Walli
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die Rassenhygieniker ohnehin in ihren Ansichten extremer als ihre angelsächsischen
Kollegen. So fanden beispielsweise die Mittel der negativen Euthanasie Eingang in ihre
Theorien. Überhaupt wurde das Euthanasieprinzip integraler Bestandteil ihrer Werke.24
Im Folgenden werden die Gedanken und rassischen Konzepte von einigen wenigen
Exponenten der deutschen „Rassenhygiene“ dargestellt.
Wilhelm Schallmayer
Der Arzt Wilhelm Schallmayer verfasste um die Jahrhundertwende mehrere Werke
über eugenische Themen. Als sein Hauptwerk gilt „Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, eine staatswissenschaftliche Studie aufgrund der neueren Biologie“,
das als dritter Teil der Preisschriftensammlung „Natur und Staat“, herausgegeben von
Heinrich Ernst Ziegler (deutscher Zoologe), Johannes Conrad (Nationalökonom) und
Ernst Haeckel, 1903 in Jena publiziert wurde. Es erschien in immer neueren Auflagen
und avancierte zum Standardwerk der Eugenik in Deutschland. In diesem und in anderen Schriften erörtert Schallmayer, dass sich die erblichen Eigenschaften – insbesondere die Leistungsfähigkeit – von Gesellschaften immer wieder in einem zeitlich
langen Prozess veränderten. Seine Grundidee ist dabei so simpel wie folgenschwer:
Eine Gesellschaft setzt sich aus verschiedenen Personen zusammen, mit jeweils verschiedenen Erbanlagen; somit sind die einzelnen Personen einer Gesellschaft in puncto „Rassetüchtigkeit“ ungleich. Gleichzeitig „vermehren“ sich nicht alle Personen genau
gleich, was bedeutet, dass sich manche Erbanlagen mehr verbreiten als andere.25 Als
Folge resultiert für den Staat die Notwendigkeit einer „zweckmäßigen Beeinflussung
des sozialgenerativen oder Rasseprozesses sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht“26. Das heißt mit einfachen Worten, der Staat solle für eine Vermehrung
der Erbanlagen, die zu einem Ansteigen der „Rassetüchtigkeit“ führen, sorgen. Dabei
schweben Schallmayer weniger Gesetze im Bereich der Ehe und Fortpflanzung vor,
als vielmehr „Beeinflussungen der öffentlichen Meinung im Sinne des Rassedienstes“,27
Reformen im Bereich der Kinderförderung, Sexualordnung, des Erbrechts, des Steuerwesens, des Sanitätswesens etc. Als besonders wichtig sah er die Einführung von
sogenannten „obligatorischen Personalbögen“ an.28 Diese sollten eventuelle Krankheiten, genetische Anomalien und in einem weiteren Schritt einen kurzen Stammbaum
enthalten. So hätte der Staat Eheverbote unter Bezugnahme auf die „Rassetüchtigkeit“
verordnen können. Die Einführung derartiger Bögen erlebte Schallmayer nicht mehr,
aber in dieser Tradition standen mehrere Maßnahmen der Nationalsozialisten, wie beispielsweise die „Nürnberger Gesetze“.29
24
25
26
27
28
29
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 30.
Leimgruber, Euthanasie, S. 79.
Zit. n. ebd., S. 80.
Zit. n. ebd.
Becker, Rassenhygiene, S. 42.
Ebd., S. 44 f.
260
„Wir kommen unter die Metzger“
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Nach Schallmayers Tod 1919 gerieten er und sein Werk zunehmend in Vergessenheit.
Seine Wirkung auf und Bedeutung für die nachkommenden Rassenhygieniker darf jedoch nicht unterschätzt werden.30
Alfred Ploetz
Der Begriff „Rassenhygiene“ ist mit seinem Schöpfer, Alfred Ploetz, untrennbar verbunden. Dieser veröffentlichte 1895 sein Hauptwerk „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der
Schutz der Schwachen. Grundlinien einer Rassen-Hygiene“. Dabei verwendete Ploetz
die Bezeichnungen Eugenik und „Rassenhygiene“ noch als Synonyme.31 Ploetz hatte
sein Leben ganz der „Rassenhygiene“ verschrieben; er sah darin sein Lebenswerk, eine
Art der „religiösen Offenbarung“.32 Bereits in Studentenjahren gründete er zusammen
mit einigen Freunden (darunter auch Autor Gerhart Hauptmann) den Verein „Pacific“,
der sich das Ziel setzte, „eine Art Kolonie […] auf freundschaftlicher, sozialistischer und
wohl auch pangermanischer Grundlage“33 in einem Pazifikstaat zu errichten. Um Ideen
für einen derartigen Staat zu sammeln, entschied sich Ploetz einige Zeit in der Kolonie
Ikarien in den Vereinigten Staaten zu verbringen. Hier hatte der französische Sozialist
Étienne Cabet eine nach sozialistischen Prinzipien geleitete Dorfgemeinschaft errichtet. Nach sechs Monaten kehrte Ploetz enttäuscht zurück. Durch die Erfahrung des
Misserfolges von Cabets Experiment kam er zur fatalen Erkenntnis, „daß [sic!] mit dem
heutigen durchschnittlichen Menschenmaterial der Zusammenhalt solcher Kolonien
[…] nicht aufrechtzuerhalten wäre“.34
Ploetz‘ Forderungen waren denkbar hart: Nur Paare mit ausgesprochen guten Erbanlagen durften Kinder in die Welt setzen. Dem Staat komme die Aufgabe zu, die Fortpflanzung dahingehend zu reglementieren.35 Dabei schwebten Ploetz nicht nur Mittel
der positiven Eugenik vor; die „Ausjätung“, das heißt die (Kinder-) Euthanasie, war ein
legitimes Instrument des Staates. Gleichzeitig sollte einer „Kontraselektion“ vorgebeugt
werden, bei der (beispielsweise durch Kriege) gerade diejenigen vernichtet würden,
deren Erbmasse als qualitativ gut gelte, und jene (teuer) am Leben blieben, die ein
in Ploetz‘ Augen „schlechtes“ und „schwaches“ Erbgut besaßen.36 Hilfe für Arme und
Schwache sind für ihn nichts als Gefühlsduselei:
„Solche [die Armenfürsorge, T. W.] und andere ‚humane Gefühlsduseleien‘ wie
Pflege der Kranken, der Blinden, der Taubstummen, überhaupt aller Schwachen, hindern oder verzögern nur die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl.
[…] Der Kampf ums Dasein muss in seiner vollen Schärfe erhalten bleiben.“37
30
31
32
33
34
35
36
37
Leimgruber, Euthanasie, S. 78.
Becker, Rassenhygiene, S. 58; Klee, Euthanasie, S. 19.
Becker, Rassenhygiene, S. 58.
Ebd., S. 59.
Alfred Ploetz, Lebenserinnerungen (im Ploetz-Archiv), zit. n. ebd., S. 60.
Klee, Euthanasie, S. 19.
Leimgruber, Euthanasie, S. 84.
Alfred Ploetz, Grundlinien einer Rassenhygiene, Nachdruck von Weß, S. 98, zit. n. Klee, Euthanasie, S. 20.
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Thomas Walli
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Alfred Ploetz, immer nur das Ziel der vollkommen erbgesunden Rasse vor Augen, gründete 1904 ein Periodikum mit dem etwas sperrigen Namen „Archiv für Rassen- und
Gesellschafts-Biologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene. Zeitschrift für
die Erforschung des Wesens von Rasse und Gesellschaft und ihres gegenseitigen Verhältnisses, für die biologischen Bedingungen ihrer Erhaltung und Entwicklung, sowie
für die grundlegenden Probleme der Entwicklungslehre“. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass ab Januar 1905 der Psychiater und Schwager von Ploetz, Ernst Rüdin,
die Texte für die Veröffentlichung im Heft redigierte. Klee schreibt dabei zu Recht von
einer „Ehe mit Symbolcharakter: ‚Rassenhygiene‘ und Psychiatrie verschwägern sich“38.
Später ließen sich Pauline Rüdin, Ernst Rüdins Schwester, und Alfred Ploetz wegen Kinderlosigkeit einvernehmlich scheiden.39
Neben dieser Zeitschrift machte Ploetz zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem mit
der Gründung der „Gesellschaft für Rassenhygiene“ (ab 1914 „Deutsche Gesellschaft für
Rassenhygiene“, DGR) auf sich aufmerksam. Mitbegründer und spätere Mitglieder sind
unter anderem der Botaniker Erwin Baur, der Rassenforscher Eugen Fischer, der Erbbiologe Fritz Lenz, der sozialdemokratische Hygieniker Alfred Grotjahn, der zusammen mit
dem ersten Vorsitzenden Max von Gruber maßgeblich für die rasche Anerkennung der
Bewegung in Deutschland verantwortlich war, sowie der Schriftsteller Gerhart Hauptmann. Andere Vereinigungen mit ähnlich klingenden Namen folgten: so zum Beispiel
die „Gesellschaft für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik“, die im gleichen
Jahr (1905) gegründet wurde, oder in Österreich die „Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene)“ (WGR)40 von 1925.41
Gedanken über das „lebensunwerte Leben“ und der „Baur-Fischer-Lenz“
Zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges und des „Schandfriedens von Versailles“
gaben der hochrangige Jurist Karl Binding und der Direktor der Freiburger Universitätsklinik Alfred Erich Hoche ein zweibändiges, 62 Seiten umfassendes Büchlein mit dem
Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“
heraus. Die Schrift gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil, von Binding verfasst, findet
sich eine Gegenüberstellung von im Krieg oder in Bergwerken getöteten gesunden
jungen Männer mit den InsassInnen von Heil- und Pflegeanstalten. Getötet werden
dürften laut dem Autor alle „unheilbar Blödsinnigen“: „Ihr Leben ist absolut zwecklos
[…]. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke – außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder
38
39
40
41
Alfred Ploetz, Grundlinien einer Rassenhygiene, Nachdruck von Weß, S. 98, zit. n. Klee, Euthanasie, S. 20.
Ebd., S. 606.
In Österreich waren es vor allem deutschnational bzw. völkisch geprägte Vereinigungen, die zwischen 1923 und
1926 gegründet wurden. Neben der genannten WGR waren die beiden bedeutendsten die Oberösterreichische
Gesellschaft für Rassenhygiene in Linz sowie die Grazer Gesellschaft für Rassenhygiene. Alle nahmen die DGR als
Vorbild; Thomas Mayer, Familie, Rasse und Genetik. Deutschnationale Eugeniken im Österreich der Zwischenkriegszeit, in: Gerhard Baader/Veronika Hofer/Thomas Mayer (Hrsg.), Eugenik in Österreich. Biopolitische Strukturen von 1900–1945, Wien 2007, S. 162–183, hier S. 165.
Leimgruber, Euthanasie, S. 88, 92.
262
„Wir kommen unter die Metzger“
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der treuen Pflegerin.“42 Dabei liege es an einer Kommission, bestehend aus zwei Ärzten
und einem Juristen, eine Euthanasie zu beschließen.43
Auch bei Alfred Erich Hoche war es die traumatische Erfahrung des Ersten Weltkrieges,
in dem Millionen von jungen, „erbgesunden“ Menschen gestorben waren, die ihn zu
einem Befürworter der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ machte. Hoche unterschied zwei Gruppen von „Blödsinnigen“: Die erste Gruppe umfasste jene PatientInnen, deren geistige Krankheit sich erst im Laufe des Lebens einstellte, so zum Beispiel
ältere Menschen oder Menschen mit Schizophrenie. War der „geistige Tod“ – wie es
Hoche gern nannte – von Geburt an gegeben, gehörten diese Menschen in die zweite
Gruppe. Je nach Gruppe müssten dann andere Maßstäbe angewendet werden. Hoche
etablierte in seinem Werk mehrere Begriffe, die unter anderem die Nationalsozialisten
in ihr Programm dankbar aufnahmen. Er sprach von „Ballastexistenzen“, „Menschenhülsen“, „geistig Toten“ und „Defektmenschen“. Angesichts derartiger Begriffe ist klar, dass
Hoche nicht viel Mitleid für Menschen mit Behinderung hatte, ihnen sogar jegliches
Mitleid absprach: „Mitleid ist den geistig Toten gegenüber im Leben und im Sterbensfall die an letzter Stelle angebrachte Gefühlsregung; wo kein Leiden ist, ist auch kein
mit-Leiden [sic!].“44 Die Kindereuthanasie und die eugenischen Entwicklungen im Dritten Reich hatte er nach eigenen Angaben später allerdings keineswegs gutgeheißen.45
1921 erschien ein zweibändiges Werk, das kurze Zeit später zum Standardwerk der
„Rassenhygiene“ in Deutschland avancierte: der „Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“. Seine drei Autoren und der Verleger waren allesamt
Mitglieder der DGR: Erwin Baur, Arzt, Botaniker und Professor für Vererbungswissenschaft in Berlin, Eugen Fischer, Rassenforscher und Professor für Anatomie in Freiburg,
und Fritz Lenz, der mit seiner Habilitationsschrift „Erfahrungen über Erblichkeit und
Entartung an Schmetterlingen“ auf sich aufmerksam gemacht hatte. Der Verleger des
Werkes, das nach seinen Autoren allgemein der „Baur-Fischer-Lenz“ genannt wird, war
Julius Friedrich Lehmann, NSDAP-Mitglied seit 1920 und ab 1922 zudem Verleger vom
„Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie“.46
Jeder der Autoren schreibt über eines seiner Spezialgebiete: Fischer berichtet unter
anderem über „Die Rassenunterschiede des Menschen“. Baur kommt in seinem Artikel
(„Abriß der allgemeinen Variations- und Erblichkeitslehre“) zum Schluss, dass die „Verhinderung der natürlichen Auslese“ dazu führt, dass „die ständig entstehenden minderwertigen Mutanten nicht ausgemerzt werden“;47 Lenz plädiert für die Tötung „von
42
43
44
45
46
47
Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig
1920, S. 31 f., zit. n. Klee, Euthanasie, S. 23.
Ebd., S. 22 f.
Binding/Hoche, Freigabe, S. 59, zit. n. ebd., S. 26.
Ebd.
Ebd., S. 27.
Erwin Baur, Abriß der allgemeinen Variations- und Erblehre, in: Erwin Baur/Eugen Fischer/Fritz Lenz (Hrsg.),
Menschliche Erblehre und Rassenhygiene (Eugenik). Band I: Menschliche Erblehre, München 19364, S. 1–94, hier
S. 89.
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Geisteskranken, schweren Psychopathen, Säufern, Schwindsüchtigen, Tauben, Blinden,
Zuckerkranken usw“.48
Lenz, ab 1923 Lehrstuhlinhaber für „Menschliche Erblehre“ in München, hatte für Adolf
Hitler stets lobende Worte übrig: „Jedenfalls hat er [Hitler, T. W.] die wesentlichen Gedanken der Rassenhygiene und ihre Bedeutung mit großer geistiger Empfänglichkeit
und Energie sich zu eigen gemacht.“49 Die Tatsache, dass der spätere Führer höchstpersönlich den „Baur-Fischer-Lenz“ gelesen hatte, erfüllte die Autoren und besonders Fritz
Lenz mit Stolz.50
Der „Baur-Fischer-Lenz“, der in den 1920er-Jahren in mehrfachen Auflagen erschien,
löste Schallmayers „Vererbung und Auslese“ ab, das bis dahin das Standardwerk der Eugenik in Deutschland war. Ein Vergleich der beiden Werke zeigt eine eindeutige Radikalisierung in den Schlussfolgerungen im „Baur-Fischer-Lenz“. Hatte Schallmayer noch
Eheverbote für Erbkranke in den Mittelpunkt gestellt, gingen Baur, Fischer und vor allem Lenz so weit, die Sterilisierung explizit zu fordern.51 Hochrechnungen von Grotjahn
zufolge müssten laut Lenzschen Kriterien etwa zwanzig Millionen Deutsche – ein Drittel der gesamten deutschen Bevölkerung – zwangssterilisiert werden. Entsprechend
groß war seine Genugtuung, dass Hitler „die Sterilisierung nicht nur für extreme Fälle
fordert, was für die Gesundung der Rasse ziemlich bedeutungslos sein würde, sondern
sie auf den gesamten minderwertigen Teil der Bevölkerung erstreckt wissen will“.52
Nationalsozialistische Rassenideologie53
Die NSDAP nahm zahlreiche Elemente der vorangegangenen rassenhygienischen Debatte in ihre Ideologie auf. Der völkische Staat hatte laut Hitler
„die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zu setzen. Er hat für ihre
Reinerhaltung zu sorgen. […] Er muß [sic!] dafür Sorge tragen, daß [sic!] nur
wer gesund ist, Kinder zeugt; daß es nur eine Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die Welt zu setzen, doch eine
höchste Ehre: darauf zu verzichten.“54
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49
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51
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53
54
Fritz Lenz, Menschliche Auslese und Rassenhygiene, in: Erwin Baur/Eugen Fischer/Fritz Lenz (Hrsg.), Menschliche
Erblehre und Rassenhygiene (Eugenik). Band II: Menschliche Auslese und Rassenhygiene, München 19232, S. 186,
zit. n. Klee, Euthanasie, S. 28.
Fritz Lenz, Die Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene, in: Archiv für Rassen und GesellschaftsBiologie
25 (1931), S. 300–308, hier S. 302, zit. n. ebd.
Ebd.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 46.
Lenz, Stellung, S. 304, zit. n. ebd., S. 48.
Im folgenden Abschnitt wird auf die rassenhygienische und erbbiologische Ideologie der Nationalsozialisten
eingegangen; für die gründlichere Darstellung einer umfassenden Rassenideologie (mit Einbezug unter anderem des Antisemitismus und des Rassismus) siehe Johannes Zischka, Die NS-Rassenideologie. Machttaktisches
Instrument oder handlungsbestimmendes Ideal? (Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 274), Frankfurt am
Main-Bern-New York 1986; Thomas Klepsch, Nationalsozialistische Ideologie. Eine Beschreibung ihrer Struktur vor
1933 (Studien zum Nationalsozialismus 2), Münster 1990.
Hitler, Kampf, S. 446.
264
„Wir kommen unter die Metzger“
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In der NS-Ideologie waren sowohl die Förderung einer „gesunden Erbmasse“ einerseits,
als auch die Abwehr von vermeintlich „schädlichem Erbmaterial“ andererseits wichtige
Grundpfeiler. Dabei war die (vorgeblich) wissenschaftliche Disziplin der „Rassenhygiene“ nie ganz deckungsgleich mit dem Nationalsozialismus. Letzterer verband mehrere
Strömungen des 19. Jahrhunderts: „Sozialdarwinismus, Pangermanismus, Ariomanie,
völkische Ideologie und Rassentheorien“.55 Hitler hatte im Grunde zwei Ziele vor Augen, denen er alle anderen ideologischen Prinzipien unterordnete: Zum einen strebte
er nach außenpolitischer Macht und Weltherrschaft, zum anderen wollte er die Rassendoktrin in allen Lebensbereichen durchsetzen.56 Für Letzteres waren die rassenhygienischen Lehren von Ploetz, Lenz und anderen ebenso wichtig wie die rassistischen und
antisemitischen Vorstellungen von Arthur de Gobineau, Houston St. Chamberlain und
Paul de Lagarde. Diese beschrieben in ihren Werken sehr ausführlich ihre Ansichten zur
Überlegenheit der „germanischen“ bzw. „arischen Rasse“ und der „Minderwertigkeit“
vor allem der „semitischen Rasse“.57
Durch die Übernahme derartiger Überlegungen in die Sozial- und Gesundheitspolitik
wurde von nun an das Individuum verdrängt, und „das Kollektiv des deutschen Volkes, definiert als erbgesunde, rassisch homogene und leistungsfähige Gemeinschaft“,58
in das Blickfeld genommen. Für die Menschen mit Behinderung bedeutete dies,
dass sie zu „Ballastexistenzen“, „unnützen Essern“59, „Defektmenschen“ oder „leeren
Menschenhülsen“60 degradiert wurden. Mit einem derartigen Vokabular zielte das NSRegime darauf ab, die Kosten der Patienten im Vergleich zu deren Nutzen für die „Volksgemeinschaft“ in den Vordergrund zu rücken.61 Dies war Teil einer Propaganda, die die
Bevölkerung von der Notwendigkeit der Sterilisierung (die Ermordungen verliefen ohnehin unter Geheimhaltung) überzeugen sollte.62
Euthanasie im Dritten Reich
Vorläufer und Parallelaktionen der T4
Gleichschaltung des Gesundheitswesens
Schon kurz nach der Machtergreifung sicherten sich die Nationalsozialisten die Loyalität der Ärzteschaft, indem sie berufsständische Forderungen erfüllten. Auch Ärz55
56
57
58
59
60
61
62
Peter Weingart et al., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt
am Main 1988, S. 370.
Ebd., S. 371.
Dazu vertiefend Klepsch, Ideologie, S. 87–98.
Brigitte Kepplinger, Zum Gesundheitssystem im Reichsgau Tirol-Vorarlberg. Eine Skizze, in: Bertrand Perz/Thomas
Albrich/Elisabeth Dietrich-Daum et al. (Hrsg.), Schlussbericht der Kommission zur Untersuchung der Vorgänge
um den Anstaltsfriedhof des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall in Tirol in den Jahren 1942 bis 1945 (Veröffentlichungen der Kommission zur Untersuchung der Vorgänge um den Anstaltsfriedhof des Psychiatrischen
Krankenhauses in Hall in Tirol in den Jahren 1942 bis 1945), Innsbruck 2014, S. 83–89, hier S. 83.
Zit. n. Schreiber, Nationalsozialismus, S. 210.
Zit. n. Wolfgang Benz, Geschichte des Dritten Reiches, Bonn 2010, S. 170.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 148.
Vertiefend zu der NS-Propaganda im Rahmen der rassenhygienischen Politik ebd., S. 173–177.
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te, die nicht bereits Mitglieder der NSDAP waren, erwiesen sich – zumindest in der
Anfangszeit – als durchaus loyale Anhänger. Als „tiefgreifendste und weitreichendste
Gleichschaltungsmaßnahme“63 kann die Neuordnung des Kassenarztwesens angesehen werden. Das Krankenversicherungsgesetz von 1883 hatte die Ärzte in eine Abhängigkeit von den Krankenkassen gebracht, die sie in ihrem Selbstverständnis nicht akzeptieren wollten. Mit Wohlwollen nahmen sie zur Kenntnis, dass die Nationalsozialisten daran waren, „den Saustall der roten Ortskrankenkassen aus[zu]misten“,64 wie es der
Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels formulierte. Bis
Ende 1933 gelang es den Nationalsozialisten, die Krankenkassenselbstverwaltungen zu
zerschlagen.65 Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.
April 1933 konnte die Regierung gleichzeitig nicht-jüdische Ärzte entlassen. Sozialistische und Sozialdemokratische Mediziner wurden ebenfalls ihres Amtes enthoben und
verfolgt.66 Die bürokratische Gleichschaltung erfolgte mit dem „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom Juli 1934, das sogenannte „Beratungsstellen für
Erb- und Rassenpflege“ bei den Gesundheitsämtern einrichten ließ.67 Deren Aufgabe
bestand vor allem darin, (mögliche) „Erbkranke“ dem Amtsarzt zu melden; dieser nahm
die Kontrollen vor und legte „Erbarchive“ bzw. „Erbkarteien“ an.68 Die Gleichschaltung
erfolgte auch auf wissenschaftlicher Seite, indem das Nazi-Regime die Verbreitung von
rassenhygienischen Lehren förderte.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass kaum eine andere Berufsgruppe derart hinter den
Nationalsozialisten stand wie jene der Ärzte. Schätzungen beziffern den Anteil der NSDAP-Mitglieder innerhalb der Ärztekammer auf 45 Prozent, während von den Lehrpersonen beispielsweise „lediglich“ 25 Prozent der Partei beitraten.69
Sterilisierungen
Am 14. Juli 1933, nicht einmal ein halbes Jahr nach der Machtergreifung Hitlers, wurde
das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), kurz „Erbgesundheitsgesetz“, verabschiedet. Das Gesetz listet dabei alle Krankheiten und Behinderungen
auf, die als sogenannte „Erbkrankheiten“ galten:
„Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: 1. angeborenem Schwachsinn70, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit,
63
64
65
66
67
68
69
70
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 138.
Zit. n. ebd., S. 140.
Ebd., S. 138–140.
Klee, Euthanasie, S. 36 f.
Elisabeth Dietrich-Daum, Die Psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol 1830 bis 1940, in: Perz et al. (Hrsg.),
Schlussbericht, S. 109.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 145.
Ebd., S. 37.
Explizit wurde hier der Terminus „angeboren“ anstatt „erblich“ verwendet, da die Erblichkeit von „Schwachsinn“,
d. h. (schwerer) geistiger Behinderung, keineswegs als erwiesen galt.
266
„Wir kommen unter die Metzger“
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8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung [sic!]. Ferner kann unfruchtbar
gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.“71
Statistiken zeigen, dass 96 Prozent der sterilisierten Personen aufgrund von „Schwachsinn“ (52,9 Prozent), Schizophrenie (25,4 Prozent), Epilepsie (14 Prozent) oder manischen Depressionen (3,2 Prozent) dem Gesetz zum Opfer fielen. Den Rest stellten Alkoholiker (2,4 Prozent), Taube (1 Prozent), Blinde (0,6 Prozent), Körperbehinderte (0,3
Prozent) und Menschen mit Chorea Huntington (0,2 Prozent) dar.72 Über eine Zwangssterilisierung entschieden mehr als zweihundert sogenannte Erbgesundheitsgerichte,
die im Deutschen Reich eine Art „rassenhygienische Sonderjustiz“73 darstellten, ungeachtet der Tatsache, dass es nach dem wissenschaftlichen Stand der damaligen Zeit in
den allermeisten Fällen gar nicht möglich war, Erbkrankheiten festzustellen.74
Kindereuthanasie
Laut einer Legende stand am Anfang der Kindereuthanasie der sogenannte „Fall
Knauer“ im Jahr 1939. Demnach soll ein Elternpaar der Kanzlei des Führers ein Gesuch gestellt haben, um ihrem körperlich schwerst behinderten und blinden Kind den
„Gnadentod“ gewähren zu dürfen.75 Während einige dieser Geschichte eine große
Bedeutung beimessen,76 handelt es sich für andere beim „Kind Knauer“ um eine von
bestimmten Kreisen der Nationalsozialisten hochgeschaukelte Episode, die die Euthanasie an Kindern mit Behinderung rechtfertigte.77 Alles in Allem dürfte das „Kind Knauer“ nicht der Anlass zur Massentötung von Kindern gewesen sein, doch aber einen
wichtigen Vorwand für die beteiligten Personen gespielt haben.
Die Kindereuthanasie unterlag von Beginn an strenger Geheimhaltung. Als zentrale
Schaltstelle wurde der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und
anlagebedingten schweren Leiden damit beauftragt. Im Hintergrund war aber, zumindest zu Beginn, auch Viktor Brack, Oberdienstleiter des Hauptamtes II der Kanzlei des
Führers (KdF), involviert.78
Im August 1939 wurden mittels eines streng geheimen Erlasses des Reichsministerium
des Innern (RMdI) alle Hebammen, Ärzte und sonstigen Geburtshelfern darauf angewiesen, Kinder, die bei der Geburt bereits Behinderungen aufwiesen, zu melden.79 Die
Operation ging zu Beginn nur schleppend voran. Erst allmählich steigerte sich die Bereitschaft der Ärzte, der Aufforderung nach einer Meldung nachzukommen. Die Mel71
72
73
74
75
76
77
78
79
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, § 1, zit. n. Klee, Euthanasie, S. 39; Schmuhl, Rassenhygiene, S. 156.
Zahlen aus Wolfgang Form, Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und seine Entwicklung nach
1945 in Hessen, in: Gerhard Aumüller (Hrsg.), Kontinuität und Neuanfang in der Hochschulmedizin nach 1945,
Marburg-Schüren 1997, zit. n. Klee, Euthanasie, S. 40 f.; Schmuhl, Rassenhygiene, S. 156.
Klee, Euthanasie, S. 42.
Schreiber, Nationalsozialismus, S. 211.
Klee, Euthanasie, S. 81–83.
So zum Beispiel Schmuhl, vgl. Schmuhl, Rassenhygiene, S. 182.
Diese Ansicht teilt Klee: Klee, Euthanasie, S. 81–83.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 182.
Wolfgang Neugebauer, NS-Euthanasieaktionen in Österreich. Ein Überblick, in: Perz et al. (Hrsg.), Schlussbericht,
S. 37.
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debögen wurden in der KdF von Beamten und später von drei medizinischen Gutachtern durchgesehen, die mittels Plus- und Minuszeichen direkt auf dem Bogen über das
Leben der/s Neugeborenen entschieden.80 Die Tötungen fanden zu einem großen Teil
in den oftmals neu eingerichteten sogenannten „Kinderfachabteilungen“ (insgesamt
dreißig im gesamten Deutschen Reich81) in den Krankenhäusern statt. Viele Kinder wurden in Gaswagen ermordet – besonders in der Frühphase. Der Großteil der in Frage
kommenden Buben und Mädchen wurde mittels Luminal82 und anderer Schlafmittel
getötet. Den Eltern wurde vorgegaukelt, man würde bei den Kindern neue, oftmals
riskante Therapien anwenden. Die „Therapien“ überlebten die Kinder nie.83
Die „Aktion T4“
Beginn und Apparat
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern,
daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.
gez.: Adolf Hitler“84
Mit diesen Worten gab Hitler den Auftrag zu den Euthanasiemorden, der in den folgenden zwei Jahren laut Hartheimer Statistik 70.273 Menschen das Leben kostete.85
Obwohl er den Befehl im Oktober 1939 weiterleitete, datierte Hitler ihn auf den 1. September, dem Tag des Beginns des Krieges.86 Die in dem Erlass genannten Personen waren der Leiter der Kanzlei des Führers Reichsleiter Philipp Bouhler und sein Leibarzt Prof.
Dr. Karl Brandt. Die Aktion stand von Beginn an unter strenger Geheimhaltung. Allen
Beteiligten war klar, dass sie in einer rechtlichen Grauzone agierten, und die „Aktion“ im
strafrechtlichen Sinne als Mord einzustufen war.87
Bouhler, Brandt und Ministerialdirigent Dr. Herbert Linden vom Reichsministerium des
Innern bauten schon Monate vor dem Führererlass eine geheime Organisation auf.
Durch den Einbezug von Linden wollte man sich der Unterstützung des RMdI, ohne
die eine planmäßige Erfassung der PatientInnen nicht möglich gewesen wäre, sicher
sein.88 Das Zentrum der „Aktion“ war das Hauptamt II der Kanzlei des Führers, dessen
Leitung Viktor Brack innehatte. Damit unterstand dieser direkt Bouhler und Brandt.
Dem Hauptamt II untergeordnet war die Zentraldienststelle in Berlin mit Adresse Tier80
81
82
83
84
85
86
87
88
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 184.
Neugebauer, NS-Euthanasieaktionen, S. 37.
Luminal, eigentlich Phenobarbital, ist ein Schlafmittel und wurde bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein gegen Epilepsie und andere Krankheiten verwendet.
Klee, Euthanasie, S. 335–343.
Geheimer Führererlass, datiert auf den 1. September 1939, zit. n. Schmuhl, Rassenhygiene, S. 190.
Andrea Kammerhofer, „Bis zum 1. September 1941 wurden desinfiziert: Personen: 70.273“. Die „Hartheimer Statistik“, in: Kepplinger et al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, S. 117–130, hier S. 124.
Neugebauer, „Aktion T4“, S. 19.
Ebd.
Brigitte Kepplinger, NS-Euthanasie in Österreich. Die „Aktion T4“ – Struktur und Ablauf, in: Kepplinger et al. (Hrsg.),
Tötungsanstalt Hartheim, S. 37.
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„Wir kommen unter die Metzger“
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gartenstraße 4 – oder eben „T4“.89 Der Leiter davon war Dietrich Allers. Die medizinische Abteilung, der zuerst Prof. Dr. Werner Heyde und ab 1941 Prof. Dr. Hermann Paul
Nitsche vorstanden, bildete zusammen mit der Büroabteilung von Gerhard Bohne die
Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG). Die Gemeinnützige Krankentransport GmbH (Gekrat) unter Reinhold Vorberg sollte die Krankentransporte organisieren.90 Diese und weitere Scheinunternehmen – mit insgesamt an die etwa fünfhundert MitarbeiterInnen (darunter mindestens fünfzig Ärzte bis Ende der „Aktion“91)
– dienten dazu, die zentrale Rolle der KdF bzw. des Hauptamtes II unter Viktor Brack in
der gesamten „Aktion“ so gut als möglich zu vertuschen. Es handelte sich somit „um
Abteilungen ein und derselben Gesamtorganisation“92.
Die Durchführung – von der Erfassung bis zur Tötung
Der „offizielle“ Beginn der „Aktion T4“ im Deutschen Reich kann mit 9. Oktober 1939
datiert werden: An diesem Tag schickte das RMdI einen Runderlass an alle Heil- und
Pflegeanstalten. Dem Erlass beigefügt waren zwei Meldebögen und ein Merkblatt. Die
Anstalten wurden angewiesen – ohne weitere Erklärungen –, psychisch kranke und/
oder behinderte PatientInnen zu melden. Diese wurden im ersten Bogen eingetragen,
während im zweiten Informationen zur Anstalt (Größe, Betten, Personal, Anschluss an
Bahnschienen, nächster Bahnhof etc.) erfasst wurden. Ähnlich wie bei der Durchführung der Kindereuthanasie wurden die – anfangs nur sehr zögerlich – zurückgesandten Bögen von drei „GutachterInnen“ der medizinischen Abteilung der Zentraldienststelle mit Plus- und Minuszeichen versehen.93 Dabei entschieden die „GutachterInnen“
unter anderem anhand der Angaben zur Arbeitsfähigkeit und eventuell zur Art der
Beschäftigung der einzelnen AnstaltsinsassInnen. Die Bögen wurden dann noch einem der sogenannten „Obergutachtern“ (Linden, später Heyde und Nitsche) vorgelegt,
die eine endgültige Entscheidung trafen. Die ausgewählten Bögen wurden darauf der
Gekrat übergeben, die die Transporte in die Euthanasieanstalten organisierte.94
So waren für die mindestens 100.000 PatientInnen an die vierzig „Begutachter“ zuständig. Über 70.000 Menschen wurden dann schließlich den sechs Tötungsanstalten übergeben, wo sie einen grausamen Tod fanden. In den Gaskammern der Anstalten wurden
die ohnehin schon sehr geschwächten Ankömmlinge durch Kohlenmonoxid erstickt.
Die sechs Tötungsanstalten waren: Grafeneck/Württemberg (9.839 „Desinfizierungen“),
Brandenburg a. d. Havel (9.772), Hartheim (18.269), Sonnenstein/Pirna (13.720), Bernburg a. d. Saale (8.601), Hadamar/Limburg (10.072).95
89
90
91
92
93
94
95
Der Umzug in eine Villa in der Tiergartenstraße 4 erfolgt erst im April 1940, vgl. Klee, Euthanasie, S. 121.
Neugebauer, „Aktion T4“, S. 20 f.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 192.
Aussage Therese Hergenröder, Sekretärin des hessischen Landesrats Bernotat, vom 23.8.1946 im Eichberg-Verfahren, zit. n. Klee, Euthanasie, S. 121. Eine detaillierte Darstellung der internen Struktur und Organisation des
T4-Apparats findet sich in ebd., S. 121 f. und in Kepplinger, NS-Euthanasie, S. 39 und in Neugebauer, NS-Euthanasieaktionen, S. 39.
Neugebauer, „Aktion T4“, S. 22 f.
Ebd., S. 24.
Ebd.
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Alle bei der „Aktion T4“ beteiligten Personen und Institutionen übten sich in Geheimhaltung. Die Morde wurden mittels der Angabe von natürlichen Todesursachen vertuscht. Auch der Todesort und -tag wurden falsch angegeben. Damit sollte die Tatsache verschleiert werden, dass es sich um Massentötungen in immer denselben Anstalten handelte. Die Briefe, die die traurige Nachricht vom Tod einer/s Insassin/Insassen
der Familie mitteilen sollten, wurden nach stets gleichen Mustern verfasst. Die Leichen
wurden mit dem Hinweis auf eine „seuchenpolizeiliche Anordnung“ verbrannt, den
Verwandten eine Urne mit einer x-beliebigen Asche gesendet.96
Widerstand
Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme kamen in der Bevölkerung immer wieder Gerüchte
auf, dass die verstorbenen Verwandten in den Anstalten ermordet wurden. Immer wieder soll es zu Ansammlungen von Menschen vor den Anstalten gekommen sein, als
die Gekrat mit ihren Bussen eintraf.97 Auch das Ausland wurde auf das Euthanasieprogramm aufmerksam. In einer von der Royal Air Force über deutsche Städte abgeworfenen Propagandazeitung wurde beispielsweise auf den Wiener Arzt und „T4“-Beteiligten
Dr. Erwin Jekelius aufmerksam gemacht. Auch innerhalb der AnstaltspatientInnen verbreitete sich das Gerücht der Tötungen. Die Angehörigen weigerten sich in der Folge
immer mehr, hilfsbedürftige Verwandte an Anstalten abzugeben.98
Der lauteste Widerstand kam vom kirchlich-katholischen Lager. Besonderen Ruhm in
diesem Zusammenhang erlangte der Bischof von Münster Clemens August Graf von
Galen, der in diversen Predigten und Schriften die Euthanasie ansprach und verurteilte.99 Sein offenes Ansprechen der Tötungen ermutigte andere Bischöfe und Pfarrer
dazu, in Reden darauf einzugehen – eine Tatsache, die im totalitären System des nationalsozialistischen Staates als bemerkenswert angesehen werden kann. 100
„Sonderbehandlung 14f13“ – die Ermordung von KZ-Häftlingen in den Euthanasieanstalten
„T4“-Gutachter wurden ab Anfang 1941 auch von den Leitungen der Konzentrationslager „ausgeliehen“, wo sie „Schwerstkranke“ – Häftlinge, die als arbeitsunfähig eingestuft
worden waren – im Rahmen der „Aktion T4“ ermordeten. „14“ stellte das Kürzel für Todesfälle in den KZ dar, „13“ stand für den Tod durch Vergasen. Die von den Gutachtern
ausgewählten Personen wurden wiederum durch die Gekrat in eine der Tötungsanstalten gebracht und dort vergast.101 Wie die ärztlichen Gutachter der „Aktion T4“ die
„Sonderbehandlung 14f13“ wahrnahmen, kann zum Teil aus dem sehr umfangreichen
Briefverkehr von Dr. Friedrich Mennecke, der bereits zuvor unter anderem die Heil-
96
97
98
99
100
101
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 208.
Ebd., S. 209.
Neugebauer, „Aktion T4“, S. 28 f.
Ebd., S. 29; Klee, Euthanasie, S. 255 f.
Ebd., S. 258 f.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 217 f.
270
„Wir kommen unter die Metzger“
historia.scribere 08 (2016)
und Pflegeanstalt in Hall in Tirol gesichtet hatte,102 abgelesen werden: „Auf geht’s zum
fröhlichen Jagen!!! Ich bin frisch u. munter, hoffentlich Du auch, Herzli!“103 Kepplinger
und Reese schätzen die Zahl der durch die „Sonderbehandlung 14f13“ ermordeten KZInsassInnen auf 10.000 bis 20.000,104 Schmuhl auf 20.000.105 „14f13“ stellte damit eine
Art Bindeglied zwischen dem Apparat der Euthanasiemorde und jenem der Konzentrationslager dar.106
Das Ende von „T4“ und die Weiterführung der Morde als „dezentrale Anstaltsmorde“107
Am 24. August 1941 erteilte Hitler direkt an Brandt den Befehl, die „Aktion T4“ mit einem Schlag zu beenden.108 Die Überraschung darüber in den einzelnen Anstaltsleitungen, die telefonisch darüber benachrichtigt worden waren, war groß. Die Ursachen für
das offenbar plötzliche Umdenken Hitlers sind nicht ganz klar. Fakt ist aber, dass die
Unruhe innerhalb der Bevölkerung in einem für den Führer unannehmbaren Ausmaß
zugenommen hatte: Es war der Zeitpunkt des Kriegsbeginns mit der Sowjetunion, für
dessen Umsetzung der Führer den Rückhalt in „seinem Volk“ benötigte.109 Besonders
die Predigt des Bischofs von Münster, von Galen, vom 3. August 1941 spielte eine wichtige Rolle in der Aufklärung der Bevölkerung. In der Folge wuchs der Unmut über die
dargestellten Ereignisse, und das NS-Regime sah sich unter Druck gesetzt.110 Gleichzeitig war nach der Tötung von über 70.000 PatientInnen das Kurzziel der Freilegung von
Betten wohl erfüllt, was den Entschluss zur Beendigung der „Aktion“ erleichtert haben
dürfte.
Das Ende der „Aktion T4“ bedeutete aber nicht zwangsläufig das Ende des gesamten
„T4“-Apparates. So wurde die Kindereuthanasie bis kurz vor Ende des Krieges weitergeführt, ebenso die „Sonderbehandlung 14f13“. Gleichzeitig wurden die Heil- und Pflegeanstalten angehalten, die Euthanasie dezentral, sprich vor Ort, weiter durchzuführen.111
Durch Überdosierungen von Medikamenten sollten „bereitwillige“ Ärzte die Morde im
Sinne einer rassenhygienischen Auslese fortsetzen. Den AnstaltsinsassInnen sollte dreimal täglich Luminal in das Essen gemischt werden; zusammen mit einer radikalen Unterversorgung wirkte das Schlafmittel tödlich. Die Opfer erlitten auf diese Weise einen
oft Tage andauernden, qualvollen Tod.112 Insgesamt fanden in dieser Phase ungefähr
gleich viele Menschen den Tod wie in den beiden Jahren der „Aktion T4“.113
102
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110
111
112
113
Schreiber, Nationalsozialismus, S. 218.
Dr. Friedrich Mennecke, T4-Arzt, in einem Brief vom 28.11.1941, 7 Uhr 40, an seine Gemahlin, kurz bevor er im KZ
Buchenwald in Frage kommende InsassInnen für die Gaskammer auswählte, zit. n. Klee, Euthanasie, S. 284.
Brigitte Kepplinger/Hartmut Reese, Die Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Orte und „Aktionen“, in:
Kepplinger et al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, S. 442.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 219.
Kepplinger/Reese, Euthanasieverbrechen, S. 443.
Für die Verwendung der Begrifflichkeiten wilde Euthanasie bzw. dezentrale/regionale/regionalisierte Anstaltsmorde siehe Neugebauer, NS-Euthanasieaktionen, S. 43.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 210.
Kepplinger, NS-Euthanasie, S. 58.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 210 f.
Neugebauer, „Aktion T4“, S. 30.
Schmuhl, Rassenhygiene, S. 220 f.
Neugebauer, NS-Euthanasieaktionen, S. 43.
historia.scribere 08 (2016)
Thomas Walli
271
„…alles was unheilbar ist solle weg…“114 – Die Umsetzung der „Aktion T4“ im
Reichsgau Tirol-Vorarlberg
Vor der „Aktion“
Das „Erbgesundheitsgesetz“ trat in Österreich mit 1. Januar 1940 in Kraft. Damit begannen die Zwangssterilisationen auch in der neu dazugekommenen „Ostmark“. Horst
Schreiber schätzt die Zahl der Personen im Gau Tirol-Vorarlberg, die dieser grausamen
Maßnahme zum Opfer fielen, auf rund vierhundert.115 Die Existenz von „Kinderfachabteilungen“ für die Ermordung „erbkranker“ Kinder im Reichsgau ist nicht belegt. Ob
Säuglinge in Tirol und Vorarlberg erfasst und getötet wurden, liegt noch im Unklaren.116
Für die Vorbereitungen der „Aktion T4“ im Gau Tirol-Vorarlberg reiste Viktor Brack
höchstpersönlich nach Innsbruck. Dort traf er sich mit Gauleiter Franz Hofer um erste Vorkehrungen zu treffen. Auch der Leiter der staatlichen Gesundheitsverwaltung
im Gau, Dr. Hans Czermak, und der Gauamtsleiter für Volksgesundheit, Dr. Josef
Malfatti, wurden bereits zu diesem Zeitpunkt über die „Aktion“ informiert. In der Zeit
nach dem Treffen legten die beteiligten, allen voran Czermak, ein großes Maß an Eigeninitiative an den Tag.117 Ende August 1940 traf eine ärztliche Kommission unter Leitung
von Dr. Friedrich Mennecke in Hall ein. Diese sah sich die Krankenakten der PatientInnen durch. Auf Grundlage dieser Sichtung – und ohne die betreffenden InsassInnen
je zu Gesicht bekommen zu haben – stellte die Kommission später von Berlin aus die
Transportlisten zusammen. Czermak schloss in der Zwischenzeit eine Abmachung mit
Dr. Rudolf Lonauer, der in Personalunion Anstaltsleiter der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart (Linz), ärztlicher Leiter der Tötungsanstalt Hartheim, Beauftragter der RAG und
„T4“-Gutachter war: Es wurde beschlossen, dass die RAG für alle Kosten und das weitere Schicksal der PatientInnen ab der Ankunft der Transporte in Niedernhart zuständig
war.118 Am 3. Dezember 1940 erhielt Czermak einen Brief aus der Anstalt Niedernhart.
In diesem stand, dass eine „Verlegung von Patienten“ in den kommenden neun Tagen
durchgeführt werden soll. In den folgenden Jahren war es nicht selten die Direktion
der Gau-Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart in Linz – und im Speziellen der Anstaltsleiter Lonauer selbst –, der Dr. Ernst Klebelsberg von der Anstalt Hall entsprechende
Befehle erteilte.119
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119
Zeugenaussage Dr. Klebelsberg bei der Hauptverhandlung gegen Dr. Czermak vor dem Landesgericht (LG) Innsbruck, 30.11.1949. Tiroler Landesarchiv (TLA), LG Innsbruck, 10 Vr 4740/47, zit. n. Oliver Seifert, Das Sterben in der
Heil- und Pflegeanstalt Hall 1942–1945, in: Perz et al. (Hrsg.), Schlussbericht, S. 115.
Schreiber, Nationalsozialismus, S. 213.
Oliver Seifert, „Sterben hätten sie auch hier können“. Die „Euthanasie“-Transporte aus der Heil- und Pflegeanstalt
Hall in Tirol nach Hartheim und Niedernhart, in: Kepplinger et al. (Hrsg.), Tötungsanstalt Hartheim, S. 363.
Ebd., S. 364.
Ebd., S. 369.
Ebd., S. 371.
272
„Wir kommen unter die Metzger“
historia.scribere 08 (2016)
Durchführung
Der erste Transport am 10. Dezember 1940
Im Vorfeld des ersten Transportes reiste Dr. Georg Renno, Stellvertreter von Lonauer in
Hartheim, nach Hall, da „etwas nicht ganz in Ordnung [gewesen] sei“,120 denn Klebelsberg wollte die Transportlisten nicht ohne Weiteres akzeptieren. Von den insgesamt 291
aufgeführten Personen121 waren viele, die laut dem Haller Primar noch arbeitsfähig und
die deshalb für die Anstalt von Wert waren. Zusammen mit Dr. Helmut Scharfetter, dem
Vorstand der Psychiatrischen Klinik Innsbruck, NSDAP-, NS-Ärztebund- und SS-Mitglied,
unterbreitete er seine Sorge Czermak, der das Problem Gauleiter Hofer vortrug. Czermak erhielt für Klebelsberg eine Ermächtigung, alle heilbaren PatientInnen von der Liste streichen zu dürfen.122 Mit dieser „Generalvollmacht“123 ausgestattet, konnte Primar
Klebelsberg insgesamt 112 Menschen vor der Fahrt nach Hartheim – und damit dem
sicheren Tod – bewahren. Damit konnte Klebelsberg eine begrenzte Anzahl an Leben
retten, hatte aber auch eine ambivalente Rolle inne: Falls er zu viele Menschen von der
Liste strich, riskierte er nach eigenen Aussagen durch einen linientreuen NS-Arzt ersetzt zu werden.124 Seine Rolle relativierte Klebelsberg im Nachhinein mit den Worten:
„Ich habe die Auswahl getroffen, ob der wegkommt oder nicht, aber nicht darüber, ob
er leben dürfe oder nicht. Wenn ich die Zustimmung nicht gegeben hätte, wären die
Leute doch nicht gerettet worden.“125 Die Auswahl traf er anhand der Arbeitsleistung
der PatientInnen.
Die 111 Männer und 68 Frauen, die nicht von der Liste gestrichen wurden, wurden
am 10. Dezember 1940 von Einheiten Rennos mit Autobussen zum Bahnhof in Hall
gebracht und von dort mit dem Zug direkt nach Hartheim „verlegt“. Zuvor war ihnen
noch eine Marke um den Hals gehängt und ihr Besitz mitgegeben worden.126
Neben diesem Transport aus Hall kam es zu einem weiteren aus dem St. Josefs-Institut
in Mils, bei dem von ursprünglich 122 geforderten Personen 67 schlussendlich wegtransportiert wurden – wiederum erfolgte eine Streichung mit dem Verweis auf die Arbeitsleistung der Betroffenen. Zudem konnte ein Mann kurz vor der Abfahrt fliehen.127
120
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123
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125
126
127
Staatsanwaltschaft (StA) Konstanz, 2 Js 524/61, Zeugenaussage Dr. Georg Renno vor der Polizei Frankenthal/Pfalz,
19.2.1963, zit. n. ebd., S. 372.
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 113.
Friedrich Stepanek, Zur Untersuchung des Personals der Heil- und Pflegeanstalt Hall, in: Perz et al. (Hrsg.), Schlussbericht, S. 189 f.
Seifert, Sterben, S. 374.
Archiv Edwin Tangl (Privatbesitz Rainer Hofmann), Bericht über die Vernehmung von Dr. Klebelsberg durch die
Bundespolizeidirektion Innsbruck, 15.5.1946, zit. n. ebd., S. 375.
Zit. n. Horst Schreiber, Ein „Idealist, aber kein Fanatiker“? Dr. Hans Czermak und die NS-Euthanasie in Tirol, 2008,
[http://www.horstschreiber.at/texte/czermak-und-die-nseuthanasie-in-tirol], eingesehen 19.9.2014.
Seifert, Sterben, S. 378.
Ebd., S. 379.
historia.scribere 08 (2016)
Thomas Walli
273
Der zweite Transport am 20. März 1941
Anfang des Jahres 1941 war es für Czermak sowie Klebelsberg klar, dass es zu weiteren Deportationen kommen würde. Im Vorfeld dieses Transportes wurden auch die
Versorgungs-, Armen- und Altenheime von Czermak, Lonauer und Renno besichtigt.
Am 14. März folgte der Abtransport von zwanzig Personen aus dem Versorgungshaus
Nassereith sowie 19 Patientinnen aus dem Versorgungshaus Imst. Mit Bussen wurden
sie nach Hall transferiert. Die Zusammenführung von PatientInnen in der HPA Hall in
Tirol diente wohl dem reibungslosen Ablauf der „Aktion“ in Tirol.128
Auch aus der Heil- und Pflegeanstalt Valduna bei Rankweil (Vorarlberg) wurden drei
Transporte nach Hall getätigt, zwei Transporte wurden am 10. Februar und am 17. März
1941 von Valduna direkt nach Hartheim zur Vergasung geschickt.129 Laut Hinterhuber
(auf Erhebungen der Staatsanwaltschaft Konstanz basierend) sollen mindestens 447
PatientInnen aus Vorarlberg „verlegt“ worden sein. 220 davon wurden direkt nach Hartheim gebracht.130 Valduna wurde mehr oder weniger „geleert“ und von der Wehrmacht
als Lazarett verwendet.
Schließlich wurden am 20. März aus Hall 92 Menschen abtransportiert. Dabei strich
dieses Mal Klebelsberg nur mehr drei Personen von den Listen. Dies hing damit zusammen, dass er bereits im Vorfeld Halbjahresberichte erstellt hatte, in denen er auf
die Arbeitsfähigkeit von einigen der InsassInnen verwiesen hatte. Auf den Transportlisten, die sich nach den Halbjahresberichten richteten, waren demnach nur sehr wenige Personen, die Klebelsberg mit dem Argument der Arbeitsfähigkeit in Hall behalten
konnte.131 Bei den Verhandlungen des Volksgerichtsprozesses vom Jahr 1949 gegen
Czermak rechtfertigte Klebelsberg seine Rolle: „Beim zweiten Transport ist nur weggegangen, was ich verantworten konnte. Renno hat mir Richtlinien gegeben in dem
Sinne, alles was unheilbar ist solle weg.“132
Der dritte Transport am 29. Mai 1941
Die Leitung der Anstalt Hartheim kündigte bis Mitte Mai einen erneuten Transport an.
In der Zwischenzeit forcierten Czermak und Lonauer die Konzentration von geistig behinderten Menschen in der HPA Hall in Tirol, während die Armen- und Versorgungshäuser alten und körperlich behinderten Personen vorbehalten werden sollten. Über
den dritten Transport ist nur wenig bekannt. Man weiß nur von 29 Personen sicher,
dass sie am 29. Mai 1941 von Hall wegtransportiert worden sind: „21 Frauen aus dem
128
129
130
131
132
Seifert, Sterben, S. 379–381.
Ebd., S. 381.
Hartmann Hinterhuber, Ermordet und vergessen. Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und
Behinderten in Nord- und Südtirol, Innsbruck 1995, S. 47.
Seifert, Sterben, S. 383.
Zeugenaussage Dr. Klebelsberg bei der Hauptverhandlung gegen Dr. Czermak vor dem Landesgericht (LG) Innsbruck, 30.11.1949. Tiroler Landesarchiv (TLA), LG Innsbruck, 10 Vr 4740/47, zit. n. Seifert, Heil- und Pflegeanstalt,
S. 115.
274
„Wir kommen unter die Metzger“
historia.scribere 08 (2016)
Versorgungshaus Ried […], vier Männer und zwei Frauen aus der Anstalt Hall […] und
je ein Mann und eine Frau aus dem St. Josefs-Institut in Mils […].“133
Interessant ist die Intervention des Innsbrucker Oberbürgermeisters Egon Denz bei
Gauleiter Hofer, um einen Abtransport aus den Innsbrucker Heimen zu verhindern.
Dies beweist, dass Einflussnahmen im kleinen Rahmen durchaus möglich waren.134
Der vierte Transport am 31. August 1942
Im August 1941 wurde die „Aktion T4“ von Berlin aus eingestellt. Umso erstaunlicher
ist es, dass es rund ein Jahr später zu einem erneuten Transport aus Hall, diesmal nach
Niedernhart, kam. Nicht nur aus diesem Grund war dieser vierte und letzte Transport
aus dem Gau Tirol-Vorarlberg einzigartig:135 Auch die Durchführung der Morde mittels
einer Überdosierung von Arzneimitteln war in diesem Zusammenhang eine Neuheit.136
Dem Transport am 31. August 1942 gingen energische Interventionen von Czermak
bei Lonauer und bei zuständigen Stellen in Berlin voraus. Er klagte über die „überfüllte“
Anstalt Hall in Tirol, was laut ihm „ein ganz außerordentlich beklagenswerter Zustand“137
war. Schlussendlich erreichte Czermak den gewünschten Abtransport. Oliver Seifert
nimmt an, dass die Transportlisten aus einem Zusammenwirken vor allem von Czermak und Lonauer, aber in begrenzten Umfang auch Klebelsberg, entstanden waren.138
Mit zwei Bussen wurden die 60 PatientInnen diesmal von den eigenen PflegerInnen
der HPA Hall in Tirol bis nach Niedernhart gebracht. Der dortige Anstaltsleiter Lonauer
hatte bereits im Vorfeld eine Art „Tötungsstation“ eingerichtet, in der alle sechzig Ankömmlinge „zu Tode gespritzt“139 wurden.
Später benachrichtigte Lonauer Czermak schriftlich über den Tod der PatientInnen. Dabei bemerkte er, dass „diese Behandlungsmethode praktischer und reibungsloser ist als
die frühere“.140
Reaktionen der Opfer
Reaktionen von InsassInnen, die von Tirol aus nach Hartheim bzw. Niedernhart gebracht wurden, sind sehr spärlich erhalten. Es ist davon auszugehen, dass viele der
Opfer – vor allem jene, die nur leichte Behinderungen hatten – von ihrem Schicksal
wussten bzw. es zumindest erahnten. Es sind hierzu nur einige wenige Zeugenaussagen vorhanden, wie zum Beispiel jene der Schwester Oberin, einer Pflegerin von
Nassereith:
133
134
135
136
137
138
139
140
Seifert, Sterben, S. 386.
Ebd.
Ders., Heil- und Pflegeanstalt, S. 115.
Ders, Sterben, S. 401.
TLA, Reichsstatthalterei (RStH) in Tirol und Vorarlberg, Abt. IIIa1 (medizinische Angelegenheiten), Zl. M-XI 1941
(Heil- und Pflegeanstalten), Dr. Czermak an Dr. Lonauer, 3.7.1942, zit. n. ebd., S. 398.
Ebd., S. 399; Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 115.
Seifert, Sterben, S. 401.
TLA, RStH in Tirol und Vorarlberg, Abt. IIIa1 (medizinische Angelegenheiten), Zl. M-XI 1941 (Heil- und Pflegeanstalten), Dr. Lonauer an Dr. Czermak, 5.11.1942, zit. n. ebd., S. 402.
historia.scribere 08 (2016)
Thomas Walli
275
„Die Pfleglinge machten keine besonderen Schwierigkeiten, da sie glaubten,
es handle sich um eine Spazierfahrt. Nur ein Pflegling aus Imst, die sich bereits
im Auto befand, schrie wiederholt, ‚wir kommen unter die Metzger‘, sodass sogar die Bevölkerung aufmerksam wurde.“141
Für die Kinderanstalt Mariathal in Kramsach berichtete Schwester Alberta Berchtenbreiter von 23. Mai 1941, als 61 Kinder mit Bussen abgeholt wurden:
„[…] Im Verbringen in die Autos spielte sich mancher Kampf ab. Ein ganz braver Bub mit 6 Jahren wurde von der Tante abgeholt: Beim Ausgang wurde ihr
der Kleine weggerissen und ins Auto verbracht. Ein 14-jähriger Bub verkroch
sich im Dach, wo die Männer nicht hin konnten. Alle Kunst, ihn heraufzubringen, war vergeblich. Eine Schwester mußte [sic!] den Versuch machen: Als er
die Schwester sah, kam er von selbst herauf – um das Los der anderen zu teilen.
Ein 16-jähriger Bub lag schwer krank im Bett. Ich bat den Kleinen dazulassen,
er sterbe ja ohnehin gleich. Es war umsonst. Er mußte [sic!] zu den anderen
ins Auto […] Unter den Entführten waren einige größere, ältere Buben und
Mädchen, die willig und tüchtig Haus- und Gartenarbeiten verrichteten. Auf
die Bitte, diese dazulassen, versprach man, sie wiederzubringen: Es kam aber
niemand mehr zurück!“142
Und weiter:
„[…] und alle Kinder, es waren damals 60 [sic!] an der Zahl wurden mit Gewalt und gegen unseren Einspruch weggebracht. Die Kinder haben geweint
und gejammert und als sie in den Omnibussen untergebracht worden waren,
hörte man die Kinder nicht mehr, sondern wurde es alsbald still. Ich nehme
an, bzw. hat es uns damals den Anschein erweckt, dass den Kindern damals
irgendwelche Einspritzungen verabreicht wurden.“143
Beim Abtransport von InsassInnen des St. Josefs-Institut in Mils am 10. Dezember 1940
konnte ein Mann fliehen; wie viel er von seinem bevorstehenden Schicksal wusste, ist
nicht bekannt.144 Aus der HPA Hall ist ein Fall überliefert, in dem eine Patientin in grauer
Vorahnung einen Brief an ihren Cousin schreibt, er möge sie herausholen, bevor sie zur
„Verurnung“ gebracht werde. In der Tat war sie beim ersten Transport Ende 1940 dabei.
Ihr Cousin erhielt nur mehr eine Urne.145
141
142
143
144
145
TLA, LG Innsbruck, 10 Vr 4740/47 (Verfahren Dr. Hans Czermak), Zeugenvernehmung Sr. Martha Puschmann vor
dem LG Innsbruck, zit. n. Seifert, Sterben, S. 389.
Zit. n. Hinterhuber, Ermordet, S. 105 f.
Archiv Edwin Tang (Privatbesitz Rainer Hofmann), Bericht über die Vernehmung der Leiterin der Idiotenanstalt
Mariathal, Alberta Berchtenbreiter, von der Bundespolizeidirektion Innsbruck, 7.12.1946, zit. n. Seifert, Sterben,
S. 389.
Ebd., S. 390.
Ebd.
276
„Wir kommen unter die Metzger“
historia.scribere 08 (2016)
Reaktionen der Verwandten
Wie im gesamten Deutschen Reich erhielten auch die Verwandten von PatientInnen
aus den Tiroler und Vorarlberger Anstalten oft erst Wochen nach dem Tod eine Nachricht mit erfundener Todesursache und Todesort. Dass die zugesandte Urne nicht die
Asche der/s Verwandten enthielt, hatte sich auch hier schnell herumgesprochen. Interventionen von Angehörigen direkt bei der Anstaltsleitung in Hall in Tirol bzw. Hartheim
hatten nur selten Erfolg. Entweder wurde ihnen der Besuch der – nicht selten bereits
ermordeten – PatientInnen verweigert, oder ihnen mitgeteilt, diese seien wiederum in
eine andere Anstalt wegtransportiert worden. Auch persönliche Anfeindungen gegen
Primar Klebelsberg von Seiten der Angehörigen waren nicht selten. Ihm wurde unter
anderem vorgeworfen, über die Köpfe der Angehörigen hinweg entschieden zu haben.146
Nach der „Aktion“
Hitler beendete im August 1941 die „Aktion T4“. Der letzte Transport aus Hall im August
1942 stellt für die Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich eine Ausnahme dar.
Dass jedoch auch in anderen Anstalten nach dem Stopp der „offiziellen“ Euthanasie
nicht Schluss war mit dem Morden, beweisen die Sterberaten in den einzelnen Anstalten: Ab 1942 stiegen sie wieder enorm an. Inwieweit die InsassInnen der HPA Hall in
Tirol davon betroffen waren, soll in diesem Kapitel erörtert werden.147
Dr. Hans Czermak bemühte sich – teils aus „blindem Gehorsam“ und Karrierebewusstsein, teils aus überzeugtem nationalsozialistischen Rassenwahn148 – ab November 1942
immer stärker, eine eigene Euthanasie-Station in Hall zu etablieren. Dazu kontaktierte
er mehrmals Dr. Lonauer, der eine derartige Station einrichten und leiten sollte.149 Dieser Umstand kann als Beweis gelten, dass Dr. Klebelsberg sich davor sträubte, diesen
letzten Schritt bei der Ermordung selbst Hand anzulegen, umzusetzen.150 Auch war es
Klebelsberg, der nach eigenen Aussagen Czermak und Lonauer von derartigen Plänen
abbrachte. Die Pläne lagen in den nächsten Jahren mehr oder weniger auf Eis, bis sich
Lonauer im März 1945 hilfesuchend an Czermak wandte und ihn bat, ihm und seiner
Familie eine geheime Unterkunft in Tirol zu beschaffen. Czermaks Antwort zeugt von
seiner nationalsozialistischen Überzeugung bis zum Schluss: „Treten Sie ‚inkognito‘ vorübergehend als Oberarzt in unsere Heilanstalt Solbad Hall ein und organisieren Sie
dort die Reduzierung des Krankenstandes, denn die Anstalt ist zum Bersten voll.“151 Ob
Lonauer dem „Angebot“ folgte, ist nicht belegt und gilt als unwahrscheinlich.152
146
147
148
149
150
151
152
Seifert, Sterben, S. 392–394.
Die folgende Darstellung fußt aus Mangel an zusätzlicher aktueller Literatur größtenteils auf Seifert, Sterben.
Schreiber, Idealist.
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 116.
Ebd., S. 117, 143.
Hans Czermak an Rudolf Lonauer, 17.4.1945, abgedruckt in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934–1945. Band 1, Wien-München 1984, S. 497, zit. n. Seifert,
Heil- und Pflegeanstalt, S. 117.
Ebd.
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Thomas Walli
277
Eindeutig nachgewiesen ist allerdings die stark erhöhte Sterblichkeit in der Anstalt zwischen 1943 und 1945. Lag die Anzahl der Todesfälle pro Jahr zwischen 1935 und 1938
bei durchschnittlich rund 4 Prozent, erhöhte sich die Zahl zwischen 1939 und 1943 auf
6,6 Prozent, und in den letzten beiden Kriegsjahren auf 17 (!) Prozent.153 Seifert macht
dazu auf mehrere strukturelle, im Folgenden aufgelistete Bedingungen aufmerksam.154
Die Versorgungslage
Es liegt auf der Hand, dass die Versorgungslage im gesamten Reich in den letzten beiden Kriegsjahren miserabel war, und dass die Krise in der Beschaffung des Lebensnotwendigsten insbesondere die „unnützen Esser“ in den Anstalten traf. Die Rationen an
Lebensmitteln pro Person wurden drastisch gekürzt. 1946 machte sich die Lage besonders bemerkbar, als die Menschen mit einem Drittel dessen auskommen mussten,
was in Friedenszeiten als normal galt. Dazu kam der Umstand, dass die InsassInnen
der HPA Hall nicht über andere Formen der Lebensmittelbeschaffung, wie etwa den
Handel über dem Schwarzmarkt, ihre Lage verbessern konnten. Zudem waren sie Opfer der nationalsozialistischen Politik, die auf eine grundsätzliche Benachteiligung von
AnstaltsinsassInnen zielte. Dies bezeugt unter anderem ein Erlass von 1940: Von den
den Krankenhäusern zugeteilten „Sonderzulagen“ waren die psychiatrischen Anstalten
explizit ausgeschlossen.155 Der Erlass wurde erst im Mai 1946 in Tirol aufgehoben. Dass
der Zustand der PatientInnen der HPA Hall nach Kriegsende sehr schlecht war, beweist
die Aussage einer US-amerikanischen Sanitätseinheit: Diese habe nach Besichtigung
der HPA Hall erklärt, „in keinem Kazett [sic!] solcher Art herabgekommene Leute gefunden zu haben“.156
Die desolate Versorgungssituation mit Brennstoffen in den Jahren 1944 und 1945 trugen nicht minder zu einer Verschlechterung der körperlichen Verfassung der InsassInnen bei, wenngleich davon die Bevölkerung als Ganzes gleichermaßen betroffen war
und eine gezielte Benachteiligung der Anstalten bislang nicht nachgewiesen wurde.157
Zudem mangelte es nicht selten an lebensnotwendigen Medikamenten. Infektionskrankheiten breiteten sich auf den Stationen der HPA Hall rasant aus, und oftmals endeten viele der heute als harmlos geltenden Krankheiten mit dem Tod der/s Betroffenen.
Man kann davon ausgehen, dass diese markante Unterversorgung an Lebensmitteln,
Heizstoffen und Medikamenten zum Tode vieler PatientInnen führte. Allerdings kann
der Verdacht auf die gezielte Tötung beispielsweise durch Nahrungsentzug nicht be-
153
154
155
156
157
Die zugrunde legenden Zahlen beruhen auf Dirk Dunkel, Grundlegende statistische Auswertungen zur Heil- und
Pflegeanstalt Hall während der NS-Zeit, in: Perz et al. (Hrsg.), Schlussbericht, S. 146.
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 119–139.
Ebd., S. 120 f.
Protokoll über die mündliche Verhandlung der Disziplinarkommission für Landesbeamte beim Amte der Tiroler
Landesregierung, 30.10.1951. TLA, ATLR, Präsisium (Personalakten) I, Personalakt Julius Vogt, zit. n. ebd., S. 124;
diese Darstellung ist insofern noch erschreckender, als dass die für Hall zuständige 103. Infanteriedivision zuvor
das KZ Dachau befreit hatte, ebd.
Ebd., S. 128 f.
278
„Wir kommen unter die Metzger“
historia.scribere 08 (2016)
legt werden.158 Gleiches gilt für die Heizsituation159 und die Versorgung mit Medikamenten.160 Jedoch kann anhand der Quellen eine Art „Hierarchisierung des Wertes“161
der PatientInnen festgestellt werden, in dem Maße, als dass InsassInnen, die als heilbar
galten, besser versorgt wurden als solche, bei denen eine Behandlung als aussichtslos
angesehen wurde.162
Die räumliche Situation
Die ab 1940 720 Betten der HPA Hall in Tirol waren bis 1944 durchgehend überbelegt.
Die Transporte nach Hartheim und Niedernhart bedeuteten nur eine kleine Erleichterung, da den weggebrachten PatientInnen stets rasch neue folgten. Das hatte auch damit zu tun, dass nach 1940 vermehrt auch SüdtirolerInnen und VorarlbergerInnen nach
Hall gebracht wurden.163 Besonders dramatisch war die Lage Mitte 1944, als für 702
PatientInnen nur insgesamt 640 Betten bereitstanden. Die hygienischen Bedingungen
waren demnach katastrophal. Als extremes Beispiel dient die Darstellung der Männerabteilung 7: Hier waren Alte, Kranke und Pflegebedürftige untergebracht; zudem wurden nach Juni 1944 immer mehr neue „unruhige Patienten“164 hier einquartiert. Drei
Viertel aller 72 nach Juni 1944 verstorbenen Patienten, die auf dem Anstaltsfriedhof
beerdigt sind, starben hier.165 Alles in allem muss die räumliche Situation ähnlich katastrophale Zustände angenommen haben wie in Zeiten des Ersten Weltkrieges.166
Personal
Bereits 1937 waren in der HPA Hall in Tirol im Verhältnis zu anderen reichsdeutschen
Anstalten wenige PflegerInnen und Ärzte aktiv: Der Pflegeschlüssel lag bei eins zu
sieben, was bedeutet, dass auf eine/n PflegerIn sieben PatientInnen kamen. Nach
dem Anschluss wurde die Zahl der PflegerInnen erhöht. So kam es, dass in den
ersten Kriegsjahren keine größeren Einbußen an Personal zu verzeichnen waren.
Ab 1943 änderte sich die Lage aber radikal. Durch den Einzug zur Wehrmacht und
Krankenstände verringerte sich die Anzahl der anwesenden Ärzte bei einer stetig
wachsenden Zahl an InsassInnen. Kriegsbedingt kam es auch zu den weitaus folgenschwereren Engpässen bei den PflegerInnen, insbesondere bei den männlichen.167
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 126.
Ebd., S. 129.
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 132.
Christof Beyer, Die pfälzische Heil- und Pflegeanstalt in Klingenmünster im Nationalsozialismus, in: Arbeitskreis
zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation (Hrsg.), NS-„Euthanasie“ und lokaler Krankenmord in Oldenburg, Klingenmünster und Sachsen. Erinnerungskultur und Betroffenenperspektive
(Berichte des Arbeitskreises 6), Münster 2011, S. 55–70, hier S. 57, zit. n. ebd., S. 126; dies war jedoch kein ausschließliches Phänomen der Kriegszeit, sondern bereits in den Jahrzehnten zuvor und unmittelbar nach 1945
mehr oder weniger gängige Praxis, siehe unter anderem Dietrich-Daum, Heil- und Pflegeanstalt, S. 105.
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 126.
Ebd., S. 133.
Ebd.
Ebd., S. 133–135.
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 102.
Ebd., S. 136 f.
historia.scribere 08 (2016)
Thomas Walli
279
Seifert führt dies mitunter als Grund für die höhere Sterberate bei Männern an.168
Die anthropologischen Studien zu den Leichenfunden auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof legen die Vermutung nahe, dass die PatientInnen vermehrt geschlagen wurden.169 Inwieweit dieses Vorgehen durch die Ideologie des Nationalsozialismus beeinflusst oder vielmehr damals gängige Praxis war, lässt sich nicht feststellen. Für Seifert ist
eine Verbindung beider Motive am wahrscheinlichsten.170
Eine gezielte Tötung von InsassInnen mittels Medikamenten, wie sie nach Beendigung
von „T4“ in vielen reichsdeutschen Heil- und Pflegeanstalten üblich war, lässt sich für
die HPA Hall nach derzeitigem Wissensstand weder beweisen, noch vollends widerlegen.171 Auch die Errichtung des Friedhofes im November 1942 steht wahrscheinlich
nicht im Zusammenhang mit Czermaks Plänen, Morde vor Ort durchzuführen. Vielmehr erhoffte sich die Stadtverwaltung mehr Platz für den überfüllten Stadtfriedhof.172
Nichtsdestotrotz muss erwähnt werden, dass die Versorgungslage miserabel war. Die
Ärzte der HPA Hall hatten sich offensichtlich mit der institutionalisierten Schlechterbehandlung der InsassInnen abgefunden.173 Der Tod stellte insofern einen ständigen
Begleiter der PatientInnen der HPA Hall auch nach „T4“ dar.
Schluss
Die nationalsozialistische Euthanasie stellt ein äußerst trauriges Kapitel der Zeitgeschichte dar. Dabei war die Rassenideologie, die der „Aktion“ zugrunde lag, keine
reine Erfindung der Nazis. Sie bedienten sich scheinbar wissenschaftlicher Theorien
und Konzepte, die dem Gedanken des Sozialdarwinismus der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts entsprungen und bis in die 1940er-Jahre in immer perfideren Spielarten weiterentwickelt worden waren. Auch wenn die wissenschaftliche Disziplin der
(deutschen) „Rassenhygiene“ zu keiner Zeit deckungsgleich war mit dem politischen
Programm der NSDAP, war doch sie es, die der Partei und vor allem Hitler174 die Ideen
und die vorgeblich wissenschaftliche Grundlage gab.175
In einem weiteren, abstrakteren Sinn war es die Absicht des Verfassers zu veranschaulichen, wie die Wissenschaft (vor allem, wenn sie polemisch wirkt) langfristig das
Denken und Handeln von Personen und Personengruppen beeinflussen kann. Der
Nationalsozialismus und dessen institutionalisierter Massenmord waren zwar keine
zwangsläufigen Folgen der zutiefst unmenschlichen Rassentheorien des 19. und 20.
168
169
170
171
172
173
174
175
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 137.
George McGlynn/Nadine Carlichi-Witjes, Vorbericht zu den biologisch-anthropologischen Untersuchungen am
Skelettmaterial des Friedhofs der Heil- und Pflegeanstalt Hall, in: Perz et al. (Hrsg.), Schlussbericht, S. 290–298 und
im Besonderen ebd., S. 298.
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 138 f.
Ebd., S. 143.
Oliver Seifert, Der Anstaltsfriedhof der Heil- und Pflegeanstalt Hall 1942–1945, in: Perz et al. (Hrsg.), Schlussbericht,
S. 248 f.
Seifert, Heil- und Pflegeanstalt, S. 144.
Beispielsweise Hitler, Kampf, S. 311–362, bei dem unter anderem Rassenhygieniker und -theoretiker mit ihren
Ideen Pate standen.
Weingart et al., Rasse, S. 370.
280
„Wir kommen unter die Metzger“
historia.scribere 08 (2016)
Jahrhunderts, aber deren Wesensverwandtschaft ist auch keineswegs als rein zufällig
zu betrachten.
Die eigentliche „Aktion T4“, die mit einem mündlichen Befehl Hitlers begann, lief unter großer Geheimhaltung. Für die Ermordung der „Ballastexistenzen“ wurde ein eigener Verwaltungsapparat mit bestimmten Vollmachten aufgebaut. Ein ausgeklügeltes
Täuschungssystem sollte für die Geheimhaltung sorgen. Neben seiner radikalen Unmenschlichkeit sticht die „Aktion“ vor allem auch wegen ihrer Rolle als „wichtige Vorstufe für den Holocaust“ „in organisatorischer, personeller und technologischer Hinsicht“176
hervor.
Mit dieser Arbeit konnte zudem gezeigt werden, dass aus dem Reichsgau Tirol-Vorarlberg mindestens 686 Personen (mindestens 466 aus Tirol, mindestens 220 aus Vorarlberg) in die Tötungsanstalten abtransportiert wurden. Die HPA Hall in Tirol erfüllte eine
zentrale Sammelfunktion für den Reichsgau. Hier wurden die selektierten Personen aus
den umliegenden Pflegeanstalten des Tiroler Raumes Reichsgaus konzentriert, ehe sie
nach Hartheim oder Niedernhart weitertransportiert wurden. Die Vertreter des Reichsgaus waren besonders in der Person von Dr. Hans Czermak an der Ermordung von psychisch kranken und behinderten Menschen interessiert. Seine Unterwürfigkeit gegenüber dem NS-Regime sowie sein Karrierismus machten aus ihm einen der schärfsten
Verfechter der „Tötung lebensunwerten Lebens“. In der Rolle des Primars Klebelsberg
wurde die ambivalente Haltung vieler Ärzte (sowie anderer Berufsgruppen) im Bezug
mit dem Nationalsozialismus aufgezeigt. Obwohl er nach eigener Aussage ein Gegner
der Euthanasie war, konnte er sich mit dem System arrangieren, um zumindest einen
Teil der InsassInnen zu retten. Durch diese Praxis legitimierte er jedoch auch die Tötung
vieler anderer PatientInnen.
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Abkürzungsverzeichnis
ATLR
Amt der Tiroler Landesregierung
DGR
Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene
Gekrat
Gemeinnützige Krankentransport GmbH
GzVeN
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, bzw. Erbgesundheitsgesetz
HHStA
Hessisches Hauptstaatsarchiv
HPA
Heil- und Pflegeanstalt
KdF
Kanzlei des Führers
LG
Land(es)gericht
RAG
Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten
RMdI
Reichsministerium des Innern
RStH
Reichsstatthalterei
StA
Staatsanwaltschaft
TLA
Tiroler Landesarchiv
WGR
Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene)
T4-Personenverzeichnis177
Allers, Dietrich
Geschäftsführer der
22.3.1975 München.
Bohne, Gerhard
1939 bis 1940 Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft
für Heil- und Pflegeanstalten (RAG), † 8.7.1981.
Bouhler, Philipp
Leiter der Kanzlei des Führers, ab 1939 „Euthanasiebevollmächtigter“, † 19.5.1945 Dachau (Suizid).
Brack, Viktor
Oberdienstleiter des Hauptamtes II der Kanzlei des
Führers in Berlin (mit „Aktion T4“ beauftragt), † 2.6.1948
177
Zentraldienststelle
(T4),
†
Die Darstellung entstammt aus verschiedenen Werken der angegebenen Literatur; als größte Hilfe für den Verfasser dieser Arbeit sowie als Empfehlung für weitere Personenrecherchen im Zusammenhang mit der Aktion T4
soll auf das äußerst umfangreiche Verzeichnis in Klee, Euthanasie, S. 544–605 verwiesen werden.
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Thomas Walli
285
Landsberg (Hinrichtung).
Prof. Dr. Brandt, Karl
Adolf Hitlers chirurgischer Begleitarzt, ab 1939 „Euthanasiebevollmächtigter“, † 2.6.1948 Landsberg (Hinrichtung).
Dr. Czermak, Hans
Leiter der Abteilung III („Volkspflege“) im Gau Tirol-Vorarlberg, † 30.4.1975 Innsbruck.
Im Original ist hier ein Foto von Dr. Hans
Czermak zusammen mit Gauleiter Franz
Hofer und Volksgruppenführer Peter Hofer
aus dem Juni 1941 abgebildet.
Denz, Egon
1938 bis 1945 Oberbürgermeister von Innsbruck, Mitglied der NSDAP und der SS, † 15.12.1979 Innsbruck.
Prof. Dr. Heyde, Werner
bis 1941 Leiter der medizinischen Abteilung der Zentraldienststelle („T4“), † 13.2.1964 Zuchthaus Butzbach
(Suizid).
Hofer, Franz
Gauleiter in Tirol-Vorarlberg, † 18.2.1975 Mülheim an
der Ruhr.
Dr. Jekelius, Erwin
T4-Gutachter, 1940 bis 1942 Leiter der „Kinderfachabteilung“ Wien-Spiegelgrund, † 8.5.1952 Vladimirski Gefängnis des sowjetischen Innenministeriums.
Dr. Klebelsberg, Ernst
von 1925 bis 1950 Primararzt in der Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol, † 13.5.1957 Hall in Tirol.
Im Original ist hier ein Foto von Dr. Ernst
Klebelsberg abgebildet.
Dr. Linden, Herbert
Ministerialdirigent im Reichsministerium des Innern,
Reichsbeauftragter für die Heil- und Pflegeanstalten, †
27.4.1945 Berlin (Suizid).
Dr. Lonauer, Rudolf
Anstaltsleiter der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart
bei Linz und ärztlicher Leiter der Tötungsanstalt Hartheim, zudem Beauftragter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Heil- und Pflegeanstalten, und „T4“-Gutachter, † 5.5.1945 Linning bei Neuhofen a. d. Krems (Suizid).
Dr. Malfatti, Josef
Gauamtsleiter für Volksgesundheit im Gau Tirol-Vorarlberg, † k. A.
286
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Dr. Mennecke, Friedrich
„T4“-Gutachter, † 28.1.1947 Zuchthaus Butzbach.
Prof. Dr. Nitsche, H. Paul
ab 1941 Leiter der medizinischen Abteilung der Zentraldienststelle („T4“), † 25.3.1947 Dresden (Hinrichtung).
Nohel, Vinzenz
Leichenverbrenner in der Tötungsanstalt Hartheim, †
27.5.1946 Landsberg (Hinrichtung).
Dr. Renno, Georg
Stellvertreter von Lonauer in Hartheim, † 4.10.1997
Neustadt an der Weinstraße.
Im Original ist hier ein Foto von Dr. Georg
Renno abgebildet.
Dr. Scharfetter, Helmut
Vorstand der Psychiatrischen Klinik Innsbruck, SS-Untersturmführer, Mitglied der NSDAP und des NS-Ärztebundes, † 3.6.1979.
Vorberg, Reinhold
Leiter der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH
(Gekrat), † 2.10.1983 Bonn.
Thomas Walli ist Studierender des Bachelorstudiums Geschichte im 9. Semester und
des Masterstudiums Politikwissenschaft im 1. Semester an der Universität Innsbruck.
thomas.walli@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Thomas Walli, „Wir kommen unter die Metzger.“ Die Umsetzung des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms im Reichsgau Tirol-Vorarlberg, in: historia.scribere 8 (2016),
S. 253–286, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles
Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
historia
scribere
Seminare 2016
08 (2016)
historia
scribere
08 (2016)
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
Nele Gfader
Kerngebiet: Zeitgeschichte
eingereicht bei: ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Thomas Albrich
eingereicht im Semester: WS 2014/2015
Rubrik: SE-Arbeit
Abstract
Labor Migration in Austria with references to Vorarlberg
This paper is about labor migration in Austria and Vorarlberg. The paper
includes a definition of the essential concepts of migration. In the following
chapters the Austrian and Vorarlberg migration history, the government
regulated recruitment of Turkish guest-workers and their historical and
economic importance will be displayed. The focus of this paper is to show
which historical developments have caused recruitment of foreign workers
and which positive and negative effects this political move had for Austria and
also for the migrants themselves.
Hinweis
Die verwendeten Bilder und Grafiken wurden von der Autorin aus online zur Verfügung ste
henden Materialien direkt übernommen. Für die Grafiken, die von der Website www.okay
line.at stammen, liegt eine schriftliche Einverständniserklärung von Frau Dr. Eva Grabherr,
die die Publikation im Rahmen dieser Arbeit erlaubt, vor.
Einleitung
Bereits in der Habsburgermonarchie war das deutschsprachige Kernland von zahlreichen Wanderbewegungen geprägt. Die industrielle Revolution und die Verbesserung öffentlicher Verkehrsmittel ließen Migration zu einem Massenphänomen heranwachsen. Der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit Mitte der 1950er-Jahre
brachte einen erheblichen Arbeitskräftemangel mit sich, dem Österreich nach bun2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.484ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
290
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
historia.scribere 08 (2016)
desdeutschem Vorbild durch Anwerbeabkommen mit den verschiedensten Staaten
entgegenzuwirken versuchte. Die Abkommen mit der Türkei und Jugoslawien waren
für Österreich von zentralster Bedeutung und aufgrund des Scheiterns des Rotationsprinzips aus sozio-politischer Sicht am folgereichsten, wie aktuelle Integrationsdebatten verdeutlichen.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Thematik Arbeitsmigration in Österreich
und Vorarlberg. Die Arbeit ist nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert. Sie beinhaltet aufgrund dieser Fokussierung einen Definitionsversuch der wesentlichsten
Begrifflichkeiten. In den folgenden Kapiteln werden neben der österreichischen und
der Vorarlberger Migrationsgeschichte auch die staatlich gelenkte Anwerbung türkischer GastarbeiterInnen sowie deren soziale Situation wie wirtschaftliche Bedeutung
dargestellt. Im Mittelpunkt steht dabei der Versuch, aufzuzeigen, welche historischen
Entwicklungen eine Anwerbung von ausländischen ArbeiterInnen bedingten und mit
welchen positiven wie negativen Auswirkungen dieser politische Eingriff für Österreich, aber auch für die MigrantInnen verbunden war.
Daher geht diese Arbeit folgenden Fragestellungen nach: Wie stellt sich die Anwerbung türkischer GastarbeiterInnen im historischen Kontext der österreichischen wie
Vorarlberger Migrationsgeschichte dar? Was waren zentrale Migrationsmotive türkischer MigrantInnen und mit welchen sozialen Schwierigkeiten waren diese Menschen
im Zielland Österreich konfrontiert?
Die Thesen, dass die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte sowohl von den Anwerbeländern, wie etwa Österreich eines war, als auch von den MigrantInnen selbst als
zeitlich begrenztes Mittel zum Zweck verstanden wurde und dass erst die sozio-ökonomischen Veränderungen, die das Scheitern des Rotationsprinzips mit verursacht haben, die Dimension des „tatsächlichen Niederlassens“ bedingt haben, werden in dieser
Arbeit vertreten.
Zur wissenschaftlichen Erarbeitung dieser Thematik wurden Printmedien in Form von
Fachliteratur sowie Onlineressourcen verwendet. Die Grundlagenliteratur bilden der
Aufsatz von Rainer Bauböck und das Werk von Karl Alber und Ernst Gehmacher sowie
die Werke von Kurt Greussing, Erika Thurner und Simon Burtscher.
Österreichische Migrationsgeschichte
Definitionsversuch der Begrifflichkeiten Migration und Arbeitsmigration
Wie die Einleitung bereits verdeutlicht hat, beschäftigt sich diese Arbeit mit den Aspekten von Migration, wenn auch zeitlich und regional eingegrenzt. Diese inhaltliche
Fokussierung fordert nicht zuletzt aus Verständnisgründen eine anfängliche nähere Besprechung der zentralsten Begrifflichkeiten dieser Arbeit. Daher werden im folgenden
Unterkapitel die Termini Migration und Arbeitsmigration skizziert.
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291
Migration
Der Begriff „Migration“ lässt sich aus dem Lateinischen (migrare) herleiten und bedeutet so viel wie „umziehen“ oder „den Ort wechseln“.1 Diese antike Grundbedeutung trifft
zwar den Kern der Thematik, ist für aber für diese Arbeit zu vage, da sozio-politische
Aspekte nicht aufgegriffen werden. Heute umfasst der Migrations-Begriff zahlreiche
Konkretisierungen und Differenzierungen, die anhand verschiedenster Typologien unterschieden werden können. So wird anhand geographischer bzw. räumlicher Aspekte zwischen Binnenwanderung und internationaler Migration und deren jeweiligen
strukturellen Merkmalen unterschieden. Während die Binnenwanderung die Wanderung innerhalb eines Staates (Land-Stadt-Migration) beschreibt, ist unter internationaler Migration das Überschreiten politischer Grenzen im Zuge eines Wohnortswechsels
zu verstehen.2 Des Weiteren spielt in zahlreichen Definitionsversuchen von Migration
der Aspekt der Dauer eine wesentliche Rolle. So definieren etwa die United Nations
(UN) das Verlassen des gewöhnlichen Wohnortes (usual residence) bereits ab drei Monaten als eine temporäre Migration (shortterm migration). Der Aufenthalt – also die
Emigration bzw. Immigration – von mehr als zwölf Monaten in einem anderen Staat/
Ort definiert die UN als Langzeitmigration (longterm migration).3 Diese Definition greift
vor allem den Aspekt der Dauer auf, um zwischen PendlerInnen, die internationale
Grenzen täglich überqueren, und MigrantInnen zu unterscheiden.
Somit kann anhand der UN-Definition zusammengefasst werden, dass ein internationaler Migrant/eine internationale Migrantin eine Person ist, die ihren gewöhnlichen
Aufenthaltsort verlässt, um in einem anderen Staat sesshaft zu werden, wodurch eine
neue usual residence geschaffen wird.
Beate Steinhilber erweitert den Begriff der internationalen Migration, indem sie den
Prozess der Migration vor der eigentlichen Ausreise ansetzt und nicht mit der physischen Ankunft der immigrierenden Person enden lässt. So wird der MigrantInnenstatus erst durch die Entscheidung der eingewanderten Person die Staatsbürgerschaft
des Ankunftslandes anzunehmen oder durch die Rückkehr ins Herkunftsland aufgehoben.4
Auch Bernhard Perchinig denkt den Begriff der Migration weiter und widerspricht
gleichzeitig Steinhilber, da er von dem Phänomen des/r „immerwährenden Migranten/
Migrantin“ ausgeht, das er wie folgt argumentiert:
„Wer einmal für ein, zwei Jahre sein Land verlassen hat und dann wieder in dieses zurückkehrt und bis zum Ende seines Lebens dort bleibt, bleibt immer ein/e MigrantIn,
hat er/sie doch das Land, in dem er/sie ein, zwei Jahre lebte und das so zum
1
2
3
4
Migration, in: Duden, Das Fremdwörterbuch, Mannheim 2010, S. 669.
Annette Treibel, Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht,
München 2011, S. 20 ff., und United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Statistics Division: Recommendations on Statistics of International Migration (Statistical Papers Series M, No. 58, Rev. 1), New York 1998,
S. 18.
Ebd.
Beate Steinhilber, Grenzüberschreitungen. Remigration und Biographie – Frauen kehren zurück in die Türkei,
Frankfurt am Main 1994, S. 26 f.
292
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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neuen Land des gewöhnlichen Aufenthalts‘ wurde, für länger als ein Jahr
verlassen.“5
Neben diesen räumlichen und zeitlichen Aspekten spielt bezogen auf den MigrationsBegriff auch die Ursache bzw. das Motiv für die jeweilige Ein- oder Auswanderung eine
wesentliche Rolle. Unterschieden wird zwischen freiwilliger Migration (Arbeitsmigration) und erzwungener Migration (Fluchtmigration). Auch wenn die Hauptmotive für
Migration die Suche nach Arbeit und der Schutz vor Verfolgung sind, muss angemerkt
werden, dass eine Differenzierung zwischen Arbeitsmigration und Fluchtmigration
heute angesichts aktueller Entwicklungen kaum möglich bzw. wenig sinnvoll ist, da
sich Zwang und Freiwilligkeit immer mehr vermischen. So sehen sich Menschen aufgrund politischer Verfolgung oder akuter Armut zur Flucht gezwungen.6
Der Aspekt des Umfangs ist die vierte und letzte Klassifikation in Treibels Typologie und
beschreibt, wie viel Personen an einer Wanderung beteiligt sind. Daher wird zwischen
Einzel-, Gruppen- und Massenwanderung differenziert.7
Arbeitsmigration
Arbeitsmigration ist als Sonderform der Migration zu verstehen und benennt gleichzeitig den Migrationstypus und das zentrale Motiv der Migration.8 Wie oben bereits
angesprochen, kann diese Form der Migration nicht eindeutig als rein freiwillig angesehen werden und ist dennoch von erzwungener Migration, Migration aus gesundheitlichen Gründen sowie Migration aufgrund einer Heirat zu unterscheiden. Zumal
ArbeitsmigrantInnen ihren Heimatort oftmals verlassen, da sie sich im Zielland Arbeit
im Allgemeinen oder bessere Lohnbedingungen erwarten, die es ermöglichen, Ersparnisse anzulegen, um sich so eine spätere Existenz im Herkunftsland zu sichern. Somit
besteht bei dieser Form der Migration eine feste Rückkehrabsicht. Der Zeitpunkt der
Rückkehr hängt meist mit dem Erreichen eines angestrebten Kapitals zusammen.9
Auf globaler Ebene bringt diese Wanderung neben einer Umverteilung von Arbeitskräften auch sozioökonomische wie politische Veränderungen mit sich, die im Laufe
dieser Arbeit noch näher aufgezeigt werden.
Historischer Abriss der österreichischen Migrationsgeschichte
Das deutschsprachige Kernland der Habsburgmonarchie war bis ins 19. Jahrhundert
von drei verschiedenen Wanderbewegungen geprägt:10
5
6
7
8
9
10
Bernhard Perchinig, Migration, Integration und Staatsbürgerschaft – was taugen die Begriffe noch? in: Herbert
Langthaler (Hrsg.), Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde, Innsbruck 2010, S. 13–33, hier S. 14.
Treibel, Migration in modernen Gesellschaften, S. 20 f.
Ebd.
Thomas Geisen, Arbeitsmigration: WanderarbeiterInnen auf dem Weltmarkt für Arbeitskraft, Frankfurt am Main
2005, S. 19.
Klaus Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994, S. 42.
Heinz Fassmann/Rainer Münz, Einwanderungsland Österreich? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und
politische Maßnahmen, Wien 1995, S. 13 f.
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293
•
Die im 17. und 18. Jahrhundert stattfindenden Zwangsaussiedlungen von Protestanten, wie etwa die Deportation der „Landler“ nach Siebenbürgen oder ins
Banat unter Maria Theresia,
•
die wirtschaftlich bedingten Saisonwanderungen (Schwabenzüge) aus den
Alpen- und Karpatenländern in die Agrargebiete des Alpenvorlandes und Ungarns
•
und die Zuwanderung politischer, wirtschaftlicher und künstlerischer Eliten
aus dem Ausland nach Wien.
Die industrielle Revolution und in weiterer Folge die Verbesserungen im öffentlichen
Verkehr ließen Migration zu einem Massenphänomen heranwachsen. Ab Mitte des
19. Jahrhunderts nahmen die Wanderdistanzen deutlich zu. Ziele waren zumeist die
Großstädte der Monarchie wie etwa Wien oder Prag sowie die industriellen Zentren
– das südliche Wiener Becken, die Obersteiermark oder das Vorarlberger Rheintal. Das
Ausmaß der damaligen Zuwanderung verdeutlichen die Einwohnerzahlen der Stadt
Wien. 1790 lebten in Wien mit Vorstädten 200.000 Menschen. 1860 hatte sich diese
Zahl mit knapp 500.000 Einwohnern mehr als verdoppelt und bis 1910 verzehnfacht.11
Das Dampfschiff war seit dem späten 19. Jahrhundert das zentrale (Übersee-)Transportmittel. Da dadurch Reisen nach Übersee kürzer und erschwinglicher wurden, war
es neben der Hoffnung auf Arbeit oder berufliche Selbstständigkeit mit ausschlaggebend für eine starke Auswanderungswelle nach Übersee. Zwischen 1870 und 1910
verließen rund 3,5 Millionen Menschen Österreich-Ungarn. Alleine aus dem heutigen
Gebiet Vorarlbergs emigrierten bis 1938 5.000 Menschen in die USA. Neben den USA
waren auch Brasilien und Argentinien häufige Zielländer.12
Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer weiteren Auswanderungswelle nach Übersee. Siebzig Prozent (22.462 Personen) der österreichischen Übersee-Auswanderer kamen in der Zwischenkriegszeit aus dem heutigen Burgenland, das seit 1921 zur Republik Österreich gehörte. Mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische
Deutschland kam es aufgrund der systematischen Verfolgung von Juden und anderen
Menschengruppen zu einem Massenexodus. Dabei gelang rund 125.000 österreichischen Juden die Flucht.13
Nach 1945 gab es weitere quantitativ hohe Wanderungs- bzw. Flüchtlingsbewegungen nach Österreich, die hier kurz angedeutet werden sollen. In den Jahren 1945–1950
immigrierte rund eine Million Volksdeutsche aus dem Osten Europas nach Österreich.
Rund die Hälfte dieser Menschen blieb schlussendlich auch im Land. 1956 endete der
Ungarische Volksaufstand mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen, der eine enorme
Auswanderungswelle zur Folge hatte. 180.000 UngarInnen flüchteten nach Österreich.
Viele dieser Flüchtlinge wanderten in die USA und Kanada weiter aus; 8.000 kehrten
zurück und 18.000 blieben in Österreich. Der wirtschaftliche Aufschwung Mitte der
11
12
13
Fassmann/Münz, Einwanderungsland Österreich?, S. 13–28.
Ebd.
Ebd., S. 29 ff.
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Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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1950er-Jahre und der damit einhergehende Arbeitskräftemangel bewirkten eine staatlich gelenkte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Dieses bewusste Eingreifen der
Politik stellt eine Sonderform in der österreichischen Migrationsgeschichte dar, die das
anschließende Kapitel näher beleuchten wird.14
In der Folge der Ereignisse des Prager Frühlings verließen 1968/69 innerhalb eines
Jahres rund 160.000 TschechInnen und SlowakInnen ihre Heimat via Österreich. Auch
wenn Österreich immer wieder freiwillig Flüchtlinge aus Übersee wie etwa aus Chile
oder Argentinien aufnahm, war der Flüchtlingszustrom in den 1970er-Jahren eher gering. Ab den 1980er-Jahren war Österreich aufgrund zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen wieder Ziel oder Zwischenstation mehrerer Migrations- bzw. Flüchtlingswellen. So gewährte Österreich zwischen 1992–1995 rund 80.000 Bürgerkriegsopfern aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina vorübergehend Aufenthalt. Zu dieser
Zeit verschärfte sich die ausländerfeindliche Stimmung in der Gesellschaft und Politik,
was ab 1993 zu einem restriktiveren Asyl- und Fremdengesetz führte. Das Drittstaatenprinzip, das aus diesen Gesetzesverschärfungen resultierte, ermöglichte es Österreich,
zahlreichen Kriegsopfern die Ein- oder Durchreise zu verwehren.15 Weshalb „die Hauptlast dieser größten Flüchtlingswelle seit 1945/46 […] Bosnien-Herzegowina selbst sowie Kroatien, Serbien, Slowenien und Montenegro [trugen].“16
Mit dem Beitritt Österreichs zur EU 1995 und dem daraus resultierenden Schengener
Abkommen veränderte sich die Einwanderungspolitik in Österreich drastisch.
„In der Zweiten Republik wurden Zuwanderung und Arbeitsmarkt durch die
kooperative Interessenspolitik von Staat, Gewerkschaft und Unternehmerverbänden gelenkt. Dieses für Österreich typische sozialpartnerschaftliche System der Zuwanderungs- und Arbeitsmarktregulierung wurde 1993 von einem
Quotensystem abgelöst, das Neuzuzüge wesentlich erschwerte. […] Die Einführung dieses Aufenthaltsgesetzes markierte eine Zäsur in der bis dahin relativ offen gehandhabten Zuwanderungspolitik.“17
Aktuell wird die Zuwanderung in Österreich durch ein Quotensystem geregelt, wobei
die rechtliche Grundlage für die Zuwanderung nach Österreich das Fremdenrechtspaket von 2005 bildet, das auch die Basis für das Niederlassungs-, das Aufenthalts- und
das Asylgesetz von 2009 ist. Seit 2011 ersetzt die Rot-Weiß-Rot Card die quotengeregelte Zuwanderung nach Österreich. Ihr liegt ein Punktesystem zugrunde, das die
Bereiche Alter, Deutschkenntnisse sowie Berufsausbildung berücksichtigt.
Das Bild der Zuwanderung in Österreich setzt sich heute aus zahlreichen Formen zusammen, wie die unten stehende Grafik zeigt. Insgesamt sind 2012 125.600 ausländische Staatsangehörige – davon 17.413 Asylwerbende – eingewandert, während
gleichzeitig 74.400 Österreich wieder verließen. Somit ergibt sich eine im Vergleich mit
14
15
16
17
Fassmann/Münz, Einwanderungsland Österreich?, S. 34 f.
Ebd., S. 35 ff.
Ebd., S. 37.
Sylvia Hahn, Österreich, in: Klaus Bade/Pieter Emmer u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 171–188, hier S. 186.
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vorangegangen Jahren eine höhere Netto-Zuwanderung von 51.200 Personen, die
aber vor allem auf den EU-Beitritt einiger Staaten zurückzuführen ist.18
Formen der Zuwanderung nach Österreich 2012 (insgesamt: 140.358 Zuzüge)
14.753
Rückkehr österreichischer
2)
Staatsangehöriger
1.193
Schlüsselarbeitskräfte
aus Drittstaaten
77.178
Zuzüge von Staatsangehörigen
2)
EU/EWR/SCHWEIZ
17.413
Asylwerber/-innen
12.525
Familiennachzug aus
Drittstaaten
11.112
1)
Sonstiger Zuzug von
Drittstaatsangehörigen
6.184
Saisonarbeiter/-innen
aus Drittstaaten
Grafik 1: Formen der Zuwanderung19
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Österreich seit jeher ein Einwanderungsland ist, das heute mit einer zahlenmäßig geringeren, wenn auch aufgrund von politischen, wirtschaftlichen wie sozialen Veränderungen komplexeren Zuwanderung
konfrontiert ist.
Das folgende Kapitel geht nun näher auf die Arbeitsmigration in den 1960er-Jahren
ein und versucht deren besondere Rolle im Kontext der österreichischen Migrationsgeschichte aufzuzeigen.
Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte von 1960 bis zum Anwerbestopp
1973
Der wirtschaftliche Aufschwung Mitte der 1950er-Jahre, das Abwandern vieler ÖsterreicherInnen aufgrund des niedrigen Lohnniveaus ins Ausland sowie der stockende
Zustrom der ländlichen Bevölkerung in Industriezweige kann als Auslöser bzw. als Beginn für eine aktive österreichische Migrationspolitik der Zweiten Republik gesehen
werden. Nicht zuletzt, weil VertreterInnen der Bundeswirtschaftskammer (BWK) die
Zulassung ausländischer Arbeitskräfte forderten.20
18
19
20
ÖIF, Fact Sheet 04 Migration und Wirtschaft, April 2014, [http://www.integrationsfonds.at/fileadmin/Integrationsfond/Fact_Sheets/Fact_Sheet_04_Migration_und_Wirtschaft.pdf ], eingesehen 15.9.2014, S. 3–4.
Die Grafik wurde von der Autorin aus dem ÖIF-Bericht „Migration und Wirtschaft“ von 2014 direkt übernommen,
S. 4.
Hannes Wimmer, Die Arbeitswelt der ausländischen Arbeitnehmer, in: Hannes Wimmer (Hrsg.), Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Frankfurt a. M.-New York 1986, S. 241–280, hier S. 5 f.
296
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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„Nach der Integration der Zuwanderer der Nachkriegsjahre reagierte Österreich auf die steigende Nachfrage von Arbeitskräften Anfang der sechziger
Jahre mit der Anwerbung von ‚Gastarbeitern‘. Das heißt: Die Rekrutierung von
Arbeitskräften fand nicht mehr im Inland statt, sondern im Ausland […].“21
Auch wenn Österreich im Vergleich mit anderen europäischen Ländern erst spät mit
einem Arbeitskräftemangel konfrontiert worden war, musste von politischer Seite dennoch reagiert werden. Die Bundeswirtschaftskammer (BWK) und der Österreichische
Gewerkschaftsbund (ÖGB) kamen 1961 im Rahmen des Raab-Olah-Abkommens, das
nach den jeweiligen Präsidenten Ing. Julius Raab und Franz Olah benannt ist, überein,
den österreichischen Arbeitsmarkt nach bestimmten Vereinbarungen zu öffnen. Damit
reagierte man nicht nur auf die Forderung von Unternehmen, sondern in erster Linie
auf das Urteil des Verfassungsgerichtshofs (VGH) vom 18. Dezember 1959, der drei Erlässe des Bundesministeriums für soziale Verwaltung (BMfsV), die auf der Verordnung
über ausländische Arbeitnehmer von 1933 aufbauten, mit Wirkung ab dem 15. Juni
1960 für gesetzwidrig erklärt hatte.22
Das Raab-Olah-Abkommen legte die Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften
auf Basis von Kontingenten fest. Zu Beginn wurde ein Kontingent von 47.000 festgesetzt, wobei die Kontingente jährlich neu beschlossen wurden. Das Abkommen, das
einen Kompromiss zwischen ÖGB und BWK darstellte, beinhaltete weiters die zeitliche
Begrenzung des Aufenthalts auf ein Jahr (Rotationsprinzip), die bescheinigte unbedenkliche Gesundheit der ausländischen Arbeitskräfte, die gesicherte Rückreise der
GastarbeiterInnen sowie faire Arbeitsbedingungen und die gleichberechtigte Entlohnung der ausländischen gegenüber den inländischen ArbeiterInnen. Zudem durften
Arbeitsstellen streikender inländische Arbeitskräfte nicht mit GastarbeiterInnen besetzt
werden. Bei Kündigungen mussten jedoch ausländische Arbeitskräfte vor einheimischen Arbeitskräften entlassen werden. Dieses Abkommen mit den hier dargestellten
Vereinbarungen bildete von 1962 bis zum Inkrafttreten des AusländerInnenbeschäftigungsgesetzes 1975 die rechtliche Grundlage für die staatlich gelenkte Beschäftigung
ausländischer Arbeitskräfte.23
Die staatlich gelenkte Anwerbung war in Mitteleuropa schon voll im Gange, als Österreich sich in die Gruppe der Anwerbeländer einreihte. Die BRD hatte bereits 1955
ein Anwerbeabkommen mit Italien geschlossen. Österreich schuf, um in diesem
Konkurrenzkampf um Arbeitskräfte bestehen zu können, Anwerbeinstrumentarien nach BRD-Vorbild.24 „[E]s umfasste eine koordinierende Institution im Inland mit
Kommissionen als Verbindungsstellen in den Entsendeländern und Anwerbe- und
Sozialversicherungsabkommen.“25
21
22
23
24
25
Eveline Wollner, Die Reform der Beschäftigung und Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte Anfang der 1960er
Jahre in Österreich, in: Zeitgeschichte 34 (2007), Heft 4, S. 213–225, hier S. 213 f.
Ebd.
Ebd., S. 217 ff. und Rainer Bauböck, „Nach Rasse und Sprache verschieden“. Migrationspolitik in Österreich von der
Monarchie bis heute (Reihe Politikwissenschaft/Political Science Series 31), Wien 1996, S. 12 ff.
Wollner, Reform der Beschäftigung, S. 218 f.
Ebd., S. 219.
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297
Das erste Abkommen schloss Österreich mit Spanien, wobei dieses ohne Folgen blieb.
1964 und 1966 folgten Abkommen mit der Türkei und Jugoslawien, die heute noch
zentrale Herkunftsländer von Einwanderern sind. Geplante Abkommen mit Griechenland und Italien kamen nicht zustande. Die Anwerbung an sich erfolgte auf offiziellem
Weg über die Anwerbestellen in Istanbul und Belgrad. Diese Stellen arbeiteten mit den
nationalen Arbeitsämtern zusammen. Ziel dieser Zusammenarbeit war es, die BewerberInnen hinsichtlich ihrer Berufserfahrung und Qualifikation zu klassifizieren und in
die entsprechenden Branchen in Österreich einzuteilen. Obwohl die Anwerbung über
den offiziellen Weg sicherstellte, dass Firmen nur Arbeitskräfte mit entsprechenden
Qualifikationen zugeteilt bekamen, entschieden sich viele Unternehmen aus Zeit- und
Kostengründen – die Anwerbung dauerte zwischen vier und fünf Wochen und kostete
z. B. bei TürkInnen zwischen 900 und unter 2.000 Schilling Anwerbepauschale – für
zwei andere Anwerbewege.26
Ein solcher Weg der Anwerbung erfolgte über die Vermittlung von Verwandten oder
Bekannten durch bereits ausgewanderte MigrantInnen, die zumeist im Auftrag der jeweiligen Firma gegen eine „Kopfprämie“ Mundpropaganda im Heimatland betrieben.
Die „Touristenbeschäftigung“, wie dieses Verfahren in der Fachliteratur bezeichnet wird,
stellt eine weitere, wenn auch nach damaligem österreichischem Recht illegale Form
der Ausländerbeschäftigung dar. Aufgrund der Visafreiheit, die Österreich bereits 1955
mit der Türkei vereinbart hatte, reisten ausländische Arbeitssuchende als „Touristen“
ein. Sofern diese innerhalb des dreimonatigen Aufenthalts eine Arbeitsstelle gefunden
hatten, konnte die notwendige Einreise-, Aufenthalts- sowie Arbeitserlaubnis im Nachhinein beantragt werden.27
Trotz dieser Möglichkeiten und Maßnahmen stieg die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte in Österreich aufgrund des vergleichsweise niedrigen Lohnniveaus nur langsam.
Mit Ende der 1960er-Jahre stieg die Zahl der GastarbeiterInnen jedoch jährlich um
20.000 bis 40.000 Personen an. Im Jahr 1970 wurden erstmals mehr als hunderttausend
Bewilligungen gezählt. 1973, dem Höhepunkt der ersten Arbeitsmigrationsphase, waren rund 250.00028 MigrantInnen in Österreich beschäftigt. Vorarlberg war mit 24.761
(23 Prozent) ausländischen ArbeiterInnen im Bundesländervergleich Spitzenreiter. Auf
Bundesebene bildeten die Personen aus Jugoslawien mit 78,5 Prozent den größten
Anteil an ausländischen Arbeitskräften, gefolgt von den TürkInnen mit 11,8 Prozent.29
Welche Bedeutung die Beschäftigung von GastarbeiterInnen für die österreichische,
aber auch die zentraleuropäische Wirtschaft hatte, zeigt der Ausländeranteil bei den
unselbstständig Beschäftigten. Während Österreich 1965 mit 1,6 Prozent noch über
einen sehr geringen Anteil an GastarbeiterInnen verfügte, stieg dieser binnen acht
26
27
28
29
Helga Matuschek, Ausländerpolitik in Österreich 1962–1985, in: Journal für Sozialforschung 25 (1985), Heft 2,
S. 153–198, hier S. 170 f.
Ebd., S. 172 f. und August Gächter, Migrationspolitik in Österreich seit 1945, in: Zentrum für Soziale Innovation
(Hrsg.), Arbeitspapiere Migration und Soziale Mobilität Nr. 12, 10.10.2008, [https://www.zsi.at/attach/p1208vu
kovic.pdf ], eingesehen 15.9.2014, S. 4 f.
Diese Zahl umfasst lediglich die in Österreich legal beschäftigten ausländischen Arbeitskräfte.
Bauböck, Migrationspolitik in Österreich, S. 12 ff. und Matuschek, Ausländerpolitik in Österreich 1962–1985,
S. 173 ff.
298
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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Jahren (1973) auf eine GastarbeiterInnenbeschäftigung von 8,7 Prozent. Diese Werte
waren lediglich in der damaligen BRD mit 10,8 Prozent und der Schweiz mit 26,1 Prozent noch höher. Im 1985 vom damaligen Sozialministerium herausgegebenen Band
„Ausländische Arbeitnehmer in Österreich” werden die Auswirkungen der GastarbeiterInnenbeschäftigung auf die Konjunktur durchwegs positiv bewertet. Die GastarbeiterInnen hätten wesentlich dazu beigetragen, den Konjunkturaufschwung in der ersten
Hälfte der 1970er-Jahre zu verlängern, und ohne die ausländischen Arbeitskräfte wäre
es zu einem Kapazitätsengpass in der Produktion gekommen, schreibt Ewald Walterskirchen.30
So wie der Plan der staatlich gelenkten Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften von Unternehmen wie MigrantInnen unterwandert wurde, ging auch der Plan der
zeitlich begrenzten Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräften aus unternehmerischen Gründen nicht auf. Viele Unternehmen waren nicht bereit, bereits eingelernte
ausländische Arbeitskräfte jährlich durch neu angeworbene zu ersetzen. Zudem forderte die Gewerkschaft bei Beschäftigungsbedarf die Aufrechterhaltung der Anstellung und die MigrantInnen selbst verlängerten ihren Aufenthalt, solange ihnen Arbeit
geboten wurde und sie ihr Sparziel noch nicht erreicht hatten.31
Diese beidseitige, aus wirtschaftlicher wie auch aus persönlicher MigrantInnen-Sicht
plausible Unterwanderung der staatlichen Vorgaben bewirkte den Familiennachzug
und somit eine dauerhafte Niederlassung der angeworbenen Arbeitskräfte. „Spätestens mit der Geburt oder dem Schulbesuch von Kindern in Österreich wurde die geplante Rückkehr zur (allerdings oft hartnäckig beibehaltenen) Illusion.“32
Mit dem Nachzug der Familien setzte eine zweite Welle der Arbeitsmigration nach Österreich ein. Während die erste Zuwanderungswelle mit dem Abschluss der Anwerbeabkommen vor allem männlich geprägt war, bewirkte der Nachzug der Familien
eine deutliche Erhöhung des Frauenanteils. Diese Entwicklung entsprach nicht nur
dem subjektiven Wunsch der in Österreich arbeitenden Gastarbeiter, sondern auch der
steigenden Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften im Textil- und Dienstleistungssektor.33
Die zu Beginn der 1970er-Jahre einsetzende Wirtschaftskrise brachte neben vielen
Entlassungen den Stopp von Neuanwerbungen, der Neuzugänge nur noch über Einzelgenehmigungen mit der Zustimmung der jeweiligen Ausschüsse möglich machte.
Ausländische ArbeiterInnen mit Anstellung konnten aufgrund des Zutuns der Unternehmen, die das System der Rotation aufgrund ökonomischer Aspekte kritisierten, ihre
Arbeitsplätze behalten. Die Ölkrise von 1973 und die daraus resultierende Rezession in
Österreich hatten trotz der gesetzlichen Verschärfungen einen, wie Rainer Bauböck es
beschreibt, paradoxen Effekt.
30
31
32
33
Bundesministerium für Soziale Verwaltung: Ausländische Arbeitnehmer in Österreich, Forschungsberichte aus
Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Nr. 9, Wien 1985, S. 325.
Bauböck, Migrationspolitik in Österreich, S. 13 f.
Ebd., S. 14.
Ebd., S. 14 ff.
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„Der Anwerbestopp seit dem Jahr 1973 und die Beschränkung des Neuzugangs zum Arbeitsmarkt hatten sogar den paradoxen Effekt einer Beschleunigung dieser Prozesse. Konnten Ausländer zuvor erwarten, nach einer vorübergehenden Rückkehr in ihre Heimat wieder in Österreich Beschäftigung
zu finden, so war es angesichts der restriktiven Politik klüger, im Land zu bleiben und die Familie rasch nachzuholen. Die Regulierung hatte also den Effekt,
eine fluktuierende Migration zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland in einen
Rückwanderungs- und einen Einwanderungsstrom aufzuspalten.“34
Aus dem Inkrafttreten des AuslBG 1976, das eine gesetzliche Regelung der Zuwanderung nach Österreich darstellte, und der damaligen wirtschaftlich schwierigen Situation resultierte eine hohe Arbeitslosigkeit von AusländerInnen. So wurden zwischen
1974–1976 55.000 ausländische Arbeitskräfte entlassen. Bis 1984 wurden insgesamt
vierzig Prozent der Arbeitsplätze, die von ausländischen Arbeitskräften besetzt waren,
abgebaut.35
Zusammenfassend bildeten das Raab-Olah-Abkommen sowie die Anwerbeabkommen mit Spanien 1962, vor allem aber mit der Türkei 1964 und Jugoslawien 1966 den
Grundstein für die österreichische Arbeitsmigrationsgeschichte. Die mehr oder weniger illegale Handhabung der Abkommen-Verordnungen aus wirtschaftlichen oder
individuellen Gründen hat Österreich als Staat, als Wirtschaftskraft, aber auch als Gesellschaft wesentlich geprägt und prägt es heute noch.
Damalige Situation in der Türkei
Der folgende kurze Exkurs dient einem Perspektivenwechsel, der abseits von den Entwicklungen und Bedürfnissen der österreichischen bzw. der westeuropäischen Wirtschaft die damalige Situation in der Türkei skizzieren soll.
Während westeuropäische Länder wie die Bundesrepublik, die Schweiz oder eben
auch Österreich ab Mitte der 1950er-Jahre an einem aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Arbeitskräftemangel litten, wiesen Länder wie beispielsweise die Türkei
eine ausgeprägte Unterbeschäftigung auf. Karin Hunn nennt drei Hauptgründe für die
hohe Zahl an Arbeitslosen in der damaligen Türkei:36
34
35
36
•
das starke Bevölkerungswachstum
•
die Mechanisierung der Landwirtschaft und
•
die beschleunigte Industrialisierung.
Baubock, Migrationspolitik in Österreich, S. 14.
Silvia Schmiderer, Integration: Schlagwort – Zauberwort – hohles Wort. Eine historische und begriffliche Auseinandersetzung im Kontext der österreichischen Immigrationsgeschichte (1970–2005), phil. Dipl. Universität Wien
2008, S. 34.
Karin Hunn, „Nächstes Jahr kehren wir zurück...“, Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik, Göttingen 2005, S. 33.
300
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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Diese Entwicklungen hatten in der Türkei eine Binnenmigration vom Land in die Industriezentren zur Folge, wodurch sich die Struktur der Türkei rasant veränderte und
dadurch sowohl die türkische Wirtschaft als auch die Regierung unter Menderes in
eine tiefe Krise stürzte.37
Um diese schwierige Wirtschaftslage in den Griff zu bekommen, wurde sie quasi verstaatlicht. Das Regime verankerte die staatliche Wirtschaftsplanung in der neuen Verfassung, die im Juli 1961 verabschiedet wurde. Im Oktober desselben Jahres schloss die
Türkei bereits ein bilaterales Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik. Weitere Anwerbeabkommen mit Belgien, den Niederlanden, Österreich, Frankreich und Schweden wurden in den darauffolgenden Jahren getroffen.
Die staatlich gelenkte Aussendung von Arbeitskräften in die Länder Westeuropas war
Teil der türkischen Beschäftigungspolitik, deren Hauptziel es war der wachsenden Arbeitslosigkeit im Land entgegenzuwirken. Während die türkische Regierung Verantwortung für die Aussendung von ArbeiterInnen der türkischen Anstalt für Arbeitsvermittlung übertrug, wurden soziale Probleme, die in Zusammenhang mit der Auswanderung standen, lange Zeit ignoriert.
Bis 1967 verließen 204.042 türkische StaatsbürgerInnen ihre Heimat. Dabei war die
größte Gruppe jener Personen, die seit 1964 emigrierten, zwischen 25 und 35 Jahre
alt, 38 Prozent waren Fachkräfte und sechzig Prozent stammten aus dem industrialisierten Westen der Türkei. Dies entsprach natürlich nicht dem, was sich die türkische
Regierung erhofft hatte: nämlich die Entsendung von unqualifizierten Arbeitskräften
zur Ausbildung ins Ausland.
Rückblickend trug die Aussendung von Arbeitskräften nicht wesentlich zur Ausbildung
von unqualifizierten Arbeitskräften oder zur Beschäftigung von in der Landwirtschaft
nicht mehr benötigten Arbeitskräften bei. Vielmehr entsprach die Migration dem Bedarf und den Anforderungen der westeuropäischen Anwerbeländer. In den ersten
elf Jahren der staatlich gelenkten Aussendung und Anwerbung migrierten offiziell
654.465 Menschen, von diesen gingen 83,16 Prozent in die Bundesrepublik Deutschland, 16,84 Prozent in andere Länder. 38
GastarbeiterInnen39
Der Gastarbeiter-Begriff resultiert in den deutschsprachigen Ländern wie Österreich
oder der Bundesrepublik Deutschland aus der gezielten und dringend notwendig gewordenen Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften ab der Mitte der 1950er-Jahre
37
38
39
Hunn, Nächstes Jahr, S. 33.
Beril Tufan, Migration von Arbeitnehmern aus der Türkei (Prozesse der Migration und Remigration), in: Eckhardt
Koch (Hrsg.), Chance und Risiken von Migration. Deutsch-türkische Perspektiven, Freiburg im Breisgau 1998,
S. 32–51, S. 39 f.
In dieser Arbeit wird versucht Begrifflichkeiten, die beide Geschlechter betreffen, zu gendern. So auch der Gastarbeiter-Begriff, auch wenn aus historischer Sicht die ersten angeworbenen Gastarbeiter Männer waren, bezeichnete er in weiterer Folge auch Frauen. Des Weiteren soll betont werden, dass der Gastarbeiter-Begriff in dieser
Arbeit vollkommen wertfrei verwendet wird und mehr als Synonym für eine ausländische Arbeitskraft zu verstehen ist.
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301
bis zum Anwerbestopp 1973. Zu Beginn diente diese neue Bezeichnung zur positiven
Abhebung vom besonders negativ konnotierten Begriff „Fremdarbeiter“, wie Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs genannt worden waren. Gleichzeitig verdeutlicht dieses Kompositum, das sich aus den Substantiven „Gast“ und „Arbeiter“ zusammensetzt, dass die Öffentlichkeit wie auch die Politik lange von einer Rückkehr dieser
angeworbenen Arbeitskräfte ausgingen. Bereits gegen Ende der 1960er-Jahre hatte
der Gastarbeiter-Begriff den des Fremdarbeiters im öffentlichen Sprachgebrauch abgelöst. Durch die sukzessive Unterwanderung des Rotationsprinzips, das die Rückkehr
der ausländischen Arbeitskräfte vorsah, wurden aus GastarbeiterInnen Einwandernde,
wodurch der Gastarbeiter-Begriff immer mehr abwertende Bedeutung erlangte.40
1973 definierte der Arbeitskreis für ökonomische und soziologische Studien Wien jene
ab 1964 angeworbenen Menschen als „[…] überwiegend minder qualifizierte Arbeitnehmer (Arbeiter, vor allem Anlern- und Hilfsarbeiter, sowie Angestellte in den untersten rein manipulativen Tätigkeiten) aus wirtschaftlich unter dem österreichischen Entwicklungsstand stehenden Ländern (derzeit fast ausschließlich aus Jugoslawien und
der Türkei)“.41
Tatsächlich stammten zu Beginn der Beschäftigung von GastarbeiterInnen in Österreich rund drei Viertel der türkischen Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft. Zudem, so
schreiben Alber/Gehrmacher, hätten 63 Prozent dieser nach Österreich Immigrierten
vorher ihre Heimat noch nie verlassen.42 Jedoch muss diese Tatsache, die zahlreiche ÖsterreicherInnen in ihrer Haltung gegenüber MigrantInnen bestätigt, relativiert werden.
Herkunft türkischer Arbeitskräfte
Betrachtet man die Herkunft der anfänglich angeworbenen türkischen Arbeitskräfte
in Mitteleuropa, wird deutlich, dass ein Großteil der angeworbenen Personen aus dem
Norden und dem Westen der Türkei – also den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Regionen – stammte. Dies bestätigt auch eine 1963 von der staatlichen Planungsorganisation (DPT) in Auftrag gegebene Erhebung. So stammte mehr als die Hälfte –
genau 51 Prozent – aller angeworbenen türkischen GastarbeiterInnen aus Städten wie
Izmir (4,3 %), Ankara (5,7 %) oder Istanbul (41 %). Lediglich 18,2 Prozent der fünfhundert
befragten Personen gaben an, aus Dörfern mit weniger als 2.000 Einwohnern zu kommen. Auch verfügte ein hoher Prozentsatz der türkischen MigrantInnen über ein relativ
hohes Ausbildungs- bzw. Bildungsniveau. 15,4 Prozent der Befragten besaßen einen
Berufsschulabschluss, 12,8 Prozent einen Mittelschulabschluss, 5,1 Prozent hatten eine
höhere Ausbildung (Matura, Hochschulabschluss) und weitere 49 Prozent gaben an,
die Grundschule abgeschlossen zu haben.43
40
41
42
43
Hunn, Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“, S. 9 f. und Elisabetta Mazza, Ein Ausländer ist ein Ausländer
ist ein Ausländer oder Die sprachlichen (Fehl-) Schritte in Richtung Interkulturalität: deutsche Bezeichnungen für
Nicht-Inländer, in: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 2(3), 1998, [http://www.spz.tu-darmstadt.
de/projekt_ejournal/jg_02_3/beitrag/mazzza.htm], eingesehen 14.9.2014, S. 2 ff.
Karl Alber/Ernst Gehmacher (Hrsg.), Gastarbeiter. Wirtschaftliche und soziale Herausforderung, Wien 1973, S. 7.
Ebd., S. 17.
Hunn, Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“, S. 71.
302
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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Bezogen auf den Aspekt der Herkunft der angeworbenen türkischen Arbeitskräfte
muss das Migrationsphänomen der Binnenwanderung berücksichtig werden. So verweist Beril Tufan darauf, dass der Auswanderung aus der Türkei eine Binnenwanderung
vom Land in die Stadt vorangegangenen war. Wodurch sich einerseits die Bereitschaft
der türkischen Bevölkerung zur Migration bereits abzeichnete und andererseits klar
wird, dass die oben dargestellte Erhebung von 1963 nicht zwischen Herkunftsort bzw.
langjährigem „gewöhnlichen Aufenthaltsort“ und dem letzten Wohnort vor der Ausreise differenziert.44
Ein weiterer Punkt, der gegenüber der Herkunft und der damit zusammenhängenden
Qualifikation von GastarbeiterInnen berücksichtigt werden muss, ist jener der Weiterwanderung. Ein Drittel der von Österreich angeworbenen türkischen Arbeitskräfte zog
weiter in die Bundesrepublik Deutschland. Bei einem Großteil dieser GastarbeiterInnen
handelte es sich um besser qualifizierte, die aufgrund des besseren Lohnniveaus Österreich wieder verließen. Zudem konzentrierte sich die österreichische Anwerbung auf
arbeitsintensive Niedriglohn-Branchen, wie das Bauwesen, die Textilindustrie oder das
Gastgewerbe.45
Anhand der Aspekte Herkunft und Qualifikation wird deutlich, dass das „Kollektiv“ der
angeworbenen türkischen GastarbeiterInnen, das sich anfangs vor allem aus Männern
zwischen zwanzig und vierzig Jahren zusammensetzte, keineswegs eine homogene
Gruppe darstellt. Dieses Faktum sollte im Besonderen für das anschließende Kapitel,
in dem versucht wird die zentralen Migrationsmotive aufzuschlüsseln, berücksichtigt
werden.
Migrationsmotive
Wie bereits angesprochen, stellt auch die Frage nach den Beweggründen und den
Umständen ein weites, facettenreiches Forschungsfeld dar, das hier nur kurz erläutert
wird.
Hunn zählt bezogen auf die DPT-Studie von Abadan drei generelle Migrationsgründe
auf:46
•
Materielle Sicherheit und Wohlstand.
•
Möglichkeit zur Schaffung einer besseren beruflichen Zukunft.
•
Persönliche Unabhängigkeit und Freiheit.
Diese Beweggründe wurden im Zuge der Studie von 1963 prozentuell erhoben und
detailliert aufgeschlüsselt. Zwanzig Prozent der Befragten wollten Geld sparen, 18,6
Prozent wollten ihre und die Zukunft ihrer Familie sichern, 17,4 Prozent wollten Berufskenntnisse erwerben und 14,8 Prozent verfolgten das Ziel, ein Auto zu kaufen. Weitere
Motive waren ein Studium absolvieren (9,3 Prozent), ein Haus bauen (6,7 Prozent), die
44
45
46
Tufan, Migration von Arbeitnehmern aus der Türkei, S. 45.
Alber/Gehmacher, Gastarbeiter, S. 17 ff.
Hunn, Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“, S. 72 f.
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Welt erkunden und Deutsch lernen (3 Prozent) und 0,6 Prozent wollten ihre Schulden
abzahlen.47
Diese Motive resultierten größtenteils aus den schwierigen sozialen sowie politisch
repressiver werdenden Zuständen in der damaligen Türkei. Ende der 1950er-Jahre verfügte die Türkei aufgrund von schlechter Witterung über wenige Agrargüter, wodurch
der Export stagnierte und sowohl die Inflation als auch die Arbeitslosenquote anstiegen. Dies und die ungewisse politische Lage in der Türkei – das türkische Militär griff
innerhalb eines Jahrzehnts (1961 und 1971) in Form eines Putsches in die Staatspolitik
ein – bestärkte die Menschen in ihrer Migrationsentscheidung.48
Auch wenn der primäre Wunsch vieler türkischer ArbeitsmigrantInnen der Erwerb von
Geld war, so war dennoch das Hoffen auf eine bessere Zukunft der entscheidende Antrieb für viele Menschen ihre Heimat zu verlassen.
Warum Österreich?
Neben der Frage nach den Migrationsmotiven, die oben bereits anschaulich gemacht
wurden, stellt sich die Frage, weshalb sich viele GastarbeiterInnen für eine Migration
nach Österreich entschieden haben, wenn doch das Lohnniveau in der Bundesrepublik Deutschland ein höheres war.
Alber und Gehmacher zählen hierzu wesentliche Gründe auf:49
•
Die räumliche Nähe zur Heimat, die eher einen kurzfristigen Heimaturlaub erlaube.
•
Die kulturelle Nähe, die besonders für JugoslawInnen durch die kroatische
Minderheit aus dem Burgendland erkennbar sei.
•
Das österreichische Klima und Landschaftsbild ähnle eher jenem der Heimatländer als jenes in Deutschland.
•
Die österreichische Lebensweise, da hier mehr Wert auf Lebensqualität und
soziale Sicherheit als auf Leistung und Erfolg gelegt werde.
•
Das Gefühl, dass ÖsterreicherInnen größere Toleranz gegenüber Einwanderern/Einwandererinnen haben.
Soziale Situation ausländischer Arbeitskräfte in Österreich
In diesem Kapitel soll versucht werden, anhand der zwei Themenschwerpunkte Einkommen und Wohnen einen Einblick in die damalige schwierige soziale Lage der
GastarbeiterInnen zu geben. Nicht zuletzt, weil soziale Integration oder Isolation von
MigrantInnen eng mit der Wohnsituation oder der Stellung auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängen. Die zusätzliche Betrachtung dieser Bereiche – bezogen auf damals
47
48
49
Hunn, Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“, S. 73.
Klaus Kreiser, Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart, München 2012, S. 87–96.
Alber/Gehmacher, Gastarbeiter, S. 20.
304
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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und heute – soll positive wie negative Entwicklungen oder Veränderungen vor Augen
führen.
Einkommen
Wie bereits mehrfach angedeutet, wurden in Österreich ausländische Arbeitskräfte vor
allem für Niedriglohn-Branchen angeworben. Somit verrichtete, wie die Statistik von
1983 zeigt, ein Großteil der GastarbeiterInnen Hilfsarbeit. 44,3 Prozent der türkischen
Männer und 76,6 Prozent der türkischen Frauen arbeiteten in diesem Jahr als Hilfsarbeiter. Eine Arbeit, in die die türkischen Männer und Frauen eingelernt worden waren,
hatten 39 Prozent der männlichen und nur 21,3 Prozent der weiblichen Gastarbeiter.
Nur eine kleine Gruppe – nämlich 13,3 Prozent der Männer und 2,1 Prozent der Frauen – waren Facharbeiter. Dementsprechend niedrig war auch das durchschnittliche
Einkommen eines türkischen Gastarbeiters/einer türkischen Gastarbeiterin. So lag, laut
Mikrozensus von 1983, der durchschnittliche Gehalt eines männlichen Gastarbeiters
bei 8.880 Schilling, während ein Österreicher durchschnittlich 10.020 Schilling verdiente. Frauen beider Seiten verdienten, wie das auch heute noch der Fall ist, ca. dreißig
Prozent weniger.50
Gleichzeitig waren die Arbeitslosenzahlen von türkischen MigrantInnen relativ niedrig,
wie die Berechnungen von Wimmer für das Jahr 1981 zeigen. So waren im Mai 1981
2.158 TürkInnen arbeitslos, wobei nur 804 TürkInnen arbeitslos gemeldet waren. Dies
spiegelt die schwankende, aber relativ hohe Erwerbsquote türkischer GastarbeiterInnen wieder. Wimmer resümiert bezogen auf Erwerbsquote und Einkommen wie folgt:
„Es ist […] anzunehmen, daß die hohe Erwerbsquote der Gastarbeiterbevölkerung nicht darauf zurückzuführen ist, daß der im Vergleich zum Heimatland
höhere Arbeitsverdienst als Anreiz zur Berufstätigkeit möglichst vieler Familienmitglieder wirkt, sondern daß in zahlreichen Fällen das für österreichische
Lebenserhaltungskosten niedrige Lohnniveau die Arbeitsaufnahme vor allem
von Frauen erzwingt, was besonders für Türken einen Bruch mit Normen der
Herkunftsgesellschaft bedeutet.“51
Heute leben 274.700 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Österreich.
80.800 der in der Türkei geborenen Personen sind in Österreich erwerbstätig. Statistisch
gesehen sind MigrantInnen heute noch häufiger in schlecht bezahlten Berufen tätig
als Einheimische. Laut einer Statistik zur Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria verrichteten 2010 40,9 Prozent der ersten MigrantInnen-Generation und 17,3 Prozent der
zweiten Generation Hilfsarbeit. Betrachtet man die gesamte österreichische Bevölke-
50
51
Medien-Servicestelle Neue Österreich/innen, MSNÖ (Hrsg.), GastarbeiterInnen und ihre schwierige soziale Lage,
13.12.2011 [http://medienservicestelle.at/migration_bewegt/2011/12/13/gastarbeiterinnen-und-ihre-schwier
ige-soziale-lage/?article2pdf=1], eingesehen 5.9.2014.
Wimmer, Arbeitswelt der ausländischen Arbeitnehmer, S. 255.
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rung, arbeiten 38,2 Prozent aller Personen mit Migrationshintergrund in Hilfsarbeit bis
mittleren Tätigkeiten, während das nur 12,1 Prozent der ÖsterreicherInnen betrifft.52
Diese Tatsache schlägt sich, wie ein Bericht des Österreichischen Integrationsfonds
zeigt, auch in einem durchschnittlich niedrigeren Einkommen ausländischer StaatsbürgerInnen gegenüber österreichischen StaatsbürgerInnen nieder. So verdienten
Personen mit Migrationshintergrund ein durchschnittliches Netto-Jahreseinkommen
von 18.798 Euro, während ein Österreicher/eine Österreicherin durchschnittlich 22.764
Euro verdiente. Dies verdeutlicht auch, weshalb ausländische Staatsangehörige in Österreich stärker armutsgefährdet sind.53
Wohnen
Neben der Arbeit bzw. dem Einkommen gehört das Wohnen zu den wesentlichsten
Dimensionen des alltäglichen Lebens. Im Unterschied zur Arbeit und zum Einkommen eröffnete der Bereich „Wohnen“ den MigrantInnen mehr persönlichen Spielraum. Zwar waren die österreichischen Betriebe und Unternehmen dazu verpflichtet,
den angeworbenen GastarbeiterInnen eine ortsübliche Unterkunft bereitzustellen,
jedoch wurde diese Bestimmung kaum kontrolliert. Da dies vielerorts – vor allem im
ländlichen Bereich – nicht erfüllt werden konnte, errichteten viele Betriebe Werksunterkünfte, die anfangs auch 41 Prozent der türkischen GastarbeiterInnen bezogen.
Bezogen auf den Aspekt „Wohnen“ und dem damit verbundenen größeren persönlichen Spielraum lassen sich zwei Einstellungen der türkischen GastarbeiterInnen zum
Wohnen differenzieren. Die erste Gruppe setzte sich aus jüngeren und alleinstehenden Personen zusammen, die ihre Familien in der Heimat zurückgelassen hatten, um
zu arbeiten und zu sparen. Oftmals wurden, um so günstig wie möglich zu wohnen,
schlechte Wohnverhältnisse oder der niedrige Wohnstandard von Heimen oder Betriebsquartieren in Kauf genommen. Das daraus ersparte Geld wurde an die Familie
geschickt oder für die Rückkehr aufgespart. Die zweite Gruppe legte mehr Wert auf
Wohnqualität und war auch bereit, mehr Miete dafür zu bezahlen. Sie bestand zumeist aus gut integrierten GastarbeiterInnen, deren Familien bereits in Österreich
lebten und über die bessere Qualifikationen und Bildung verfügten.54
Nebst diesem Unterschied ergeben sich bei näherer Betrachtung der Wohnverhältnisse von ÖsterreicherInnen und ausländischen Arbeitskräften erhebliche Ungleichheiten, was Wohnungsgröße und Wohnkosten betrifft. Während den ArbeitsmigrantInnen im Durchschnitt pro Person 14,2 m² Wohnfläche zustanden, verfügten ÖsterreicherInnen über knapp doppelt so viel Nutzfläche (28 m²) pro Person. Obwohl viele der
ArbeitsmigrantInnen (und deren Familien) in Substandard-Wohnungen der Kategorie
D55 wohnten, waren ihre Wohnungen bezogen auf die Nutzungsfläche pro m² we52
53
54
55
MSNÖ (Hrsg.), Soziale Situation der GastarbeiterInnen – heute, 12.5.2014, [http://medienservicestelle.at/migration_
bewegt/2014/05/12/soziale-situation-der-gastarbeiterinnen-heute/], 12.5.2014, eingesehen 5.9.2014.
ÖIF, Migration und Wirtschaft, S. 6.
Alber/Gehmacher, Gastarbeiter, S. 46 ff.
WC und/oder Wasserentnahme befinden sich außerhalb der Wohnung.
306
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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sentlich teurer als jene von ÖsterreicherInnen. 1983 war die Miete pro Quadratmeter
für ausländische ArbeiterInnen mit 47 Schilling (ca. 3,42 Euro) fast doppelt so teuer
wie für die in Österreich geborenen Personen (24,5 Schilling/1,78 Euro).56
2008 veröffentlichte die Statistik Austria einen Bericht zur Arbeits- und Lebenssituation
von Migrantinnen und Migranten in Österreich, der im Folgenden dazu dient, einen
Einblick in die aktuelle Wohnsituation türkischer MigrantInnen zu geben. Da dieser
Bericht lediglich zwischen Staatsangehörigkeiten differenziert und dabei den Aspekt
der Einbürgerung außen vor lässt, kann die tatsächliche Wohnsituation der türkischen
Community nicht dargestellt werden. Andererseits aber ermöglicht dieser Bericht einen Vergleich der Wohnsituation türkischer MigrantInnen zwischen damals und heute.
in m2
Die durchschnittliche Nutzfläche pro Person betrug 2008 42,6 m². Personen, die in Österreich geboren wurden, hatten mehr Fläche zur Verfügung, nämlich 44,1 m². Während Personen der EU15 noch mehr Raum hatten (50,9 m²), betrug die Nutzfläche von
türkischen MigrantInnen durchschnittlich nur 20,9 m², wodurch sie selbst im Vergleich
mit MigrantInnen-Gruppen anderer Nationen den letzten Platz belegten. Zudem wies
die Gruppe der in der Türkei geborenen Personen, die in der Kategorie D mit 13,2 m²
Nutzfläche pro Person wohnen, den niedrigsten Wert überhaupt auf.57 Hier zeigt sich,
dass im Vergleich zu 1983 die Nutzfläche pro Kopf an sich angestiegen ist, jedoch für
MigrantInnen weniger stark, weshalb deren jeweilige Werte unter dem angegeben
Durchschnittswert liegen.
60
50,9
50
44,1
42,6
39,3
40
34,4
30
25,2
24,8
24,9
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Grafik 2: Durchschnittliche Quadratmeterzahl der Wohnung pro Person nach Geburtsland 58
56
57
58
Hannes Wimmer, Wohnverhältnisse der ausländischen Arbeiter in Österreich, in: Wimmer (Hrsg.), Ausländische
Arbeitskräfte, S. 285 ff. und Bauböck, Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, S. 355 f.
Statistik Austria, Arbeits- und Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich. Modul der Arbeitskräfteerhebung, 2009, [http://www.statistik.at/web_de/dynamic/services/publikationen/2/publdetail?id=2&li
stid=2&detail=534], eingesehen 28.9.2014.
Die Grafik wurde von der Autorin aus dem Bericht „Arbeits- und Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich“ der Statistik Austria von 2008 direkt übernommen, S. 82.
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in Euro
Ein ähnliches Bild entsteht bei der näheren Betrachtung von Wohneigentum. So besitzen mehr als zwei Drittel (67,9 %) der in Österreich geborenen Menschen ein eigenes
Haus oder eine Eigentumswohnung. Bei MigrantInnen aus der Türkei trifft dies nur auf
jede achte Person (13,1 %) zu. Einen geringeren Wert erreicht nur noch die Personengruppe, die in Serbien geboren wurde. Auch die Mietpreise pro Quadratmeter sind gegenüber jenen von 1983 erheblich, wenn auch nicht linear gestiegen. 2008 bezahlten
ÖsterreicherInnen mit 5,02 Euro pro Quadratmeter zwar fast dreimal so viel wie 1983,
jedoch im Vergleich mit anderen Personengruppen (EU15-Mitglieder, Türken, Serben
usw.) am wenigsten. Während MigrantInnen aus den sonstigen Ländern mit durchschnittlich 6,64 Euro pro Quadratmeter am meisten bezahlen, bezahlen TürkInnen mit
6,15 Euro den dritthöchsten Preis, allerdings nicht einmal doppelt so viel wie 1983.59
8
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Grafik 3: Durchschnittlicher monatlicher Wohnungsaufwand in Euro pro Quadratmeter nach Geburtsland der
Haushaltsreferenzperson 60
Somit zeigt der Bericht von 2008, dass sich heute wie 1983 in den Bereichen Nutzfläche,
Wohnqualität und Wohnkosten wesentliche Unterschiede für türkische MigrantInnen,
aber auch für MigrantInnen aus anderen Nationen im Vergleich zu ÖsterreicherInnen
ergeben.
Die hier dargestellten Missstände und Ungerechtigkeiten im Bereich „Wohnen“ hat Erika Thurner in ihrem Buch „Der ‚Goldene Westen‘?“ bezogen auf das Bundesland Vorarlberg näher beleuchtet und schreibt: „Der Sektor Wohnen beinhaltet ein weites Feld
von Diskriminierungsarten und damit Erklärungsansätze.“ In der Anfangsphase der
Anwerbung von GastarbeiterInnen lebten diese in Vorarlberg vor allem in Massenunterkünften oder in Einzelzimmern sowie Keller- und Garagenräumen zur Untermiete.
59
60
Statistik Austria, Arbeits- und Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich, S. 80–84.
Die Grafik wurde von der Autorin aus dem Bericht „Arbeits- und Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich“ der Statistik Austria von 2008 direkt übernommen, S. 84.
308
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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Lediglich sechs Prozent der GastarbeiterInnen – also weniger als der österreichische
Durchschnitt – verfügten über eine Mietwohnung, was nicht zuletzt auch daran lag,
dass AusländerInnen bis 1987 – und ab da auch nur mit einem zehnjährigen Aufenthalt in Österreich – keinen Anspruch auf Wohnbeihilfe o. ä. hatten. Zudem bekamen
ausländische GastarbeiterInnen seltener Zugang zu Firmenwohnungen als inländische
GastarbeiterInnen.61
„Diese Unterbringungsvariante kam (fast) nur Inländer/innen zugute, auf jeden
Fall kaum Ausländer/innen aus der ersten Zuwanderungsgeneration. An diesem Wohnmodell ist die gesellschaftliche Einstufung der Zuwanderer ablesbar,
beziehungsweise werden daran sowohl Stufen der Fremden-Diskriminierung
als auch Formen von Fremdenangst deutlich.“62
Vorarlberg, ein Einwanderungsland
Seit jeher ließen sich in der heutigen Region Vorarlbergs die verschiedensten Volksgruppen wie Walser, Römer, Alemannen, Franken sowie religiöse Minderheiten wie
Juden nieder, wodurch ein „Völkergemisch“ entstand, das bereits in der Antike als
Alemanni (Alemannen) – also als „zusammengespülte und vermengte Menschen“ bezeichnet wurde.63
Neben Wien ist Vorarlberg eine der höchstindustrialisierten Regionen Österreichs und
daher auch Ziel zahlreicher Arbeits- bzw. Migrationswellen. Rückblickend verfügt Vorarlberg seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert über einen wenn auch schwankenden
Ausländeranteil von zehn bis zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung.64 Der nun folgende Überblick zeigt die stärksten Einwanderungsgruppen der jüngeren Vergangenheit Vorarlbergs auf und stellt gleichzeitig aus historischer Sicht die Dekonstruktion des
Mythos‚ ein wahrer Vorarlberger bzw. eine wahre Vorarlbergerin zu sein, dar.
Die TrentinerInnen (1870–1914) waren die ersten ArbeitsmigrantInnen, die in größerer
Zahl nach Vorarlberg kamen. Bis zu 10.000 italienisch sprechende ArbeiterInnen aus
dem österreichischen Trentino arbeiteten in der Textil- und Baubranche, die aufgrund
des Baus der Arlbergbahn auch den höchsten Beschäftigungsanteil aufwies. Um die
Jahrhundertwende lag ihr Bevölkerungsanteil in bestimmten Gemeinden wie Hard
oder Kennelbach bei vierzig Prozent. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der territorialen Neuordnung – das Trentino war nun Teil Italiens – kehrte ein Teil dieser zugewanderten Menschen zurück; der andere Teil dieser Menschen hatte in Vorarlberg eine
neue Heimat gefunden. 65
61
62
63
64
65
Erika Thurnher, Der „Goldene Westen“? Arbeitszuwanderung nach Vorarlberg seit 1945 (Studien zur Geschichte
und Gesellschaft Vorarlbergs 14), Bregenz 1997, S. 36 ff.
Ebd., S. 38.
Dieter Geuenich, Ein junges Volk macht Geschichte. Herkunft und „Landnahme” der Alamannen, in: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hrsg.), Die Alamannen, Stuttgart 1997, S. 73–78, hier S. 74.
Markus Barnay, Vorarlberg ein Einwanderungsland. 120 Jahre „Gastarbeit” – 120 Jahre Zuwanderung, in: KultUr
Sprünge (1992), Heft 3, S. 7.
Barnay, Vorarlberg ein Einwanderungsland, S. 7. und Kurt Greussing, Vorarlberg ein Einwanderungsland. 120 Jahre
„Gastarbeit” – 120 Jahre Zuwanderung, in: KultUrSprünge (1992), Heft 3, S. 7–9.
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Sich zeitlich mit den TrentinerInnen überschneidend ließen sich zwischen 1890 und
1930 auch deutschsprachige Zuwanderer (InnerösterreicherInnen) aus anderen Kronländern der Monarchie in größerer Zahl in Vorarlberg nieder. Viele waren Handwerker, Beamte oder Post- und Bahnbedienstete. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese
Zuwanderungsgruppe besonders für Bauprojekte der ÖBB (Spullersee) oder Illwerke
angeworben. Auch von dieser Gruppe wurde ein großer Teil in Vorarlberg heimisch.
Die brisanten gesellschaftspolitischen Entwicklungen der 1920er- und 1930er-Jahre,
die in der Machtergreifung des Faschismus gipfelten, hatten für Südtirol die sogenannte „Option“ zur Folge. Im Rahmen des Hitler-Mussolini-Abkommens von 1939 konnten sich die SüdtirolerInnen entscheiden, ob sie unter Aufgabe ihrer kulturellen wie
sprachlichen Identität in Italien bleiben oder Italien ohne ihren Besitz verlassen und
in das Deutsche Reich umsiedeln wollten. Tatsächlich wanderten zwischen 1939 und
1943 etwa 75.000 SüdtirolerInnen aus, davon ca. 11.000 nach Vorarlberg. Auch sie fanden hauptsächlich in der Textilindustrie und im Baugewerbe Arbeit. Möglich war diese
kurzfristige Massenumsiedelung nur durch den Bau von sogenannten ‚Südtirolersiedlungen‘ in den Städten und größeren Gemeinden Vorarlbergs. Rund achtzig Prozent
der Südtiroler UmsiedlerInnen blieben in Vorarlberg.66
Der Zweite Weltkrieg brachte neben den SüdtirolerInnen eine weitere Gruppe von Arbeitern und Arbeiterinnen nach Vorarlberg, nämlich Fremd und ZwangsarbeiterInnen
(1939–1945). Die ersten ZwangsarbeiterInnen, die nach Vorarlberg gebracht wurden,
waren 1939 polnische Kriegsgefangene. Ihnen folgten im Kriegsverlauf zahlreiche andere Gefangene aus eroberten Gebieten. Unter unmenschlichen Bedingungen und
abgeschirmt von der einheimischen Bevölkerung arbeiteten sie in der Landwirtschaft,
der Textil- und Rüstungsindustrie sowie an zahlreichen Großbau-Projekten wie zum
Beispiel den Illwerke-Baustellen in der Silvretta mit. Gegen Kriegsende waren rund
ein Drittel der ArbeiterInnen in Vorarlberg FremdarbeiterInnen und Kriegsgefangene
(10.000). Aufgrund ihrer Erfahrungen blieben nach 1945 nur die allerwenigsten in Vorarlberg. Obwohl diese ZwangsarbeiterInnen einen wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung Vorarlbergs trugen, wird in Vorarlberg erst seit kurzer Zeit die Bedeutung dieser Menschen öffentlich thematisiert und aufgearbeitet, wie das die 2012
geführte Debatte über die Aufarbeitung von Zwangsarbeit bei den Illwerken zeigt.67
Der Aufschwung der Nachkriegskonjunktur bewirkte eine neuerliche Migrationswelle.
Zwischen 1950 und 1970 kamen aufgrund des höheren Verdiensts und der Beschäftigungschancen Arbeiter und Arbeiterinnen aus Kärnten und der Steiermark. Während hier Männer hauptsächlich im Baugewerbe Arbeit fanden, waren zugwanderte
Innerösterreicherinnen vor allem im Handel und Gastgewerbe tätig. Für Frauen bzw.
Mädchen existierte hier eine besondere Unterkunftsregelung, indem ihnen „freie Kost
und Logis“ zur Verfügung gestellt wurde. Von 1951 bis 1966 sind insgesamt rund 32.55
Menschen aus anderen österreichischen Bundesländern nach Vorarlberg dauerhaft zu66
67
Greussing, Vorarlberg, S. 7–9.
Barnay, Vorarlberg ein Einwanderungsland, S. 7 und orf.at (Hrsg.), Konzept zur Erinnerung an Nazi-Zwangsarbeit,
26.9.2012, [http://vorarlberg.orf.at/radio/stories/2551719/], eingesehen 20.10.2014.
310
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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gewandert, wobei ein großer Teil dieser Gruppe als Grenzgänger in der Schweiz oder
in Liechtenstein tätig ist.68
In der historischen Aufarbeitung stellt die Anwerbung von JugoslawInnen und TürkIn
nen in den 1960er-Jahren die vorläufige letzte Migrationsgruppe dar, mit der sich das
folgende Unterkapitel näher beschäftigt.
Zusammenfassend ist Vorarlberg aufgrund seiner Industrie, aber auch aufgrund der
verschiedensten sozio-politischen Entwicklungen, Veränderungen oder Krisen Ziel
von freiwilliger und unfreiwilliger Migration geworden. Und so wie die aktuellen wirtschaftspolitischen Entwicklungen auf europäischer Ebene sowie die zahlreichen Krisenherde auf globaler Ebene erahnen lassen, wird Österreich/Vorarlberg weiterhin
Zielland zahlreicher Migrations- und Flüchtlingsströme sein.
Entwicklung der ausländischen Bevölkerung in Vorarlberg
In diesem Kapitel soll im Kontext der bereits geschilderten Migrationsgeschichte Österreichs und Vorarlbergs im Allgemeinen sowie der näheren Betrachtung der Anwerbung türkischer ArbeiterInnen auf nationaler Ebene die demografische wie wirtschaftliche Entwicklung in Vorarlberg unter dem Aspekt dieser „Rekrutierung“ skizziert werden.
In Vorarlberg waren bereits zur Mitte der 1950er-Jahre die Arbeitskräftereserven erschöpft. Die Anwerbung von InnerösterreicherInnen entschärfte diese Situation jedoch nur kurzfristig, da viele dieser Arbeitskräfte bald auch Arbeit in der Schweiz und
in Liechtenstein fanden. Die Tendenzen auf mitteleuropäischer wie nationaler Ebene
machten sich auch in Vorarlberg bemerkbar. Im Oktober 1962 hielten sich in Dornbirn
bereits 1.022 ausländische Arbeitskräfte auf, davon waren 49 Personen aus Jugoslawien und 18 Personen aus der Türkei. In den darauffolgenden Jahren stieg die Zahl der
AusländerInnen in Vorarlberg kontinuierlich an, was vor allem mit der Tatsache zusammenhing, dass 1965 auf einen Arbeitssuchenden im Durchschnitt drei offene Arbeitsplätze kamen, wie Werner Matt schreibt. 69 In den Jahren von 1961 bis 1971 verdreifachte sich in Vorarlberg die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung und stieg von 7.702
auf 25.534 Personen an. Dieser Anstieg ist vor allem auf den industriellen Aufschwung
der damaligen Zeit zurückzuführen.
68
69
Kurt Greussing, Die Bestimmung des Fremden – Hundert Jahre „Gastarbeit“ in Vorarlberg, in: Rainer Bauböck
(Hrsg.), ...und raus bist du! Ethnische Minderheiten in der Politik, Wien 1988, S. 178–197, hier S. 192 f. und Thurner,
Der „Goldene Westen“?, S. 36 ff.
Werner Matt, „Ich habe mich in den Zug gesetzt und nicht einmal gewusst, wo Vorarlberg überhaupt ist“. Arbeitsmigration nach Vorarlberg von 1945 bis 2000 am Beispiel der Stadt Dornbirn, in: Österreich in Geschichte und
Literatur (ÖLG) 54 (2010), Heft 4, S. 316–330, hier S. 323.
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Ausländische Bevölkerung Vorarlbergs
50000
46700
44082
40000
Ausländer
33875
20000
25534
Vorarlberg
20000
10000
9641
7702
0
1951
1961
1971
1981
1991
2001
Volkszählungsjahr
Grafik 4: Entwicklung der ausländischen Bevölkerung in Vorarlberg 70
Hauptsächlich setzt sich die in Vorarlberg ansässige ausländische Bevölkerung aus den
drei Zuwanderungsgruppen aus der Türkei, aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus
Deutschland zusammen. Während es zwischen 1971 und 1981 aufgrund der schlechteren Wirtschaftslage zu einem Rückgang der aus Ex-Jugoslawien stammend Wohnbevölkerung kam, diese jedoch als Folge des Balkankriegs wieder zunahm, zeigt sich bei
der Betrachtung der türkischen Bevölkerung eine gegenteilige Entwicklung. So nahm
der Anteil der TürkInnen bis 1991 stetig zu und sinkt bis 2001 auch nur aufgrund der
Einbürgerungen ab.71
Ende 2012 lebten in Vorarlberg 51.843 AusländerInnen, wobei hier die türkischen
StaatsbürgerInnen mit 13.608 EinwohnerInnen nur noch die zweitgrößte Zuwanderungsgruppe bildeten. Seit 2012 bilden ZuwanderInnen aus Deutschland mit ca.
14.500 Personen und aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Ost-Deutschland tendenziell steigend die größte Gruppe ausländischer Bevölkerung.
70
71
Die Grafik wurde von der Autorin aus dem Artikel okay. zusammen leben/Projektstelle für Zuwanderung und
Integration (Hrsg.), Die historische Entwicklung der ausländischen Bevölkerung Vorarlbergs im österreichischen
Vergleich, 2.3.2010, [http://www.okay-line.at/deutsch/wissen/die-entwicklung-vorarlbergs-vom-gastarbeiterzum-einwanderungsland/], eingesehen 22.10.2014 übernommen.
Simon Burtscher, Zuwandern_aufsteigen_dazugehören. Etablierungsprozesse von Eingewanderten (transblick
4), Wien-Innsbruck-Bozen 2009, S. 42 f.
312
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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100%
1,82
98%
4,49
96%
94%
Prozent
1,53
90%
4,35
4,47
1,35
1,67
.86,70
.86,70
1991
2001
1,35
88%
84%
Anderer Staat
Türkei
Ex-Jugoslawien
andere EU-Staaten
Deutschland
Österreich
4,07
92%
86%
5,37
6,14
4,46
.90,79
.88,90
82%
80%
1971
1981
Volkszählungsjahr
Grafik 5: Vorarlbergs Gesamtbevölkerung nach Staatsangehörigkeit 72
18,00
16,00
16,0
14,00
Ausländeranteil in Prozent
13,3
12,00
11,1
10,00
9,2
8,00
8,7
7,4
6,6
6,00
4,00
3,8
3,3
4,1
Burgenland
Kärnten
Niederösterreich
Oberösterreich
Salzburg
Steiermark
Tirol
Vorarlberg
Wien
Österreich
2,00
0,00
1971
1981
1991
2001
Volkszählungsjahr
Grafik 6: Ausländeranteil nach Bundesländern 73
Vergleicht man die Entwicklung der Zuwanderung nach Vorarlberg mit den anderen
österreichischen Bundesländern, wird einerseits deutlich, dass die Zuwanderung nach
Vorarlberg etwas früher begann, was vor allem mit der stärkeren Industrialisierung Vorarlbergs im Vergleich zu den anderen Bundesländern mit Ausnahme Wiens zu erklären
ist. Andererseits lag der Vorarlberger Ausländeranteil mit 9,2 Prozent 1971 bis 2001 mit
72
73
Die Grafik wurde von der Autorin aus dem Artikel okay, Die historische Entwicklung, übernommen.
Die Grafik wurde von der Autorin aus dem Artikel okay, Die historische Entwicklung, übernommen.
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Nele Gfader
313
13,3 Prozent über dem österreichischen Durchschnittswert von 8,7 Prozent. 74 Ende
2013 verfügt Vorarlberg über einen Ausländeranteil von 14,4 Prozent.
Des Weiteren wird hier nicht nur besonders gut deutlich, dass Vorarlberg, wie bereits
angedeutet, zwischen 1971 und 1991 den höchsten AusländerInnenanteil aufwies,
sondern dass dieser auch bis 2001 stagnierte und bis heute (2013) nur gering angestiegen ist. Wien hingegen, das bereits seit 1991 über einen ähnlich hohen AusländerInnenanteil verfügte, weist einen kontinuierlichen Anstieg dieses Anteils auf, der sich
2014 auf 24,2 Prozent belief. Der Grund, weshalb Vorarlberg entgegen seiner vorhergehenden demografischen Entwicklung in den 90er-Jahren stagnierte, ist vor allem auf
den Aspekt der Einbürgerung zurückzuführen. Während Vorarlberg in den 80er-Jahren
über eine sehr niedrige Einbürgerungsrate verfügte, stieg diese besonders bei den zwei
größten Zuwanderungsgruppen aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien
in den 1990ern stark an. So ließen sich zwischen 1995 und 2005 von insgesamt 19.273
Menschen 4.981 jugoslawische75 BürgerInnen und 12.694 türkische StaatsbürgerInnen
einbürgern. Auch wenn diese Einbürgerungen durch die Novellierung des Staatbürgerschaftsgesetzes von 2005 zurückgegangen sind, lässt sich erkennen, dass mit dem
Zuzug der Familien – also der vollkommenen Verlagerung des Lebensmittelpunkts –
der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, abnahm, gleichzeitig aber das Interesse an
der österreichischen Staatsbürgerschaft anstieg.76
Dieser hier beschriebene demografische Wandel barg und birgt ein enormes wirtschaftliches Potential in sich. Vorarlberg ist im österreichischen Vergleich eines der Bundesländer mit einer relativ hohen und zugleich stabilen Fertilitätsrate. So lag 1984 die
Gesamtfertilitätsrate bei 1,8 Kindern pro Frau und verringerte sich bis 2010 nur gering
auf 1,6 Kinder pro Frau im Jahr. Verändert hat sich jedoch die Zusammensetzung dieser
Rate, da die Fertilitätsrate ausländischer Staatsbürgerinnen im Durchschnitt über jener
von österreichischen Frauen liegt. Zwar war der Unterschied 1984 noch deutlich größer als 2010, dennoch lag er mit 2,1 Kindern pro ausländischer Frau im Vergleich zu 1,4
Kindern pro österreichischer Frau im Jahr 2010 höher. 77
„Die höhere Geburtenrate der letzten Jahrzehnte führen dazu, dass Kinder und
Jugendliche mit Migrationshintergrund im Vorarlberger Schul- und Ausbildungssystem anteilsmäßig zunehmend stärker vertreten sind. Im Zuge dieser
Entwicklungen werden Kinder mit Migrationshintergrund nicht mehr nur als
Problem, sondern zunehmend auch als Arbeitskräftepotential für den zukünftigen Arbeitsmarkt gesehen und als eigene Zielgruppe entdeckt und behandelt. Denn gleichzeitig mit dem demographischen Wandel und der Aufgabe
74
75
76
77
Burtscher, Zuwandern_aufsteigen_dazugehören, S. 41.
Die für diese Zahlen verwendete Grafik fasst aus Gründen der Übersichtlichkeit StaatsbürgerInnen aus Bosnien/
Herzigowina, der Bundesrepublik Jugoslawien, Kroatien und Slowenien zusammen.
Burtscher, Zuwandern_aufsteigen_dazugehören, S. 42–54 und Statistik Austria (Hrsg.), „Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit – Wien“, 11.6.2015, [http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungs
struktur/bevoelkerung_nach_staatsangehoerigkeit_geburtsland/023444.html], eingesehen 22.10.2014.
okay. zusammen leben/Projektstelle für Zuwanderung und Integration (Hrsg.), Entwicklung der Gesamtfertilitätsraten, 2.3.2010, [http://www.okay-line.at/deutsch/wissen/demographische-entwicklung-vorarlbergs/entwick
lung-der-gesamtfertilitaetsraten.html], eingesehen 23.10.2014.
314
Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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der Rückkehroption vollzieht sich ein struktureller Wandel der Wirtschaft, der
die Förderung von Migrantenjugendlichen stärker in den Vordergrund rückt.“78
Schluss
Der Begriff der Migration wurde zwar anhand bestimmter geographischer, räumlicher
wie zeitlicher Parameter beschrieben und theoretisch definiert, jedoch wird bei der
Frage nach der Freiwilligkeit bzw. dem Zwang die diffizile Vielschichtigkeit dieses Begriffs besonders deutlich. Im Bereich der Arbeitsmigration wird dies begreifbar, da sich
viele Menschen nicht nur aufgrund politischer Verfolgung, sondern auch wegen akuter
Armut zur Auswanderung gezwungen sehen.
Auch in der langen österreichischen Migrationsgeschichte, die im 20. Jahrhundert von
Flüchtlingswellen aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen geprägt war und
heute wieder ist, nimmt der Bereich der Arbeitsmigration eine bedeutende Rolle ein.
Nicht zuletzt deshalb, weil das gezielte Anwerben ausländischer Arbeitskräfte durch
die Politik die österreichische Gesellschaft wesentlich geprägt und verändert hat. Zum
einen ermöglichte die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte die positive Bewältigung des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1950er- und 1960er-Jahre. Zum anderen
bewirkte das aus wirtschaftlichen wie individuellen Gründen gescheiterte Rotationsprinzip den Nachzug zahlreicher Familien nach Österreich und damit die langfristige
Verlagerung des Lebensmittelpunkts von MigrantInnen. Die angeführten Beispiele mit
Schwerpunkt auf Österreich bzw. Vorarlberg lassen gut erkennen, welche weitreichenden demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte für beide Seiten hatte.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Österreich wie auch Vorarlberg seit Jahrhunderten Ziel von Einwanderung sind und unter Betrachtung der aktuellen europäischen wie globalen Entwicklungen bzw. Abkommen auch noch länger sein werden.
Daher sollten kommende Migrations- und Flüchtlingswellen im Kontext der österreichischen Migrationsgeschichte weniger aus wirtschaftspolitischer, als aus humanitärer
Sicht betrachtet werden.
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78
Burtscher, Zuwandern_aufsteigen_dazugehören, S. 51 f.
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Abbildungsverzeichnis
Grafik 1: Formen der Zuwanderung, Die Grafik wurde von der Autorin aus dem ÖIFBericht „Migration und Wirtschaft“ von 2014 direkt übernommen, S. 4.
Grafik 2: Durchschnittliche Quadratmeterzahl der Wohnung pro Person nach Geburtsland, Die Grafik wurde von der Autorin aus dem Bericht „Arbeits- und Lebenssituation
von Migrantinnen und Migranten in Österreich“ der Statistik Austria von 2008 direkt
übernommen, S. 82.
Grafik 3: Durchschnittlicher monatlicher Wohnungsaufwand in Euro pro Quadratmeter
nach Geburtsland der Haushaltsreferenzperson, Die Grafik wurde von der Autorin aus
dem Bericht „Arbeits- und Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich“ der Statistik Austria von 2008 direkt übernommen, S. 84.
Grafik 4: Entwicklung der ausländischen Bevölkerung in Vorarlberg, Die Grafik wurde
von der Autorin aus dem Artikel „Die historische Entwicklung der ausländischen Bevölkerung Vorarlbergs im österreichischen Vergleich“, [http://www.okay-line.at/deutsch/
wissen/die-entwicklung-vorarlbergs-vom-gastarbeiter-zum-einwanderungsl/],
2.3.2010, eingesehen 22.10.2014, übernommen.
Grafik 5: Vorarlbergs Gesamtbevölkerung nach Staatsangehörigkeit, Die Grafik wurde
von der Autorin aus dem Artikel okay. zusammen leben/Projektstelle für Zuwanderung
und Integration (Hrsg.), „Die historische Entwicklung der ausländischen Bevölkerung
Vorarlbergs im österreichischen Vergleich“, 2.3.2010, [http://www.okay-line.at/file/656/
2vorarlbergalseinwanderungsland.pdf ], eingesehen 22.10.2014, übernommen.
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Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg
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Grafik 6: Ausländeranteil nach Bundesländern, Die Grafik wurde von der Autorin aus
dem Artikel okay, Die historische Entwicklung übernommen.
Nele Gfader ist Studierende der Lehramtsfächer Geschichte und Deutsch sowie Diplomandin und studentische Mitarbeiterin im FWF-Projekt „Deprovincializing Contemporary Austrian History“ unter der Projektleitung von Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow
an der Universität Innsbruck. nele.gfader@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Nele Gfader, Arbeitsmigration in Österreich mit Blick auf Vorarlberg, in: historia.
scribere 8 (2016), S. 289–318, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen
14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
historia
scribere
Lobende Erwähnungen 2016
gesponsert von der Philosophisch-Historischen Fakultät
08 (2016)
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scribere
Bachelor-Seminare 2016
08 (2016)
historia
scribere
08 (2016)
Sakoku. Ökonomische Anpassungen des TokugawaShōgunats von 1639–1853
Emanuel Simonini
Kerngebiet: Wirtschafts- und Sozialgeschichte
eingereicht bei: ao. Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Dietrich-Daum
eingereicht im Semester: SS 2014
Rubrik: BA-Arbeit
Abstract
Sakoku. Economic Adaptations of the Tokugawa Shōgunate from 1639
to 1853
During the Edo period (1603–1868), the Tokugawa Dynasty dominated Japan.
In fact, this family ruled the country on its own and provided every Shōgun in
the modern age. During the third Shōgun‘s reign – Tokugawa Iemitsu – Japan
entered a phase of isolation which lasted 200 years and is known today as Sa
koku (1639–1853). The purpose of this paper is to examine the economic and
social conditions necessary in order to prevail as a sovereign country during
this period of isolation. In order to expose these conditions, this paper focusses
on the factors food supply, foreign commerce and the external relations of the
Shōgunate.
Einleitung
Überblick und Problemstellung
Als Tokugawa Ieyasu (1543–1616) im Jahre 1615 seinen letzten Widersacher Toyotomi
Hideyori (1593–1615) bei Osaka besiegte, vermochte er sicherlich nicht abzuschätzen,
welche Auswirkungen sein Triumph auf die japanische Geschichte haben würde. Denn
Ieyasu läutete die „Pax Tokugawa“ ein, die über zweihundertfünfzig Jahre lang in Japan Bestand haben sollte.1 Von 1603 bis 1867 herrschten ausschließlich Abkömmlinge
1
Manfred Pohl, Geschichte Japans, München 2002, S. 45.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.457ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
324
Sakoku
historia.scribere 08 (2016)
aus der Tokugawa-Dynastie als Shōgune über das „Land der aufgehenden Sonne“. Im
Wesentlichen umfasste die Herrschaftszeit des Tokugawa-Shōgunats die europäische
Neuzeit. In dieser Epoche der japanischen Geschichte versuchte sich das Land so weit
wie möglich von der Außenwelt zu isolieren.2
Bevor man sich jedoch intensiver mit der japanischen Neuzeit auseinandersetzen
kann, müssen die bedeutendsten Perioden und Begrifflichkeiten jener Epoche dargelegt werden. Eine wie im europäischen Raum gängige Zweiteilung in eine Frühe
und Späte Neuzeit gibt es nicht. Stattdessen werden zwei anerkannte Schemata für
die Periodisierung der japanischen Neuzeit verwendet. Zum einen ist eine Unterteilung der Zeitalter in Anlehnung an die europäische Geschichtswissenschaft möglich:
In das Altertum/kodai (7.–12. Jh.), das Mittelalter/chusei (12.–16. Jh.), die Neuzeit/kinsei
(17.–19. Jh.), die Moderne/kindai (19.–20. Jh.) und die Gegenwart/gendai (ab 1939 bzw.
1941).3 Diese Einteilung lässt jedoch in einigen Belangen wichtige Umwälzungen in
der japanischen Geschichte außer Acht, wodurch die wesentlich ältere Periodisierung
nach Dynastien bzw. Herrschaftszentren auch heute noch ihre Berechtigung findet.
Folgt man dieser Einteilung, so wird die gesamte Neuzeit als Edo-Zeit (1603–1868) definiert. Sie ist benannt nach dem Herrschaftszentrum Edo, dem heutigen Tokio, der
bedeutendsten Stadt der Tokugawa-Zeit. Da die Tokugawa-Dynastie als Basisnenner
der Edo-Zeit gilt, wird die japanische Neuzeit auch oft als Tokugawa-Zeit (1603–1868)
bezeichnet.4 Die Edo- oder Tokugawa-Zeit umfasst die gesamte Neuzeit; lediglich das
Ende der Edo-Zeit besitzt eine eigene Begrifflichkeit – bakumatsu, was übersetzt so viel
wie „Ende des bakufu (Herrschaft des Shōgunats)“ bedeutet. Die Zeit des bakumatsu
umschließt die amerikanische Intervention in Japan durch Matthew Perry (1794–1858)
von 1853 bis zur Rückgabe der Herrschaft vom Shōgun an den Tennō im Jahre 1867.5
Eine weitere Unterteilung der Tokugawa-Zeit kann nur noch durch spezifische Maßstäbe erfolgen. Eine gebräuchliche Gliederung der „japanischen Neuzeit“ erfolgt nach den
Perioden der politischen Öffnung und Schließung des Landes. Dabei wird der Beginn
der Edo-Zeit als nanban bōeki jidai-Zeit6 (1543–1639) bezeichnet, die von wachsenden
Handelsbeziehungen Japans zu den asiatischen und europäischen Mächten geprägt
war. Auf diese Periode folgte das sakoku (1639–1853), die wörtlich übersetzte „Landesabschließung“ Japans – eine Zeit, in der Japan seine Außenbeziehungen und den
Handel mit anderen Herrschaftsgebilden auf ein Minimum reduzierte.7 Am Ende kann
wiederum das bakumatsu (1853–1867), der Zeitraum, in dem Japan durch die amerikanische Intervention zwangsmäßig geöffnet wurde, gestellt werden. 8 Die beiden Perio2
3
4
5
6
7
8
Ein Namens- und Sachregister zur Klärung unbekannter Begrifflichkeiten befindet sich am Ende der Arbeit.
Klaus Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte Japans (Handbuch der Orientalistik 3), Leiden 1988, S. 4.
Erich Pilz/Reiner Dormels/Sepp Linhart, Ostasien von 1600 bis 1900. Ein Überblick, in: Sepp Linhart/Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hrsg.), Ostasien 1600 bis 1900, Wien 2004, S. 15–54, hier S. 40.
Wolfgang Schwentker, Die „lange Restauration“. Japans Übergang vom Shōgunat zur Meiji-Ära, in: Sepp Linhart/
Erich Pilz (Hrsg.), Ostasien. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1999, S. 47–66, hier S. 51.
Übersetzt bedeutet „nanban bōeki jidai“ in etwa „Epoche des Nanban-Handels“. Jene Epoche wird in der europäischen Geschichtswissenschaft auch oft als das „christliches Jahrhundert“ bezeichnet.
Pohl, Geschichte Japans, S. 55.
Schwentker, Die „lange Restauration“, S. 51.
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den, in denen Japan intensiv mit der Außenwelt in Kontakt trat, umgeben als eine Art
„Klammer“ jenen Zeitraum, in der sich das Tokuagawa-Shōgunat so gut es ging von der
Außenwelt abschottete. Handel und Kulturkontakt spielten in den Phasen des nanban
bōeki jidai und bakumatsu eine wesentliche Rolle für die japanische Gesellschaft. In den
rund 210 Jahren des sakoku war dies nicht der Fall.
Als Auslöser für die lange Periode der japanischen Isolationspolitik werden heute
hauptsächlich zwei sich ergänzende Faktoren genannt. Das bakufu hatte sich zum einen von der Außenwelt abgeriegelt, um sich vor westlichen Einflüssen zu schützen9
und zum anderen, um das noch junge Tokugawa-Regime im Reich zu stabilisieren10.
Denn nachdem in der Zeit des nanban bōeki jidai europäische Konflikte immer häufiger nach Japan getragen wurden und das Christentum stetig an Einfluss gewann, sah
sich der erste Shōgun Tokugawa Ieyasu dazu gezwungen, Edikte gegen ausländische
Einflüsse zu erlassen.11 Als schließlich noch der von Christen getragene Shimabara-Aufstand 1637–38 gegen zu hohe Steuern ausbrach, war das berühmte Abschließungsedikt von 1639 nur eine logische Konsequenz des Shōgunats, um seine Fortexistenz
zu sichern.12 In Folge dieses Ediktes „[…] durfte kein Japaner mehr das Land verlassen, kein katholischer Christ durfte das Reich des Shōguns betreten, und der gesamte
Außenhandel wie auch die diplomatischen Beziehungen mußten über die Hafenstadt
Nagasaki laufen.“13
Bis zum Ende des sakoku pflegte das Shōgunat eine konservative und restriktive Sozialpolitik, die von einigen Historikern sogar als eine „Rückkehr zum Feudalismus“ angesehen wurde.14 Der Shōgun stand an der Spitze des Regimes und leitete eine Militärregierung (bakufu bzw. Shōgunat). Unter dieser standen – je nach Zeitraum – 250
bis 300 Fürsten (Daimyō), die in einem komplizierten, auf die Wahrung des politischen
Gleichgewichts basierenden Systems in Abhängigkeit zum bakufu standen.15 Als restriktiv und konservativ galt das Tokugawa-Shōgunat lange nicht nur aufgrund seiner
isolationistischen Politik, sondern auch deshalb, da es sein Hauptaugenmerk auf die
Sicherung der eigenen Machtposition legte. Durch das „Verharren“ in der ständischen
Ordnung des 16. Jahrhunderts sollte die Herrschaft der Tokugawa Bestand haben. Aus
diesem Grund wurde auch der konservative Zhu-Xi-Konfuzianismus gefördert, der sich
für die Aufrechterhaltung des Status quo aussprach.16
„Ein Zusammenwirken vielfältiger Faktoren bewirkte schließlich den Zusammenbruch
der Tokugawa-Herrschaft […].“17 Zu Fall gebracht wurde das feudalistische Herrschafts-
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16
17
Sepp Linhart, Japan 1854 bis 1919: von einem Land des Südens zu einem Land des Nordens, in: Birgit Englert/Ingeborg Grau/Andrea Komlosy (Hrsg.), Nord-Süd-Beziehungen. Kolonialismen und Ansätze zu ihrer Überwindung,
Mandelbaum 2006, S. 191–212, hier S. 193.
Pohl, Geschichte Japans, S. 52.
Ebd., S. 55.
Linhart, Japan 1854 bis 1919, S. 193.
Pohl, Geschichte Japans, S. 56.
John Whitney Hall, Das Japanische Kaiserreich (Fischer Weltgeschichte 20), Frankfurt am Main 200915, S. 161.
Sepp Linhart, Die vormoderne japanische Gesellschaft, in: Linhart/Pilz (Hrsg.), Ostasien, S. 17.
Ebd., S. 18.
Pohl, Geschichte Japans, S. 59.
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Sakoku
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system im 19. Jahrhundert durch steigenden Druck aus dem Ausland und durch innenpolitische Konsolidierungsprobleme. 1854 endete das sakoku, als eine amerikanische
Flotte unter Commodore Matthew C. Perry die Öffnung Japans erzwang. 1868 erlosch
die über zweihundert Jahre lang bestehende Herrschaft der Tokugawa – nach kurzen
Kämpfen zwischen shōgun- und tennōtreuen Kräften wurde das bakufu abgesetzt und
die Kaiserherrschaft eingeführt.18
Fragestellung und Ziel der Arbeit
Das Tokugawa-Shōgunat hatte zwischen 1639 und 1853 stets daran gearbeitet, sein
Inselreich so weit wie möglich von der Außenwelt abzukapseln. Japan versuchte in einer Zeit, in der die ersten Schritte der Globalisierung zu finden sind, der Handel immer
bedeutender wurde, moderne Staatstheorien sich entwickelten und große Teile der
Welt unter der Herrschaft europäischer Mächte standen, autark zu werden. In gewisser Weise stellte der Gesellschaftsentwurf des Shōgunats einen Gegenentwurf seiner
Zeit dar, der aber dennoch über zweihundert Jahre Bestand hatte. Es ist überraschend,
dass das Inselreich, das während der Epoche des Nanban-Handels noch stark von Auslandsbeziehungen abhängig war, sich von 1639–1868 erfolgreich abschotten konnte.
Niemals hat sich ein europäischer Herrschaftskomplex für einen vergleichbar langen
Zeitraum wie das ostasiatische Reich aus dem Weltgeschehen zurückgezogen.
Die Gründe, warum das bakufu nach der Periode des nanban bōeki jidai eine Trendwende hin zur Isolationspolitik verfolgte, sowie das politische Wirken einzelner Shōgune,
spielen in dieser Arbeit nur eine untergeordnete Rolle. Sie versucht nicht, die Ursachen
oder Folgen der „Abschließung Japans“ zu erforschen, sondern setzt sich vielmehr
grundlegend mit der Frage auseinander, wie die japanische Gesellschaft während des
sakoku ökonomisch fortbestehen konnte.
Doch um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst ergründet werden, wie
sich die Ökonomie Japans an die Isolationspolitik des bakufu angepasst hatte. Da in
der älteren europäischen Forschung den niederländischen Händlern eine wichtige
Position in der japanischen Wirtschaft während des sakoku angerechnet wurde, muss
ebenso auf die Frage eingegangen werden, inwieweit eine solche europazentrierte
Sichtweise auch heute noch ihre Berechtigung findet.
Das erste Kapitel dieser Arbeit beschäftigt sich mit den Handels- und Auslandsbeziehungen Japans während des sakoku. Im zweiten Teil wird explizit auf die Rolle eingegangen, die den niederländischen Händlern in Deshima zuerkannt werden kann. Das
dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit die Nahrungsmittelversorgung
vom Shōgunat während der „Abschließung Japans“ gewährleistet wurde. Der vierte Teil
setzt sich mit Jared Diamonds Werk „Collapse. How Societies Choose to Fail or Succeed“
auseinander, das die Gründe für den „Erfolg“ des Tokugawa-Shōgunats behandelt. Im
Schlussteil werden die gewonnenen Erkenntnisse schließlich zusammengefasst und
die Forschungsfragen beantwortet.
18
Pohl, Geschichte Japans, S. 60.
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327
Forschungsstand
In der Vergangenheit wurde die Zeit des sakoku in der Forschung zumeist als eine
Periode angesehen, in der sich Japan vom Weltgeschehen abkapselte und in seiner
Isolation stagnierte.19 Lange hielt sich die Vorstellung, dass die Macht der TokugawaShōgune auf einer feudalistischen Gewaltherrschaft basierte – die wirtschaftlichen Verhältnisse jener Zeit wurden angeprangert.20
Die größtenteils negativen Ansichten über die japanische Neuzeit wurden jedoch
nicht nur von europäischen, sondern auch von den japanischen Historikerinnen und
Historikern selbst vertreten. Sie übernahmen jenes schlechte Bild aus dem „nationalen
Gedächtnis“ des Inselstaates und deklarierten die Neuzeit als „dark age“ in der japanischen Geschichte. Die Meiji-Restauration, die gewaltsame Öffnung des Landes durch
den überlegenen Westen, wurde von den Forscherinnen und Forschern ebenso wie
von der japanischen Bevölkerung als eine nötige Revolution angesehen, die Japan aus
seiner Stagnation befreite.21 Die Tokugawa-Zeit galt als eine dunkle Epoche, an deren
Ende die schnelle Industrialisierung des Inselstaates stand. Nochmals verstärkt wurde
die negative Charakterisierung der Edo-Zeit durch die Modernisierungsforschungen
der 1950er- und 60er-Jahre. In diesen wurde dem spätneuzeitlichen Japan die Rolle
eines Modernisierungsmusterlandes zugeteilt.22 Das Bild der Tokugawa-Zeit wurde
durch diese Forschungen noch ein weiteres Mal negativ aufgeladen und neben das
strahlende Bild der Meiji-Restauration gestellt.
Erst seit etwa vierzig Jahren werden dem Tokugawa-Shōgunat in der Forschung auch
positive Aspekte abgewonnen. In den 1970er-Jahren fanden Einflüsse der New Economic History School aus den USA ihren Weg über den Pazifik und veränderten die
japanische Tokugawa-Forschung in Japan nachhaltig.23 Das schlechte Bild der Edo-Zeit
wurde aufgebrochen, indem nunmehr die wirtschaftliche Entwicklung vom 17. bis
zum 19. Jahrhundert als Basis für die spätere erfolgreiche Industrialisierung angesehen
wurde.24
Aufgrund der neuen Sichtweisen und einem in der gesamten Gesellschaft verankerten neuen Interesse am eigenen Erbe der vormodernen Epoche wurde in den 1980erJahren schließlich ein regelrechter Edo-Boom ausgelöst. Seit den 80ern erschienen im
japanischen Kulturraum etliche Werke, die sich ausschließlich mit der Edo-Zeit auseinandersetzten, wie etwa das achtzehn bändige Werk „Nihon no kinsei“ [Japans Neuzeit]
von Tsuji Tatsuya und Asao Naohiro.25
Im neuen Jahrtausend wird die Tokugawa-Zeit in der japanischen Geschichtswissenschaft als eine vollwertige Epoche wahrgenommen. Wogegen früher das Jahr 1868 als
19
20
21
22
23
24
25
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 161.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 105.
Ebd.
Linhart, Japan 1854 bis 1919, S. 191.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 106.
Ebd., S. 107.
Linhart, Japanische Gesellschaft, S. 26.
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Sakoku
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Bruch in der japanischen Geschichte galt, betonen moderne ForscherInnen die Kontinuitätselemente, die sich im Übergang vom Tokugawa-Shōgunat zum Japan nach der
Meiji-Restauration finden lassen.26
Im deutschsprachigen Raum erschienen bis heute nur wenige Werke, die sich explizit
mit dem Tokugawa-Shōgunat auseinandersetzten. Aus diesem Grund handelt es sich
bei den in dieser Arbeit verwendeten deutschsprachigen Texten zumeist um Überblickswerke über die gesamte Edo-Zeit oder um einzelne Artikel aus Sammelbänden.
Die anderen für diese Arbeit herangezogenen Texte stammen zum Großteil aus dem
angelsächsischen Raum, der sich bis heute wesentlich intensiver mit der japanischen
Geschichte beschäftigt hat. Hierbei ist die Universität von Cambridge hervorzuheben,
die seit dem Ende der 70er-Jahre eng mit der japanischen Geschichtswissenschaft zusammenarbeitet und in regelmäßigen Abständen das „Journal of Asian Studies“ herausgibt.
Außenhandel und Diplomatie Japans
Lange Zeit ging man in der Forschung davon aus, dass der japanische Außenhandel
während des sakoku auf ein Minimum reduziert war.27 Vor allem die europäische Geschichtswissenschaft war der Meinung, dass einzig die Niederlande auf Deshima Handelsbeziehungen mit Japan pflegen durften.28 Obwohl dieser Standpunkt in den letzten Jahrzehnten zunehmend relativiert wurde, halten sich dennoch einige überholte
Thesen hartnäckig in der europäischen Geschichtswissenschaft. Manfred Pohl schrieb
in seinem 2002 erschienenen Werk mit dem Titel „Die Geschichte Japans“ beispielsweise noch: „Zusammen mit der Handelsniederlassung chinesischer Kaufleute waren die
Holländer für mehr als zweihundert Jahre die einzigen, die regelmäßig Kontakt zum
Hof des Shōguns in Edo unterhielten.“29 Pohl erkennt zwar, dass das bakufu während
des sakoku neben den niederländischen auch mit chinesischen Händlern in Kontakt
trat, doch fehlen in seiner Darstellung zwei wichtige Herrschaftskomplexe, mit denen
das Tokugawa-Shōgunat ebenso Beziehungen pflegte – Korea und das Königreich
Ryūkyū.30
Auslandsbeziehungen führte das bakufu hauptsächlich aus wirtschaftlichem Interesse. Um die ausreichende Versorgung der japanischen Ökonomie mit Rohstoffen und
Fertigwaren zu garantieren, war das Shōgunat auch nach der „Abschließung Japans“
weiterhin auf den Import von Gütern angewiesen.31 Um Import und Export bestmöglich kontrollieren zu können, wurde der gesamte japanische Außenhandel nach der
Machtergreifung des Shōgunats direkt dem bakufu untergeordnet und im Zuge des-
26
27
28
29
30
31
Schwentker, Die „lange Restauration“, S. 47.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 197.
Pohl, Geschichte Japans, S. 56.
Ebd., S. 56.
John Lee, Trade and Economy in Preindustrial East Asia, c. 1500–c. 1800. East Asia in the Age of Globalisation, in:
The Journal of Asian Studies 58 (1999), Heft 1, S. 2–26, hier S. 7.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 176.
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329
sen privater Außenhandel unter Strafe gestellt.32 Durch Kontrolle sollte der „ausländische Einfluss“ auf die Bevölkerung auf ein Minimum reduziert werden. Darüber hinaus fielen durch die Zentralisierungsmaßnahmen die Gewinne aus dem Außenhandel
dem Shōgunat direkt zu.
Importe wurden fast ausschließlich durch Kupfer und Silber finanziert. Möglich wurde
der primäre Handel mit den beiden Edelmetallen, indem die Tokugawa alle bedeutenden Bergwerke Japans zu ihrem alleinigen Besitz erklärten und deren Fördermenge sukzessiv erhöhten.33 Neue Abbautechniken im Bergbau, die das Anlegen tieferer
Stollen ermöglichten, brachten dem bakufu bisher unerreichte Fördermengen ein.34
Obgleich sich bis heute kaum Zahlen zu den Abbauraten der Edelmetalle erhalten
konnten, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass die Menge an abgebautem Silber und Kupfer seit dem 17. Jahrhundert um ein Vielfaches zunahm.35
China
Als wichtigster Handelspartner während der Zeit des sakoku kann sicherlich China
angesehen werden. Wo holländische Händler während der gesamten „Abschließung
Japans“ durchschnittlich mit nur zwei Schiffen pro Jahr den Handelsstützpunkt Deshima anliefen, dockten in der gleichen Zeit rund dreißig chinesische Schiffe jährlich in
Nagasaki an. In den chinesischen Lagerräumen befanden sich zu Beginn des sakoku
vor allem Seidenfäden, fertige Stoffe und Medizin, die gegen Kupfer, Kampfer, Schwefel
und Keramik eingetauscht wurden.36 Im 17. Jahrhundert verlagerten sich die japanischen Exporte jedoch merklich. Aufgrund der bis zum Ende des 17. Jahrhunderts immer höher werdenden Edelmetallproduktion wurde Silber zum wichtigsten Exportgut
Japans. In Deshima wurde ab diesem Zeitpunkt größtenteils Silber gegen chinesische
Seide und andere Textilien getauscht.37 Tashiro Kazui beispielsweise schätzt die Silbermengen, die zwischen 1684–1735 von Japan nach China flossen, auf ca. 800.000 kan
(300.000 kg).38
Der Handel mit China war für das bakufu insofern von Bedeutung, als dass der Großteil
der fehlenden Menge an Rohstoffen zur Textilherstellung aus dem Kaiserreich kompensiert wurde. Über den Warenaustauch gingen die Beziehungen zwischen Japan
und China während des sakoku jedoch niemals hinaus.39
32
33
34
35
36
37
38
39
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 175.
Ebd., S. 153.
Ebd., S. 154.
Ebd., S. 155.
Wolfgang Schwentker, Die historische Voraussetzungen „erfolgreicher“ Modernisierung: Japan 1600–1900, in: Linhart/Weigelin-Schwiedrzik (Hrsg.), Ostasien, S. 254.
Tashiro Kazui, Foreign Relations during the Edo Period, in: The Journal of Japanese Studies 8 (1982), Heft 2, S. 283–
306, hier S. 294.
Ebd., S. 296.
Kazui, Foreign Relations, S. 288.
Sakoku
330
historia.scribere 08 (2016)
Korea
Neben China pflegte Japan ebenso rege Handelsbeziehungen mit Korea. Um im Laufe
des sakoku weiterhin einen Warenaustausch mit der koreanischen Halbinsel betreiben
zu können, wurde vom Shōgunat auf der Insel Tsushima, die in der Meerenge zwischen
Japan und Korea im Japanischen Meer liegt, ein Handelsstützpunkt eingerichtet. Hinsichtlich der Errichtung dieses Stützpunktes ist bemerkenswert, dass das Shōgunat, bereits zwanzig Tage nachdem die Portugiesen 1639 aus Japan verbannt worden waren,
dem So-Klan, der vorherrschenden Macht auf Tsushima, den Auftrag überbracht hatte,
diesen zu errichteten.40 Die Bedeutung, die Tsushima für den japanischen Außenhandel hatte, darf nicht unterschätzt werden, denn am Höhepunkt der Handelsbeziehungen zwischen dem So-Clan und Korea lebten etwa 15.000 Menschen im Umfeld des
Stützpunktes auf Tsushima. Neben dem Inselstützpunkt konnte in den letzten Jahren
noch ein weiterer japanischer Handelsstützpunkt im koreanischen Raum nachgewiesen werden. Dieser trug den Namen Wakan, war bedeutend kleiner als jener auf Tsushima und befand sich in Pusan, dem südöstlich gelegensten Gebiet auf der koreanischen
Halbinsel.41 Welche Bedeutung Wakan im japanischen Außenhandel während der EdoZeit zugemessen werden kann, muss jedoch noch erforscht werden.
Jedenfalls liefen Tsushima ca. zwanzig koreanische Dschunken pro Jahr an, die zumeist
Seide, Ginseng, Büffelhorn, Pfeffer und Zimt geladen hatten.42 Der Handelsstützpunkt
auf der Insel war für das Shōgunat jedoch nicht ausschließlich wegen seiner ökonomischen Belange von Bedeutung, sondern hatte auch als punktueller Stützpunkt der
Diplomatie seine Existenzberechtigung. Korea war mit dem Königreich Ryūkyū eine
der zwei ostasiatischen Mächte, mit der das Tokugawa-Shōgunat neben den Handelsauch diplomatische Beziehungen pflegte.
Um zunächst am Beginn des sakoku überhaupt Handel mit und über die koreanische
Halbinsel betreiben zu können, musste das Shōgunat nach seinem Machtantritt die Invasion Koreas aus den Jahren 1592–159843 auf dem diplomatischen Parkett ungeschehen machen. Mit der Invasion, dem sogenannten Injin-Krieg, hatte Toyotomi Hideyoshi, einer der „Einiger“ Japans, noch vergeblich versucht, Korea unter seine Kontrolle zu
bringen.44
Das Tokugawa-Shōgunat verfolgte im Gegensatz zu Hideyoshi bereits unter seinem
ersten Shōgun Tokugawa Ieyasu (1603–1605) eine „milde Politik“ gegenüber Korea. Leider sind nur wenige Quellen über die japanisch-koreanischen Beziehungen erhalten,
wodurch sich eine Rekonstruktion der vorherrschenden diplomatischen Verhältnisse
bis heute als schwierig herausstellt. Lediglich kann davon ausgegangen werden, dass
die beiden Ieyasu nachfolgenden Shōgune, Hidetada und Iemitsu, im Wesentlichen
40
41
42
43
44
Kazui, Foreign Relations, S. 292.
Ebd., S. 291.
Schwentker, Voraussetzungen „erfolgreicher“ Modernisierung, S. 254.
Der „Einiger Japans“ Toyotomi Hideyoshi war 1592 in Korea eingefallen, da der koreanische König ihm keine Erlaubnis zum Durchmarsch seiner Truppen gegeben hatte. Hideyoshi ursprünglicher Plan war die Eroberung Chinas. Bekannt wurde die sieben jährige Invasion auch unter dem Imjin-Krieg.
Kazui, Foreign Relations, S. 287.
historia.scribere 08 (2016)
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331
jene milde, auf eine Verbesserung der Beziehungen abzielende Politik Ieyasus weitergeführt hatten. Als gesichert gilt jedenfalls, dass es zwischen Japan und Korea während
des sakoku kontinuierlich diplomatische Beziehungen gab.45
Königreich Ryūkyū
Der Warenverkehr mit dem Königreich Ryūkyū vollzog sich in vergleichbarer Weise
wie der mit Korea. Ebenso wie im Handel mit der koreanischen Halbinsel hatte das
Shōgunat einen einzelnen Klan dazu beauftragt, die Beziehungen mit dem Inselreich,
dass sich südwestlich des japanischen Festlandes im Ostchinesischen Meer befand,
aufrecht zu erhalten.46 Das bakufu beauftragte hierfür den Shimazu-Klan, dessen Stammesgebiet Satsuma genannt wurde und sich im äußersten Süden Japans befand. Der
Klan hatte im frühen 17. Jahrhundert das Königreich Ryūkyū erobert und es zu seinem
Vasallen gemacht, wodurch die Ryūkyū-Inseln über die gesamte Zeit des sakoku hinweg zeitgleich in einem Vasallenverhältnis zu Japan und China standen.47 Wem die
Ryūkyū-Inseln in der Zeit nach ihrer Eroberung als Vasall verpflichtet waren, ist strittig.
Daher ist ebenso unklar, ob der Warenaustausch zwischen Japan und den Ryūkyū generell als Tribut- oder Außenhandel deklariert werden sollte.48
Zusammenfassend können die Beziehungen zwischen dem bakufu und dem Inselreich
heute nur sehr schwer rekonstruiert werden. Grundsätzlich geht man mittlerweile aber
davon aus, dass aufgrund des Vasallenverhältnisses zwangsläufig diplomatische Beziehungen sowie Handelsbeziehungen zwischen Japan und den Ryūkyū-Inseln geführt
wurden. Der Handel zwischen den zwei Parteien bezog sich aber hauptsächlich auf
den Austausch von japanischem Silber gegen Zuckerrohr.49
Der Shimazu-Klan bekam, ebenso wie der So-Klan auf Tsushima, nur wenige Monate
nach dem Herrschaftsantritt des bakufu den Auftrag, den Handel mit Ryūkyū weiterhin
zu forcieren.50 In der Folgezeit profitierte der Shimazu-Klan stark vom Warenaustausch
mit dem Königreich Ryūkyū.51 Im 18. Jahrhundert begann das Handelsvolumen zwischen den beiden Gebieten jedoch merklich zu sinken, da das japanische Hauptimportgut Zuckerrohr ab diesem Zeitpunkt in Satsuma selbst angebaut werden konnte.
Bis zum 18. Jahrhundert hatte das Shōgunat den Zuckerrohranbau auf den japanischen
Inseln stark vorangetrieben, sodass sich ab den 1790er-Jahren auch in Süd-Honshō,
Kyūshū und Shikoku der Anbau von Zucker nachweisen lässt. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts konnte sich der Zuckerrohranbau in Japan fest etablieren, wodurch der Handel zwischen Japan und den Ryūkyū-Inseln fast vollständig zum Erliegen kam.52
45
46
47
48
49
50
51
52
Kazui, Foreign Relations, S. 288.
Ebd., S. 292.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 176.
Kazui, Foreign Relations, S. 289.
Lee, Trade and Economy, S. 10.
Kazui, Foreign Relations, S. 292.
Lee, Trade and Economy, S. 8.
Ebd., S. 10.
332
Sakoku
historia.scribere 08 (2016)
Zusammenfassung Außenhandel und Diplomatie
Bei einer zusammenfassenden Betrachtung der japanischen Auslandsbeziehungen
während des sakoku fällt sofort auf, dass das bakufu seine diplomatischen Beziehungen
zur übrigen Welt so weit wie möglich zu begrenzen versuchte. Lediglich die Kontakte
zu Korea und dem Königreich Ryūkyū können als eine „Art“ diplomatischer Kontakt
angesehen werden.
Betrachtet man jedoch den japanischen Außenhandel in der Zeit von 1639–1853,
muss der Begriff sakoku für diesen Zeitraum relativiert werden. Denn auch während
der Abschließung Japans wurden rege Handelsbeziehungen mit anderen ostasiatischen Herrschaftskomplexen geführt. Um fehlende Waren im Inland kompensieren zu
können, musste auch das „abgeschlossene Japan“ Importe aus dem Ausland tätigen.
Das bakufu importierte zu Versorgungszwecken Waren aus anderen Teilen Ostasiens,
die in Japan selbst nur sehr schwer bis gar nicht herzustellen gewesen wären. Wichtige
Naturalien wie Zuckerrohr und Maulbeergewächse, die die Basis für eine Zucker- bzw.
Seidenproduktion bildeten, gediehen nur schlecht auf dem japanischen Festland, wodurch die Beschaffung dieser Waren aus dem Ausland die weit billigere und einfachere Variante war. Allerdings versuchte das bakufu stets, die Importe auf Rohstoffe zu
begrenzen, die in Japan zu Fertigwaren weiterverarbeitet werden konnten. Darüber
hinaus wurde durch die Förderung neuer Technologien und Anbautechniken versucht,
Rohstoffe zunehmend in eigenem Territorium herzustellen – wie beispielsweise der
Zuckerrohranbau in Satsuma zeigt.53
Das Tokugawa-Shōgunat erkannte schon im 17. Jahrhundert, dass das von ihm angestrebte autarke Wirtschaftssystem nicht umsetzbar war. Aus diesem Grund wurden schon unter dem ersten Shōgun Tokugawa Ieyasu Privilegien vergeben, die dem
Shimazu-Klan und dem So-Klan ermöglichten, nach der „Abschließung Japans“ weiterhin mit Ostasien Handel zu treiben.
Zusammenfassend betrachtet war Japan während des sakoku wirtschaftlich nicht
gänzlich abgeschlossen. Vielmehr kann das Außenhandelssystem des TokugawaShōgunats grundsätzlich mit dem anderer ostasiatischer Reiche jener Zeit verglichen
werden. Tsushima, Wakan und nicht zuletzt Nagasaki waren Handelsstützpunkte, wie
sie in der Neuzeit für das vorherrschende System des „Spot-Trading“54 im ostasiatischen
Raum typisch waren.55
Resümierend verlor der Außenhandel für Japan im Vergleich zu jener Zeit vor der „Abschließung Japans“ nur einen geringen Teil seiner Bedeutung und spielte auch während des sakoku eine wesentliche Rolle, um die japanische Wirtschaft weiterhin mit
ausreichend Gütern zu versorgen. Die von den Tokugawa geplante diplomatische Iso-
53
54
55
Siehe Seite 331.
„Spot Trading“ bedeutet, dass für den Warenaustausch eigene punktuelle Zentren (Spots) an wichtigen Handelsrouten errichtet wurden, über die der Großteil des Handels verlief.
Kazui, Foreign Relations, S. 292.
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lation sowie eine rein autarke Güterproduktion konnten niemals vollständig erreicht
werden.
Die Niederlande. Ein „Fenster“ zur übrigen Welt
Das Shōgunat und die Niederlande bis zur Abschließung Japans
Der Anfang der Handelsbeziehungen zwischen den Niederlanden und Japan kann auf
1609 zurückgeführt werden. In diesem Jahr erreichten zwei Schiffe der VOC56 den westjapanischen Hafen Hirado. Mit an Bord hatten die Holländer ein von der Handelsgesellschaft aufgesetztes Schreiben, das den Shōgun davon überzeugen sollte, der VOC
einen Handelsstützpunkt auf japanischem Boden zu gewähren. Laut niederländischen
Quellen soll angeblich das energisch formulierte Schreiben der Ostindien-Kompanie
den Shōgun Tokugawa Ieyasu dermaßen beeindruckt haben, dass die Niederländer
sogleich einen Handelsstützpunkt im Hafen von Hirado eröffnen durften.57 Ob wirklich
die Formulierung des Schreibens die Ursache zum Einverständnis von Tokugawa Ieyasu war, muss stark angezweifelt werden. Jedenfalls kann ab 1609 im Hafen von Hirado
ein niederländischer Stützpunkt nachgewiesen werden, in dem es einen kontinuierlichen Warenaustausch zwischen Japanern und Holländern gab.
Der niederländischen Ostindiengesellschaft war es als einziger europäischer Handelsgesellschaft gelungen, sich in der Zeit des bakafu in Japan festzusetzen.58 Diese Sonderstellung, die den Holländern in Bezug auf den Japanhandel vom Shōgun zugesprochen wurde, kam jedoch nicht von ungefähr. Während sich Spanier und Portugiesen
beim Tokugawa-Shōgunat aufgrund ihrer Versuche, politisch Einfluss zu nehmen, und
wegen ihren Missionierungstätigkeiten unbeliebt gemacht hatten,59 waren die „imperialistischen Engländer“ den japanischen Shōgunen – wenngleich auch nur wenige
englische Schiffe japanische Häfen anliefen – aufgrund ihres aggressiven Vorgehens im
Kaiserreich China suspekt geworden.60 Niederländische Händler waren im Vergleich zu
den anderen europäischen Mächten nicht durch nationale Interessen gelenkt worden
– sie schienen für das bakufu nur eine geringe Gefahr darzustellen.
Die VOC selbst hatte schon früh begriffen, dass eine Einflussnahme in die politischen
und gesellschaftlichen Verhältnisse Japans eine Gefahr für ihre Handelsinteressen
darstellte. Der portugiesische VOC-Händler Manuel Ramos formulierte beispielsweise
schon in einem an seinen Vorgesetzten in den Niederlanden adressierten Brief 1635
56
57
58
59
60
Die VOC (auch als Ostindien-Kompanie bekannt) war die größte der niederländischen Handelskompanien. 1602
gegründet, entwickelte sie sich zu einer der bedeutendsten Kaufmannszusammenschlüsse des 17. und 18. Jahrhunderts. Zur Geschichte der VOC siehe Jürgen G. Nagel, Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanie, Darmstadt 2007.
Paul Doolan, The Dutch in Japan, in: History Today 50 (2000), Heft 4, S 36–42, hier S. 36.
Yayori Takano, Foreign Influence and the Transformation of Early Modern Japan, in: Emory Endeavors Journal 3
(2010), S. 82–93, hier S. 84.
Takano, Foreign Influence, S. 83.
Ebd., S. 84.
334
Sakoku
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seine Sorge über die Zukunft des holländischen Handels in Japan. Sein Schreiben sollte
dazu dienen, einer möglichen Verärgerung des Shōguns vorzubeugen:
„Damit unser Handel mit Japan in den bewährten Bahnen fortgeführt werden
kann, sind alle Theologen, die in dieser Stadt residieren, der Meinung – wenn
man die gegenwärtige Lage der Dinge in Rechnung stellt und den Umstand
im Auge hat, daß der König dem Christentum gegenüber so feindselig eingestellt ist, weil er einerseits einen persönlichen Widerwillen dagegen hat und
weil er andererseits darin seinen Faktor der Illoyalität erkennt „[…] –, daß es
außerordendlich ratsam wäre, wenn in den kommenden Jahren kein Ordensangehöriger auf einem der möglichen Wege in dieses Königreich vordringen
würde.“61
Dieses Beispiel ist charakteristisch für die Art, wie die Ostindien-Kompanie mit dem
Tokugawa-Shōgunat agierte. Eine distanzierte und im Vergleich zu den anderen Europäern respektvoll erscheinende Haltung der VOC gegenüber dem bakufu sollte die
Basis für das spätere niederländische Monopol im europäischen Japanhandel werden.
Das ausschlaggebende Ereignis, das den Niederländern den Handel mit Japan während der „Abschließung Japans“ sichern sollte, spielte sich zwischen 1637 und 1638 ab.
In diesen beiden Jahren sah sich der erst seit kurzer Zeit regierende Shōgun Tokugawa
Iemitsu (1604–1651) mit einem Aufstand von 30.000 Christen in Nord-Kyūshū konfrontiert. Dieser war aufgrund zunehmender Repressalien gegen die Christen ausgebrochen. Da das Shōgunat große Probleme bei der Niederschlagung des Aufstandes hatte, musste es die Holländer um Hilfe bitten. Diese zeigten sich hilfsbereit und schickten
einige Schiffe, die die Stellungen der Aufständischen in Küstennähe unter Beschuss
nahmen, wodurch die Revolte schlussendlich niedergeschlagen werden konnte.62 Der
Shimabara-Aufstand sollte sich in der Folgezeit nicht nur auf die japanisch-niederländischen Beziehungen auswirken – er wird auch häufig als Hauptauslöser für die „Abschließung Japans“ gesehen.
Die wirtschaftliche Bedeutung der holländischen Händler
Spätestens 1639 waren die Maßnahmen des sakoku weitestgehend abgeschlossen.
Christen wurden von nun an brutal verfolgt, kein Japaner durfte mehr unter Strafe das
Land verlassen und der Außenhandel wurde stark beschränkt. Weder Spanier, Portugiesen noch Engländer durften mit ihren Schiffen in Häfen innerhalb des japanischen
Einflussbereichs einlaufen. Den Niederländern war es jedoch aufgrund ihrer neutralen
Haltung in den Jahrzehnten zuvor und vor allem wegen ihrer Hilfe bei der Niederschlagung des Shimabara-Aufstandes auch weiterhin gestattet, mit Japan Handel zu
treiben. Doch obgleich die holländischen Händler eine Sonderstellung innehatten,
61
62
Eberhard Schmitt (Hrsg.), Wirtschaft und Handel der Kolonialreiche. Dokumente zur Geschichte der europäischen
Expansion, 1635, Bd. 4, München 1988, S. 209–212, hier S. 211.
Pohl, Geschichte Japans, S. 55.
historia.scribere 08 (2016)
Emanuel Simonini
335
mussten sie ihren Stützpunkt nach Deshima verlegen und sich in der Folgezeit den
harten Handelsauflagen des bakufu beugen.63
Nach der „Abschließung Japans“ entwickelte sich der Handel zwischen der VOC und
Deshima positiv. Bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mussten sich die niederländischen Händler keinerlei Ein- und Ausfuhrbedingungen fügen und konnten dadurch beispielsweise von 1642–1660 einen jährlichen Reingewinn von 651.000 Gulden
erzielen. Ab 1671 verringerten sich die erzielten Gewinne, die größtenteils aus dem
Handel mit Textilien, Stoffen und Zucker im Austausch mit Silber generiert wurden,
durch die Einführung des Taxierungshandels und 1685 durch die Einführung einer
Obergrenze der Wareneinfuhr merklich.64 Weitere Schmälerungen der Gewinne der
Ostindien-Kompanie traten 1696 und 1720 ein, da das bakufu in diesen beiden Jahren den Goldgehalt der Kobang (Goldmünzen) verringerte, ohne dass sich dies in den
Preisen für die Niederländer niederschlug. 1752 wurde die Goldausfuhr aus Japan vom
Shōgunat vollkommen eingestellt, wodurch die Niederländer in Japan in der Folgezeit
nur noch Gewinne aus dem Ankauf von Kupfer erzielen konnten. Da die Ausfuhr von
Kupfer in mehreren Schritten bis 1768 jedoch ebenfalls auf 544 Tonnen limitiert wurde,
fiel auch das letzte lukrative Geschäft für die niederländischen Händler in Japan weg.65
Ab diesem Zeitpunkt liefen nur noch wenige holländische Schiffe in die japanischen
Häfen ein. Wenn man die sinkende Wirtschaftlichkeit des Japanhandels betrachtet,
„[…] muß [es] fast erstaunen, daß die Niederländer trotz ihrer Verluste ihre Faktorei
nicht schlossen“66.
Obwohl den Niederlanden in gewisser Weise eine Sonderstellung im frühneuzeitlichen
Japan zugesprochen werden kann, so dürfen dennoch die Funktionen ihrer Vertreter und insbesondere der VOC nicht überschätzt werden. Wenn in der Forschung von
den Beziehungen zwischen Holland und Japan in der Neuzeit gesprochen wird, wird
allzu oft vergessen, dass es nicht der niederländische Statthalter bzw. König war, der
die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Kulturen aufrecht erhielt, sondern die
vorwiegend auf Gewinn orientierte und privatwirtschaftlich geführte Ostindiengesellschaft.67 Daher darf nicht davon ausgegangen werden, dass die Beziehungen zwischen
der Ostindien-Kompanie und dem Tokugawa-Shōgunat über Handelsbeziehungen hinausgingen oder gar diplomatischen Status erreichten.
Für das bakufu selbst hatte der Handel mit den Holländern während des sakoku mehrere Vorteile. Vor allem war der Warenaustausch mit den Niederländern für das Shōgunat
aus rein ökonomischem Standpunkt interessant. Die Tokugawa Führung in Edo ließ
sich die Handelsprivilegien der Holländer gut bezahlen.68 Darüber hinaus sicherte der
Handel mit der VOC, die fast ausschließlich als Zwischenhändler agierte, dem TokugawaShōgunat den Nachschub an jenen Gütern, die in Japan Mangelware waren.
63
64
65
66
67
68
Pohl, Geschichte Japans, S. 56.
Schmitt, Wirtschaft und Handel, S. 260.
Ebd., S. 261.
Ebd., S. 261.
Takano, Foreign Influence, S. 84.
Pohl, Geschichte Japans, S. 51.
336
Sakoku
historia.scribere 08 (2016)
Rangaku und westliche Technologien
Neben den ökonomischen Gewinnen brachten die niederländisch-japanischen Beziehungen dem Tokugawa-Shōgunat einen weiteren, vielleicht noch bedeutenderen
Vorteil. Die Kontakte zu den niederländischen Händlern waren für Japan weit wichtiger
als man lange Zeit dachte. Denn schon bald nach der Ankunft der ersten Europäer bemerkte das Shōgunat, dass Japan in technologischen Belangen den westlichen Mächten unterlegen war.69 Durch den Kontakt zu den Holländern konnte sich das bakufu
mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Medizin, Astronomie, Geographie und
Militärtechnik versorgen. Darüber hinaus konnten über die Händler auf Deshima Informationen über die politischen Ereignisse auf der Welt erhalten werden.70
Das generelle Interesse an westlichen Technologien kann in Japan bereits auf das 16.
Jahrhundert zurückgeführt werden, als 1542 die ersten Portugiesen an der Küste des
japanischen Festlands gestrandet waren. Jene Portugiesen hatten Musketen mit sich
geführt, die ihnen sofort nach ihrer Ankunft durch einen Daimyō abgekauft und in
großer Zahl kopiert wurden. In den Kriegen in der Sengoku-Zeit (1477–1573)71 spielten
die Kopien der Musketen, die nunmehr unter dem Namen „Tanegashima-Musketen“72
bekannt waren, eine bedeutende Rolle.73 Neben diesen Musketen wurden vor der „Abschließung Japans“ noch viele weitere portugiesische Techniken in Japan eingeführt,
wie beispielsweise ein Saigerverfahren74 im Bergbau mit der Bezeichnung nanbanuki.75
Das japanische Interesse an europäischen Technologien ging auch während des sako
ku nicht zurück. Vor allem Shōgun Tokugawa Yoshimune (1684–1751) wurde für seine
persönliche Leidenschaft an der Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts bekannt. Unter seiner Herrschaft hielten westliche Einflüsse in Astronomie, Mathematik
und Medizin Einzug in die japanische Wissenschaft.76
Das Interesse an europäischer Technik und europäischen Wissen war in der Edo-Zeit so
stark, dass sich eine eigene Wissenschaft zur Erforschung europäischer Technologien
entwickelte. Diese wurde als rangaku bezeichnet, was übersetzt in etwa „Hollandkunde“ bedeutete.77 Die meisten der rangakusha (Holland-Wissenschaftler) entstammten
dem Shimazu-Klan.78 Daher wird der Shimazu-Klan auch in der heutigen japanischen
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Linhart, Japan 1854 bis 1919, S. 194.
Ebd., S. 194.
Die Sengoku-Zeit war geprägt durch Krieg. In dieser Epoche war Japan in etwa dreißig kleinere Territorien zerfallen die gegeneinander um die Vorherrschaft kämpften.
Pohl, Geschichte Japans, S. 46; die Musketen wurden nach jener Insel benannt, an deren Küste die ersten Portugiesen landeten.
Linhart, Japan 1854 bis 1919, S. 192.
Beim Saigerverfahren (Seigerung) handelt es sich um ein Metallverhütungsverfahren, indem durch das Erhitzen
der Schmelze aus Roherzen Metalle, so homogen wie möglich, heraus geschmolzen werden.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 154.
Annick Horiuchi, When Science Develops outside State Patronage. Dutch Studies in Japan at the Turn of the
Nineteenth Century, in: Early Science and Medicine 8 (2003), Heft 2, S.148–172, hier S. 148.
Linhart, Japan 1854 bis 1919, S. 194.
Nagasaki, der Forschungsmittelpunkt der rangakusha, lag in den Gebieten des Satsuma-Klans.
historia.scribere 08 (2016)
Emanuel Simonini
337
Geschichtswissenschaft noch oft als die treibende Kraft hinter der Modernisierung und
Industrialisierung gesehen.79
Aufgrund der Abschließungsmaßnahmen waren die japanischen Holland-Wissenschaftler bei ihrem Quellenstudium allein auf den Stützpunkt Deshima angewiesen.80
Obgleich sich nur zwei bis drei Dutzend niederländische Händler81 dauerhaft auf der
künstlichen Insel aufhielten, öffnete Japan die durch das Shōgunat geförderte „Hollandkunde“ ein Fenster zum Wissen der westlichen Welt. Aufgrund des regen Interesses der japanischen Gesellschaft an der „Hollandkunde“ wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine erste Schule in Osaka gegründet, die sich explizit mit der Erforschung
der holländischen Sprache und der westlichen Wissenschaften auseinandersetzte.82
Die Auseinandersetzung mit den Holländern verschaffte dem bakufu Zugang zu den
neuesten europäischen Technologien. 1653 erreichte beispielsweise eine von der VOC
gelieferte Windmühle das japanische Festland. Die holländische Windmühlentechnik
war bis dato in Japan unbekannt, sodass die Mühle sofort nach ihrer Ankunft auf dem
Landweg nach Edo zum Hofe des Shōguns verfrachtet wurde. Nachdem sie dort angekommen war, führte ein Angestellter der VOC einem Samurai die Funktionsweise der
Mühle vor.83
Dieser Umgang mit neuem Wissen erscheint als typisch für die Edo-Zeit. Fortschrittliche Technik wurde sofort begutachtet und von adeligen Kreisen auf ihre Nutzbarkeit
überprüft. Neue Technologien wurden anders als etwa in Europa jedoch nicht einfach
eins zu eins übernommen. Vielmehr wurde neues Wissen in das schon vorhandene
integriert84 – wie die Entwicklungen in der japanischen Bergbautechnik zeigen. Die in
Japan häufig verwendete archimedische Schraube als Pumpe kann wohl auf holländische Kenntnisse zurückgeführt werden.85 Im Gegensatz zur archimedischen Schraube
wurde der vollständige Wechsel zu einer neuartigeren, leistungsfähigeren Pumpe holländischen Ursprungs im Jahre 1782, die zum Entwässern von Stollen benutzt werden
sollte, jedoch nicht vollzogen.86 Generell wurden in der Tokugawa-Zeit neue Entwicklungen nur dann eingeführt, wenn sie als absolut notwendig erachtet wurden. Eher
wurden vorhandene Ansätze weiter ausgebaut und kleinere Verbesserungen vorgenommen, als vollkommen neue Technologien eingesetzt.87
Neben neuem Wissen brachte der Handel mit Holland dem bakufu noch etwas Wichtiges: Die Möglichkeit, über die holländischen Händler gesicherte Informationen
79
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Takano, Foreign Influence, S. 85.
Horiuchi, Science Develops, S. 159.
Doolan, Dutch in Japan, S. 37. In Batavia waren zum Vergleich 1688 etwa 2.500 Angestellte der VOC verzeichnet.
Ebd., S. 39.
Peter Boomgaard, Technologies of a trading empire. Dutch introduction of water- and windmills in early-modern
Asia, 1650s–1800, in: History and Technology 24 (2008), Heft 1, S. 41–59, hier S. 53. Über den weiteren Verbleib der
Windmühle ist nichts bekannt.
Tessa Morris-Suzuki, The Technological Transformation of Japan. From the Seventeenth to the Twenty-first Century, Cambridge 1994, S. 35.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 155.
Ebd., S. 156.
Ebd., S. 203.
338
Sakoku
historia.scribere 08 (2016)
über das Weltgeschehen zu erhalten.88 Deshalb wurde die VOC verpflichtet jährlich
einen Bericht nach Edo zu schicken. Dieser Report, fūsetsugaki genannt, war ein ausführlicher jährlicher Bericht, der einen Überblick über das Weltgeschehen bot.89 Bis
in die 1790er-Jahre musste jeden Frühling der fūsetsugaki in Edo eintreffen; ab dem
Niedergang der VOC 1798 nur mehr alle vier Jahre.90
Zusammenfassung Niederlande
Die Beziehungen, die Japan zu den niederländischen Händlern pflegte, waren einseitig
in Richtung Shōgunat geprägt. Zu Beginn des sakoku waren es wirtschaftliche Gründe,
die die Aufrechterhaltung der Handelskontakte zu Holland sinnvoll machten. Japan
hatte im Bestreben, die auf dem Festland fehlenden Waren zu kompensieren, „[…]
schon im Frühjahr 1638 bei den Holländern angefragt, ob sie Japan hinlänglich mit
Waren, insbesondere chinesischer Seide, versorgen könnten und eine entsprechende
Zusicherung erhalten.“91
Mit fortschreitender Zeit wurden die Holländer als Zwischenhändler von chinesischer
Ware jedoch immer weiter verdrängt. Chinesische Händler mit hochseetauglichen
Schiffen übernahmen zunehmend selbst diesen Part des Handels. Der Sektor des Zwischenhandels, den die Ostindienkompanie bis dato überwiegend kontrolliert hatte,
wurde mehr und mehr überflüssig. Trotz stetig sinkender ökonomischer Bedeutung
wurden die Niederländer über die gesamte Shōgunatsherrschaft hinweg dennoch niemals aus Deshima vertrieben. Hauptgrund für die Duldung der europäischen Macht
war das japanische Bedürfnis nach Informationen über die Außenwelt. Und Holland
stellte den „perfekten Informanten“ seiner Zeit dar. Das Land lag zentral in Europa und
wurde dadurch stetig mit dem Weltgeschehen konfrontiert – Informationen, Nachrichten, Wissen und neue Technologien gelangten über die niederländischen Händler direkt nach Japan. Des Weiteren wurden die Holländer über den gesamten Zeitraum des
sakoku niemals durch staatliche Interessen getrieben. Das bakufu hatte keinen Anlass
zu befürchten, dass Holland koloniale Absichten im japanischen Reich verfolgen würde.92 Die Rolle der Niederlande während des sakoku war eher jene eines „Informanten“
als jene eines Handelspartners. Eine Art „Fenster“, durch das das abgeschlossene Japan
die Außenwelt betrachten konnte.
Trotzdem muss relativiert werden, dass Holland nicht die Rolle als Verbreiter von neuen
Technologien und Wissenschaften innehatte, die ihm in der Forschung oft zuerkannt
wurde.93 Denn nachweislich wurde nur wenig europäisches Wissen wirklich übernommen.
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92
93
Hellyer, Robert I., Intra-asian trade and the bakamatus crisis. Reconsidering tokugawa commercial policies in late
edo period japan, in: International Journal of Asian Studies 2 (2005), Heft 1, S. 83–110, hier S. 88.
Jansen, Marius B., Rangaku and Westernization, in: Modern Asian Studies 18 (1984), Heft 4, S. 541–553, hier S. 541.
Horiuchi, Science Develops, S. 150.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 175.
Jansen, Rangaku and Westernization, S. 542.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 219–221. Hall schreibt davon, dass das „offensichtlich überlegene westliches Wissen“ auf lange Sicht in Japan die vorhandenen Technologien verdrängt hätte.
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Emanuel Simonini
339
Vielmehr ist davon auszugehen, dass in vergleichbarem Maßstab zu europäischem
Wissen auch chinesisches Wissen in Japan Einzug fand. Studien von Tashiro Kazui legten offen, dass China nicht nur als Handelspartner für das Tokugawa-Shōgunat von
Bedeutung war, sondern ebenso ein Hort von neuem Wissen war, das durch chinesi
sche Handelsschiffe nach Japan gebracht wurde.94 In der neueren Forschung wurde
bewiesen, dass die japanische Produktion von Textilien und Zucker starke chinesische
Einflüsse aufwies.95 Nicht niederländisches, sondern chinesisches Wissen in der Kultivierung von Zucker war es, das es Japan ermöglichte, sich im 19. Jahrhundert völlig
von Zuckerimporten unabhängig zu machen.96 Des Weiteren ließ die Forschung in den
letzten Jahren erkennen, dass die japanische Mathematik, in der Edo-Zeit wasan genannt, auf der chinesischen Mathematik beruhte.97
Die „Fortschrittsimpulse“ durch die Niederlande während des sakoku waren nicht so
groß wie lange vermutet – aber dennoch vorhanden. So können auch heute noch
Überreste des holländischen Einflusses in der japanischen Sprache verortet werden.
Wie etwa das Wort birru (Bier), das vom holländischen Begriff „Bier“ abstammt. Oder
kohii (Kaffee), dessen sprachliche Wurzeln im niederländischen „koffie“ zu finden sind.98
Die Nahrungsmittelversorgung des Tokugawa-Shōgunats
Zwischen Überproduktion und Hungersnot
Während der Herrschaft der Tokugawa-Shōgune wurde erstmals in der japanischen
Geschichte versucht, die Wirtschaftspolitik zu vereinheitlichen und auf Landesebene
zu stellen.99 Das bakufu zielte darauf ab, ein durch konfuzianische Werte des 17. Jahrhundert stark beeinflusstes und auf den ökonomischen Verhältnissen des 16. Jahrhunderts basierendes Wirtschaftssystem zu erschaffen. Es wurde „[…] eine im wesentlichen agrarische Wirtschaft, in der der Handel auf ein Minimum beschränkt wurde, eine
Gesellschaft, in der die Samurai regierten, die Bauern produzierten und die Kaufleute
als Verteiler von Waren fungierten“100, angestrebt.
Im Denken dieses ökonomischen Modells war es der Agrarsektor, den es durch das
Shōgunat weiterzuentwickeln galt. Zu diesem Zwecke trieb das bakufu in den ersten
hundert Jahren seiner Herrschaft den Ausbau der Landwirtschaft massiv voran, indem
große Teile Japans urbar gemacht wurden.101 Durch die Kultivierung von Neuland konnte die japanische Lebensmittelproduktion von 18,5 Millionen koku102 im Jahre 1597 auf
25,8 Millionen koku im Jahre 1700 erhöht werden. Am Beginn des 18. Jahrhunderts
94
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102
Horiuchi, Science Develops, S. 148.
Lee, Trade and Economy, S. 7.
Ebd., S. 10.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 202.
Doolan, Dutch in Japan, S. 39.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 162.
Ebd., S. 197.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 197.
Ein koku entspricht 180,39 Litern.
340
Sakoku
historia.scribere 08 (2016)
war ein Großteil der nutzbaren Flächen der japanischen Inseln bebaut, wodurch eine
vergleichbare Erhöhung des agrarischen „Outputs“ wie von 1597 bis 1700 bis zum
Ende des Tokugawa-Shōgunats nicht mehr möglich war. Dennoch konnte die Produktion der Landwirtschaft durch die Kultivierung von neuen Gebieten vom Beginn des
18. Jahrhunderts bis 1832 noch einmal um ein Fünftel auf 30,4 Millionen koku erhöht
werden.103 Diese in der Landwirtschaft erwirtschafteten Erträge flossen im Verlauf der
Edo-Zeit zunehmend in die immer größer werdenden Städte.
Edo, die Residenzstadt des bakufu, wurde schnell zur politischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Metropole Japans und verdrängte das frühere kaiserliche Zentrum Osaka.104
Nach Schätzungen lebten in Edo, der größten Stadt Japans, um 1732 rund eine Million
Menschen. Neben dieser Millionenmetropole gab es noch zwei weitere bedeutende
Zentren – Osaka, die größte Hafenstadt der Welt ihrer Zeit und die alte Kaiserstadt Kyoto, beide mit ca. 400.000 Einwohnern.105 Rund zehn Prozent der japanischen Gesamtbevölkerung sollen im auslaufenden 18. Jahrhundert in den Städten gelebt haben.106
Japan war aus diesem Grund zu Beginn des 19. Jahrhunderts vermutlich das Land mit
dem höchsten Urbanisierungsgrad weltweit.107
Die Entwicklungen in der Landwirtschaft sowie deren Ertragssteigerung und die stetige Erhöhung des Urbanisierungsgrades werden neben steigendem Bevölkerungswachstum als typische Merkmale einer frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaft
angesehen. Wie oben beschrieben, treffen die ersten beiden Merkmale auch für die
japanische Gesellschaft in der „Frühen Neuzeit“ zu. Das Bevölkerungswachstum entwickelte sich in Japan jedoch gänzlich anders, als es das europäische Modell vermuten
lässt.
Bis 1721 verlief die demografische Entwicklung Japans in ähnlicher Weise wie in europäischen Ländern jener Zeit – die Bevölkerung nahm stark zu. Auf der Grundlage von
Schätzungen der historischen Demographie geht man in der japanischen Forschung
heute davon aus, dass die Bevölkerung zwischen 1550 und 1700 von zwölf auf 28 Millionen anstieg.108 Ab diesem Zeitpunkt fand jedoch eine Trendwende in der demographischen Entwicklung statt. Von 1700 bis zum Ende der Edo-Zeit soll die Bevölkerung
lediglich um 15 Prozent auf insgesamt 33 Millionen Menschen angewachsen sein.109
Zum Vergleich erhöhte sich etwa die Bevölkerung Frankreichs im selben Zeitraum von
zwanzig auf 36,5 Millionen, die Bevölkerung der Iberischen Halbinsel von zehn auf
zwanzig Millionen Menschen.110
Wenn man die stete Steigerung der Nahrungsmittelproduktion in der Edo-Zeit betrachtet und diese in Relation zu den Bevölkerungszahlen stellt, kommt unweigerlich
103
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109
110
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 198.
Pohl, Geschichte Japans, S. 56.
Ebd., S. 57.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 206.
Linhart, Japan 1854 bis 1919, S. 197.
Schwentker, Voraussetzungen „erfolgreicher“ Modernisierung, S. 249.
Ebd., S. 250.
Matthias Schulz, Das 19. Jahrhundert (1789–1914) (Grundkurs Geschichte 4), Stuttgart 2011, S. 14.
historia.scribere 08 (2016)
Emanuel Simonini
341
die Frage auf: Warum stieg die Bevölkerungszahl vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Japan nur lediglich um ca. 15 Prozent an? In der Forschung werden für
die beinahe Stagnation des japanischen Bevölkerungswachstums mehr oder weniger
plausible, sich oft auch ergänzende Ursachen angenommen. Zu solchen Vermutungen
gehören „[…] Hungersnöte, bedingt durch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, oder die Sitte der Kindstötungen zur Sicherung des Lebensstandards […] ebenso
dazu wie ein hohes Heiratsalter und die damit verbundene niedrigere Geburtenrate“111.
Aufgrund der starken regionalen Schwankungen des Bevölkerungswachstums112 kann
jedoch davon ausgegangen werden, dass kontinuierliche Faktoren, wie die „Sitte der
Kindstötung“ und das „hohe Heiratsalter“, nur einen unwesentlichen Teil zum niedrigen Bevölkerungswachstum beigetragen haben. Vielmehr waren es wohl vor allem
Hungersnöte und Naturkatastrophen, die in Teilen Japans zu den kurzfristig großen
Rückgängen der Bevölkerungszahlen führten und so die Bevölkerung im Mittelwert
über die zweite Hälfte der Herrschaft des Sakoku-Shōgunats nur unwesentlich ansteigen ließ.
Doch wie konnte es zu Hungersnöten kommen, obwohl der „Nahrungsmitteloutput“
im 18. und 19. Jahrhundert stetig erhöht wurde? Die durch die „Kleine Eiszeit“ verursachten Klimaschwankungen machten den Bauern in der Edo-Zeit zu schaffen.113 Denn
der Nassfeldanbau hatte sich in Japan, trotz des nicht überall günstigen Klimas, durchgesetzt.114 Sogar in dem generell von kalten Niederschlägen geplagte Norden hatte
das bakufu in seiner Anfangszeit vergeblich versucht, den Reisanbau voranzutreiben.115
Reis war über die gesamte Edo-Zeit das Hauptnahrungsmittel. Jedoch war und ist auch
heute noch die Qualität und Quantität der Ernte im Nassfeldanbau maßgeblich von
klimatischen Bedingungen abhängig. Für den Reisanbau brauchte es in erster Linie
genügend Wasser. Zudem musste der Sommer über genügend Regen, aber auch über
genügend Sonnentage verfügen. Ein zu kalter oder zu trockener Sommer konnte zu
einem sofortigen Ausfall der Nahrungsmittelproduktion eines ganzen Gebietes führen.116 Ungünstige klimatische Bedingungen spielten in allen der drei großen Hungersnöte im neuzeitlichen Japan die Hauptrolle.117 Die Kyōhō-Hungersnot in den Jahren
1732/33 war das Ergebnis von generell zu kaltem Wetter in Verbindung mit einem vermehrten Insektenbefall der Ernte in Form von Zikaden. Sechsundvierzig Fürstentümer
im Südwesten verloren 75 Prozent ihrer Ernte. Über 2,5 Millionen Menschen litten an
Hunger.118 Auch die Tenmei-Hungersnot im Jahre 1783 kann vorwiegend auf den fatalen Einfluss von Klimaschwankungen zurückgeführt werden. Ein zu kalter, feuchter
Sommer setzte dem angebauten Reis ebenso zu wie der Ausbruch des Vulkans Asamu
111
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118
Schwentker, Voraussetzungen „erfolgreicher“ Modernisierung, S. 250.
Linhart, Japan 1854 bis 1919, S. 196.
Hellyer, Intra-Asian Trade, S. 337.
Yuji Wakao, Ländliche Familien in Japan von der frühen Neuzeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in vergleichender Perspektive mit Mitteleuropa, in: Josef Ehmer/Tamara K. Hareven/Richard Wall (Hrsg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt am Main-New York 1997, S. 347–370, hier S. 352.
Conrad Totman, Early Modern Japan, Berkeley 1993, S. 236.
Wakao, Ländliche Familien, S. 352.
Totman, Early Modern Japan, S. 236.
Ebd., S. 237.
342
Sakoku
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inmitten des japanischen Festlandes.119 Die Tenmei-Hungersnot hatte beachtliche Auswirkungen für die gesamtjapanische Bevölkerungsentwicklung. In ganz Japan ließen
924.000 Menschen ihr Leben. In der Stadt Hachinohe starben 65.000 Menschen – die
Hälfte der Einwohner.120
Der sogenannte Tenpo-Hunger in den 1830ern übertraf in seinen Auswirkungen die
vorangegangen Hungersnöte. Der Beginn dieser Hungersnot ist im Jahr 1833 zu suchen, in dem es aufgrund von schwierigen klimatischen Bedingungen zu massiven
Ernteausfällen kam. In den beiden darauffolgenden Jahren wiederholten sich diese
Verhältnisse. Um damit die japanische Bevölkerung noch nicht genug zu treffen, ging
das Jahr 1836 als eines der fruchtlosesten in die Geschichte ein.121 Im Verlauf der TenpoHungersnot musste Japan auf bis zu 24 Prozent seiner Ernte verzichten. Die Schätzungen über die Todesrate der gesamtjapanischen Bevölkerung gehen bis zu zehn
Prozent.122 Neben den drei großen gab es innerhalb der Edo-Zeit noch einige kleinere,
regional begrenzte Hungersnöte. Schätzungen zufolge waren es 28 bis 61.123
Maßnahmen des bakufu
Dem bakufu war schon früh bewusst, dass schwierige klimatische Bedingungen schnell
fatale Auswirkungen für die auf den Nassfeldanbau spezialisierte Bevölkerung haben
konnten. Aus diesem Grund versuchte das Shōgunat schon in seiner Anfangszeit, die
Nahrungsmittelproduktion zu erhöhen. Zunächst sollte durch die bloße Steigerung
der Reisproduktion der Entstehung von Hungersnöten entgegengewirkt werden.
Die japanische Bevölkerung wurde nach dem Machtantritt des Tokugawa-Shōgunats
dazu aufgefordert, neues Land für den Reisanbau urbar zu machen.124 Darüber hinaus
wurde versucht, die Erträge aus dem Nassfeldanbau zu erhöhen, indem nicht der Anbau von Reis mit dem höchsten Gewinn, sondern jener mit den höchsten Erträgen
gefördert wurde. Außerdem wurde der Anbau von neuen Sorten in jenen Gebieten
erprobt, in denen Wetter und Pflanzenkrankheiten massive Ernteeinbußen gefordert
hatten.125 Der Ausbau des Nassfeldanbaus glückte. Vom 17. bis zum 18. Jahrhundert
konnte die produzierte Reismenge um ca. 30 Prozent gesteigert werden.126
Obgleich die Erträge gestiegen waren, so blieben dennoch die Probleme des Nassfeldanbaus bestehen. Um den Gefahren des klimatisch verwundbaren Monokulturanbaus
119
120
121
122
123
124
125
126
Totman, Early Modern Japan, S. 238.
Ebd., S. 240.
Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 32009, S. 307.
John C. Caldwell, Demographic Transition Theory, Dordrecht 2006, S.139.
Noriko O. Tsuya/Satomi Kurosu, To Die or to Leave. Demographic Responses to Famines in Rural Northeastern
Japan, 1716–1870, in: Satomi Kurosu/Tommy Bengtsson/Cameron Campbell (Hrsg.), Demographic Responses
to Economic and Environmental Crises, Raitaku 2010, S. 79–106, hier S. 80. Die große Varianz bei den Zahlen der
Hungersnöte kann auf die dürftige Quellenlage zurückgeführt werden. Heute kann nicht sicher nachgewiesen
werden, in welchen Jahren die Ernteausfälle als akut angesehen werden können.
Angela Schottenhammer, Landwirtschaftliche Entwicklungen in Ostasien, 16.–19. Jahrhundert, in: Linhart/Weigelin-Schwiedrzik (Hrsg.), Ostasien, S. 147.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 143.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 198.
historia.scribere 08 (2016)
Emanuel Simonini
343
entgegenzusteuern, wurde während des sakoku immer häufiger versucht, den Reisanbau zu reduzieren und ihn durch den Anbau von anderen Nutzpflanzen zu ersetzen.
Zu diesem Zweck wurden die Bauern zunächst dazu aufgefordert, an den Rändern
ihrer Reisfelder Bohnen sowie anderes Gemüse anzubauen. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Verbreitung von Mais und Zuckerrohr in den ländlichen Gebieten
vorangetrieben.127 Zeitgleich fand eine neue Frucht ihren Einzug in den japanischen
Ernährungsplan – die Kartoffel. 1605 fanden die ersten Süß- und Weißkartoffeln als
Zierblumen von Südamerika aus ihren Weg auf die japanischen Inseln. Ab der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts fingen die Menschen schließlich an, Kartoffeln zu essen.
In der Folgezeit wurde die Verbreitung der Kartoffel vom Shōgunat vorangetrieben,
wodurch ihre Anbauzahlen stetig stiegen. Vor allem die Süßkartoffel entwickelte sich
zu einem Grundnahrungsmittel, da sie über viele Kalorien verfügte und im Gegensatz
zu Reis auch im Hochland gewinnbringend kultiviert werden konnte. Heute wird sogar vermutet, dass aufgrund der vermehrten Verbreitung der Kartoffel in Satsuma und
Nagasaki die Kyōhō-Hungersnot 1732/33 eine geringere Auswirkung hatte als im Rest
des Landes.128
Neben dem vermehrten Anbau von Gemüse förderte das bakufu auch die Kultivierung
von Getreide. Zwischen 1600 und 1730 konnte die Getreideerzeugung verdoppelt
werden.129 Auch Meeresprodukte wurden ein wesentlicher Bestandteil der japanischen
Grundnahrungsmittelversorgung.
Abgesehen von dem Versuch, den Reisanbau teilweise durch andere Nutzpflanzen
zu ersetzen, hoffte das bakufu noch durch eine weitere Maßnahme die Grundnahrungsmittelversorgung der japanischen Bevölkerung zu gewährleisten. Nutzpflanzen
wurden dort kultiviert, wo sie am besten gediehen. Durch die Spezialisierung auf gewisse Nutzpflanzen in den dafür jeweils klimatisch geeigneten Provinzen konnten die
landwirtschaftlichen Erträge nochmals gesteigert werden. In der südlich gelegenen
historischen Provinz Kii beispielsweise gediehen Mandarinen gut, wodurch Mandarinenanbau hier massiv vorangetrieben wurde. Zu Beginn des sakoku wurden aus der
Provinz Kii ca. vierhundert Körbe Mandarinen nach Edo verfrachtet. 1656 waren es bereits 50.000 und 1712 schließlich 350.000–500.000 Körbe.130
Die Spezialisierung der Anbaugebiete nahm in der Edo-Zeit immer weiter zu, wodurch
sich ein System von Erzeuger- und Verbrauchergebieten herausbildete, das sich über
die ganze japanische Inselkette erstreckte. Die Entwicklung hin zu Erzeuger- und Verbrauchergebieten setzte jedoch eine wichtige Bedingung voraus – ein gut ausgebautes und funktionierendes Transportsystem.
Dessen Infrastruktur war im frühneuzeitlichen Japan gut entwickelt. Denn das
Tokugawa-Shōgunat war, ebenso wie die einzelnen Daimyō in eigenen Belangen, da127
128
129
130
Schottenhammer, Landwirtschaftliche Entwicklungen, S. 147.
Susan B. Hanley, Tokugawa Society. Material Culture, Standard of Living, and Life-Styles, in: John Whitney Hall
(Hrsg.), Early Modern Japan (Cambridge History of Japan 4), Camebridge-New York 1991, S. 660–705, hier S. 682.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 198.
Müller, Wirtschafts- und Technikgeschichte, S. 146.
344
Sakoku
historia.scribere 08 (2016)
ran interessiert, die Straßen in einem benützbaren Zustand zu erhalten.131 Das bakufu
sowie die einzelnen Daimyō mussten ständig damit rechnen, dass das fein austarierte
Vasallen-System der Edo-Zeit versagte und sie sich in einem „Bürgerkrieg“ wiederfanden.132 Eine schnelle Verlegung der Truppen in eigenem Gebiet war in einem solchen
Fall unerlässlich, was wiederum nur ein intaktes Straßennetz garantieren konnte. Die
Landverkehrswege der Edo-Zeit waren überdurchschnittlich gut ausgebaut und wurden hauptsächlich von Händlern zur Bewegung von leichten Gütern benutzt.133
Aufgrund des geographisch ungünstigen Terrains Japans vollzog sich der Großteil
des Warentransportes jedoch nicht auf dem Land-, sondern auf dem ökonomisch gewinnbringenderen Seeweg entlang der Küsten.134 Große Mengen an Reis und anderen Gütern konnten entlang der Küsten von den Erzeuger- in die Verbrauchergebiete
gelangen. Louis M. Cullen geht sogar davon aus, dass der „innerstaatliche japanische
Seehandel“ während des sakoku seinerzeit der größte weltweit gewesen sei.135
Auch wenn diese Behauptung nicht der Wahrheit entsprechen sollte, so bleibt dennoch das Faktum bestehen, dass eine Versorgung der wachsenden Metropolen Osaka und Edo ohne den stark ausgebauten Küstenhandel im neuzeitlichen Japan wohl
nicht möglich gewesen wäre. Riesige Mengen an Nahrungsmitteln und anderen Gütern mussten von Nordjapan nach Osaka und entlang der pazifischen Küste nach Edo
geschafft werden, um die wachsenden Stadtbevölkerungen zu versorgen.136
Kaga Han,137 eine historische Provinz im Norden der japanischen Hauptinsel Honshu,
war eine wichtige „Erzeugerprovinz“ für Osaka. Reis und Salz fanden ihren Weg von
hier aus über den Seetransport in die Metropole.138 In der Spätzeit des TokugawaShōgunats befanden sich zwanzig Häfen an der Küste von Kaga Han, in denen jeweils
zehn bis fünfzig Schiffe ankern konnten. Die größten der Handelsschiffe mit der Bezeichnung Kita Mae Sen konnten dabei beispielsweise ca. 1.000 koku fassen.139 Mitte
des 18. Jahrhunderts liefen Osaka jährlich ca. 4.000 bis 5.000 Schiffe an. Edo war noch
stärker frequentiert – ca. 7.500 Schiffe dockten im selben Zeitraum jährlich in der Metropole an, um ihre Güter zu löschen.140
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 207.
Ebd., S. 167.
Ebd., S. 207.
Louis M. Cullen, Statistics of Tokugawa Coastal Trade and Bakumatsu and Early Meiji Foreign Trade, in: Japan Re
view 21 (2009), S. 183–223, hier S. 187.
Cullen, Statistics of Tokugawa Coastal Trade, S. 184.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 207.
Kaga Han entsprach in etwa dem Gebiet der der heutigen Präfektur Ishikawa.
Robert G. Flershem, Some Aspects of Japan Sea Trade in the Tokugawa Period, in: The Journal of Asian Studies 23
(1964), Heft 3, S. 405–416, hier S. 409.
Flershem, Aspects of Japan Sea Trade, S. 409. Neben der Provinz Kaga Han waren bedeutende Häfen im Küstenhandel vor allem in den Provinzen Obama Han, Fukui Han, Daishoji Han, Motoyoshi (heute Mikawa) und Miyanokoshi (heute Kanaiwa).
Cullen, Statistics of Tokugawa Coastal Trade, S. 185.
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Emanuel Simonini
345
Zusammenfassung Nahrungsmittelversorgung
Während der „Abschließung Japans“ war das Tokugawa-Shōgunat stets darum bemüht, eine autarke Lebensmittelversorgung der japanischen Bevölkerung zu erreichen. Es betrieb enorme Anstrengungen, um den Agrarsektor aus- und umzubauen.
Rein auf die statistischen Zahlen bezogen, gelang es dem bakufu in der Edo-Zeit den
„Nahrungsmitteloutput“ real um ein Drittel zu erhöhen. Die Bemühungen in der Urbarmachung von neuem Kulturland, der Versuch, das Grundnahrungsmittel Reis durch
andere Nährpflanzen zu ersetzen, sowie eine Spezialisierung der Anbaugebiete trugen
Früchte und führten zur Erhöhung der Lebensmittelproduktion.
Japan konnte während des sakoku, zusammenfassend betrachtet, also seinen Grundnahrungsmittelbedarf größtenteils autark decken. Dennoch dürfen die Entwicklungen
in der Nahrungsmittelproduktion nicht darüber hinwegtäuschen, dass große Teile der
neuzeitlichen japanischen Bevölkerung weiterhin am Existenzminimum lebten.141
Schnell konnte es aufgrund einer Verkettung von nur wenigen unglücklichen Umständen zu Nahrungsmittelengpässen kommen, die sich in der Folge oft zu Hungersnöten
weiterentwickelten. Hunger war, ebenso wie in Europa, eine ständige Bedrohung für
die japanische Bevölkerung, die auch das Shōgunat nicht zu beseitigen vermochte.
Schlimmer noch – in Zeiten der Nahrungsmittelknappheit versagte das TokugawaSystem. Die Kapazitäten des eigentlich sehr gut ausgebauten Verkehrsnetzes konnten
in Notzeiten nicht in dem Maße ausgenutzt werden, wie es möglich gewesen wäre.
Obwohl oft genügend Nahrungsmittel vorhanden waren und das Shōgunat sich darum bemühte, Lebensmittel zu verteilen, fanden diese zumeist nicht ihren Weg in die
notleidenden Gebiete.142
Grundlegendes Problem für die nur zögerlich anlaufenden Hilfeleistungen in Notzeiten war das japanische Währungssystem. Reis galt neben Gold, Silber und Kupfer als
gleichberechtigtes Tauschmittel. Darüber hinaus war die Einheit koku (180 Liter Reis)
die Rechnungseinheit für die Besteuerung von Besitz.143 So wurde ein durchschnittliches Dorf am Ende der Edo-Zeit mit einem voraussichtlichen Ertrag von vierhundert
koku besteuert.144 Auch wurde ein Daimyō nur dann anerkannt, wenn dessen han einen Ertrag von mindestens 10.000 koku Reis oder anderen landwirtschaftlichen Gütern, die dem Wert von Reis entsprachen, erwirtschaften konnte.145 Landwirtschaftliche
Produkte waren nicht nur Handelsware, sondern zugleich Zahlungsmittel.
Durch den direkten Bezug von Nahrungsmittel zu Währung lässt sich erklären, warum
die Verteilung von Reis bei Hungersnöten von den Daimyō und dem Shōgunat nur
zaghaft in die Wege geleitet wurde. Hilfslieferungen in Form von Lebensmitteln waren
für die Daimyō Finanzausgaben, von denen sie sich keine direkten Gegenleistungen
141
142
143
144
145
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 199.
Totman, Early Modern Japan, S. 237.
Hall, Japanische Kaiserreich, S. 207.
Linhart, japanische Gesellschaft, S. 20.
Ebd., S. 17.
346
Sakoku
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versprechen konnten. Befand sich eine Provinz in einer Notlage, konnte sie sich von
den umliegenden Gebieten nur wenig Hilfe erhoffen.
Aus dem Jahre 1783, im Zuge der Tenmei-Hungersnot, ist bekannt, dass die han Tōhoku
ihre gesamte Reisernte einbüßte. Matsudaira Sadanobu (1759–1829), ein Enkel des
Shōgun Yoshimune (1684–1751), setzte sich dafür ein, den Hunger in diesem Gebiet zu
bekämpfen. Durch seine Hilfeleistungen versprach er sich, seinen politischen Einfluss
in Tōhoku zu vergrößern. Reis wurde durch Matsudaira Sadanobus persönliches Wirken
in die Region geschafft und so das Schlimmste verhindert. Jedoch konzentrierten sich
die Anstrengungen nur auf Tōhoku. Die Grenzen zu den umliegenden Provinzen wurden dicht gemacht, sodass in der benachbarten Provinz Sōma ca. 8.500 Menschen an
Hunger starben.146 Auch jene Lebensmittellieferungen, die vom Tokugawa-Shōgunat
selbst ausgesendet wurden, kamen nur selten zur Gänze an ihrem Zielpunkt an. In
jeder Provinz, die die Hilfslieferungen durchqueren mussten, zweigten sich die dort
herrschenden Daimyō einige koku ab.147
Zusammenfassend kann man also davon sprechen, dass das Shōgunat in der Zeit des
sakoku grundsätzlich dazu im Stande war, die japanische Bevölkerung autark zu ernähren. Kam es jedoch zu Lebensmittelengpässen aufgrund von klimatischen Bedingungen oder anderen Ursachen, versagte das japanische System.
„Warum hatte Japan Erfolg?“ – Die Thesen von Jared Diamond
Zur Person Jared Diamond und dessen Werk
Das wohl berühmteste Werk von Jared Diamond, „Guns, Germs, and Steel. The Fates of
Human Societies“,148 erschien 1997 und brachte ihm im darauffolgenden Jahr den Pulitzer-Preis ein.149 Darin beschäftigt sich Diamond hauptsächlich mit der Frage, aufgrund
welcher geographischen und klimatischen Bedingungen sich die „unterschiedlichen
Gesellschaften von heute“ entwickeln konnten. In dem acht Jahre später erschienenen
Werk „Collapse. How Societies Choose to Fail or Succeed“ 150 setzte sich Diamond gewissermaßen genau mit der entgegengesetzten Frage auseinander. Nämlich, warum
Gesellschaften in der Vergangenheit „untergingen“ und welche Lehren man aus ihren
Fehlern für die heutigen Gesellschaften ziehen kann. Die Theorien des 1937 in Boston
geborenen Professors werden dabei zumeist als populärwissenschaftlich angesehen.
Diamond selbst schloss 1958 seinen Bachelor in Biochemie an der Universität Harvard
ab – 1961 promovierte er im selben Fach in Cambridge. Anschließend war er als Professor für Physiologie an der medizinischen Fakultät der University of California tätig. Seit
2004 lehrt er an der kalifornischen Universität auch Geographie.151
146
147
148
149
150
151
Totman, Early Modern Japan, S. 244.
Ebd., S. 239.
Jared Diamond, Guns, Germs, and Steel. The Fates of Human Societies, New York 1997.
The Pulitzer Prizes, The 1998 Pulitzer Prize Winners. General Nonfiction, o. D., [http://www.pulitzer.org/citation/
1998-General-Nonfiction], eingesehen 14.8.2014.
Jared Diamond, Collapse. How Societies Choose to Fail or Succeed, New York 2005.
NNDB, Jared Diamond, o. D., [http://www.nndb.com], eingesehen 14.8.2014.
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347
Seine Werke werden als populärwissenschaftlich angesehen, was hauptsächlich daran
liegt, dass er in seinen Arbeiten die unterschiedlichsten Wissenschaften fern von seinen Kernfächern mit einbezieht.152 Auch bei „Collapse“ wurde und wird ihm dies immer
wieder vorgeworfen. Darüber hinaus wurde an seinem Buch aus dem Jahre 2005 des
Öfteren bemängelt, dass er fehlerhaft bei der „vergleichenden Methode“ vorgegangen
sei.153 Doch obgleich es berechtigte Zweifel an den Arbeiten des kalifornischen Professors gibt, so liefern sie dennoch einige interessante Thesen. In „Collapse“ stellt er
eine aus fünf Punkten bestehende Liste auf. In ihr sind jene Faktoren zu finden, die laut
Diamond dazu führen, dass eine Gesellschaft „scheitert“:
1. Selbstverschuldete Umweltschäden
2. Klimaschwankungen
3. Außenpolitische Gegner
4. Probleme mit ehemaligen Verbündeten und Handelspartnern
5. Fehlende Antworten der Gesellschaft auf ihre politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Probleme154
Im neunten Kapitel seines Werkes (S. 229–308) geht Diamond auf das TokugawaShōgunat ein. Für ihn stellt das „abgeschlossene Japan“ der Edo-Zeit eine der wenigen
Mächte dar, die in der Menschheitsgeschichte „Erfolg“ hatten. Im Gegensatz etwa zur
Osterinsel155 war die frühneuzeitliche japanische Gesellschaft dazu imstande, mit ihren
Ressourcen nachhaltig umzugehen und so ihr Überleben zu sichern.156
Explizit ist der Erfolg Japans für Diamond klar darauf zurückzuführen, dass das Shōgunat
erfolgreich die vollkommene Abholzung der Wälder unterbinden konnte. Aufgrund eines nachhaltigen Vorgehens des bakufu in der Forstwirtschaft konnte die Erosion der
japanischen Böden verhindert und so die Nahrungsmittelversorgung der japanischen
Bevölkerung auf lange Sicht sichergestellt werden.
Diamonds Hintergrundwissen zur japanischen Forstwirtschaft beruht größtenteils auf
den gesicherten Erkenntnissen von Conrad Totman, einem emeritierten Japanologen
der Universität Yale. Dieser beschäftigte sich intensiv mit der Forstwirtschaft der EdoZeit.
152
153
154
155
156
NNDB, Jared Diamond, o. D., [http://www.nndb.com], eingesehen 14.8.2014.
Jared Diamond vergleicht in seinem Werk „Collapse“ u.a. mittelalterliche Bauern der Osterinsel mit denen des
modernen Montana (S. 75), die Bevölkerung der Osterinsel mit denen der stalinistischen Sowjetunion (S. 110),
Maya-Könige mit modernen US-amerikanischen Vorstandsmitgliedern (S. 177) und dem Tokugawa-Shōgunat
(S. 305).
Diamond, Collapse, S. 11. Die fünf Faktoren werden auf den Seiten 333–337 genauer erläutert.
Ab dem 13. Jahrhundert wurde die Osterinsel durch ihre Bevölkerung zunehmend entwaldet. Durch die zunehmende Erosion der Böden mussten die Bewohner der Insel in den folgenden Jahrhunderten einige Siedlungen
aufgeben. Im 17. Jahrhundert brachen schließlich die Stammesstrukturen aufgrund von erschöpften Ressourcen
zusammen.
Diamond, Collapse, S. 304.
348
Sakoku
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Jared Diamonds Thesen
Diamond sieht die Wurzel der japanischen Umweltprobleme am Beginn der Edo-Zeit,
nachdem das Tokugawa-Shōgunat das Land gewaltsam geeinigt hatte. Aufgrund des
durch die Macht des bakufu garantierten Friedens begann die japanische Bevölkerungszahl massiv anzusteigen, wodurch die Abholzung der Wälder im 17. Jahrhundert zunahm.157 Das geschlagene Holz wurde größtenteils zum Bau neuer Gebäude
benutzt, war aber auch unabdingbar zum Heizen, Kochen und als Verbrauchsmaterial
in frühneuzeitlichen Betrieben. Ebenso wurden bei der Kultivierung von Neuland für
den Nahrungsmittelanbau riesige Waldflächen vernichtet.158 Aufgrund der drastischen
Nutzung der Ressource Holz war 1710 der Großteil der zugänglichen Wälder in Kyūshū,
Shikoku und Honshū abgeholzt.159
Kurzfristig führten diese Entwicklungen zu unkontrollierbaren Flächenbränden. Denn
das nach der Abholzung zurückbleibende Buschland fing schneller Feuer als die ursprünglichen Wälder. Auf einen größeren Zeitraum gesehen kam es zur Erosion der Böden und zu Überflutungen. Laut Diamond war Japan von Bodenerosion und Überflutungen noch stärker betroffen als andere Gebiete, da die Inseln im Pazifischen Ozean
von starken Regenfällen (meist in Form von Taifunen), der Schneeschmelze im Frühjahr
und in unvorhersehbaren Abständen von Erdbeben betroffen waren. Die verstärkte
Erosion der Böden sei wiederum hauptsächlich für die Entstehung der großen japanischen Hungersnöte nach 1600 verantwortlich zu machen. Hätte Japan sein Ressourcenmanagement im gleichen Stil wie im 16. und 17. Jahrhundert weiterbetrieben, so
wären die Entwicklungen in Japan wohl ähnlich verlaufen wie die auf der Osterinsel, so
ist sich Diamond sicher.160
Für ihn stellt das Meireki-Feuer im Jahre 1657 jene Katastrophe dar, im Zuge derer die
japanische Gesellschaft den Weg aus ihrer selbstverschuldeten „Umweltkrise“ fand. Für
den Wiederaufbau der zu mehr als fünfzig Prozent durch das Feuer zerstörten Stadt
Edo mussten große Mengen an Holz beschafft werden. Doch Holz war knapp – die
japanische Gesellschaft musste sich eine Lösung für den Ressourcenengpass einfallen
lassen. Die Antwort auf ihr Problem fand sie, laut Diamond, indem sie im Zuge des
einschneidenden Meireki-Erlebnisses ihren Rohstoffverbrauch hin zur Nachhaltigkeit
veränderte.161
Mehr und mehr Forstgebiete wurden unter die Herrschaft des Shōgunates und der
Daimyō gestellt. Die Waldflächen vergrößerten sich wieder, die Gefahr der Erosion ging
zurück.162 Maßgeblich wurde die Vergrößerung der Waldgebiete laut Diamond auch
dadurch beeinflusst, dass Kohle im neuzeitlichen Japan Holz als Energielieferant ersetz157
158
159
160
161
162
Diamond, Collapse, S. 295.
Ebd., S. 297.
Ebd., S. 298. Bis hierhin decken sich Diamonds Behauptungen größtenteils mit denen von Conrad Totman: Conrad Totman, Forestry in Early Modern Japan, 1650–1850: A Preliminary Survey, in: Agricultural History 56 (1982),
Heft 2, S. 415–425.
Diamond, Collapse, S. 299.
Ebd., S. 299.
Ebd., S. 302.
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349
te.163 Bis in die Spätzeit des sakoku hatte der Ausbau der Forstwirtschaft immer weiter
zugenommen und sich zu institutionalisieren begonnen. Wälder wurden zu gewinnorientierten Forstbetrieben oder zu Investitionen, die sich Shōgunat, Daimyō und Privatpersonen für die Zukunft zu sichern begannen.164 Zusammenfassend stellt für Diamond die Institutionalisierung der Forstwirtschaft den Hauptgrund dafür dar, dass die
japanische Gesellschaft ihren „Untergang“ abwenden konnte. Das Tokugawa-Shōgunat
konnte erfolgreich bestehen, weil es den Raubbau auf seinen Inseln eingrenzen und
durch eine nachhaltige Ressourcenwirtschaft ersetzen konnte.165
In Japan war es aber nur deshalb möglich gewesen, Begrenzungen im Rohstoffabbau
einzuführen, weil über 250 Jahre politische Stabilität und Frieden durch das bakufu
garantiert wurden.166 Laut Diamond wusste der Tokugawa-Klan, dass Planungen in die
Zukunft unerlässlich waren, um die Fortexistenz seiner Herrschaft zu sichern. Im Gegensatz zu etwa den Königen der Maya dachten die Tokugawa-Shōgune nicht nur an
ihre Herrschaftszeit, sondern auch an die ihrer Nachfolger. Der Abbau aller Rohstoffe
unter einem Shōgun hätte die Zukunft seines Klans als oberste Macht im Lande in Frage gestellt. Außerdem hätten die Japaner, aufgrund der Isolationspolitik, während der
Edo-Zeit stärker auf ihre Rohstoffe geachtet.167
Diamond und das TokugawaShōgunat: Eine Auseinandersetzung
Wenn Diamond über Japan spricht, bezieht er seine in diesem Kapitel eingangs erwähnte Fünf-Faktoren-Liste168 in seine Überlegungen nicht mit ein. Denn würde er
dieser Liste folgen, so hätte das bakufu entgegen den historischen Fakten nicht über
zweihundert Jahre lang „erfolgreich“ bestehen können.
Der erste Faktor der „selbstverschuldeten Umweltschäden“ trifft laut Diamonds eigenen Beschreibungen auf das neuzeitliche Japan zu. Mit dem zweiten Kriterium der „Klimaschwankungen“ musste sich Japan wie im dritten Kapitel dieser Arbeit aufgezeigt
wurde, des Öfteren befassen.169 Mit dem vierten Faktor, „Problemen mit ehemaligen
Verbündeten und Handelspartnern“, musste sich Japan ebenfalls auseinandersetzen,
da das bakufu durch seine „Abschließung“ die meisten seiner ehemaligen Handelspartner verloren hatte. Außenpolitische Beziehungen pflegte das Inselreich, wie im ersten
Teil dieser Arbeit beschrieben wurde, nur noch zu Korea und den Ryūkyū-Inseln.170
Das bakufu hatte mit drei der fünf von Diamond aufgestellten Punkten zu kämpfen,
konnte aber trotzdem fortbestehen. In „Collapse“ begründet Diamond den Fortbestand des Shōgunats, indem er sich auf den für ihn bedeutendsten fünften Faktor
stützt – auf die „fehlenden Antworten der Gesellschaft auf ihre politischen, wirtschaft163
164
165
166
167
168
169
170
Diamond, Collapse, S. 300.
Ebd., S. 302.
Ebd., S. 305.
Ebd., S. 303.
Ebd., S. 305.
Siehe Seite 350.
Siehe Seite 341.
Siehe Seite 328.
350
Sakoku
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lichen und sozialen Probleme.“171 Denn die neuzeitliche japanische Gesellschaft hätte
laut ihm Lösungen für ihre gesellschaftlichen Probleme gefunden und so ihren „drohenden Untergang“ frühzeitig abwenden können. Als Japan aufgrund des Raubbaus
an der Natur am Abgrund stand, habe es eine Antwort gefunden – nachhaltiges Ressourcenmanagement.
Für Diamond markiert das Meireki-Feuer im Jahre 1657 jenen Punkt, an dem sich der
Wandel im Denken des japanischen Kollektivs vollzog. In der von ihm ideologisierten
Vorstellung von einer homogen handelnden Gesellschaft führte das Feuer zum Umdenken der gesamten Bevölkerung.172 Generell sollte jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass ein regional begrenztes Ereignis wie jenes von 1657 große Auswirkungen auf das Denken der „gesamtjapanischen Gesellschaft“ hatte.
Für Diamond sind es weiter das bakufu und die Daimyō, die den Schutz der Wälder
nach 1700 vorantrieben und dadurch Holz auch für zukünftige Generationen schützen
konnten. Diamond versucht das Umdenken des bakufu damit zu begründen, dass es,
im Gegensatz etwa zur führenden Maya-Schicht, weitsichtig für die Zukunft geplant
habe, und dass sich das Shōgunat seiner abgeschotteten Position bewusst geworden
sei.173
Doch entgegen Diamonds Thesen entwickelte die japanische Gesellschaft die nachhaltige institutionalisierte Forstwirtschaft nicht aufgrund eines gesellschaftlichen Umdenkens. Vielmehr wurden im 17. Jahrhundert die Wege zu nutzbaren Wäldern immer
weiter und dadurch auch teurer. Aufgrund dieser Entwicklung wurde die Forstwirtschaft lukrativ – das Shōgunat, Daimyō, aber auch Einzelpersonen fingen an die Wälder
kommerziell zu nutzen.174 Wiederaufgeforstet wurde nach 1700 nur in jenen Gebieten,
in denen es sich wirtschaftlich auch lohnte.175
Schlussendlich entwickelte die japanische Gesellschaft nicht, wie Diamond meint, aufgrund eines kollektiven Umdenkens den nachhaltigen Forstanbau, sondern wegen
des ökonomischen Interesses von Einzelpersonen.176 Die Entstehung der Forstwirtschaft war eine logische Konsequenz aus der Nachfrage auf den japanischen Märkten.
Als der Holzpreis im 18. Jahrhundert stieg, entstanden die ersten Forstbetriebe aus
rein wirtschaftlichem Interesse.177 Weitsicht im Umweltschutz spielte hingegen wenn
überhaupt nur eine untergeordnete Rolle.
Was bleibt nun von Diamonds Thesen? Die Eindämmung des Raubbaues in der Forstwirtschaft kann sicherlich als ein Faktor dafür angesehen werden, warum das Shōgunat
über 250 Jahre lang bestehen konnte. Man kann sich ausmalen, so Diamond mit seinen Vermutungen Recht behält, dass eine auf lange Sicht vollkommene Entwaldung
171
172
173
174
175
176
177
Diamond, Collapse, S. 302.
Ebd., S. 299.
Ebd., S. 305.
Conrad Totman, Plantation Forestry in Early Modern Japan. Economic Aspects of Its Emergence, in: Agricultural
History 60 (1986), Heft 3, S. 23–51, hier S. 50.
Ebd., S. 24.
Ebd., S. 49.
Ebd., S. 31.
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351
des vom Shōgunat kontrollierten Gebietes negative Auswirkungen auf die japanische
Gesellschaft gehabt hätte. Erosion und Überschwemmungen hätten ohne die Entstehung einer nachhaltigen Forstwirtschaft sicherlich zugenommen und vielleicht zu vergleichbaren Zuständen wie auf der Osterinsel geführt. Beweisen lässt sich dies aber
nicht.
Schluss
In dieser Arbeit wurde daher versucht, zumindest die bedeutendsten ökonomischen
Punkte herauszuarbeiten, die die über zwei Jahrhunderte andauernde Isolation des
bakufu ermöglicht hatten. Wie hatte sich die Ökonomie Japans nun der Isolationspolitik des bakufu angepasst? Und welche Rolle kann den niederländischen Händlern während der Abschließung Japans zugesprochen werden?
Bis zum Ende der Tokugawa-Herrschaft stand der Außenhandel völlig unter der Kontrolle des Shōgunats. Jegliche Ein- und Ausfuhr von Waren lief über die japanischen
Handelsposten und wurde durch das bakufu streng limitiert. Anders als in der älteren
Forschung oft behauptet, führte Japan während des sakoku weitreichende Handelsbeziehungen. Japan stand auch während seiner „Abschließung“ in regem Kontakt mit
China, Korea, Holland und dem Königreich Ryūkyū. Die Interaktionen zwischen Japan
und den vier hier genannten Herrschaftskomplexen beliefen sich jedoch nicht auf diplomatische Beziehungen, sondern vorwiegend auf Handelskontakte. Lediglich zwischen Japan und Korea sowie Japan und den Ryūkyū-Inseln gingen die Kontakte über
den Handel hinaus.
Der japanische Außenhandel wurde vom bakufu so modifiziert, dass auch während des
sakoku der Rohstoffbedarf Japans gedeckt werden konnte. Durch die strengen Limitierungsmaßnahmen konnten die Gewinne aus dem Außenhandel direkt den TokugawaHerrschern zugeführt werden. Darüber hinaus reduzierte Japan durch sein System des
„Spot Trading“ die gefürchteten „ausländischen Einflüsse“ auf ein Minimum.
Das bakufu hatte seinen Außenhandel perfekt an seine Isolationspolitik angepasst.
Handel existierte nur dort, wo das bakufu es wollte. Er existierte nur dann, wenn Waren
nicht im Inland produziert werden konnten und lediglich auf japanischem Boden.
Im Zusammenhang mit dem Außenhandel muss die Rolle der Niederlande in Japan
während des sakoku revidiert werden. Zwar war der Handel mit den Niederländern
am Beginn der Neuzeit wichtig für das Tokugawa-Shōgunat, um Japan hinlänglich mit
chinesischen Waren zu versorgen, doch nahm die Bedeutung Hollands als Zwischenhändler stetig ab. Die europäische Macht als „Versorger“ Japans während des sakoku
anzusehen, sollte in der Forschung der Vergangenheit angehören. Denn die Beziehungen zu Holland hatten für Japan nicht jene wirtschaftliche Tragweite, die ihnen in der
Vergangenheit allzu oft zugeschrieben wurde. Trotzdem waren die Kontakte zu den
holländischen Händlern fernab der Wirtschaft für das bakufu von Bedeutung. Neues
Wissen in den unterschiedlichsten Bereichen sowie Informationen bezüglich des Weltgeschehens gelangten über die niederländischen Händler nach Japan.
352
Sakoku
historia.scribere 08 (2016)
Wie der Außenhandel wurde auch die Nahrungsmittelproduktion an die Isolationspolitik des Shōgunats angepasst. Vom Beginn seiner Herrschaft an versuchte das bakufu
eine autarke Lebensmittelversorgung der wachsenden Bevölkerung zu gewährleisten.
Um die Ernährung der Menschen nicht von Importen abhängig zu machen, versuchte
das Shōgunat seinen „Nahrungsmitteloutput“ durch massive Neulandkultivierung zu
steigern. Bis zum Ende des sakoku gelang es dem bakufu auch grundsätzlich, Japan
autark mit genügend Lebensmitteln zu versorgen. Dies schützte das Shōgunat jedoch
nicht gegen Hungersnöte. Wie auch im neuzeitlichen Europa hatten schlechte klimatische Bedingungen schnell Nahrungsmittelengpässe zur Folge. Trotz enormer Anstrengungen im Agrarsektor gelang es dem bakufu nicht, den Hunger in Krisenzeiten
zu beseitigen. Obgleich in Japan aufgrund von klimatischen Bedingungen zeitweise
Hungersnöte ausbrachen, war das bakufu grundsätzlich in der Lage, Japan autark zu
ernähren. Insgesamt wurde die Nahrungsmittelproduktion erfolgreich an die Isolationspolitik angepasst. In Sachen „Nahrung“ nutzte das bakufu all seine Ressourcen.
Obwohl die stetig wachsende japanische Bevölkerung immer stärker auf die noch
bestehenden Rohstoffe in ihren Gebieten zugriff, kam es dennoch nie zu einem Zusammenbruch des Systems. Diamonds These von einer japanischen Gesellschaft, die
schon in der Neuzeit ihre Produktion eigenständig vom Raubbau hin zu nachhaltigem
Ressourcenmanagement umgestellt hatte, muss jedoch hinterfragt werden.178 Denn
Japan setzte, anders als Diamond behauptet, den „Umweltschutz“ nicht gezielt um – es
gab keine Pläne des bakufu, den Waldbau hin zur nachhaltigen Forstwirtschaft umzustrukturieren. Vielmehr war es eine Abfolge von Ereignissen, die die Entwicklung der
nachhaltigen Forstwirtschaft begünstigten. Zwar wurden Waldgebiete in der Mitte des
17. Jahrhunderts unter die Schirmherrschaft von Shōgunat und Daimyō gestellt, doch
erfolgte dieser Schritt nicht wegen eines Sinneswandels der „japanischen Gesellschaft“,
sondern aufgrund der wirtschaftlichen Interessen von Einzelpersonen.
Weil die japanischen Wälder immer kleiner und der Weg zu nutzbaren Wäldern immer
weiter wurde, stieg der Holzpreis. Aufgrund dieser Entwicklung lohnte sich plötzlich
die Forstwirtschaft, wodurch sie kommerzialisiert und zu einem eigenen Wirtschaftszweig wurde. Der Schutz der Wälder und damit einhergehend das Ausbleiben von Bodenerosionen war daher vor allem eine Folge von Marktentwicklungen. Es kann nicht
davon gesprochen werden, dass das bakufu die japanische Ökonomie wissentlich auf
„Nachhaltigkeit“ umgestellt hätte.
Auch wenn Jared Diamonds Begründungen für die Entstehung der institutionalisierten Forstwirtschaft als problematisch anzusehen sind, so dürfen die Entwicklungen in
der japanischen Waldwirtschaft dennoch nicht unterschätzt werden. Denn es ist davon auszugehen, dass eine völlige Vernichtung der japanischen Waldbestände weitreichende Folgen für die Bevölkerung nach sich gezogen hätte. Durch die Kommerzialisierung der Waldbestände war es Japan möglich, seine Holzressourcen auch über das
Ende des sakoku hinaus zu erhalten.
178
Diamond, Collapse, S. 305.
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Die japanische Gesellschaft konnte während ihrer „Abschließung“ aufgrund dieser drei
ökonomischen Faktoren fortbestehen:
•
Der Außenhandel wurde streng limitiert und unter Kontrolle in einigen Sparten weitergeführt.
•
Es wurde vom bakufu eine weitgehend autarke Ernährung der Bevölkerung
gewährleistet.
•
Eine Zerstörung der japanischen Umwelt konnte durch das Entstehen einer
institutionalisierten Forstwirtschaft verhindert werden.
Welche Rolle kann den niederländischen Händlern während der Abschließung Japans
zugesprochen werden?
•
Über die Holländer konnte das bakufu neue Technologien und Informationen
über das Weltgeschehen gewinnen – in wirtschaftlicher Hinsicht war der Kontakt zwischen den beiden Kulturen jedoch nur von geringer Bedeutung.
Über zweihundert Jahre lang gelang es dem Tokugawa-Shōgunat erfolgreich, Japan zu
regieren und sich fast vollständig von der übrigen Welt abzuschotten. Die hier aufgelisteten Punkte zeigen, durch welche ökonomischen Faktoren dies möglich war.
Sie lassen darüber hinaus erkennen, dass auch Japan sich während des sakoku nicht
vollkommen von der Außenwelt „abgeschlossen hatte“. Auch das Tokgugawa-Shōgunat
musste in einem gewissen Maße mit der übrigen Welt in Kontakt treten.
Dennoch erscheint der Begriff sakoku (Abschließung Japans) für jenen Zeitabschnitt
der japanischen Geschichte gerechtfertigt. Denn kulturell war Japan isoliert. Keine
außerjapanischen Einflüsse gerieten ohne das Wissen des bakufu nach Japan. Außenpolitisch kann ebenso von einer „Abschließung Japans“ gesprochen werden, da das
Shōgunat nur mit Korea und den Ryūkyū in direktem diplomatischen Kontakt stand.
Auch die Nahrungsmittelproduktion verlief autark. Lediglich im Handelssektor musste
das bakufu mit der Außenwelt in Kontakt treten.
Neben den in dieser Arbeit ausgearbeiteten Punkten müssen sicherlich noch weitere in
Betracht gezogen werden, wenn man nach den Gründen der „erfolgreichen Abschließung“ Japans sucht. Interessant wäre es noch herauszuarbeiten, welche politischen
und gesellschaftlichen Faktoren die über zweihundert Jahre andauernde Herrschaft
des Tokugawa-Shōgunats ermöglicht hatten.
354
Sakoku
historia.scribere 08 (2016)
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Namens- und Sachregister
•
bakumatsu – Periode in der japanischen Geschichte. Sie wird übersetzt mit
„Ende des bakufu“ (1853–1867).
•
bakufu – Militärregierung. Wird auch oft als Synonym für das Shōgunat gebraucht.
•
Daimyō – Wird zumeist mit „Fürst“ übersetzt.
•
Deshima – Eine vorgelagerte künstliche Insel in der Hafenstadt Nagasaki. Während der Edo-Zeit wurde sie als Handelsstützpunkt benutzt.
•
Edo – Früherer Name Tokios (bis 1868).
•
Han – Vergleichbar mit europäischen Fürstentümern. Als Han wurde ein Fürstentum bezeichnet, wenn es mindestens 10.000 koku Reis erwirtschaften
konnte.
•
Kaga Han – Historische japanische Provinz. Sie entsprach in ihrer Ausdehnung
in etwa der heute im Norden von Honshū liegenden Präfekturen Ishikawa und
Toyama.
•
Kii – Historische japanische Provinz. Sie entsprach in ihrer Ausdehnung in etwa
der heute im Süden von Honshū liegenden Präfektur Wakayama.
•
koku – Japanische Maßeinheit. Ein koku entspricht in etwa 180 Liter.
•
Satsuma – Historische japanische Provinz. Sie entsprach in ihrer Ausdehnung
in etwa der heute im äußersten Süden von Japan liegenden Präfektur Kagoshima.
•
sakoku – Periode in der japanischen Geschichte (1639–1853). Wird oft übersetzt mit „Abschließung Japans“.
•
Shimazu-Klan – Dynastie, die in der Edo-Zeit die Herrschaft über die Provinz
Satsuma innehatte.
•
Shōgun – Ursprünglich eine Bezeichnung für einen angesehenen Adeligen (Samurai). Zeitweilig übernahmen Shōgune, die in etwa europäischen Herzögen
entsprachen, die Macht in Japan (Kamakura-Shōgunat (1192–1333), KemmuRestauration (1333–1336), Muromachi- oder Ashikaga-Shōgunat (1338–1573),
historia.scribere 08 (2016)
Emanuel Simonini
357
Tokugawa- oder Edo-Shōgunat (1603–1867). Während dieser Epochen war der
Shōgun de facto Herrscher über Japan.
•
Shōgunat – Der Verwaltungsapparat des Shōguns.
•
So-Clan – Hatte vom 13. bis zum 19. Jahrhundert die Herrschaft über die Insel
Tsushima inne.
•
Ryūkyū-Inseln – Inselgruppe im Ostchinesischen Meer
•
Tennō – Ein mit dem europäischen Kaiser vergleichbarer japanischer Herrschertitel.
•
Tokugawa – Eine Shōgun-Dynastie. Die Abkömmlinge der Tokugawa-Familie
herrschten während der Edo-Zeit in Japan.
•
Tsushima – Eine heute zu Japan gehörende Insel; zwischen Korea und Japan
gelegen.
Emanuel Simonini ist Student des Masterstudiums Geschichte an der Universität
Innsbruck. emanuel.simonini@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Emanuel Simonini, Sakoku. Ökonomische Anpassungen des Tokugawa-Shōgunats von
1639–1853, in: historia.scribere 8 (2016), S. 323–358, [http://historia.scribere.at], 2015–
2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
historia
scribere
08 (2016)
„alz ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“1 Heinrich
von Rottenburg in seinem geographischen Umfeld
Anna Anderlan
Kerngebiet: Mittelalter
eingereicht bei: Ass.-Prof.in Dr.in Christina Antenhofer
eingereicht im Semester: SS 2015
Rubrik: BA-Arbeit
Abstract
The geographical environment of Heinrich of Rottenburg
The following bachelor thesis analyses the mobility of the aristocrat Heinrich
of Rottenburg who lived at the turn of the 14th to the 15th century. He was one
of the most powerful and wealthiest Tyroleans and was continually travelling
around by command of duke Friedrich IV. This paper tries to illustrate Heinrich
of Rottenburg’s travel accounts and under which conditions they took place.
For this purpose, it is also necessary to take his life into consideration. The
main findings of this thesis rely on the original account book of Heinrich of
Rottenburg.
Einleitung
„So hab ichs doch an disem ort einkhomen lassen wellen, damit man söhe, wie dern
von Rottenburg groß gehabter Gewalt, Macht und Reichthumb unversehens zu grundt
gangen. Unns sich mit ainer Tragoedia geendet.“2 Hier ist die Rede von Heinrich von
Rottenburg, einem der reichsten und mächtigsten Tiroler Adeligen um 1400. Obwohl
er zu seiner Lebenszeit eine hoch angesehene Person war, wird seinem Leben und
Wirken heute wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Seine vielen Besitzungen waren weit
über das ganze Land verteilt und unter seiner Herrschaft standen zahlreiche Schaffer,
Burghüter, Sattler, Diener und Knechte. Als Hauptmann an der Etsch war er ein wich1
2
Goldverschreibung 28. Oktober 1404, TLA, Urkundenreihe I4519.
Jakob Andrä von Brandis, Die Geschichte der Landeshauptleute von Tirol, Innsbruck 1850, S. 167.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.469ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
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360
„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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tiger Amtmann, was einen hohen Grad an Mobilität verlangte. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, an welchen Orten sich Heinrich von Rottenburg im Laufe seines Lebens aufhielt und wie sich seine „Reisen“ gestalteten. Schließlich war das Reisen
„Bestandteil mittelalterlicher Diplomatie“, wie es Marc Löwener bezeichnete.3 In diesem
Zusammenhang wird auf die allgemeinen Reisebedingungen des 15. Jahrhunderts in
Tirol eingegangen. Um das Bild über Heinrich von Rottenburg zu vervollständigen, ist
es notwendig, seine Ämter zu kennen und auf seine Persönlichkeit, seinen Reichtum
und seine Macht einzugehen. In dieser Arbeit wird auf die vier wichtigsten Ereignisse,
die das Leben Heinrichs von Rottenburg geprägt haben, eingegangen. Dabei zieht
sich Heinrichs Konflikt mit Herzog Friedrich IV. von Österreich4 wie ein roter Faden
durch sein Leben und Wirken. Ein weiteres Kapitel geht auf seine vielen Besitzungen
ein, die beachtlich zu seiner Mobilität beigetragen haben.
In der Beschäftigung mit den nachstehend vorgestellten Quellen stehen die Reisebedingungen des Adeligen sowie seine Reiseziele im Mittelpunkt. Dabei wird auf die
Versorgung der Reisenden und der Pferde, die Reiseumstände, den Transport von Waren, den Güteraustausch zwischen den Rottenburgischen Besitztümern und den regen
Briefwechsel eingegangen.
Als Grundlage dieser Arbeit diente das Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg. Es
ist ein bedeutsamer Beleg adeliger Herrschaft des frühen 15. Jahrhunderts. Die Quelle
besteht nicht nur aus ein paar wenigen Seiten, sondern ist ein umfangreiches Buch,
das Claudia Feller in „Das Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg. Ein Zeugnis adeliger Herrschaft und Wirtschaftsführung im spätmittelalterlichen Tirol, Edition und
Kommentar“5 ediert hat. In der vorliegenden Arbeit wird hypothetisch davon ausgegangen, dass das Rechnungsbuch einen Einblick in das adelige Reiseleben gibt und
dessen Rekonstruktion ermöglicht. Weiters bezieht sich die folgende Arbeit auf Urkunden, die Heinrich von Rottenburg ausgestellt hat, beziehungsweise in denen sein
Name eine wichtige Rolle spielte. Diese Urkunden sind allesamt in den Werken von
Jakob Andrä Freiherr von Brandis, „Die Geschichte der Landeshauptleute von Tirol“ aus
dem Jahr 1850, und Clemens Wenzeslaus Brandis, „Tirol unter Friedrich von Österreich“ 6
von 1821, abgedruckt.
Forschungsstand
Das Thema der Reise im Mittelalter ist sehr gut erforscht. Ein besonders interessanter Sammelband, herausgegeben von Rainer Loose „Von der Via Claudia Augusta zum
3
4
5
6
Marc Löwener, Itinerare als Hilfsmittel zur chronologischen Einordnung des Quellenmaterials – dargestellt am
Beispiel der Herrschaftsgründung des Deutschen Ordens in Preußen, in: Irene Erfen/Karl-Heinz Spies (Hrsg.),
Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, S. 165–176, hier S. 175.
Geb. 1382, gest. 1439, ab 1406 Graf von Tirol; Alphons Lhotsky, Friedrich IV., in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5,
1961, S. 524–525, [http://www.deutsche-biographie.de/sfz69835.html], eingesehen 23.3.2016.
Claudia Feller, Das Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg. Ein Zeugnis adeliger Herrschaft und Wirtschaftsführung im spätmittelalterlichen Tirol, Edition und Kommentar (Institut für Österreichische Geschichtsforschung
4), Wien-Köln-Weimar 2010.
Clemens Wenzeslaus Brandis, Tirol unter Friedrich von Österreich, Wien 1821.
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361
Oberen Weg“7 aus dem Jahr 2006, gibt hierüber einen guten Überblick und legt den
Fokus auf Tirol. In diesem Zusammenhang ist auch der Artikel von Josef Riedmann
„Verkehrswege, Verkehrsmittel“8 von 1995 zu nennen, in dem das Hauptaugenmerk auf
die mittelalterliche Mobilität in den Alpen gerichtet wird. Die Artikel „Itinerare als Hilfsmittel zur chronologischen Einordnung des Quellenmaterials – dargestellt am Beispiel
der Herrschaftsgründung des Deutschen Ordens in Preußen aus dem Jahr 1997“ von
Marc Löwener und „On the Move. Itinerar der Herzöge Leopold IV. und Friedrich IV. von
Österreich von der Schlacht bei Sempach (1386) bis zur Aussöhnung mit König Sigmund (1418)“ aus dem Jahr 2010 von Christian Sieber9, beziehen sich dagegen stärker
auf die Reise einer Einzelperson und wie diese im Mittelalter konkret vonstatten ging.
Im Falle des Geschlechts der Rottenburger, aus der Ministerialität kommend, ist es von
Bedeutung, die mittelalterlichen Strukturen und Residenzsituationen mit besonderem
Augenmerk auf Tirol zu erfassen. Der Sammelband von Werner Paravicini „Höfe und
Residenzen im spätmittelalterlichen Reich“10 von 2012 beinhaltet sehr ausführliche Artikel zu den eben genannten Aspekten. Einen wertvollen Beitrag dazu lieferten auch
Gerhard Fouquet in „Zwischen Nicht-Adel und Adel“11 aus dem Jahr 2001 und Gustav
Pfeifer und Kurt Andermann in „Die Wolkensteiner. Facetten des Tiroler Adels in Spätmittelalter und Neuzeit“12 von 2009. Speziell auf Burgen als Residenztypus geht Enno
Bünz in seinem 2013 erschienenen Werk „Burg, Schloss, Adelssitz im Mittelalter“13 ein.
Für die Ereignisse im Leben Heinrichs von Rottenburg zeigten sich Überblicksartikel
und -werke zum Appenzellerkrieg und zum Trientner Aufstand hilfreich.14
Besonders zur Person Heinrich von Rottenburg gibt es kaum Veröffentlichungen. In der
Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftitgen sich Jakob Andrä Freiherr von Brandis und
Clemens Wenzeslaus Brandis mit dem letzten Vertreter der Rottenburger. In der Edition
des Rechnungsbuches weist die Autorin auch auf die ebengenannten älteren Werke
hin. Auch Klaus Brandstätter spricht in „Bürgerunruhen im mittelalterlichen Trient im
7
8
9
10
11
12
13
14
Rainer Loose (Hrsg.), Von der Via Claudia Augusta zum Oberen Weg. Leben an Etsch und Inn. Westtirol und angrenzende Räume von der Vorzeit bis heute, Innsbruck 2006.
Josef Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel, in: Siegfried de Rachewitz/Josef Riedmann (Hrsg.), Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.–14. Jahrhundert),
Sigmaringen 1995, S. 61–75.
Christian Sieber, „On the Move“. Das Itinerar der Herzöge Leopold IV. und Friedrich IV. von Österreich von der
Schlacht bei Sempach (1386) bis zur Aussöhnung mit König Sigmund (1418), in: Peter Niederhauser (Hrsg.), Die
Habsburger zwischen Aare und Bodensee, Zürich 2010, S. 77–94.
Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren (Residenzforschung 15 IV, I), Ostfildern 2012.
Gerhard Fouquet, Zwischen Nicht-Adel und Adel. Eine Zusammenfassung, in: Kurt Andermann/Peter Johanek
(Hrsg.), Zwischen Nicht-Adel und Adel (Vorträge und Forschungen des Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte Bd. LIII), Stuttgart 2001, S. 417–434.
Gustav Pfeifer/Kurt Andermann (Hrsg.), Die Wolkensteiner. Facetten des Tiroler Adels in Spätmittelalter und Neuzeit (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 30), Innsbruck 2009.
Enno Bünz, Burg, Schloss, Adelssitz im Mittelalter. Verfassungs-, rechts- und sozialgeschichtliche Fragen aus Tiroler Perspektive, in: Gustav Pfeifer/Kurt Andermann (Hrsg.), Ansitz-Freihaus-corte franca. Bauliche und rechtsgeschichtliche Aspekte adligen Wohnens in der Vormoderne (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 36),
Innsbruck 2013, S. 27–50.
Peter Niederhäuser/Alois Niederstätter (Hrsg.), Die Appenzellerkriege. Eine Krisenzeit am Bodensee? (Forschungen zur Geschichte Vorarlberg Bd. 7), Konstanz 2006; Thomas Gamon (Hrsg.), Das Land im Walgau. 600 Jahre
Appenzellerkriege im südlichen Vorarlberg, Bd. 2, Nenzing 2005; Klaus Brandstätter, Bürgerunruhen im mittelalterlichen Trient im Vergleich 1407–1435–1463, in: Geschichte und Region 2 (1993), Heft 2, S. 9–61.
362
„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Vergleich“ über Heinrich von Rottenburg, doch konkret um seine Person geht es vor
allem in Fellers Werk.
Das Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg als Quelle
Die wichtigste Quelle der folgenden Arbeit stellt das Rechnungsbuch Heinrichs von
Rottenburg dar. Die Verwaltungsschrift wurde nach Fellers Beobachtungen wahrscheinlich 1405 gezielt angelegt. Sie wurde sehr detailliert geführt und nennt das Datum der Rechnungslegung und die Namen der Verwaltungsangestellten, die den Rottenburger vertraten. Der Ausstellungsort der Rechnung ist nicht immer angegeben.
Feller geht davon aus, dass die Bediensteten, die sogenannten „Schaffer“ die Gerichte,
Ämter und Burgen direkt aufsuchten, um die Rechnung zu legen.15 Die Summen beziehen sich nicht immer direkt auf das Privatleben von Heinrich von Rottenburg. Trotzdem
bietet die Quelle wichtige Anhaltspunkte, um Heinrich von Rottenburgs Wege und
Aufenthalte in etwa zu rekonstruieren. Feller verweist hierbei auf Mark Mersiowsky, der
ebenfalls zum Ergebnis kam, dass Adelige in ihrem Rechnungsbuch nichts Persönliches verzeichneten.16 Fellners Beschreibungen zufolge ist das Rechnungsbuch auf Papier geschrieben und sehr gut erhalten.17 Es ist mit dem Titel „Librum Conputacionis
1405–1409“ versehen. Das Papier stammt gemäß den Wasserzeichen aus Oberitalien,18
der Schreiber ist unbekannt. Heinrich von Rottenburg spricht er mit „von meins hern
wegen“19 an, was darauf schließen lässt, dass er in seinen Diensten stand. Das Verwaltungsstück kam mit den rottenburgischen Besitztümern nach dessen Tod unter landesherrlichen Besitz von Herzog Friedrich IV. und liegt heute im Tiroler Landesarchiv.20
Die Rottenburger und ihre politischen Positionen
„Hainrich von Rottenburg Hofmaister auf Tirol vnnd Haubtman des Bistumbs zu
Triennt“21 gehörte zu dem Geschlecht der Rottenburger.22 Die Rottenburger waren Ministeriale des Adelsgeschlechtes der Andechser23 und gewannen dadurch im 13. Jahrhundert hohes gesellschaftliches Ansehen. In den Anfängen ihres sozialen Aufstiegs
bestand die Familie der Rottenburger aus zahlreichen Seitenlinien.24 Bereits unter den
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
Feller, Rechnungsbuch, S. 95–109.
Mark Mersiowsky, Aspekte adeligen Lebens um 1400. Frühe westfälische und rheinische Adelsrechnungen im
Vergleich, in: Ellen Widder/Mark Mersiowsky/Peter Johanek (Hrsg.), Vestigia Monasteriensia. Westfalen-RheinlandNiederlande. Festschrift für Wilhelm Janssen zum 60. Geburtstag (Studien zur Regionalgeschichte 5), Bielefeld
1995, S. 263–304, hier S. 275, zit. n. Feller, Rechnungsbuch, S. 116.
Feller, Rechnungsbuch, S. 83.
Ebd., S. 88.
Librum conputacionis TLA Hs. 94, ediert v. Feller, Rechnungsbuch, S. 177. Die Edition des Rechnungsbuches findet
sich in Feller, Rechnungsbuch, S. 175–336.
Feller, Rechnungsbuch, S. 81–82.
Geb. zweite Hälfte 14. Jahrhundert, gest. 1411, vgl. ebd., S. 44–75.
Goldverschreibung 28. Oktober 1404, TLA, Urkundenreihe I4519.
Bayrisches Adelsgeschlecht 12./13. Jahrhundert, vgl. Austria Forum AEIOU, Andechs-Meranien, Hochadelsgeschlecht, 21.8.2015, [http://austria-forum.org/af/AEIOU/Andechs-Meranien, Hochadelsgeschlecht], eingesehen
23.3.2016.
Wilfried Beimrohr, Die Rottenburger, in: Notburga. Mythos einer modernen Frau, Gemeinsame Ausstellung von
Augustinermuseum Rattenberg, Museum Tiroler Bauernhöfe Kramsach, Schloss Matzen Reith im Alpbachtal vom
1. Mai bis zum 26. Oktober 2001, Reith i. A. 2001, S. 197–215, hier S. 198.
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Anna Anderlan
363
Andechsern war das Adelsgeschlecht für das Gericht Rottenburg zuständig, das einen
größeren Wirkungsbereich (das gesamte mittlere Inntal) umfasste.25 Die dortige Burg
war die Stammburg der Familie. Adelig sein bedeutete im hohen Mittelalter einen gewissen Besitz und auch einen entsprechenden Lebensstil aufzuweisen. Dies war meist
verbunden mit der Besetzung von herrschaftlichen Ämtern. Die Ministerialität verhalf
zum Aufstieg in den Adel26 und galt dem, der von einem Fürsten oder König eine Aufgabe erteilt bekam. Die Bezeichnung galt auch für diejenigen mit persönlicher Bindung zum Herrschenden. Solche waren zum Beispiel Gefolgsleute, die das Vertrauen
eines Herrschers genossen. In der „Reichsstandpolitik“ waren die Ministerialen zuständig für die Errichtung und Beherrschung von Burgen und für die Städtegründung. 27
Sie bekamen das Recht zur aktiven Lehnsfähigkeit und hatten dadurch ihre eigene
Dienerschaft.28
Als Graf Meinhard II.29 1259 in Tirol an die Macht kam, schloss sich ihm die Hauptlinie der Rottenburger an und so wurde das Amt des Hofmeisters an die Rottenburger übertragen.30 Dieser Posten spielte in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an
Fürstenhöfen eine bedeutende Rolle. Der Hofmeister stand über allen Hofämtern und
kontrollierte die „gesamte Hofhaltung“. Dabei übertrug er den Hofbeamten verschiedene Aufgaben und Arbeiten.31 Er verwaltete den Hof, versorgte ihn und regelte das
höfische Leben. War der Fürst nicht anwesend, nahm er dessen Position am Hof ein.
Zusätzlich leitete er das Hofgericht und den fürstlichen Lehenshof. Er stand als oberster
Richter über dem Landadel und musste nur dem Fürsten direkt Rechenschaft ablegen.
Das Amt galt als prestigereich und konnte ab dem 14. Jahrhundert über den erblichen
Weg weitergegeben werden. Der Hofmeister war auch meist als Zeuge in Urkunden
angeführt.32 Es gab insgesamt sechs Angehörige des Geschlechts der Rottenburger,
die einen solchen Posten innehatten. Die Ordnungszahlen variieren in den Abhandlungen über die Familie der Rottenburger. Feller hält sich dabei an Pirmin Primisser
und Johann Baptiste Pockstaller und bezeichnet Heinrich von Rottenburg, der 1400
das Erbe antrat, als Hofmeister VI.
Die Herren von Rottenburg bekleideten zudem das Amt des Hauptmanns. In dieser
Position unterstanden sie dem Grafen Meinhard II., der erfolgreich gegen das Hochstift
Trient kämpfte und einige Gebiete, auch durch die Hilfe von Heinrich von Rottenburg
(Hofmeister I.), unter seine Herrschaft brachte. Dafür verlieh ihm Graf Meinhard II. das
Amt des Hauptmannes von Kaltern und Tramin.33
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Feller, Rechnungsbuch, S. 23.
Klaus Brandstätter, Adel an Etsch und Inn im späten Mittelalter, in: Loose, Via Claudia Augusta, S. 260.
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Anfängen bis 1490, Bd. 1, Bozen-Innsbruck 1985, S. 267–602, hier S. 399–409.
Beimrohr, Rottenburger, S. 203.
Werner Rösener, Hofämter, in: LdMa, Bd. V., München 1991, Sp. 67–68.
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Beimrohr, Rottenburger, S. 203.
364
„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Die Rottenburger waren sogenannte „Landherren“34 und galten als eines der reichsten adeligen Geschlechter Tirols. Sie liehen den Landesfürsten nachweislich mehrmals
Geld und spendeten an kirchliche Einrichtungen. Durch das Bürgen für Kredite erhielten sie auch Besitzungen.35 Um ihr Ansehen zu steigern und zu erhalten, mussten die
Verbindungen zu anderen adeligen Familien laufend gepflegt werden. 1394 schlossen
die Rottenburger ein Bündnis mit den Herren von Starkenberg. Es war wohl der mächtigste Bund um 1400 in Tirol, durch den sich die zwei reichsten und somit einflussreichsten Familien vereinten.36
Reisebedingungen in Tirol zu Beginn des 15. Jahrhunderts
Eine spätmittelalterliche Reise war von vielen äußeren Einwirkungen geprägt, die das
Reiseverhalten und die Reisewege beeinflussten.37 Dabei spielten die Jahreszeit und die
Topographie, vor allem für die Alpenregionen, eine nicht zu unterschätzende Rolle.38
Als geläufiges Fortbewegungsmittel im 15. Jahrhundert galt mit Sicherheit das Pferd,
besonders im Fall von Adeligen. Dies war die gängigste Methode von Ort zu Ort zu
kommen. Zusätzlich betont der Historiker Christian Sieber den Einsatz des Schifftransports. So lässt sich belegen, dass Herzog Friedrich IV. den Rhein entlang fuhr und damit
beträchtlich schneller unterwegs war als auf dem Landweg. In Tirol hingegen spielte
der Schiffstransport eher eine geringe Rolle. In Terlan gab es die Möglichkeit Floße
entlang der Etsch zu nutzen und ab Branzoll auch Schiffe.39 Seit dem 13. Jahrhundert
ging ein Teil des Warentransportes über die Etsch.40 Jedoch lässt sich im Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg kein Hinweis auf die Verfrachtung per Schiff finden. In
einer Nachricht aus Tramin bezüglich des Weintransportes an Agnes von Werdenberg,
Ehefrau Heinrichs von Rottenburg, wurde über Weinfuhren geschrieben,41 die von „sibenundsechtzig rozz“ transportiert wurden, jedoch nichts über den Transport übers
Wasser.42
Die Reisegeschwindigkeit war bereits im Spätmittelalter beachtlich. Auch mit dem
Pferd konnten nach den Berechnungen Siebers, der sich auf bereits getätigte Untersuchungen von Erich Meuthen und Ivan Hlaváček stützt,43 dreißig bis vierzig Kilometer
pro Tag zurückgelegt werden. Bei einer längeren Strecke legten die Reisenden nach
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43
Peter Feldbauer, Herrschaftsstruktur und Ständebildung. Herren und Ritter (Beiträge zur Typologie der österreichischen Länder aus ihren mittelalterlichen Grundlagen Bd. 1), Wien 1973, S. 240.
Feller, Rechnungsbuch, S. 32–33.
Brandstätter, Adel an Etsch und Inn, S. 248.
Sieber, On the Move, S. 77.
Ebd., S. 81.
Christoph Haidacher, Verkehr am Oberen Weg im Mittelalter, in: Loose, Via Claudia Augusta, S. 75.
Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel, S. 72.
„ayndlef fuder und sechsthalb uren wein“, Ein Fuder entspricht einer Fuhre (in Tirol 1 Fuder Wein = 8 Yhren =
622,48 Liter), Feller, Rechnungsbuch, S. 170–172.
Ebd., S. 333.
Erich Meuthen, Das Itinerar der deutschen Legationsreise des Nikolaus von Kues 1451/52, in: Joachim Dahlhaus
(Hrsg.), Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag (Archiv für
Kulturgeschichte 39), Köln 1995, S. 473–502, hier S. 475 und Ivan Hlaváček, Das Urkunden- und Kanzleiwesen des
böhmischen und römischen König Wenzel (IV.) 1376–1419 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 23),
Stuttgart 1970, S. 443.
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Anna Anderlan
365
fünf Tagen einen Tag Pause ein.44 Wurden Pferde benutzt, verursachten diese jedoch
eine Menge an Kosten, denn sie mussten mit Heu versorgt und neu beschlagen werden. Auch benötigte es oft einen Sattler um Halfter, Zügel und Sattel zu reparieren
oder zu erneuern.45 Zum Transport von Gütern wurden auch Karren eingesetzt, an deren Stelle im Winter Schlitten verwendet wurden. Der „Obere Weg“ über den Reschenpass, beispielsweise, war für den Transport von Wein auf Karren bereits ausreichend
ausgebaut, wobei es trotzdem noch schmale Stellen zu überwinden gab.
Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts bildete sich vermehrt die nötige Infrastruktur
heraus, die das Reisen angenehmer gestalteten. So entstanden entlang der Verkehrswege Gasthöfe und Einkaufsmöglichkeiten.46 Bereits seit Beginn des 14. Jahrhunderts
gewährte der Graf von Tirol beispielweise dem Kaufmann Heinrich Kunter47 das Recht
zwei Tavernen an seinem Kuntersweg zu errichten.48 Entlang der Strecke stationierten
sich auch Sattler, Fassbinder und Schmiede, um den Reisenden ihre Dienste anzubieten.49 Auch das Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg (Hofmeister VI.) zeigt, dass
er selbst und seine Dienstleute bei Wirten eine Pause einlegten. So zum Beispiel kehrte
der Wagenknecht auf seinem Weg nach Kaltern bei der Wirtin Ellen in Trient ein.50
Wollte ein Reisender die Alpen überqueren, so benutzte er den „Oberen Weg“ (Reschenpass) oder den Brennerpass („Unterer Weg“). Das Besondere an diesen Bergübergängen war, dass sie auch im Winter genutzt werden konnten, weil es eher wenig
Niederschlag gab. Zusätzlich erleichterte der Bau des Kunterweges 1314 die Reise in
und durch Tirol maßgeblich. Wurden Ziele wie Schwaben, Augsburg und Ulm angesteuert, galt der „Obere Weg“ als direkte und schnellste Verbindung. Verkehrte man auf
den beiden wichtigsten Straßen durch Tirol, traf man mit hoher Wahrscheinlichkeit
auf Kaufleute, Pilger, Studenten und Vaganten.51 Es war nicht ungewöhnlich, Pässe zu
überqueren. Wie im Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg ersichtlich wird, ging
seine Reise mehrmals über den Arlberg um nach Schwaben zu gelangen52 und über
den Jaufenpass.53 Dieser wurde seit dem 13. Jahrhundert überquert, weil er eine geringere Passhöhe von 2.100 Metern hat.54 Auf dem Jaufenpass sowie auf dem Arlberg gab
es bereits vor 1400 bestehende Hospize zur Versorgung der Reisenden.55
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Sieber, On the Move, S. 80.
Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel, S. 73.
Josef Riedmann, Das mittelalterliche Tirol als militärisches Transitland, in: Kurt Ebert (Hrsg.), Festschrift Herwig van
Staa. Zum 25jährigen seines politischen Wirkens, Innsbruck 2014, S. 455–466, hier S. 464.
Bürgermeister von Bozen und Hall, errichtete 1310 den Kuntersweg, Riedmann, Mittelalter, S. 501.
Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel, S. 67.
Haidacher, Verkehr am Oberen Weg, S. 83.
Feller, Rechnungsbuch, S. 196.
Haidacher, Verkehr am Oberen Weg, S. 67–73.
Feller, Rechnungsbuch, S. 188.
Ebd., S. 179, 183, 188, 245, 251.
Franz-Heinz v. Hye, Mittelalterliche Sekundärverbindungen und Gebirgsübergänge in Tirol, in: Die Erschließung
des Alpenraums für den Verkehr. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft
Alpenländer, Neue Folge 7), Bozen 1996, S. 129–144, hier S. 131.
Ebd., S. 139.
366
„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Heinrich von Rottenburg (Hofmeister VI.) – ein Adeliger unterwegs
Heinrich von Rottenburg war, wie es einem Mann seines Standes gebührte, mit dem
Pferd unterwegs.56 Er ritt aber selten allein, sondern mit seinen Gefolgsleuten und hatte Knechte bei sich. Mit dabei waren auch seine Hunde, „die meim herrn nachzugen
gen Swab(e)n […].“57 Damit die Reise für ihn angenehmer war, begleiteten ihn sogenannte „Wagenknechte“,58 die „kost und zeug“ beförderten.59 Er selbst besaß auch einen
„gagenspan“60 mit dem er unterwegs war, beziehungsweise sein Gepäck beförderte.61
Lag auf den Pässen Schnee, wurde der Schlitten eingesetzt. Als Heinrich von Rottenburg um 1405 über den Jaufenpass ritt, hatte er Knechte bei sich, die den Schlitten
zogen.62 Wenn er mit dem Schlitten weiterfahren musste, so hinterließ er die Pferde bei
seinen Besitzungen. So war zum Beispiel sein Pferd für drei Wochen lang auf Schloss
Moos bei Sterzing und wurde dort versorgt.63
Für eine schnellere Kommunikation waren Boten besonders wichtig, die auch Heinrich von Rottenburg einsetzte: „Henslein, leuffel“64 „lief“ beispielsweise nach Innsbruck
und brachte einen Habicht nach Kaltern.65 Sehr häufig wurde ein Bote mit „briven“ geschickt.66 Der Briefwechsel war auch deshalb wichtig, weil Heinrich von Rottenburg
nicht regelmäßig zu seinen Besitzungen ritt, sondern sich von seinen Amtmännern
vertreten ließ. Aus dem Rechnungsbuch geht hervor, dass Peter von Klamm, Heinrichs
Amtmann zu Rettenberg, Kaltern besuchte und in Vertretung seines Herrn zu den Lehensmännern ritt. Ebenso sandte der Amtmann viele Waren nach Kaltern, zum Beispiel
Tücher für die Ehefrau seines Herrn, Agnes von Werdenberg, 95 Hammel, Salz und einiges mehr.67 Auch Hans von Wolkenstein, Amtmann in Enn, sandte „futer“ zum Haus
in Kaltern.68 Heinrich von Rottenburg übertrug auch Geldangelegenheiten seinen Vertrauten und überließ die Rechnungslegungen seinen Schaffern, die zu den jeweiligen
Burgen ritten.69 Es gab jedoch auch Ausnahmen und mancherorts erledigte er die Geschäfte selbst. Am 11. Dezember 1407 zum Beispiel legte er dem Bartholomäus Tirann,
Amtmann zu Nonsberg, die Rechnung. Die Strecke zum Nonsberg war von Kaltern aus
nicht besonders weit.70 Am 14. September 1408 rechnete er weiters mit Friedrich Lenk,
Amtmann zu Segonzano, ab.71
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71
Feller, Rechnungsbuch, S. 246.
Ebd., S. 189.
Ebd., S. 196.
Ebd., S. 189.
Bei einem „Gegenspann“ waren zwei Pferde nebeneinander vor den Wagen gespannt. Vgl. „Gegenspann“, in: Josef
Müller (Hrsg.), Rheinisches Wörterbuch, Bd. 2, Berlin 1931, Sp. 1098 f.
Feller, Rechnungsbuch, S. 270.
Ebd., S. 245.
Ebd., S. 252.
Ein Bote. „läufeln, laufen“ in: Müller, Wörterbuch, Sp. 185 f.
Feller, Rechnungsbuch, S. 189.
Ebd., S. 192.
Ebd., S. 215.
Ebd., S. 219.
Einleitung zu jeder Rechnungslegung. Ebd., S. 175–336.
Ebd., S. 236.
Ebd., S. 258.
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367
Auf seinen Geschäftsreisen kehrte Heinrich von Rottenburg bei Wirten entlang des
Weges ein oder verweilte in seinen eigenen Burgen. Hans von Luttach, Amtmann zu
Moos, bezahlte beispielsweise der Wirtin am Lueg in Gries am Brenner die Rechnung
für Heinrich von Rottenburgs Mahlzeiten. Als er sich am nächsten Tag in Sterzing aufhielt, kam Hans Luttach ebenfalls für die Kosten des Koches auf. Durch die getätigten
Ausgaben der Amtmänner wird besonders ersichtlich, dass diese einen Großteil seiner
Reisekosten vorübergehend übernahmen. Daraus lässt sich schließen, dass Heinrich
von Rottenburg nicht sehr viel Geld bei sich trug, wenn er unterwegs war. Seine Amtmänner tätigten nämlich auch Einkäufe für ihren Herrn und beglichen weitere seiner
offenen Posten, zum Beispiel einen Messerschmied, bei dem Heinrich von Rottenburg
drei Messer gekauft hatte. Die Summen, die die Amtmänner für ihn vorstreckten, wurden im Rechnungsbuch aufgelistet und ausgeglichen.72 Ritt Heinrich von Rottenburg
auf seinem Weg an seinen Besitztümern vorbei, kehrte er in den Burgen ein, nächtigte
dort und wurde verköstigt. So zum Beispiel tranken er und sein Gefolge in der Burg von
Segonzano ein Fuder73 Wein.74 Es scheint auch nicht unüblich gewesen zu sein, dass
Heinrich von Rottenburg bei einem Bürger eine Mahlzeit einnahm. Zum Beispiel speiste er bei Michael Gutmann aus Neumarkt, dem er Wiesen und Äcker verliehen hatte,75
oder 1405 bei der Familie Ratvelder in Innsbruck.76
Um die Anreise zu seinen Burgen zu gewährleisten, bedurfte es auch einer Instandhaltung der Straßen und Wege, um die sich die Rottenburgischen Amtmänner kümmerten. So wurde Geld ausgegeben um „ain weg zu machen auf daz haus“77 und in
Segonzano wurde eine neue Straße gebaut.78 Besuchte Heinrich von Rottenburg seine
Burgen, so ging er oft auf die Jagd, vor allem in Aldein79 und in Branzoll.80
Doch nicht nur persönliche Angelegenheiten veranlassten ihn zum Reisen, sondern
er war auch im Dienste des Herzogs Friedrich IV. unterwegs. Die Angehörigen der Rottenburger gehörten zu den Gefolgsleuten des Landesfürsten. Eine solche Gefolgschaft
verlangte eine erhöhte Mobilität. So wurden Gesandte, wie auch die Rottenburger, für
Verhandlungen oder Hochzeitsanträge beauftragt. Sie wurden als Pfleger und Richter
eingesetzt und begleiteten den Landesfürsten auf manchen seiner Reisen und in die
Schlacht.81 Im Jahr 1407 nahm Herzog Friedrich IV. Heinrich von Rottenburg in seine
Dienste und schickte ihn an den Hof König Ruprechts, Pfalzgraf bei Rhein und Herzog
zu Bayern,82 um dessen Tochter Elisabeth, des Herzogs künftige Ehefrau, nach Tirol zu
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Müller, Wörterbuch, S. 248 f.
Ein Fuder entspricht einer Fuhre (in Tirol 1 Fuder Wein = 8 Yhren = 622,48 Liter), vgl. ebd., S. 170–172.
Ebd., S. 262.
Ebd., S. 283.
Ebd., S. 203.
Ebd., S. 192.
Ebd., S. 262.
Feller, Rechnungsbuch, S. 270.
Ebd., S. 278.
Ebd., S. 32–37.
1398–1410 Pfalzgraf bei Rhein, seit 1400 römisch-deutscher König, geb. 1352, gest. 1410, siehe auch: Oliver Auge,
Ruprecht von der Pfalz, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 22, 2005, S. 283–285, [http://www.deutsche-biographie.de/ppn118750410.html], eingesehen 9.6.2016.
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„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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begleiten.83 Der Hofsitz von König Ruprecht III. befand sich im Heidelberger Schloss.84
Für die mögliche Reisedauer dorthin liegen Hinweise in den Urkunden Friedrichs IV.
vor. Im Jahr 1406 ritt dieser nämlich selbst von Rottenburg am Neckar nach Heidelberg
um die Ehe mit Elisabeth zu schließen. Dabei benötigte er drei Tage für 130 Kilometer.
Als er Heinrich von Rottenburg damit beauftragte, seine Frau nach Innsbruck zu begleiten, ritt er ihnen bis Rottenburg am Neckar entgegen.85 Hinweise auf diese Reise
finden sich in einem Brief Heinrichs von Rottenburg an seinen „lieben Freund“ Peter
von Spaur: „Wür lassen Euch wissen das wür bei unserm Herrn dem König gewest sein,
von unser gnedigen Frauen wegen. Da wissendt das wür unnsern gnedigen Herrn
wür die Bringen. […] Geben zu Rottenburg am Dinstag nach Sannct Matheistag. Anno
1407 [27. September 1407].“86
Ein reicher Mann in Tirol
Im Jahr 1400 trat Heinrich von Rottenburg (Hofmeister VI.) das Erbe seines gleichnamigen Vaters an und hatte ebenfalls die Ämter des Hauptmannes an der Etsch und des
Hochstifts Trient inne. Er war der letzte männliche Nachkomme der Rottenburger. Es
kann angenommen werden, dass er „der reichste Tiroler Adelige seiner Zeit“ war87 und
gleichzeitig die zentrale Figur im adeligen Widerstand gegen Herzog Friedrich IV. Feller errechnete anhand des Rechnungsbuches ein durchschnittliches Jahresbruttoeinkommen Heinrichs von Rottenburg von 2.869 Mark Berner, das entspricht zirka 33.000
Pfund. Im Vergleich konnte zu dieser Zeit um 15 Pfund ein Ochse erworben werden.
Feller gibt an, dass diese Zahl um zehn Prozent abweichen kann, jedoch im Vergleich
zu den Einnahmen aus den Ländern Kärtnen und Krain realistisch sei.88
Heinrich von Rottenburg war ein angesehener Mann. In vielen Urkunden sind vor seinem Namen die Wörter „edel“ und „mächtig“ gesetzt.89 Ein weiterer Hinweis für das
Sozialprestige stellte der Rang in der Reihenfolge der gelisteten Zeugen in Urkunden
dar.90 Als Bischof Georg von Trient den Rebellen verzieh und das Hochstift an Herzog
Friedrich IV. am 24. April 1407 übergab, nannte er Heinrich von Rottenburg als ersten
Zeugen der „Edlen und vesten Ritter“.91
Als edler und reicher Mann war es üblich, Turniere zu veranstalten und Stiftungen zu
tätigen.92 Ob Heinrich von Rottenburg jemals ein Turnier ausgetragen hat, ist unklar.
83
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86
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91
92
Feller, Rechnungsbuch, S. 57.
Auge, Ruprecht von der Pfalz, eingesehen 18.5.2015.
Sieber, On the Move, S. 81.
Brief Heinrichs von Rottenburg an Peter von Spaur 1407, abgedruckt in: Brandis, Die Geschichte der Landeshauptleute von Tirol, S. 161.
Feller, Rechnungsbuch, S. 44.
Ebd., S. 118.
Ebd., S. 44.
Gustav Pfeifer, Nobis servire tenebitur in armis. Formen des Aufstiegs und Übergangs in den niederen Adel im
Tirol des 14. Jahrhunderts, in: Andermann/Johanek, Zwischen Nicht-Adel, S. 62.
Übergabe-Urkunde Bischofs Georg von Trient an Herzog Friedrich IV., AST, abgedruckt in: Brandis, Tirol unter
Friedrich von Österreich, S. 283–286.
Fouquet, Zwischen Nicht-Adel und Adel, S. 430.
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369
Sein Adelsbund wurde auf Basis eines Verteidigungszweckes gegründet,93 weshalb es
fraglich ist, ob er je an einem Turnier teilgenommen hat. Während die Turnierteilnahme beziehungsweise -veranstaltung nicht nachweisbar sind, ist die Stiftung des HeiligGeist-Spitals in Kaltern bezeugt.94 Sein Einfluss und seine Macht verstärkten sich auch
dadurch, dass der Herzog von Tirol häufig nicht im Lande war und die Aufgaben an
seinen Hauptmann übertrug. Siebers Forschungen zufolge hielt sich Herzog Friedrich
IV. nur während vierzig Prozent seiner Herrschaftszeit in den Vorlanden auf. Die restliche Zeit waren die Landvögte und Amtmänner auf sich alleine gestellt und wurden mit
dementsprechenden Vollmachten ausgestattet.95
Heinrich von Rottenburg ist ein typisches Beispiel für einen Herrn, der eine Zwischenposition innehatte. Einerseits gehörte er zur Gefolgschaft des Herzogs und andererseits
verfügte er selbst über eine eigene Hofhaltung und Dienerschaft, Amtmänner und
Anhänger.96 Aus dem Rechnungsbuch geht eine hohe Zahl an Verwaltungspersonal
hervor, das in seinem Dienst stand, und das er gemäß den Aufzeichnungen sehr gut
besoldete.97 Feller nennt zur Erklärung der großen Dienerschaft drei Gründe: Erstens
besaß Heinrich von Rottenburg sehr viel Grund und Boden, der sich vom Trentino bis
nach Nordtirol erstreckte. Zweitens war er als Hauptmann an die Aufgaben dieses Amtes gebunden und drittens galt es zu seinen Lebzeiten als Zeichen von Prestige, viele
Angestellte aufweisen zu können.98
Sein Reichtum kann dadurch begründet werden, dass er eine hohe Summe an Zinsen aus seinen Grundstücken erhielt und auch Zoll im Dorf Lans bezog.99 Schließlich
kamen einige Burgen und Grundstücke durch Heirat und Erbe zu den Rottenburgern,
zum Beispiel das Schloss Moos durch die Heirat Heinrichs von Rottenburg (Hofmeister
III.) mit einer Trautson, einem bedeutenden Tiroler Adelsgeschlecht.100 Im Jahr 1396
setzte sich Heinrich von Rottenburg (Hofmeister V.) für seinen Verwandten aus der
Rottenburgischen Seitenlinie, Konrad von Rottenburg, ein, der in einen Konflikt mit
Herzog Albrecht III. von Österreich101 geraten war. Nach dessen Ableben fiel die Burg
von Segonzano und das Gericht als Lehen an Heinrich von Rottenburg (Hofmeister
V.).102 Bischof Georg von Trient verlieh die „veste Zugenzan mit Ir Zugehorung dem vorgenanten Herrn Hainreichen von Rotemburg Haubtman an der Etsch“.103 Von Margarete Maultasch, Gräfin von Tirol, und ihrem zweiten Ehemann Ludwig von Brandenburg
erhielten die Rottenburger die Propstei zu Entiklar und die Burgen Castelfondo und
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Feller, Rechnungsbuch, S. 48–50.
Stefan Morandell, Zu Geschichte des Heilig-Geist-Spitals zu Kaltern, in: Der Schlern 81 (2007), Heft 8, S. 16–25, hier
S. 16.
Sieber, On the Move, S. 86.
Hein Krieg, Lebenswelten von Grafen, in: Paravicini, Höfe und Residenzen, S. 30.
Feller, Rechnungsbuch, S. 118.
Ebd., S. 178.
Ebd., S. 202.
Beimrohr, Rottenburger, S. 209.
Geb. um 1350, gest. 1395, Martin Mutschlechner, Albrecht III. „mit dem Zopf“, in: Die Welt der Habsburger, [http://
www.habsburger.net/de/personen/habsburger-herrscher/albrecht-iii-mit-dem-zopf ], eingesehen 9.6.2016.
Feller, Rechnungsbuch, S. 32.
Verleihungsurkunde Bischofs Georg von Trient an Heinrich von Rottenburg 2. April 1403, TLA, abgedruckt in:
Brandis, Tirol unter Friedrich von Österreich, S. 228 f.
370
„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Tenno. Unter ihrem Sohn übernahmen sie die Herrschaft über die Gerichte Kaltern
und Tramin. Nach dem Tod Meinhards III. bestimmte das Geschlecht der Rottenburger
das Regierungsgeschehen in Tirol mit und erhielt zusätzlich die Burg Cagnò am Nonsberg.104
Nebenbei stand Heinrich von Rottenburg (Hofmeister V. und VI.) mit Herzog Leopold
IV. von Österreich105 in einem Darlehen-/Pfandschaftsverhältnis.106 Das Pfand für das
Geld, das Heinrich von Rottenburg (Hofmeister V.) dem Fürsten lieh, bestand aus einem grundherrlichen Besitz.107 So zum Beispiel lieh er dem Herzog Leopold IV. 4.000
Gulden, für die er die Burg Caldif als Lehen erhielt.108 Mit Leopold IV. stand Heinrich
von Rottenburg (Hofmeister VI.) in einer besseren Beziehung als mit dessen Bruder
Friedrich „mit der leeren Tasche“, der im Jahr 1406 die Herrschaft über Tirol innehatte.109
Das Verhältnis zwischen den beiden war problematisch. Dabei spielte der Reichtum
Heinrichs von Rottenburg keine unwesentliche Rolle.110 Jedoch gab es auch Zeiten, in
denen die Beziehung zwischen ihm und dem Fürsten intakt war. So zum Beispiel im
Herbst des Jahres 1407, als Heinrich von Rottenburg am Hof in Schloss Tirol bei Friedrich IV. zum Essen einkehrte.111 Die ausgestellten Urkunden des Herzogs belegen, dass
er sich im September in Meran aufhielt.112 Weiters besuchte Heinrich von Rottenburg
den Herzog im selben Jahr in Brixen. Der Amtmann Hans von Luttach schickte Heinrich
von Rottenburg sogar sogenanntes „spilgelt“ nach.113 Den Herzog traf er auch in Trient.
Am 14. März 1407 legte die Wirtin Ellen in Trient die Rechnung über „alle die zerung,
die mein herr […] auf den tag getan haben. […] Item so hat mein herr zu Trient verzert,
da er bei dem fursten [Friedrich IV.] da waz […] Item als mein herr drei wochen da lag
fuer holcz sack 12 lb.“114
Wenn Heinrich von Rottenburg nicht unterwegs war, hielt er sich immer wieder in
seiner Burg in Kaltern auf.115 Die häufigen Sendungen aus den unterschiedlichen Besitzungen nach Kaltern weisen darauf hin.116 Die Bewohner von Kaltern mussten es
Heinrich besonders angetan haben. Er verfügte in seinem Testament die Verwaltung
des Heilig-Geist-Spitales durch einen Spitalmeister, der von der „gemeinschafft von
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Feller, Rechnungsbuch, S. 39 f.
Herzog von Steiermark, Kärnten und Krain, Graf von Tirol, geb. 1371, gest. 1411, Walter Koch, Leopold IV., in: Neue
Deutsche Biographie, Bd. 14, 1985, S. 280 f., [http://www.deutsche-biographie.de/sfz70502.html], eingesehen
9.6.2016.
Feller, Rechnungsbuch, S. 45.
Beimrohr, Rottenburger, S. 206.
Walter Landi/Magdalena Hörmann, Caldiff, in: Magdalena Hörmann (Hrsg.), Tiroler Burgenbuch. Überetsch Südtiroler Unterland, Bd. 10, Innsbruck 2011, S. 363–386, hier S. 367.
Feller, Rechnungsbuch, S. 45.
Fouquet, Nicht-Adel und Adel, S. 418.
Feller, Rechnungsbuch, S. 199.
Ebd., S. 199, Anmerkung Nr. 4.
Ebd., S. 251 f.
Ebd., S. 195 f.
Ebd., S. 109.
Ebd., S. 179, 199, 204, 223, 227, 254.
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Kaltaren“ gewählt werden sollte.117 Gemeinsam mit ihm lebte seine Ehefrau Agnes
von Werdenberg118 in der heute so genannten „Rottenburg“ in Kaltern.119
Als adelige Frau war auch Agnes von Werdenberg viel unterwegs.120 Zum Beispiel war
sie am Nonsberg,121 auf Burg Caldif und Burg Enn.122 Die Rechnung vom Oktober 1407,
als sie neue Gurte für ihren Sattel kaufte, ist ein Hinweis darauf, dass sie ihr eigenes
Pferd besaß.123 Sie war auch gemeinsam mit ihrem Ehemann auf Reisen.124 Als dieser
zwei Jahre nicht im Land war, hielt sie sich vermutlich in Castelfondo auf.125 Zudem
besteht die Möglichkeit, dass Agnes von Werdenberg auch wirtschaftliche Angelegenheiten regelte. Ein Brief aus Tramin, an sie gerichtet, handelt nämlich von einer
Weintransportangelegenheit.126
Am 28. Oktober 1404 setzte Heinrich von Rottenburg ein Testament auf, weil er „von
dem lannde zu reitten“127 gedachte. Zwei Tage später ließ er noch eine testamentarische Verfügung aufsetzen, in der er nochmals sein Vorhaben äußerte und für seine
Bestattung das Heilig-Geist-Spital zu Kaltern wählte, das er selbst gestiftet hatte.128
Dies lässt darauf schließen, dass er einen längeren und vielleicht auch gefährlichen
Aufenthalt plante. Einen repräsentativen Erinnerungsort für die eigene Familie zu
schaffen, war im Mittelalter sehr wichtig. Da St. Georgenberg, der ursprüngliche Bestattungsort der Rottenburger, weit entfernt lag, ließ Heinrich von Rottenburg einen
in Kaltern errichten.129
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Morandell, Heilig-Geist-Spital, S. 16.
Feller, Rechnungsbuch, S. 46.
Ebd., S. 199.
Agnes von Werdenberg, Tochter von Graf Albrecht III. von Werdenberg, gest. vor 1436, Ebd., S. 184.
Ebd., S. 199.
Ebd., S. 279 f.
Ebd., 197.
Ebd., S. 231, 282.
Ebd., S. 288.
Ebd., S. 333.
Goldverschreibung 28. Oktober 1404, TLA, Urkundenreihe I4519.
Feller, Rechnungsbuch, S. 46; Testamentsabschrift Heinrichs von Rottenburg vom 17. Jänner 1598 von Friedrich
Schmeling, abgedruckt in: Stefan Morandell, Die ältesten Quellen des Heilig-Geist Spitals von Kaltern, Diss. Innsbruck 1993, S. 155–160.
Sigrid Schmitt, Oswald von Wolkenstein. Zur Lebenswelt eines Niederadeligen im Spätmittelalter, in: Pfeifer/Andermann (Hrsg.), Die Wolkensteiner, S. 57.
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„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
Abb. 1 Grabplatte Heinrichs von Rottenburg in der
Spitalskirche in Kaltern. © Foto abgedruckt mit
Genehmigung von Dekan Dr. Erwin Raffl
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Abb. 2 Heinrich von Rottenburg ist heute noch auf
dem Rottenburger Platz in Kaltern präsent. Links
die Brunnenstatue auf dem Rottenburger Platz
© Foto Anna Anderlan
Gründung des Adelsbundes 1407 und der beginnende Konflikt mit Friedrich
IV. von Österreich
Das 15. Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Adelsbünde. Um 1407 gründete
sich der Landfriedensbund Sankt Georgenschild, mit dem die Tradition adeliger Landfriedensbünde ihren Anfang fand. In diesem Bund war der Schwager Heinrichs von
Rottenburg, Hans von Lupfen, federführend.130 In Tirol schlossen sich im Jahre 1406
Adelige zur „Gesellschaft mit dem Elefanten“ zusammen, jedoch ohne die Teilnahme
von Heinrich von Rottenburg. Ein Jahr später gründete er selbst einen Adelsbund, der
bald über 130 Mitglieder zählte. Er hatte demzufolge eine starke Anhängerschaft. Dem
bald mächtigen Bündnis, mit Thiersteinern und Starkenbergern sowie Mitgliedern der
„Gesellschaft mit dem Elefanten“, trat auch Herzog Friedrich „mit der leeren Tasche“ bei,
um die Verbindung unter seine Kontrolle zu bringen. Die Orte und Gebiete, die dem
Bund angehörten, standen großteils unter der Herrschaft der Rottenburger. Die Vereinigung sollte vor allem Frieden und militärische Unterstützung gewährleisten.131 Die
Mitglieder legten feierliche Gelübde und Schwüre ab, wie sie zu einer mittelalterlichen
Adelsvereinigung gehörten.132 Sie versprachen „bei vnnsern yegelichs geschworn Ayden“ das Bündnis mit „nachgeschribnen Puncten vnnd Artiggl“ zu halten. Dieses war
gemäß dem Bündnisbrief eine reine Schutzvereinigung. Die Mitglieder sollten sich ein-
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132
Carl Horst, Grafeneinigungen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Paravicini, Höfe und Residenzen,
S. 10 f.
Feller, Rechnungsbuch, S. 48–50.
Horst, Grafeneinigungen, S. 8.
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373
mal jährlich treffen und einander beistehen.133 Um die wachsende Macht von Heinrich
von Rottenburg im Zaum zu halten, stellte Herzog Friedrich IV. ihn in seinen Dienst.
Doch trotz allem herrschten Spannungen zwischen den beiden. Ein besonderes Problem stellte die Hauptmannschaft Heinrichs beim Hochstift Trient dar. Wem Heinrich
von Rottenburg in diesem Amt unterstand, war nicht genau geregelt, und so glaubte
der Bischof, dass der Hauptmann auch ihm unterstünde.134 Friedrich IV. legte Heinrich
von Rottenburg in der Anklageschrift zur Last, dass er dem Bischof von Trient versprochen habe als Hauptmann in dessen Diensten zu stehen:135 Er sei „dem Bischof ze Hilff“
geeilt und habe „ain Haimlich puntnuss gemachet […] wider uns“.136
Reise in den Appenzellerkonflikt
Im November 1404 ritt Heinrich von Rottenburg aus dem Land.137 Ladurner sieht die
fehlenden Hinweise auf Heinrich von Rottenburg in den Urkunden von 1404 bis 1406
als Indiz dafür, dass er sich zwei Jahre im Ausland befand.138 Während dieser Reise hielt
er sich acht Tage auf der Burg Neustarkenberg auf. In Prutz aß er gemeinsam mit den
von Lupfen, der Familie seines Schwagers.139 Heinrich von Rottenburg tätigte diese
Reise, weil er Herzog Friedrich IV. zu Hilfe kam, der 1404 in Konflikt mit den Appenzellern geriet. Es kam zu militärischen Auseinandersetzungen, in die auch Heinrich von
Rottenburg verwickelt war. Sein Schwiegervater Graf Albrecht III. von WerdenbergBludenz und sein Schwager Hans von Lupfen waren direkt in den Krieg involviert.140
Die Burg Bürs seines Schwiegervaters wurde nach der Schlacht zum Stoss141 zerstört.142
Verwandtschaftspflichten galten im Spätmittelalter als fundamental und weisen ebenso auf die Teilnahme Heinrichs von Rottenburg am Kriegsgeschehen hin.143 Zusätzlich waren einige seiner eigenen Besitzungen in der Nähe des Kriegsschauplatzes.
Auf Rettenberg stationierte er bereits Kriegsknechte: „Item so haben funmf knecht
auf Rett(en)b(er)g verzertt, alz die Appeczell(er) in daz lannd komen […] pachens und
[…] fleisch.“144 Ein weiteres Indiz für die Teilnahme am Konflikt ist der Befehl Heinrichs
von Rottenburg an das Schloss Wiesberg, alle Rüstungen nach Schaffhausen für die
Unterstützung Herzog Friedrichs zu bringen, denn dort lagerte Herzog Friedrich die
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Gründungsurkunde des Adelsbundes 1407, abgedruckt in: Brandis, Die Geschichte der Landeshauptleute von
Tirol, S. 158–160.
Feller, Rechnungsbuch, S. 52 f.
Alfons Huber, Das Verhältnis H. Friedrichs IV. von Österreich zum Bischofe Georg in den Jahren 1409 und 1410 und
der angebliche Aufruhr der Trientner im Jahre 1410, in: MIÖG 6 (1885), S. 401–415, hier S. 406.
Anklageschrift gegen Heinrich von Rottenburg, 1410, abgedruckt in: Joseph Hormayr, Uiber Oswalden von Wolkenstein und sein Geschlecht, in: Tiroler Almanach (1804), S. 127–159, hier S. 147 f.
Feller, Rechnungsbuch, S. 287.
Justinian Ladurner, Die Vögte von Matsch später auch Grafen von Kirchberg. II. Abt, in: ZFTV 3 (1872), F. 17, S.
1–236, hier S. 59, zit. n. Feller, Rechnungsbuch, S. 48.
Feller, Rechnungsbuch, S. 300.
Ebd., S. 45.
17. Juni 1405.
Alois Niederstätter, Bauernrevolte und Burgenbruch? Regionale Ereignisse des Jahres 1405 im südlichen Vorarlberg, in: Thomas Gamon (Hrsg.), Das Land im Walgau. 600 Jahre Appenzellerkriege im südlichen Vorarlberg
(Bd. 2), Nenzing 2005, S. 11–29, hier S. 20.
Krieg, Lebenswelten, S. 28.
Feller, Rechnungsbuch, S. 216.
374
„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Rüstungen:145 „Item von meins hern stechzeug, den man gen Starchenberg furt, 18 g.
Item ainem poten 4 g, das man den zeug gen Schafhaus(en) furtt. Item 4 lb von meins
hern wagen uber den Arl heruber ze furen. Item 7 lb von dem renzeug von Velchirich
gen Perfux ze furen.“146
Ebenso zeigen Rechnungslegungen, dass Heinrich von Rottenburg sich im Frühjahr
1405 in Feldkirch aufhielt.147 Dies war die wichtigste militärische Station der Habsburger im Appenzellerkrieg.148 Am 25. Juni 1405, nach der Schlacht am Stoss, kam Heinrich von Rottenburg „auz der raise von den Appeczell(er)n mit 150 ph(ertt) von Telfs
gen Inspruk an phincztag nach Sunbend(e)n und belaib da bey herrczog Leupold(e)n
[Leopold IV., Herzog von Österreich].“149 Die Habsburger hatten die Schlacht am Stoss
gegen die Appenzeller Bauern verloren.150 Am 29. Juli 1405 brachte sein Wagenknecht
das Renn- und Stechzeug wieder zurück an die Etsch.151 In Anbetracht dieser Gefahr
floh die Frau Heinrichs von Rottenburg, Agnes von Werdenberg, zurück nach Tirol. Sie
musste sich bei ihrem Vater oder bei ihrem Gemahl aufgehalten haben.152 Innsbruck
wurde daraufhin gegen den Feind gesichert: „Item alz mein herr an mantag nach Sand
Kathrein tag [30. November 1405?] kam von Matray [Matrei am Brenner] gen Inspruk
mit hundert und 2 ph(errt) von dez landz notdurft wegen“. In dieser Krisenzeit war
Heinrich von Rottenburg häufig bei den Herzögen zu Gast: „Item alz mein herr mit 26
ph(ertt) kam gen Inspruk an Freitag nach Dorothee [12. Februar 1406?] und belaib hincz in die dritt wochen bey dem herrczogen [Leopold IV. oder Friedrich IV.].“153
Im Mai 1406 zogen die Appenzeller und ihre Verbündeten auch nach Tirol, weshalb
Heinrich von Rottenburg Schloss Wiesberg verteidigen hatte lassen. So heißt es im
Rechnungsbuch, dass sie 1405 den Wein und weitere Verpflegung „auf Wisperg furen, da di Apolczell(er) krigten.“, „[…] so mein herr und die von Luph(e)n uber den Arl
getan haben.“154 Die Appenzeller rückten bis nach Imst vor.155 Dabei ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch Schloss Wiesberg Schäden erlitt. Im März 1409 besorgte der
Amtmann zu Wiesberg Niklas Cafal für die Burg Zimmerholz, Sägbloch156 und Ochsen,
Materialien, die zum Reparieren und zum Wiederaufbau benötigt wurden.157
Ein halbes Jahr später im Herbst 1406 zogen sich die Appenzeller wieder aus Tirol zurück.158 Zur selben Zeit kehrte auch Heinrich von Rottenburg heim. Im Jahr 1408 fiel der
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Hermann Walch, Der Appenzeller Krieg im Oberinntal, in: Raimund Klebelsberg (Hrsg.), Landecker Buch. Bezirk
Landeck und Oberes Gericht (Schlern-Schriften 133), Innsbruck 1956, S. 139–150, hier S. 141.
Feller, Rechnungsbuch, S. 179.
Ebd., S. 178.
Niederstätter, Bauernrevolte, S. 18.
Feller, Rechnungsbuch, S. 211.
Riedmann, Mittelalter, S. 439.
Feller, Rechnungsbuch, S. 180.
Ebd., S. 184.
Ebd., S. 212.
Ebd., S. 183.
Niederstätter, Bauernrevolte, S. 23.
„Baumstamm, welcher in der Mühle zu Dielen zerschnitten wird“ in: Ernst Martin/Hans Lienhart (Hrsg.), Wörterbuch der elsässischen Mundarten, Bd. 2, Straßburg 1907, Sp. 153b–154a.
Feller, Rechnungsbuch, S. 181.
Ebd., S. 48.
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Bund der Appenzeller auseinander, besonders durch die Intervention König Ruprechts
von der Pfalz, des Schwiegervaters Herzog Friedrichs IV.159 Nach seiner Rückkehr erhielt
Heinrich von Rottenburg das Amt des Hauptmannes an der Etsch am 15. Oktober 1406
wieder zurück, das er für die zwei Jahre Abwesenheit abgelegt hatte.160 Der Appenzellerkrieg hinterließ seine Spuren im Land. In den stärker betroffenen Gebieten rund um
Schloss Wiesberg konnte Heinrich von Rottenburg für zwei Jahre nicht mehr die vollen
Zinsen einholen.161
Die Aufstände gegen den Bischof von Trient
Am 2. Februar 1407 erhob sich die Trientner Bevölkerung gegen den Bischof Georg von
Liechtenstein, weil dieser die Verwaltung und Finanzen stärker unter seine Kontrolle
bringen wollte. Herzog Friedrich IV. und auch Heinrich von Rottenburg unterstützten
den Aufstand. Der Bischof gestand seinen Untertanen in der Folge mehr Freiheiten
zu.162 Hierbei trat Heinrich von Rottenburg als Zeuge auf.163 Im selben Jahr gründete
er einen Adelsbund und nahm auch die Stadt Trient darin auf.164 Der Bischof hielt aber
seine Versprechungen nicht und holte Söldnertruppen aus Parma, die gegen Trient
vorgehen sollten. Die Trientner Bürger wandten sich daraufhin an den Tiroler Herzog,
der Heinrich von Rottenburg als Verhandlungsführer einsetzte. Im Herbst 1407 wandte
sich Heinrich von Rottenburg selbst gegen die Stadtbürger. Diese Tat wurde ihm im
Jahre 1410 im Prozess gegen Friedrich IV. vorgeworfen.165 Es steht jedenfalls fest, dass
er im November 1407 mit neunzig Pferden nach Neumarkt, und dann im Dezember
nach Trient ritt.166 Der Widerstand richtete sich nun gegen Herzog Friedrich, der seine Truppen nach Trient verlegt hatte. Weil sich wieder Aufstände anbahnten, bekam
Heinrich im Jahr 1409 den herzoglichen Auftrag, Trient zurück zu erobern.167 Nach diesen Ereignissen wurde der inhaftierte Bischof Georg von Liechtenstein wieder in Trient
eingesetzt. Herzog Friedrich forderte anschließend mehr Zugeständnisse. Der Bischof
wollte den Forderungen aber nicht nachkommen und wandte sich hilfesuchend an
den Erzbischof von Salzburg und an Heinrich von Rottenburg, als Hauptmann von Trient.168 In seinem Schreiben vom 11. Mai 1410 heißt es wie folgt:
„Wir Jorig von gots gnaden bischof ze Trient embieten den edeln unsern lieben freunden, hern Hainreichen von Rotemburg hofmaister auf Tirol, unserm
haubtman unsers gotshauss ze Trient […] unsern freuntleichen grus […] bitten
wir […], daz ir an unz und unserm gotshaws tun wellet, als ir uns des schuldig
und gepunden seit.“169
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Riedmann, Mittelalter, S. 466.
Feller, Rechnungsbuch, S. 47.
Ebd., S. 187.
Riedmann, Mittelalter, S. 468.
Feller, Rechnungsbuch, S. 53.
Brandstätter, Bürgerunruhen, S. 16.
Ebd., S. 18.
Feller, Rechnungsbuch, S. 279.
Brandstätter, Bürgerunruhen, S. 21.
Feller, Rechnungsbuch, S. 57–59.
Huber, Verhältnis H. Friedrichs IV. von Österreich zum Bischofe Georg, S. 412 f.
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„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Daraufhin kam es zu Unstimmigkeiten zwischen Heinrich von Rottenburg und Friedrich IV. und ihm Jahr 1410 belagerte Herzog Friedrich abermals die bischöfliche Stadt.
Heinrich von Rottenburg stand dabei zwischen den beiden Konfliktparteien. Welche
Seite er bis zum Schluss unterstützte, ist bis heute noch nicht vollständig geklärt.170 Es
ist wahrscheinlich, dass er sich im Jahr 1410 mit Bischof Georg von Trient gegen den
Herzog verbündete.171 Schließlich war er als Hauptmann des Hochstifts Trient dem Herzog unterstellt, wurde jedoch vom Bischof bezahlt. Zusätzlich erhielt er von beiden ein
Lehen und war demnach beiden die Gefolgschaft schuldig.172
Heinrich von Rottenburg – Verbündeter der Wittelsbacher
Herzog Friedrich IV. versuchte seit seinem Herrschaftsbeginn in Tirol den Adel an das
landesfürstliche Regiment zu binden und seiner Herrschaft zu unterstellen. Dies erklärt
die oppositionelle Haltung vieler Adeliger in Tirol, so auch Heinrichs von Rottenburg,
der sich als Gegenspieler von Friedrich IV. herauskristallisierte.173 Er und sein Vater verliehen des Öfteren Geld an die Herzöge. Dadurch, dass diese die Summen nicht immer
wieder aufbringen konnten, kamen die Rottenburger in Besitz diverser Burgen und
Gerichte. Bei einer Kreditaufnahme des Herzogs bürgte Niklas von Vintler dafür. Als
Heinrich von Rottenburg das Geld einforderte, einigte er sich mit dem Vintler über die
Art der Rückzahlung, jedoch über die Eigentumsrechte des Herzogs hinweg. Dieser
Lauf der Dinge verkomplizierte die Beziehung zwischen Heinrich von Rottenburg und
Friedrich mit der leeren Tasche. Eine Urkunde vom März 1410 zeugt vom bestehenden Konflikt zwischen den beiden. In Hall sollte es einen Gerichtstermin geben, um
sich zu treffen und zu versöhnen.174 So schrieb Heinrich von Rottenburg: „Darzu ist beredt daz wir obgenant bayd tayl aynen tag halten und laisten sullen virtzehentag nach
Pfingsten nechstkunftig in der Stat ze Hall im Intal, als aynen endtag, […] da mag mein
egenanter Herr von Österreich seinen geprechen fürlegen und erzelen.“175 Der Herzog schickte ihm jedoch einen Absagebrief. Viele weitere Adelige standen nun hinter
Friedrich IV. Daraufhin kam es zu kleineren militärischen Auseinandersetzungen und
Mordandrohungen. Heinrich von Rottenburg zerstörte dabei das Schloss Samoclevo
von Pretel von Caldes.176
Im Sommer 1410 waren viele der Rottenburgischen Burgen bereits belagert. Die meisten Anhänger von Heinrichs von Rottenburg hatten Seite gewechselt. Deshalb wandte
er sich hilfesuchend an die bayerischen Herzöge Ernst und Wilhelm II. und an Herzog
Stephan III., die zur Unterstützung bereit waren. Heinrich von Rottenburg hatte auch
eine gute Verbindung zu Ludwig VII. dem Bärtigen, Herzog von Bayern-Ingolstadt. Im
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Feller, Rechnungsbuch, S. 61.
Gustav Pfeifer, Von Freisassen, Turmhöfen und Burgen. Zur Geschichte der Tiroler Goldecker im Spätmittelalter, in:
MIÖG 119 (2011), S. 44–59, hier S. 54.
Feller, Rechnungsbuch, S. 61.
Klaus Brandstätter, Tirol, in: Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen, S. 106.
Feller, Rechnungsbuch, S. 62–64.
Heinrich von Rottenburg kompromittiert auf den Anspruch der Stände von Tirol, 1410, abgedruckt in: Brandis,
Tirol unter Friedrich von Österreich, S. 310.
Feller, Rechnungsbuch, S. 66 f.
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Rechnungsbuch scheint ein Geldfluss zwischen den beiden auf.177 So wurde ein Bote
nach Kaltern geschickt „von dez gelcz wegen gen Pairn“ und ein Bote „mit brifen von
Bairn gen Kalt(er)n.“178 Am 24. April 1410 ritt Heinrich von Rottenburg selbst nach München.179 In der Anklageschrift gegen ihn heißt es wie folgt: „Er hat Hilf gen Lamparten
gesucht und sunder yetzund hat er geworben gen Bevren und ist mit sein selbs leib
dahin zu den Herren von Beyren geriten“.180 Doch mit seiner Verstärkung, dem „grossem Volkh“,181 gelang es ihm nicht weiter vorzurücken und so musste er seine Burgen
Rettenberg und Rottenburg im Inntal kampflos übergeben.182 Seine Festungen Leuchtenburg und Laimburg wurden vom Vogt Ulrich dem Jüngeren von Matsch belagert
und die dazugehörigen Höfe zerstört. Die Unterstützung der Vögte von Matsch war
sehr hilfreich für Herzog Friedrich IV., um den Widerstand zu brechen.183
Daraufhin wurde Heinrich von Rottenburg wegen Mordes, Brandschatzung, Raubes
und Vertragsbruches angeklagt und zu Jahresende 1410 in Innsbruck inhaftiert. Im Februar 1411 wurde er gegen die Übergabe fast all seiner Besitzungen und durch die
Vorsprache seines Schwagers Hans von Lupfen beim Herzog freigelassen. Ihm standen
noch die Burg Caldif, die Herrschaft und Burg Enn, die Burg Wiesberg und seine Güter
in Kaltern zu, er galt aber als würdeloser Mann. Er verstarb kurz nach seiner Freilassung
zwischen April und Mai 1411 in Kaltern und wurde dort nach seinem Wunsch im Heilig-Geist-Spital begraben. Mit ihm starben die Rottenburger in männlicher Linie aus. 184
Die Besitztümer Heinrichs von Rottenburg – Unterwegs zwischen „Geslozz,
Vesten vnd Güter“185
Heinrich von Rottenburg besaß, so Arnpeck in seiner Chronik, 24 Burgen.186 Er selbst benannte seinen Besitz mit „Geslozz, Vesten vnd Güter“.187 Wie Spiess betont, war die Burg
„Kristallisationskern der Territorialherrschaft, […] militärischer Stützpunkt, […] Verwaltungssitz, […] Wirtschaftszentrum und nicht zuletzt […] Symbol der Adelsherrschaft.“188
Sie war „neben Stadt, Dorf und Kloster“ eine der wichtigsten Einrichtungen in der Epoche des Mittelalters. Damit spricht Enno Bünz das Problem der lückenhaften Forschung
im Bereich der Regionalgeschichte und zum Phänomen der Burg an.189 Besonders in
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Ebd., S. 209.
Feller, Rechnungsbuch, S. 226.
Ebd., S. 70.
Hormayr, Uiber Oswalden von Wolkenstein, S. 149.
Ebd., S. 152.
Feller, Rechnungsbuch, S. 70.
Martin Mittermair, Leuchtenburg, in: Hörmann (Hrsg.), Tiroler Burgenbuch, S. 281–300, hier S. 283.
Feller, Rechnungsbuch, S. 72 f.
Empfehlung 5. März 1411, Perg. TLA, abgedruckt in: Brandis (Hrsg.), Tirol unter Friedrich von Österreich, S. 340 f.
Veit Arnpeck, Chronicon austriacum, ediert v. Georg Leidinger, Veit Arnpeck. Sämtliche Chroniken, Aalen 1969,
S. 824, zit. nach Feller, Rechnungsbuch, S. 120.
Empfehlung 5. März 1411, Perg. TLA, abgedruckt in: Brandis (Hrsg.), Tirol unter Friedrich von Österreich, S. 340 f.
Karl-Heinz Spiess, Burg und Herrschaft im 15. und 16. Jahrhundert, in: Winfried Dotzauer (Hrsg.), Landesgeschichte und Reichsgeschichte (Geschichtliche Landeskunde 42), Stuttgart 1995, S. 195–212, hier S. 197, zit. nach Krieg,
Lebenswelten, S. 30.
Bünz, Burg, Schloss, Adelssitz, S. 29.
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„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Nord- und Südtirol waren die Burgen außerhalb der Siedlungsgebiete bedeutend.190
Die Burgen des Adels wurden im Hoch- und Spätmittelalter stark ausgebaut und es
entstanden mehrteilige Anlagen, die über hunderte von Jahren geschaffen wurden.
Sie dienten nicht mehr primär dem Verteidigungszweck, sondern sollten auch Komfort bieten und repräsentativ sein.191 Dies war besonders in der herrschaftlichen Burg
der Rottenburger in Kaltern der Fall, weil sich Heinrich von Rottenburg (Hofmeister
VI.) die meiste Zeit dort aufhielt.192 Seine restlichen Besitztümer gestalteten sich nach
dem Prinzip einer mittelalterlichen Burg. In der Regel war der Unterbau fensterlos und
diente als Burggefängnis.193 So belegt es die Rechnungslegung der Burg Caldif, dass
„gevangen da lagen“.194
Zwischen den weit verstreuten Besitzungen Heinrichs von Rottenburg kam es zu einem Güteraustausch. Im Rechnungsbuch wird der „wein von Tramynn“195 mehrere
Male genannt. Peter von Klamm, der Amtmann zu Rettenberg, ließ solchen Wein von
„Tramynn am See und von Newnmarkcht“196 nach Rettenberg bringen.197 Das Kapitel im
Rechnungsbuch über die Naturaleinnahmen und -ausgaben in Form von Wein zeugt
von der Reise, die der Wein innerhalb der Rottenburgischen Besitzungen antrat.198
Theoretisch war der Burgenbesitz ausschlaggebend für den Aufstieg zum Landesherrn.
Dies war sicherlich ein Faktor, warum Heinrich von Rottenburg von den Herzögen gefürchtet war.199 Denn von seinem nördlichen Besitztum bis hin nach Trient, seinem
wahrscheinlich südlichstem Amt, sind es nach heutigen Berechnungen 212 Kilometer,
das entspräche 44 Stunden Fußmarsch.200 Jedoch ist zu beachten, dass Adelige immer
mit dem Pferd unterwegs waren und nach den Berechnungen Siebers für zweihundert Kilometer zwischen fünf und sechs Tage benötigten. Dies entsprach im Mittelalter
keineswegs einer langen Reise, sondern Mobil-Sein gehörte zum Alltag, besonders für
einen Herrn wie Heinrich von Rottenburg.201 So ritt er zum Beispiel am 5. Dezember
1407 von Neumarkt nach Trient und am Abend wieder zurück.202
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202
Sieber, On the Move, S. 86.
Hans K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter. Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Hof, Dorf
und Markt, Burg, Pfalz und Königshof, Stadt, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1986, S. 120.
Feller, Rechnungsbuch, S. 109.
Schulze, Grundstrukturen der Verfassung, S. 120.
Feller, Rechnungsbuch, S. 280.
Ebd., S. 215.
Tramin am Kalterer See und Neumarkt.
Feller, Rechnungsbuch, S. 215.
Ebd., S. 327.
Schulze, Grundstrukturen der Verfassung, S. 103.
Berechnet nach Google Maps.
Riedmann, Verkehrswege, Verkehrsmittel, S. 73.
Feller, Rechnungsbuch, S. 279.
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Burgen und Schlösser im Besitz
oder zu Lehen Heinrichs von Rottenburg
Berichte, denen Heinrich von Rottenburg vorstand
Heinrich vonRottenburg als Amtmann
Hier kehrte Heinrich von Rottenburg zum Essen ein
Anna Anderlan
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Ursprüngliches Familiengrab der
Rottenburger
Von Heinrich von Rottenburg überquerte Pässe
Kriegsereignisse, an denen Heinrich
von Rottenburg teilhatte
Haus Heinrichs von Rottenburg
Aufenthaltsort Heinrichs 1405
Abb. 3 Die Besitztümer Heinrichs von Rottenburg im Überblick. Eine Auflistung davon findet sich im Anhang.
Kartendaten: © 2015 GeoBasisDE/BKG (©2009), Google
Dabei ist zu beachten, dass viele Teile des Landes noch nicht begehbar waren und man
Umwege in Kauf nehmen musste. Zum Beispiel waren die Kalterer und Traminer Tiefebenen Moorgebiete, die schwer passierbar waren.203 Jedoch gibt es bereits frühere
Beispiele von Möglichkeiten, ein Sumpfgebiet zu überqueren. Während der römischen
Okkupation wurde eine Straße über die Alpen geplant, wobei „Prügelwege“ aus Holz
errichtet wurden, um zum Beispiel das Lermooser Moor begehbar zu machen.204
203
204
Franz-Heinz von Hye, Die Marktgemeinde Kaltern – Aspekte ihrer älteren Geschichte, in: Der Schlern 81 (2007),
Heft 8, S. 4–14, hier S. 13.
Elisabeth Walde, Neues Leben entlang der neuen Straße, in: Loose (Hrsg.), Via Claudia Augusta, S. 47.
380
„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Besuchte Heinrich von Rottenburg seine Besitzungen, so wurde er sehr gut versorgt.
In Rettenberg bekam er „huner“ und „kuchenspeise“.205 Als er sich im Jahre 1407 auf
Schloss Neustarkenberg aufhielt, kaufte ihm der Amtmann zu Rettenberg „gewurcz,
trose, pheffer, saffran, manus Christi und umb 6 phunt pambol […].“206 Um 1408 war er
auf Rottenburg und wurde dort reichlich versorgt mit Weizen, Brot, Fleisch, Hühnern,
Schmalz, Käse, Fisch und Kerzen.207
Wenn Heinrich von Rottenburg seine Besitztümer im Norden aufsuchte, kehrte er oft
in Innsbruck ein.208 Dort besaß er auch ein Haus209 und speiste beim Wirt Hans von
Hertenberg mit den Goldeckern.210 Am 7. Mai 1405 kam er von Telfs nach Innsbruck
und blieb ein paar Tage dort, weil er leicht kränklich war. In dieser Zeit aß er Wein, Brot,
Fisch, Zucker und Konfekt und der Arzt musste bezahlt werden.211 Innsbruck war auch
ein idealer Ort, um den Kontakt zu den Herzögen zu pflegen. 1420 verlegte Friedrich
IV. den Regierungssitz dorthin.212 Ritt Heinrich von Rottenburg Richtung Festung Wiesberg, hielt er im Dorf Prutz bei „Kristan am ort“ zum Essen an. Zog er von dort weiter
nach Westen, speiste er in Perfuchs und in Zams.213 Von Januar bis Juni 1408 war Heinrich von Rottenburg unterwegs im Inntal und kehrte auf Schloss Tratzberg ein. Anschließend ritt er über den Jaufenpass zurück. Das Inntal war öfters das Ziel Heinrichs
von Rottenburg, weil er dort auch einige Burgen besaß.214
Die Besitztümer in der näheren Umgebung Kalterns waren sehr häufig sein Ziel. Vom
18. bis 24. Dezember 1402 war er auf Caldif und ging in der Etsch fischen. Er und sein
Gesinde mussten vom Amtmann zu Caldif versorgt werden. Einen Abend verbrachte
Heinrich von Rottenburg dabei in Neumarkt. 215 Ein Besuch in Caldif scheint im Rechnungsbuch noch weitere Male auf, denn die Burg liegt nahe bei Kaltern.216 Auch im
ebenso nicht weit entfernten Nonstal und in Castelfondo weilte Heinrich von Rottenburg immer wieder, wie Rechnungslegungen bezeugen.217
Fazit
Wie kann man sich also eine Reise eines angesehenen Mannes mit genügend Geld
und Mitteln zu Beginn des 15. Jahrhunderts vorstellen? Es steht fest, dass er jedenfalls
keine Reise zu Fuß unternahm. Auf seinen Wegen mangelte es ihm weder an Essen
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Ebd., S. 210.
Ebd., S. 228.
Vgl. ebd., S. 22, 226, 246.
Ebd., S. 305.
Ebd., S. 209.
Ebd., S. 211.
Klaus Brandstätter, Der Hof unterwegs. Zum Aufenthalt Herzog Friedrichs IV. von Österreich in Wiener Neustadt
1412/1413, in: Klaus Brandstatter/Julia Hormann (Hrsg.), Tirol–Österreich–Italien. Festschrift für Josef Riedmann
zum 65. Geburtstag (Schlern-Schriften 330), Innsbruck 2005, S. 125–139, hier S. 126.
Feller, Rechnungsbuch, S. 189.
Ebd., S. 251.
Ebd., S. 269.
Ebd., S. 278.
Ebd., S. 289 f., 292, 297.
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noch an einer Unterkunft. Wenn er nicht in einem Wirtshaus nächtigte, dann hielt er
sich in den eigenen Burgen auf. Dort schien es ihm an nichts zu fehlen: von Safran,
Fisch, Pfeffer und Kuchen bis Fleischwaren;218 es gab nur das Beste, wenn Heinrich von
Rottenburg zu Besuch war. Brachte er Gepäck mit sich, so hatte er dafür einen Wagenknecht in seinen Diensten.219
Das Rechnungsbuch Heinrichs von Rottenburg gibt einen guten Einblick in den Reisealltag und die Gewohnheiten eines Adeligen. Es zeigt besonders gut, unter welchen
Umständen ein Hauptmann an der Etsch und von Trient unterwegs war, es weist aber
auch auf die damit zusammenhängenden Kosten hin, für die er selbst aufkommen
musste. Das Reisen im Mittelalter war sehr kostspielig. Es entstanden Ausgaben für den
Transport, die Pferdeversorgung, Unterkunft und Verpflegung. Außerdem mussten die
Gefolgsleute und die Dienerschaft bezahlt werden, die die mittelalterlichen Adelsleute auf ihren Reisen begleiteten. Für Heinrich von Rottenburg schien dies jedoch kein
Problem darzustellen. Durch die Zinsen, Zölle und das Weingeld aus seinen Gütern in
Kaltern, Tramin und Neumarkt war er ein wohlhabender Mann. Die hohe Anzahl an
Reisen des Heinrichs von Rottenburg ist auf seine gesellschaftliche Doppelfunktion
zurückzuführen. Einerseits war er im Dienste des Herzogs unterwegs und andererseits
als angesehener Adeliger, dem die Verwaltung seiner zahlreichen Besitztümer oblag.
Während das Rechnungsbuch über verwaltungstechnische Aspekte des Lebens Heinrichs von Rottenburg und seiner Reisegewohnheiten Aufschluss gibt, berichten die
verschiedenen Urkunden über die Beweggründe seines Unterwegs-Seins. Die turbulenten Ereignisse im Laufe seines Lebens zwangen den Hofmeister und Hauptmann,
häufig auf sein Pferd zu steigen. Im Verlauf des Trientner Aufstands gegen Bischof Georg von Liechtenstein musste Heinrich von Rottenburg in die südlichste Stadt seines
Einflussgebietes ziehen. Im Appenzeller Krieg hingegen hatte er den Auftrag, Kampfrüstung zur Unterstützung von Herzog Friedrich IV. zu schicken. Auf den beschwerlichen Reisen dorthin musste er mit dem Schlitten den Arlberg überqueren. Im Konflikt
mit Herzog Friedrich IV. führten ihn seine Reisen des Öfteren über den Brenner nach
Innsbruck zu Verhandlungsgesprächen und Gerichtsterminen, was auch jedes Mal
eine Reisedauer von drei bis vier Tagen bedeutete.
Auch für die Verwaltung der Rottenburgischen Besitztümer war es unumgänglich, mobil zu sein. Entsprach doch die Entfernung von der östlichsten zur westlichsten Burg
ungefähr 120 Kilometern, was eine Mindestreisedauer mit Pferd von drei Tagen bedeutete. Die Nord-Süd-Ausdehnung des Einflussgebietes Heinrichs von Rottenburg betrug
sogar 212 Kilometer.220 Dabei kommen noch zahlreiche Hindernisse wie Passübergänge und Moorüberquerungen hinzu. Der Zweck dieser mittelalterlichen „Geschäftsreisen“ bestand darin, Waren von einer Burg zur anderen zu transportieren, Rechnungen
zu legen, Zinsen einzuholen und Verhandlungen mit den Vertrauten zu führen. Als beauftragter Gerichtspfleger musste Heinrich von Rottenburg auch Gerichtssprüche im
218
219
220
Fellner, Rechnungsbuch, S. 210, 216 f.
Ebd., S. 196.
Berechnet nach Google Maps.
382
„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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herzoglichen Auftrag in vielen Teilen des Landes tätigen. Wenn er auch nötige Verwaltungsreisen auf seine Amtmänner übertrug, so blieb ihm das eigene Reisen dennoch
nicht erspart.
Als angesehener und einflussreicher Mann galt es besonders, die gesellschaftlichen
Beziehungen zu pflegen, was auch wiederum eine höhere Mobilität erforderte. Als mittelalterlicher „Geschäftsmann“ und Mittelsmann des Herzogs musste er die Kontakte zu
anderen einflussreichen Adeligen halten. Seine sozialen Verbindungen erleichterten
ihm einerseits das Reisen, weil er in den verschiedensten Orten entlang der Verkehrswege zu Gast sein konnte. Andererseits bedurften die Kontakte einer ständigen Pflege
und Hinwendung, was zu erneutem Unterwegs-Sein aufforderte.
Leider geben das Rechnungsbuch und die in der Arbeit verwendeten Urkunden wenig
Auskunft über persönliche Beweggründe und über die Erlebnisse und Erfahrungen
während der getätigten Reisen, sodass das Bild der mittelalterlichen adeligen Reisen
des Heinrichs von Rottenburg unvollständig bleibt.
Heinrichs von Rottenburgs einsames und zurückgezogenes Lebensende in seiner Burg
in Kaltern lässt sich darauf zurückführen, dass er bei Herzog Friedrich IV. in Ungnade
gefallen war und somit fast all seine Besitztümer verloren hatte. Mit dem Verlust seines
hohen gesellschaftlichen Ansehens und seines Reichtums verminderte sich die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit zum „adeligen Unterwegs-Sein“. So blieb dem
einstigen Edelmann am Ende nur mehr der Rückzug in seine Stammburg in der kleinen
Ortschaft Kaltern. Durch seine damalige Stiftung ist er aber bis heute in Kaltern präsent.
Das Altenheim in Kaltern trägt immer noch seinen Namen und er selbst wacht auf dem
Rottenburger Platz vor seiner einstigen Burg.
Anhang
Auflistung aller Besitztümer, Lehen und Ämter Heinrichs von Rottenburg nach Feller221:
Burg Aichach
Burg Cagnò
Burg Caldif
Burg Castelfondo
Schloss Enn
Propstei und Vogteirechte auf Schloss Friedberg
Landgericht Inntal
Burg in Kaltern (heute wird sie Rottenburg genannt)
Gericht Kurtatsch
221
Feller, Rechnungsbuch, S. 120–158.
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Anna Anderlan
383
Laimburg
Leuchtenburg
Ansitz Moos
Schloss Neustarkenberg
Amtmann von Nonsberg
Schloss Rettenberg mit Gericht Rettenberg
Rottenburg mit Gericht Rottenburg
Amtmann von San Michele
Burg Segonzano
Gericht Stubai
Burg Visione
Schloss Wiesberg
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„als ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“
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Anna Anderlan ist Bachelor-Studentin der Geschichte und Politikwissenschaft im 6.
Semester an der Universität Innsbruck. anna.anderlan@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Anna Anderlan, „alz ich itz von dem lannde, zu reitten willen hab.“ Heinrich von Rottenburg in seinem geographischen Umfeld, in: historia.scribere 8 (2016), S. 359–388,
[http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
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scribere
Seminare 2016
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historia
scribere
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Gas erleuchtet die Schweiz. Stadtgas als Energieträger
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Maximilian Oswald
Kerngebiet: Wirtschafts- und Sozialgeschichte
eingereicht bei: Univ.-Prof. Dr. Patrick Kupper
eingereicht im Semenster: WS 2015/2016
Rubrik: SE-Arbeit
Abstract
Gas Illuminates Switzerland. Town Gas as an Energy Carrier of the 19th
and early 20th century
This paper describes history and focuses on the development of town gas
in Switzerland and its biggest city Zurich. The problems and the challenges
the gas industry had to face during its existence – especially concerning
the establishment of electricity as a competitor on the energy market – will
thoroughly be discussed.
Einführung
Man betätigt einen Hebel und schon ist der Raum mit Licht durchflutet – bereits seit
langer Zeit eine absolute Selbstverständlichkeit. Dasselbe gilt für Warmwasser oder
Kochstellen. Wie groß die Abhängigkeit von diesen alltäglichen Dingen ist, bemerkt
man erst dann, sobald eines der Genannten plötzlich nicht mehr auf Knopfdruck reagiert. Wenn etwa der Boiler seinen Dienst quittiert und man sodann auf die heiße
Dusche verzichten muss.1 Den Tag in Folge ohne Licht oder Warmwasser bestreitend,
stellt sich vielleicht die Frage, seit wann es diesen Luxus des „Schalter hoch – Licht/
Wärme an“ denn bereits gibt.
Die Antwort findet sich, wenn man sich mit der Geschichte des Stadtgases auseinandersetzt. Mit dem Anschluss von Privathäusern an das Gasnetz ergab sich erstmals
1
Der Autor schreibt hier aus eigener Erfahrung.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.485ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
ACCESS
392
Gas erleuchtet die Schweiz
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für eine große Bevölkerungsschicht die Möglichkeit, durch Betätigung eines simplen
Hebels „Energie“ in die eigenen vier Wände fließen zu lassen – anfangs vornehmlich zur
Beleuchtung, später auch zu Heiz- und Kochzwecken. Stadtgas war in den industrialisierten Staaten ein zentraler Energieträger des 19. und 20. Jahrhunderts, obgleich das
immer mehr in Vergessenheit zu geraten scheint. Ehemalige Gaswerke sind in heutigen Tagen v.a. als Veranstaltungszentren2 bekannt, mit ihrer Geschichte sind wohl nur
noch wenige vertraut. Dieser Umstand macht es auch so überaus lohnenswert, sich
mit diesem Sujet auseinanderzusetzen.
In der vorliegenden Arbeit wird die Entwicklung des Stadtgases in der Schweiz von
seinen Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Thema sein. Zunächst wird eine
kurze Zusammenfassung der Geschichte dieses Energieträgers von seiner Entdeckung
bis hin zu seiner Ausbreitung in Westeuropa dargelegt. Im Anschluss folgt die Ausführung zum Werdegang des Stadtgases in der Schweiz, wobei den Gaswerken der Stadt
Zürich zur exemplarischen Darstellung ein eigenes Unterkapitel gewidmet wird.
Zentrale Fragen, die auf den folgenden Seiten beantwortet werden sollen, sind, wie
sich die Etablierung des Stadtgases in der Schweiz und in Zürich im Speziellen gestaltet hat und mit welchen Problemen bzw. Herausforderungen die Gaswirtschaft im
Laufe ihres Bestehens zu kämpfen hatte – insbesondere bezogen auf das Aufkommen
von elektrischem Strom als konkurrierender Energiequelle. Zu vermuten ist, dass die
Gasindustrie der Schweiz als innovativer und junger Wirtschaftszweig sich schnell auf
Veränderung in Angebot und Nachfrage einstellen konnte. Diese These gilt es auf den
folgenden Seiten zu belegen.
Als Quellengrundlage dienen hierzu zeitgenössische Artikel des technischen Fachmagazins „Schweizerische Bauzeitung“. Darin lässt sich etwa der damals aktuelle Diskurs
rund um die Konkurrenz zwischen Stadtgas und Elektrizität gut nachvollziehen. Ergänzend stehen zwei fachspezifische Dissertationen zur Verfügung, in denen sich die Autoren eingehend mit Kohle bzw. Kohlegas in der Schweiz auseinandergesetzt haben.
Abgerundet wird das Bild durch ausgewählte Sekundärliteratur, etwa David Gugerlis
bekannte Monographie „Redeströme“.
Stadtgas – Die kurze Geschichte eines Energieträgers
Die Anfänge
Als ein möglicher Entdecker der Leuchtgas-Gewinnung gilt der britische Geistliche
und Naturforscher John Clayton. Im Jahr 1688 soll er durch Zufall den „Spirit of Coal“
destilliert haben – so teilte er es seinem Kollegen Robert Boyle in einem Brief mit. Berichte von Bachwasser, das leicht entzündlich gewesen sein soll, erregten seine Neugier. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, hatte er einen Gehilfen entsandt,
der Kohle als den möglichen Urheber ausmachen konnte. In seinem Labor begann
2
Wie etwa der Gasometer in Wien, das Gaswerk in Winterthur, der Gaskessel in Bern.
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Maximilian Oswald
393
Clayton dann, die Kohle in einem Retortenofen zu destillieren. Zunächst entstand ein
schwarzes Öl und zu guter Letzt ein Gas (spirit), das sich auf keine Weise kondensieren
ließ. Er fing das Gas in Tierblasen auf und konnte es darin beliebig lange aufbewahren
und nach Bedarf anzünden, wobei es ein helles Licht erzeugte.3
Wie es scheint, war es Clayton und Boyle nur im Ansatz bewusst, welche Entdeckung
hier gemacht worden war, denn einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit wurde das Phänomen erst rund fünfzig Jahre später vorgestellt, als es die Royal Society
1739 schließlich in ihren „Philosophical Transactions“ publizierte. Dennoch blieb das
Gas noch für das restliche Jahrhundert als Energieträger weitgehend ungenutzt und
wurde vielmehr zu Unterhaltungszwecken („brennbare Luft“) verwendet. Seinen Siegeszug als moderne Lichtquelle konnte es dann ab etwa 1800 feiern. Um die neuartigen und in immer größerer Zahl entstehenden Industrieanlagen mit ausreichend Beleuchtung versorgen zu können, bediente man sich vermehrt des Gases als Mittel der
Wahl. Die Etablierung dieses im Grunde schon über hundert Jahre alten Energieträgers
folgte somit Hand in Hand mit der fortschreitenden Industrialisierung.4
Erster Nutzer des Leuchtgases war das Unternehmen Watt & Boulton,5 das in Birmingham angesiedelt war. Der dort beschäftigte Ingenieur William Murdoch war bei der
Entwicklung der Leuchtgas-Anlagen federführend. In mehreren Versuchsreihen beschäftigte er sich sowohl mit der Gasherstellung selbst, als auch mit dessen Aufbewahrung bzw. Weiterleitung zu den Lampen. Schon bald verwarf er transportable Lösungen, wie jene der Tierblasen-Gaslampe von Clayton. Vom Ort der Produktion sollte
das Gas mittels Röhren zu einem Speicher (Gasometer) und von dort zu den einzelnen
Verbrauchern geleitet werden. Reguliert wurde dieses System mittels Ventilen. Aus experimentellen Vorläufermodellen wurden nach und nach professionelle, für die Industrie brauchbare Anlagen entwickelt. 1808 veröffentlichte Murdoch seine gewonnenen
Erkenntnisse schließlich ebenso in den „Philosophical Transactions“ der Royal Society
– knapp siebzig Jahre nach den Ausführungen von Clayton. Die darin beschriebene
Anlage sollte grundlegend für alle späteren Gasanstalten werden.6
Expansion
In den Anfängen stand Leuchtgas nur der Industrie zur Verfügung. In Großbritannien
gab es auch keine Bestrebungen, dies zu ändern. Der erste nennenswerte Versuch,
Gas etwa auch in Privathaushalten anzuwenden, kam aus Frankreich. Der Ingenieur
Philippe Lebon entwickelte um 1800 das Konzept einer Thermolampe, die beleuchten
und zugleich auch heizen sollte. Das Potential dieser Erfindung wurde jedoch nicht
erkannt, es blieb bei einer Versuchsanlage in Lebons Privathaus.7
3
4
5
6
7
Kenneth Hutchinson, The Royal Society and the Foundation of the British Gas Industry, in: Notes and Records
of the Royal Society of London 39 (1985), No. 2, S. 245–270, hier S. 245; Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke. Zur
Geschichte der Helligkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004, S. 23.
Schivelbusch, Lichtblicke, S. 23 f.
Zurückgehend auf James Watt, „Erfinder“ der Dampfmaschine.
Schivelbusch, Lichtblicke, S. 25 f.
Ebd., S. 27–31.
394
Gas erleuchtet die Schweiz
historia.scribere 08 (2016)
Seinen Siegeszug im privaten Raum startete das Leuchtgas dann schließlich wiederum in England. Schon wenige Jahre nach Lebons Experimenten wurde die
erste kommerzielle Gasgesellschaft gegründet – namentlich die „Light and Coke
Company“ 1810 in London.8 Dem vorausgegangen waren umfangreiche Werbemaßnahmen, die potentielle Kunden mit der neuen Technologie vertraut machen sollten. Die Rechnung ging auf, die Gasgesellschaft war profitabel und Vorbild für weitere Unternehmungen. Entscheidend dabei war auch, dass die Konsumenten mittels Leitungsrohren vom zentralen Gaswerk aus versorgt werden
konnten. Modell hierfür war das bereits bestehende Netz der Wasserversorgung,
das in der Stadt teilweise schon seit dem frühen 18. Jahrhundert vorhanden war.9
London war, was die Expansion der Gaswerke und ihrer Netze betrifft, Vorreiter in Europa. Schnell etablierten sich neue Gesellschaften und die Versorgungsdichte wuchs
an. Aber auch andere englische Kommunen zogen bald nach. Bereits Mitte der 1820erJahre verfügten die meisten großen Städte über eigene Gaswerke, im Laufe der folgenden Jahrzehnte konnte man sogar in Kleinstädten und gar Dörfern Straßen und
Gebäude mit Gas erleuchten.10
Während sich diese neue Technologie rasch in Großbritannien ausbreitete, hinkte das
Festland-Europa noch etwas hinterher. In Frankreich etwa scheiterten die ersten Gasgesellschaften allesamt an der zu geringen Nachfrage. Erst Ende der 1820er-Jahre waren
vereinzelt mit Gasbeleuchtung ausgestattete öffentliche Straßen und Plätze vorzufinden – ein nennenswerter Ausbau in Paris streckte sich aber bis in die 1840er-Jahre hinein. Auch im deutschsprachigen Raum benötigte es einige Jahre, bis die Gastechnologie flächendeckend genutzt wurde.11 Wien bekam seine erste Gasbeleuchtungsanstalt
im Jahre 1829,12 in Berlin13 wurden bereits drei Jahre früher Straßen mit Gas erhellt,
Bern folgte als erste eidgenössische Stadt 1842.14 Am Ausbau der Gasversorgung war
hier insbesondere das britische Unternehmen „Imperial Continental Gas-Association“
(ICGA) maßgeblich beteiligt.15
Funktionsweise von Gaswerken
Wie in vielen anderen industriellen Fertigungsprozessen führten technische Neuerungen auch hier zu einer recht schnell fortschreitenden Optimierung der Gasherstellung.
Je nach Zeit und Standort bediente man sich unterschiedlicher Produktionsvarianten
8
9
10
11
12
13
14
15
Hans von Jüptner, Wärmetechnische Grundlagen der Industrieöfen. Eine Einführung in die Wärmelehre und
gedrängte Übersicht über die verschiedenen Arten von Brennstoffen und ihre Verwertung, Berlin 1927, S. 207;
The National Archives, Chartered Gas Light and Coke Company, o. D. [http://discovery.nationalarchives.gov.uk/
details/rd/3c478014-712e-43c6-8786-c3b871813664], eingesehen 2.12.2015.
Schivelbusch, Lichtblicke, S. 31 ff.
Ebd., S. 36 f.
Ebd., S. 37 f.
Helmut Kretschmer, Gasometer in Wien. Industrie- und Technikdenkmale im Wandel der Zeit (Wiener
Geschichtsblätter Beiheft 1/2001), Wien 2001, S. 8.
Gasversorgungsunternehmen in Berlin, Findbuch. Landesarchiv Berlin, Bestandsgruppe A Rep. 259, [http://www.
landesarchiv-berlin.de/php-bestand/arep259-pdf/arep259.pdf ], eingesehen 1.11.2015.
Karl Grunder, Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich. Band IX Der Bezirk Dietikon (Die Kunstdenkmäler der
Schweiz 88), Basel 1997, S. 219.
Schivelbusch, Lichtblicke, S. 38.
historia.scribere 08 (2016)
Maximilian Oswald
395
und auch Ausgangsstoffe. Das grundlegende Herstellungsprinzip war und ist aber im
Großen und Ganzen dasselbe. Exemplarisch wird hier eine Form der Stadtgaserzeugung mittels Steinkohle dargestellt – beschrieben im zeitgenössischen Werk „Das Gas
als Leucht-, Heiz-, und Kraftstoff in seinen verschiedenen Arten als Steinkohlegas, Holzund Torfgas, Oelgas, Wassergas“ aus dem Jahr 1896:
Das Ausgangsprinzip der Stadtgaserzeugung ist die Möglichkeit, Kohle zu verkoken. In
Retorten wird die Kohle so weit erhitzt, dass sich dabei die vergasungsfähigen Bestandteile herauslösen und jene dann über ein Aufsteigrohr aus der Retorte ausweichen
können. Zurück bleibt die entgaste Kohle in Form von Koks, das u.a. für Heizzwecke
weiterverwendet werden kann. In der angeschlossenen sogenannten Vorlage erfolgt
durch Kondensation die erste Scheidung des Gases von dampfförmigen Elementen.
Daraufhin wird das Gas in einen Kondensator geleitet, in dem eine weitere Abkühlung
und Reinigung passiert. Um schließlich noch Bestandteile mit niedrigem Siedepunkt
abtrennen zu können, wird das Gas durch Schichten von lockerem Material, etwa Koks,
geleitet, woran es diese Verunreinigungen abscheiden kann. Anschließend müssen
aus dem Rohgas noch Ammoniak, Schwefelwasserstoff und Kohlensäure herausgelöst werden. Dies geschieht großteiles mittels Bindung an andere chemische Stoffe.
Das gereinigte Gas wird zu guter Letzt in einem Gasometer gesammelt und dort zwischengelagert. Diese Gasometer können ihr Volumen je nach eingelagerter Gasmenge
vergrößern bzw. verkleinern und stehen unter leichtem Überdruck, um das Gas dann
in die angeschlossenen Verteilersysteme weiterzuleiten. Nebenprodukte wie Koks,
Teer und Gaswasser16 können entweder seitens des Gaswerks selbst verwertet oder
gewinnbringend weiterverkauft werden.17
Gas erleuchtet die Schweiz
Stadtgas in der Schweiz
Die Schweiz war, wie zuvor schon erwähnt, erst recht spät in die Gasproduktion eingestiegen.18 Als erste Stadt erhielt Bern im Jahr 1842 ein Gaswerk, es folgten Genf 1844,
Lausanne vier Jahre darauf und Basel 1851. Betrieben wurden die Anlagen anfangs –
wie auch in anderen europäischen Staaten üblich – von privaten oder halböffentlichen
Unternehmen, die von den jeweiligen Kommunen Konzessionen erhalten hatten. Zumeist waren darin die für die städtische Beleuchtung notwendigen Gasabgabemen-
16
17
18
Bzw. das darin enthaltene Ammoniak.
Otto Pfeiffer, Das Gas als Leucht-, Heiz- und Kraftstoff in seinen verschiedenen Arten als Steinkohlegas, Holz- und
Torfgas, Oelgas, Wassergas. Fabrikation und Verwendung nach dem neuesten Standpunkt, unter Berücksichtigung
der Konkurrenzverhältnisse zwischen Gas und Elektrizität, Zum 100-jährigen Jubiläum der Gasindustrie, Weimar
1896, S. 61–63.
Dezidierte Gründe hierfür waren in der eingesehenen Forschungsliteratur nicht zu finden. Ob die Minderwertigkeit
der heimischen Kohlereserven und der mühsame Import von Kohle aus deutschen und französischen Lagerstätten
lange Zeit abschreckend auf Unternehmer und Städte wirkten, wäre nur eine von vielen Vermutungen, die dazu
angestellt werden können.
396
Gas erleuchtet die Schweiz
historia.scribere 08 (2016)
gen geregelt. „Überschüssiges“ Gas konnte an Private verkauft werden – wobei dieser
Teilbereich anfangs noch einen untergeordneten Rang einnahm.19
Während diese Eigentümerstrukturen zum einen über gewisse Vorteile verfügte, so
hatte die Gesellschaft für die Errichtung der nötigen Anlagen und Infrastruktur zu sorgen, waren die Kommunen auch mit einigen Nachteilen konfrontiert – etwa wenn es
darum ging, Kapazitäten zu erhöhen oder Neuinvestitionen zu tätigen. Hier stießen
private Gasversorger schnell an ihre Grenzen. Zudem waren in den Verträgen zwischen
Unternehmen und Stadt auch schon oftmals Rückkaufvereinbarungen enthalten, beispielsweise nach Ablauf eines zeitlich begrenzten Monopols.20 Somit gingen die meisten Gaswerke um die Jahrhundertwende schließlich in den Besitz der öffentlichen
Hand über.21
Da die Schweiz selbst kaum über geeignete Kohlevorkommen verfügte bzw. die Verwendung der heimischen Ressourcen oftmals unrentabel war, waren die Gaswerke
schnell auf Importe aus Deutschland und Frankreich angewiesen.22 So ist es auch nicht
verwunderlich, dass der (Aus-)Bau der Gasversorgung eng an den (Aus-)Bau der Eisenbahn-Verbindungen gekoppelt war, die essentiell für einen kostengünstigen Transport
der Kohle waren.23
Lieferschwierigkeiten erzeugen Krisen
Die Etablierung des Stadtgases in der Schweiz war keine Geschichte sich aneinanderreihender „Erfolge“. Namentlich zwei große Krisen, die folgend kurz beschrieben werden, hatten die Gasproduzenten zu überstehen.
Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71
Der Ausbruch des Krieges zwischen Preußen und Frankreich bedeutete für die schweizerische Gasindustrie eine substantielle Herausforderung. Wie schon zuvor beschrieben, war die Schweiz von Kohleimporten aus diesen beiden Ländern in hohem Grade
abhängig. Schon bald war klar, dass es insbesondere bei den Transportkapazitäten zu
Engpässen kommen würde. Das preußische Militär benötigte die Eisenbahn für ihre
Truppenbewegungen, die für den Kohletransport erforderlichen Lokomotiven und
Waggons standen nicht mehr zur Verfügung. Zudem wurde über das Saarland – das
wichtigste Kohlerevier für die Schweiz – ein Ausfuhrverbot verhängt, das schließlich jedoch nur etwa einen Monat Bestand hatte. An der prekären Lage des Transports änderte sich indes nichts, sodass die Schweiz selbst Züge in das Saarland entsenden musste.
Eine verlässliche Versorgung konnte aber nicht hergestellt werden. Während es Groß-
19
20
21
22
23
Daniel Marek, Kohle. Die Industrialisierung der Schweiz aus der Energieperspektive 1850–1900, phil.-hist.
Diss. Bern 1992, S. 105; Hans Peter Langbein, Die schweizerische Steinkohlengasindustrie an der Schwelle des
Atomzeitalters, phil.-hist. Diss. Basel 1961, S. 36 ff.
Marek, Kohle, S. 105 f.
Ebd.
Langbein, Steinkohlegasindustrie, S. 46.
Grunder, Kunstdenkmäler, S. 219; Marek, Kohle, S. 108.
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397
abnehmern durch bestehende Handelsverträge noch eine Zeit lang möglich war, Kohle zu verträglichen Preisen zu importieren, spürten Kleinverbraucher und Zwischenhändler schon bald die Lieferengpässe. Die Reserven waren schnell aufgebraucht und
die Konsumenten griffen sodann gezwungenermaßen auf heimische Rohstoffe, wie
etwa Brennholz, zurück. Zudem stiegen die Importe aus französischen Kohlegruben.24
Während andere Sparten auf Alternativen ausweichen konnten, traf die Kohlennot die
Gaswerkbetreiber im besonderen Maße. Zwar war die Saarkohle bereits bestellt und
abholbereit, es scheiterte aber am Abtransport, da die Kapazitäten dafür fehlten. Die
Verwendung minderwertiger Kohle und eine Drosselung der Gaslieferungen waren
die Folge.
Aber auch nach dem Krieg blieb die Lage weiter angespannt. Die Depots mussten wieder aufgefüllt werden, um den Kunden eine verlässliche Energieversorgung gewährleisten zu können. Die Kohlepreise stiegen jedoch noch bis in das Jahr 1873 hinein
weiter an, um sich erst darauf wieder auf Vorkriegsniveau einzupendeln.25
Die Streikwelle 1898 bis 1991
Die 1880er-Jahre waren geprägt von einer steigenden Konjunktur und damit auch
von einer wachsenden Nachfrage nach Kohle. 1889 begannen jedoch auch die ersten
Streiks in deutschen Kohlebergwerken. Vom Rheinland breiteten sie sich bis zu den
für die Schweiz so wichtigen Saargruben aus. Im Mai legten die Arbeiter, die sich in
Komitees zusammengeschlossen hatten, ihr Gerät nieder, um gegen die herrschenden
Bedingungen zu protestieren. Nachdem im Dezember Verhandlungen zwischen Grubendirektion und Belegschaft gescheitert waren, traten die Kumpel abermals in Streik.
Die daraus resultierenden Produktionsausfälle – gepaart mit dem generell steigenden
Kohlebedarf und der Tatsache, dass die Deutsche Reichsbahn vermehrt Kohlereserven
einlagerte – führten dazu, dass die schweizerischen Abnehmer abermals einen Rückgang der Kohlelieferungen hinnehmen mussten. Die Großverbraucher reagierten mit
dem Import von französischer Kohle und dem Horten von Reserven, woraufhin der
Preis weiter anstieg.
Diese Entwicklungen ließen die Saarkohle nach und nach an Bedeutung verlieren
– auch, weil das Deutsche Reich selbst seinen Bedarf mit diesem heimischen Rohstoff decken wollte. Andere Kohlen hatten jedoch eine für die Gasproduktion mindere Qualität, weshalb auch größere Mengen davon verwendet werden mussten.26
Die Lage entspannte sich erst wieder im Laufe des Jahres 1891, als die erschöpften
Kohledepots wieder aufgefüllt werden konnten.27
Diese beiden Krisen zeigten nur zu deutlich, welches Ausmaß die Abhängigkeit der
Schweiz und insbesondere ihrer Gaswerke von den Lieferungen der ausländischen
24
25
26
27
Marek, Kohle, S. 150–152.
Ebd., S. 153 f.
Ebd., S. 155–159.
Ebd., S. 159.
398
Gas erleuchtet die Schweiz
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Kohle hatte und wie wichtig funktionierende Transportrouten, aber auch ausreichende
Lagerbestände für die Versorgungssicherheit waren.
Konkurrenz durch elektrischen Strom
Trotz wechselhaften, von Krisen beeinflussten Jahrzehnten konnte sich die Gasindustrie schließlich konsolidieren. Die Produktionsverfahren wurden fortwährend verbessert, die Gaswerke steigerten ihre Umsätze und konnten immer mehr Kunden anwerben – goldene Zeiten schienen bevorzustehen. Doch nun begann auch der Aufstieg
der Elektrizität.
Elektrischer Strom wurde in der (Stadt-) Beleuchtung zum Hauptkonkurrenten des
Gases. 1879 ließ der Unternehmer Johannes Badrutt den Speisesaal seines Hotels in
St. Moritz mit elektrischem Strom beleuchten. Diese technische Sensation wurde von
der Presse mit Begeisterung aufgenommen.28 Zwar war die elektrische Bogenlampe zu
diesem Zeitpunkt eine noch recht neue Erfindung (Anlagen dieser Art hatten zunächst
noch mehr den Charakter von „Spektakeln“ und Prestigeprojekten), die Technologie
hatte aber Einzug in die Schweiz gefunden und ihr Potential wurde auch vielerorts
bereits erkannt. Im Folgejahr wurde das eidgenössische Sängerfest in Zürich mit unzähligen Bogenlampen illuminiert. Damit war die Leistungsfähigkeit der neuen Technologie bewiesen, das elektrische Licht verwandelte die Nacht quasi zum Tag.29
Die Kommunen waren nun in einer gewissen Zwickmühle. Sie hatten in den letzten
Jahrzehnten große (finanzielle) Anstrengungen unternommen, die Gasbeleuchtung in
ihren Städten und Gemeinden zu etablieren und auszubauen. Nun gab es eine neue,
„bessere“ Möglichkeit, die Beleuchtung der Straßen und Plätze zu gewährleisten. Sollten sie am Stadtgas festhalten oder doch auf die neue Technologie setzen? Für und
Wider mussten abgewogen werden: Dagegen sprach etwa, dass eine funktionierende
Beleuchtungsinfrastruktur bereits vorhanden war, viele der Gaswerke befanden sich
schon im Besitz der Kommunen und warfen auch zum Teil gute Gewinne ab. Zudem
war die Produktion relativ günstig. Argumente, die für eine Umstellung sprachen, waren u. a., dass das elektrische Licht als „sauberer“ galt, heller leuchtete und keinen Ruß
erzeugte. Die Erfahrungen der Kohleeinfuhr-Verknappung während der zuvor genannten Krisen zeigten auch die Abhängigkeit von ausländischen Importen auf, während
Wasser für die Stromerzeugung in der Schweiz reichlich vorhanden war. Und nicht
zuletzt war es auch eine Frage von Prestige, sich den Luxus elektrischen Lichts leisten
zu können.30
Die Betreiber der Gaswerke mussten sich nun rasch auf diese neue Konkurrenz einstellen und neu positionieren. Die Straßenbeleuchtung ging bald an die Elektrizitätswerke
verloren, dafür fand das Gas vermehrt in Betrieben und Haushalten Verwendung: als
Energieträger für Heiz- und Kochzwecke. Dass sich das Gas hier so schnell etablieren
28
29
30
David Gugerli, Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz 1880–1914, Zürich 1996, S. 25 f.
Gugerli, Redeströme, S. 27 f.
Ebd., S. 43–45.
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399
konnte, liegt an mehreren Faktoren: Die Schweizer heizten vergleichsweise weniger
mit Kohle als Konsumenten in anderen Ländern, was dem Faktum geschuldet war, dass
diese für sie schwerer zugänglich und zudem generell teurer war. Auch der Umstand,
dass die meisten Gaswerke mittlerweile kommunale Betriebe waren, war entscheidend. Die Städte sahen es als ihre infrastrukturelle Aufgabe an, möglichst alle Bewohner an das Gasnetz anzuschließen. Dabei übernahmen sie auch oftmals teilweise oder
gänzlich die hierfür anfallenden Kosten. Auch kamen die Werke den Kunden oftmals
entgegen und schlossen etwa an die gelegten Koch- und Heizgasleitungen auch Gaslampen unentgeltlich an. Dies führte dazu, dass die Errichtungskosten – wenn vorhanden – relativ gering waren und dass dadurch vielen Menschen ein Zugang zu dem
Energieträger ermöglicht wurde.31 Zudem gewährten die Produzenten mancherorts
auch beträchtliche Rabatte. Das hob etwa die St. Galler Zeitung „Die Ostschweiz“ in
ihrer Ausgabe vom 21. Jänner 1899 in einem Artikel besonders hervor:
„Bekanntlich wird die Verwendung des Leuchtgases zum Kochen, dank den
mannigfachen Vorzügen, die sie gegenüber der Holz- und Kohlenfeuerung
darbietet, immer allgemeiner. Dem einzigen Bedenken, das gegen dieselbe
geltend gemacht werden kann, dem Kostenpunkt, hat unsere Gasfabrik durch
Herabsetzen des Gaspreises für Kochzwecke bereits in verdankenswerter Weise Rechnung getragen.“32
Neben diesen Services und Vergünstigungen führten auch Inserate in Zeitungen und
Zeitschriften zum Anwachsen des Kundenstamms, Gasherde und -boiler wurden vielerorts beworben. Diese „Technisierung“ des Haushalts hing damit zusammen, dass ab
den 1890er-Jahren ein spürbarer Rückgang an Dienstboten zu verzeichnen war, die
sich aufgrund anhaltend bescheidener Arbeitsverhältnisse nun in anderen Bereichen,
etwa der Industrie oder in Büros, betätigten.33 Die Gasgesellschaften profitierten von
dieser Entwicklung verständlicherweise, da gasbetriebene Innovationen die Haushaltstätigkeit in vielen Bereichen erleichterten. Indes waren die Elektrizitätswerke auch
nicht untätig und warben selbst verstärkt um neue Abnehmer, was den Zuwächsen
der gaswirtschaftlichen Konkurrenz jedoch keinen Abbruch tat. Vielmehr zeichnete
sich
„[…] überhaupt eine gewisse Arbeitsteilung in der Versorgung des Publikums
mit Kraft und Licht einerseits und mit Wärme anderseits [ab], indem jene Aufgabe mehr von den Elektrizitätswerken, diese mehr von den Gaswerken beansprucht [wurde.]“34
31
32
33
34
o. A., Die Entwicklung der schweizerischen Gaswerke in den letzten zwanzig Jahren, in: Schweizerische Bauzeitung
35/36 (1900), Heft 26, S. 255–256, hier S. 255.
Dr. Kaiser, Das Warmwasserschiff für Gasherde, in: Die Ostschweiz, Nr. 17, 21.1.1899, S. 6, [http://bit.ly/1HlRKhd],
eingesehen 1.11.2015.
Ines Siegfried Schnider, „Hausfrauen kocht elektrisch!“ Das Eindringen von Elektroherd und elektrischen Geräten
in die städtische Küche der Zwischenkriegszeit, in: David Gugerli (Hrsg.), Allmächtige Zauberin unserer Zeit. Zur
Geschichte der elektrischen Energie in der Schweiz, Zürich 1994, S. 155–165, hier S. 155.
E. Ott, Die schweizerischen Gaswerke, in: Schweizerische Bauzeitung 65/66 (1915), Heft 14, S. 156–158, hier S. 157.
400
Gas erleuchtet die Schweiz
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Gas- und Elektrizitätswirtschaft hatten sich ihre Bereiche vorerst abgesteckt. Den Gaswerken kam hier natürlich auch die Tatsache zu Gute, dass die Verwendung von elektrischem Strom noch einige Zeit deutlich teurer sein sollte als die von Gas.35
Die Wachstumsraten beim Gasabsatz (siehe dazu Abbildung 1 im Anhang) nahmen in
der gesamten Schweiz noch bis zum Ersten Weltkrieg beständig zu. Diese Entwicklung
glich in der Schweiz in weiten Teilen jener im Deutschen Reich.36
Die Gasindustrie während des Ersten Weltkriegs
Wie schon zuvor beschrieben, war die schweizerische Gasindustrie abhängig von Kohleimporten aus dem Ausland – etwa aus dem Deutschen Reich oder Frankreich. Als
diese beiden Länder im Sommer 1914 (erneut nach 1870) in den Kriegszustand traten,
lag die Vermutung nahe, dass dies (erneut) negative Auswirkungen auf die Kohleeinfuhren der Schweiz haben würde. Dem war jedoch nicht so – zumindest nicht sofort: Noch bis in das Jahr 1916 hinein konnten die Gaswerke Produktionssteigerungen
verzeichnen. Dieses vermeintliche Paradoxon kann jedoch schnell erklärt werden: Der
Krieg erschwerte den Import von flüssigen Brennstoffen wie Benzin oder Petrol – das
Gas musste diese Lücke schließen.37
Dass es bei dem benötigten Vergasungsrohstoff anfangs keine Engpässe gab, war einer Genossenschaft zu verdanken. Bereits 1910 hatte sich die Mehrzahl der schweizerischen Gaswerke zu einer Einkaufsvereinigung zusammengeschlossen, um so vereint
am internationalen Kohlemarkt auftreten und den Import zu den besten Konditionen
verhandeln zu können. Deren noch in den Vorkriegsjahren abgeschlossenen Verträgen
war es zu verdanken, dass die Einfuhren in den ersten gut anderthalb Jahren des Weltkriegs noch zu relativ guten Konditionen erfolgten. Trotz einiger Rückschläge, wie etwa
verringerter Transportkapazitäten oder zeitweilig gültiger Kohleexportverbote seitens
der deutschen Reichsregierung, konnten die Gaswerke ihren Betrieb mit Ausnahmen
fortführen.38
Im Laufe des Jahres 1916 verschlechterten sich die Rahmenbedingungen dann jedoch
merklich. Die Lieferverträge waren großteils ausgelaufen und die Preise stiegen in Folge massiv an, die Importe waren jetzt kaum noch leistbar. Schweizer Regierung und
Gasproduzenten mussten sich auf ein weiteres Vorgehen einigen. Maßnahmen sollten gesetzt werden, um den Gaskonsum zu reduzieren. Die Situation verschärfte sich
dennoch, einige Werke waren gar darauf angewiesen, alternative Rohstoffe wie Holz
oder Torf für die Vergasung zu verwenden. Daraufhin verschlechterte sich die Gasqualität merklich. Die Verknappung und der verminderte Brennwert führten dazu, dass die
35
36
37
38
Gugerli, Redeströme, S. 49.
Dieter Schott, Europäische Urbanisierung (1000–2000). Eine umwelthistorische Einführung, Stuttgart 2014,
S. 286 f.
Christoph Menasse, Strukturwandel und Neuorientierung der Gasindustrie in der Zwischenkriegszeit unter
Berücksichtigung des Gaswerks Basel, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 105 (2005),
S. 49–78, hier S. 51 f.
Ebd., S. 52 f.
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Maximilian Oswald
401
Gaswerke erstmals rückläufige Abonnentenzahlen verzeichnen mussten.39 Im Gegenzug konnten sich die Elektrizitätsgesellschaften über zahlreiche Neukunden freuen, da
sie im Krieg weitgehend auf Tariferhöhungen verzichteten und ihr Strom dadurch im
Vergleich zu Gas immer konkurrenzfähiger wurde.40 Es sollte noch bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein dauern, bis sich die Gaswirtschaft von diesen Entwicklungen
erholen konnte.41
Um die zuvor beschriebenen Entwicklungen exemplarisch darstellen zu können, soll
im folgenden Kapitel abschließend die Geschichte der Zürcher Gasindustrie skizziert
werden, die sich ab den 1890er-Jahren zur mit Abstand leistungsfähigsten der gesamten Schweiz entwickelt hatte.42
Die Gaswerke der Stadt Zürich
Angesichts der wachsenden Bevölkerung und dem steigenden Bedürfnis nach einer
adäquaten Straßenbeleuchtung entschied der Zürcher Stadtrat um die Mitte des 19.
Jahrhunderts, dass die bestehende Ölbeleuchtung sowohl im Betrieb, als auch angesichts ihrer Leuchtleistung nicht mehr zeitgemäß war und beschloss, zukünftig ebenso
auf Stadtgas zu setzen. Zudem konnte man durch das Abgeben von Errichtung und
Betrieb mögliche finanzielle Risiken für die Stadt minimieren. Nach den Erfahrungswerten anderer Städte würde man sich jedoch dank strikter Vorgaben bezüglich Leuchtkraft, Leistung und Preis eine gewissen Kontrolle über das Gaswerk erhalten können.
Für den Betrieb sollte Holz als zu vergasender Rohstoff verwendet werden, da man bei
Kohlegas gesundheitsschädlichere Dünste fürchtete. Worauf diese Bedenken fußten,
ist nicht zu eruieren, vermutlich auf dem wahrnehmbaren Schwefelgeruch.43
Im Jahr 1856 nahm dann das erste Gaswerk der Stadt, errichtet von der „Züricher Actiengesellschaft für Gasbeleuchtung“, seinen Betrieb auf. Dem zugrunde lag eine Konzession, die auf dreißig Jahre ausgelegt war. Nach Ablauf dieser Frist hatte die Stadt
die vertraglich zugesicherte Option, das Gaswerk von seinen privaten Betreibern abzulösen. Im Jahr 1862 versorgte die Anlage 604 Straßenflammen und belieferte 672
Privatabnehmer.44
Neben dem Stammwerk wurden nach 1867 zwei weitere Anlagen errichtet, die jedoch schon mit Kohle betrieben wurden. Diese konnte man über die neue Bahnlinie
zwischen Basel und Zürich aus dem deutschen Rheinland nun leichter importieren.45
Gegen den bisher verwendeten Rohstoff Holz sprachen die bis dahin gewonnenen
Erfahrungswerte. Das Holzgas konnte qualitativ nicht überzeugen, zu groß waren die
39
40
41
42
43
44
45
Menasse, Strukturwandel, S. 53 ff.
Gugerli, Redeströme, S. 15.
Menasse, Strukturwandel, S. 76 f.
Siehe Grafik im Anhang.
Marek, Kohle, S. 112 f.
N. H. Schilling, Statistische Mittheilungen über die Gas-Anstalten Deutschlands, der Schweiz und einige GasAnstalten anderer Länder, München 1868, S. 369, [http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/
bsb10305779_00379.html], eingesehen 1.11.2015.
Grunder, Kunstdenkmäler, S. 220.
402
Gas erleuchtet die Schweiz
historia.scribere 08 (2016)
Schwankungen der chemischen Zusammensetzung. Ebenso war es schwierig, Abgabemengen konstant zu halten, da sich das Gasvolumen bei Temperaturveränderungen
deutlich änderte.46
Die Lieferschwierigkeiten während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 trafen
das Unternehmen schwer. Die Kohlebestellungen konnten aus dem Saarland nicht
nach Zürich transportiert werden, die öffentliche Beleuchtung musste reduziert werden und schließlich war man gezwungen, für die Vergasung nur unzureichend taugliche Kohle aus dem französischen Loirebecken zu importieren.47
Nach Ablauf der Konzession übernahm die Stadt die drei Gaswerke und ergänzte die
nun kommunale Gesellschaft um einen weiteren Standort.48 Zürichs Bevölkerung
wuchs – nicht zuletzt auch aufgrund von Eingemeindungen im Jahr 1893 – und somit
stieg auch der Bedarf an Stadtgas kontinuierlich an. Dazu kam, dass sich in den 1890erJahren auch die Abnehmerstrukturen änderten. Waren zuvor noch die städtische und
private Beleuchtung Hauptverbraucher des Gases, wurde es in diesem Bereich nach
und nach von der aufkeimenden Elektrizität verdrängt. Doch die bereits beschriebene
alternative Vermarktung war auch hier schnell gefunden – die Verwendung als Kochund Heizgas in Privathaushalten. Der Gaskonsum stieg folglich deutlich an, eine Expertise rechnete mit einer durchschnittlichen Zunahme von zwölf Prozent pro Jahr.49
Vor diesem Hintergrund entschied sich die Stadt 1894, den Bau einer Großanlage in
Auftrag zu geben. Zunächst musste ein geeignetes Bauland gefunden werden, das
etwa noch Platz für etwaige spätere Erweiterungen bot, sich nahe einer Bahnlinie und
auf einem tieferen Niveau befand, um die Weiterleitung des Gases zu den Abnehmern
gewährleisten zu können. Man entschied sich für ein Gelände in Schlieren, unweit von
Zürich gelegen. Im nächsten Schritt wurde die nötige Kapazität berechnet, die das
Werk in Zukunft leisten sollte. Ebenso wurde an Lagerstätten gedacht, um im Krisenfall
ausreichend Kohlereserven vorrätig zu haben. Der erste Teil des Gaswerks Schlieren
nahm dann bereits 1898 den Betrieb auf. Die Tagesleistung betrug anfänglich mindestens 25.000 m³, die in drei Teleskopgasometern zwischengelagert werden konnten.50
Schon bald erkannte man, dass die anfänglichen Prognosen zum ansteigenden Konsum zu kurz gegriffen waren. Während die Zürcher Bevölkerung zwischen 1899 und
1909 nur um gut 3,5 Prozent pro Jahr zunahm, stieg der Gasverbrauch jedoch um rund
vierzig Prozent jährlich. Schon bald würden die Produktionskapazitäten nicht mehr
ausreichen. Zwischen 1903 und 1909 wurde das Werk Schlieren um eine Ofenanlage
mit einer Mindestleistung von 50.000 m³ ergänzt, das Kohlelager wurde vergrößert
und ein weiterer Gasometer errichtet.51
46
47
48
49
50
51
Marek, Kohle, S. 113 f.
Ebd., 153 f.
Grunder, Kunstdenkmäler, S. 220.
Ebd., S. 220.
Ebd., S. 220, 243.
Ebd., S. 247.
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403
Bis in das Krisenjahr 1916 stieg die Produktion auf bis zu 156.000 m³/24h und überschritt damit sogar die errechnete Maximalkapazität deutlich. Der bereits beschriebene kriegsbedingte Einbruch des Konsumvolumens traf auch das Zürcher Werk schwer.
Erst zehn Jahre später war die Produktion wieder voll ausgelastet, was einen neuerlichen Zubau nötig machte.52
Resümee
Die Geschichte des Stadtgases in der Schweiz ist eine überaus wechselvolle. Nachdem es etwas länger als in den benachbarten Staaten gedauert hatte, bis die ersten
Gaswerke gegründet worden waren, entwickelte sich jedoch rasch eine leistungsfähige und schnell wachsende Industrie, womit die Schweiz anfängliche Rückstände bald
aufholen konnte. Wie auch jenseits der Grenze üblich, wurden die ersten Gaswerke von
privaten oder halböffentlichen Unternehmen errichtet und betrieben, die Kommunen
konnten sich des Risikos eines möglichen Scheiterns der Unternehmung weitgehend
entziehen. Mit der Zeit wurden die meisten Betriebe jedoch von der öffentlichen Hand
übernommen und weitergeführt. Gründe hierfür waren etwa fehlende Investitionen
oder Kapital seitens der Privaten oder auch schon zuvor vertraglich zugesicherte Kaufoptionen zu Gunsten der Kommunen. Damit konnten diese auch für eine Verbesserung der Versorgung ihrer Bevölkerung Sorge tragen, indem sie etwa Anschlusskosten
zum Teil übernahmen und leistbare Preise verlangten.
Auch in der Schweiz wurde Stadtgas gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der aufkommenden Elektrizität konfrontiert. Hier kam es aber in der Folge zu einer Aufteilung der
Absatzgebiete: Während die Straßen fortan zumeist mit Strom erhellt wurden, eroberte
Stadtgas die Privathäuser und Betriebe als Energieträger für Heiz- und Kochzwecke.
Mit der Erschließung dieses neuen Bereichs stiegen auch die Absatzzahlen von Jahr
zu Jahr an. Was den schweizerischen Gaswerken jedoch stets zum Verhängnis werden
konnte und auch wurde, war die große Abhängigkeit von ausländischen Kohlelieferungen. Erstmals mussten sie das im Deutsch-Französischem Krieg 1870/71 erfahren, als
die Zufuhr nicht mehr funktionierte und die Reserven bald aufgebraucht waren. Ebenso gravierend wirkten sich die Bergarbeiterstreiks am Beginn der 1890er-Jahre aus. Der
Weltkrieg hatte indes in seinen ersten beiden Jahren keine derart drastischen Folgen
für die Gasproduzenten, die sich mit langfristigen Lieferabkommen diesmal besser abgesichert hatten. Doch auch diese konnten keine dauerhafte Lösung gewährleisten.
1916 liefen die meisten der Verträge aus, was zu einer erneuten Versorgungskrise führte, an deren Folgen die Gasindustrie noch bis weit in die Zwischenkriegszeit zu leiden
hatte.
Zürich war nicht unter den ersten Schweizer Städten, die sich eine Gasbeleuchtung
leisten wollten. Trotzdem verlief der Einstieg erfolgreich, die Werke konnten den steigenden Bedarf schon bald nicht mehr decken und die Kapazität wurde beständig er-
52
Grunder, Kunstdenkmäler, S. 253.
404
Gas erleuchtet die Schweiz
historia.scribere 08 (2016)
weitert. In den 1890er-Jahren wurde schließlich mit dem Gaswerk Schlieren ein Projekt
initiiert, das den Ansprüchen einer wachsenden Großstadt gerecht werden konnte.
Die oben beschriebenen Krisen trafen auch die Zürcher Gasindustrie zum Teil schwer,
insbesondere der Erste Weltkrieg. Erst eine gute Dekade nach Kriegsende konnten die
Konsumwerte des Jahres 1916 wieder erreicht werden.
Quellen
o. A., Die Entwicklung der schweizerischen Gaswerke in den letzten zwanzig Jahren, in:
Schweizerische Bauzeitung 35/36 (1900), Heft 26, S. 255–256.
Kaiser, Dr., Das Warmwasserschiff für Gasherde, in: Die Ostschweiz, Nr. 17, 21.1.1899, S. 6,
[http://bit.ly/1HlRKhd], eingesehen 1.11.2015.
Ott, E., Die schweizerischen Gaswerke, in: Schweizerische Bauzeitung 65/66 (1915),
Heft 14, S. 156–158.
Pfeiffer, Otto, Das Gas als Leucht-, Heiz- und Kraftstoff in seinen verschiedenen Arten
als Steinkohlegas, Holz- und Torfgas, Oelgas, Wassergas. Fabrikation und Verwendung
nach dem neuesten Standpunkt, unter Berücksichtigung der Konkurrenzverhältnisse
zwischen Gas und Elektrizität, Zum 100-jährigen Jubiläum der Gasindustrie, Weimar
1896.
Schilling, N. H., Statistische Mittheilungen über die Gas-Anstalten Deutschlands, der
Schweiz und einige Gas-Anstalten anderer Länder, München 1868, S. 369, [http://rea
der.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10305779_00379.html], eingesehen 1.11.2015.
Literatur
Gasversorgungsunternehmen in Berlin, Findbuch. Landesarchiv Berlin, Bestandsgruppe A Rep. 259, [http://www.landesarchiv-berlin.de/php-bestand/arep259-pdf/arep259.
pdf ], eingesehen am 1.11.2015.
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Gas erleuchtet die Schweiz
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Anhang
Abbildung 1 Graphische Darstellung der Produktions und Absatzverhältnisse der größeren schweizerischen
Gaswerke von 1880 – 1913, publiziert in: E. Ott, Die schweizerischen Gaswerke, in: Schweizerische Bauzeitung
65/66 (1915), Heft 14, S. 156–158, hier S. 156.
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Maximilian Oswald
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Maximilian Oswald ist Studierender der Geschichtswissenschaften (Master) im
2. Semester und studentischer Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie (Kernfach Wirtschafts- und Sozialgeschichte) an der
Universität Innsbruck. maximilian.oswald@student.uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Maximilian Oswald, Gas erleuchtet die Schweiz. Stadtgas als Energieträger des 19. und
frühen 20. Jahrhunderts, in: historia.scribere 8 (2016), S. 391–408, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
© Creative Commons Licences 3.0 Österreich unter Wahrung der Urheberrechte der
AutorInnen.
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Varia 2016
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Südtiroler Moschee-Konflikte seit den 1990er-Jahren.
Argumentationslinien in den Tageszeitungen „Dolomiten“
und „Alto Adige“
Sarah Oberbichler
Kerngebiet: Zeitgeschichte
eingereicht bei: Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Eva Pfanzelter (MA)
eingereicht im Semester: WS 2015/2016
Rubrik: Varia
Abstract
South Tyrolean’s Mosque conflicts since the 1990s. Lines of
argumentation in the newspaper „Dolomiten” and „Alto Adige”
The following paper is about the perception of mosque buildings in two South
Tyrolean daily newspapers, the German-language ,Dolomiten’ and the Italianlanguage ,Alto Adige’. This paper has two aims: first, it shows a historical overview
of the mosque debates in South Tyrol from 1990 until today. Building on that,
the paper offers an analysis, and particularly a comparison of argumentation
paradigms present in the two South Tyrolean newspapers.
Einleitung
Das Thema Moscheebau in Europa ist seit jeher ein Reizthema in der Politik und gleichzeitig ein heftig umstrittenes Thema in der Öffentlichkeit. Moscheen haben und hatten
es in Europa immer schwer, als ein Teil der städtischen Umwelt oder sogar als kulturelle
Bereicherung angesehen zu werden.1 Dabei sind die ersten repräsentativen Moscheen
in Europa bereits im Mittelalter an den Grenzen zu muslimisch geprägten Ländern
erbaut worden (Spanien, Sizilien, Griechenland und Balkanländer).2 In Zentraleuropa
hingegen wurden erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts erste Moscheen errichtet,
1
2
Burkhart Lauterbach/Stephanie Lottermoser, Fremdkörper Moschee? Zum Umgang mit muslimischen Kulturimporten in westeuropäischen in westeuropäischen Großstädten, Würzburg 2009, S. 9.
William Montgomery Watt, Der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter, Berlin 22010, S. 99 f.
2016 I innsbruck university press, Innsbruck
historia.scribere I ISSN 2073-8927 I http://historia.scribere.at/
Nr. 8, 2016 I DOI 10.15203/historia.scribere.8.480ORCID: 0000-000x-xxxx-xxxx
OPEN
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Südtiroler Moschee-Konflikte
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stets begleitet von heftigen politischen und öffentlichen Auseinandersetzungen.3 In
Südtirol stand der Bau einer symbolträchtigen Moschee nie zur Debatte, an „Zündstoff“
für öffentliche und politische Konflikte fehlte es seit der zunehmenden Präsenz muslimischer Migrant/innen in den 1990er-Jahren trotzdem nicht.
In die Südtiroler Forschung hat der Konflikt um den Bau von repräsentativen Gotteshäusern bis dato noch keinen Einzug gehalten, auch wenn in den letzten Jahren zunehmend Veröffentlichungen zum Thema Migration und Südtirol erschienen sind. Zu
nennen sind in diesem Zusammenhang die Publikationen4 der European Academy
of Bozen/Bolzano (EURAC),5 die Migration und die dazugehörigen Herausforderungen
aus soziologischer, rechtlicher sowie politischer Perspektive untersuchen. Der historische Blick auf MigrantInnen und die Untersuchung der medialen Darstellung fehlen in
Südtirol aber noch weitgehend. Dieser Beitrag setzt durch die Analyse des Moscheebau-Diskurses in den Südtiroler Tageszeitungen „Dolomiten“ und „Alto Adige“ deshalb
genau dort an.
Aus methodischer Sicht sind dabei die Studien des Sprachwissenschaftlers Martin
Wengeler6 bedeutend, der in Deutschland Migrationsdiskurse in den Medien mit der
Methode der vergleichenden diskurshistorischen Argumentationsanalyse untersuchte. Diese Art der Analyse kann als ein Zugriffsobjekt der historischen Diskursanalyse
verstanden werden und hat sich insbesondere für den interlingualen Vergleich als geeignet erwiesen.7 Analysiert werden dabei nicht nur Begriffe, die sich auf die Oberflächenebene der lexikalischen Zeichen beziehen, sondern Argumente/Aussagen, die
die Semantik miteinbeziehen und eine diskursemantische Perspektive ermöglichen.8
Massenmedien spielen und spielten stets eine wichtige Rolle, wenn Moschee-Konflikte
in die Öffentlichkeit getragen werden. Sie sind und waren dabei wichtige Träger von
Meinungen und Vorurteilen, wobei das Sprechen über spektakulärere Ereignisse nicht
selten dem Gebot der Pazifizierung vorausging.9
3
4
5
6
7
8
9
Christoph Hohage, Moschee-Konflikt. Wie überzeugungsbasierte Koalitionen lokale Integrationspolitik bestimmen, Wiesbaden 2013, S. 26; Farid Hafez, Islamophober Populismus. Moschee- und Minarettbauverbote österreichischer Parlamentsparteien, Wien 2009, S. 88.
Zu diesen Publikationen gehören u. a.: Roberta Medda-Windischer/Gerhard Hetfleisch/Maren Meyer (Hrsg.), Migration in Südtirol und Tirol. Analysen und multidisziplinäre Perspektiven, Bozen 2011, S. 77–95; Roberta MeddaWindischer/Andrea Carlà, Migrationspolitik und Territoriale Autonomie. Neue Minderheiten, Identität und Staatsbürgerschaft in Südtirol und Katalonien, Bozen 2013; EURAC Research, Standbild und Integrationsaussichten der
ausländischen Bevölkerung Südtirols. Gesellschaftsleben, Sprache, Religion und Wertehaltung, Bozen o. J.
EURAC Research, [http://www.eurac.edu/en/Pages/default.aspx], eingesehen 15.2.2015.
Martin Wengeler, Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985) (Reihe Germanistische Linguistik 244), Tübingen 2003.
Ders., Historische Diskurssemantik als Analyse von Argumentationstopoi, in: Dietrich Busse/Wolfgang Taubert
(Hrsg.), Linguistische Diskursanalyse: neue Perspektiven, S. 189–215, hier S. 189–193.
Dietrich Busse/Wolfgang Taubert, Ist Diskurs ein sprachenwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik, in: Busse/Taubert, Linguistische Diskursanalyse, S. 13–31, hier S. 25.
Christoph Butterwegge, Massenmedien, Migrant/innen und Rassismus, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges/Fatma Sarigoz (Hrsg.), Medien und Multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999, S. 64–89, hier S. 68; Günther
Pallaver, Die ethnische Berichterstattung der Südtiroler Medien, in: Günther Pallaver (Hrsg.), Die ethnisch halbierte
Wirklichkeit. Medien, Öffentlichkeit und politische Legitimation in ethnisch fragmentierten Gesellschaften. Theoretische Überlegungen und Fallbeispiele aus Südtirol, Innsbruck 2006, S. 88–114, hier S. 88.
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Medien können als Quelle indirekter Erfahrung gesehen werden, denn die Informationen, die durch Medien über MigrantInnen vermittelt werden, strukturieren die
Vorstellung der RezipientInnen und bestätigen bereits vorhandene Ansichten und
Vorurteile.10 Medieninhalte können dabei nicht als „einfache Widerspiegelungen und
Abbilder einer beobachterunabhängigen Wirklichkeit“ verstanden werden, vielmehr
konstruieren sie neue Realitäten.11 Auch werden die Medieninhalte von unterschiedlichen Interessen (Redaktion, Zielpublikum, Wirtschaft und Politik) gelenkt. Im quellenkritischen Umgang mit Medieninhalten stellen sich deshalb Fragen nach der Herkunft
der Nachricht, nach den Kriterien der Auswahl sowie nach der Kondensierung der ausgewählten Nachricht.12 Auch ist es mittlerweile unumstritten, dass Massenmedien die
Realitätswahrnehmung, die Bewusstseinsbildung und somit auch die Denk- und Argumentationsweisen der RezipientInnen beeinflussen.13
Die Analyse und insbesondere der Vergleich dieser Denk-und Argumentationsmuster in den Südtiroler Tageszeitungen, der italienischsprachigen „Alto Adige“ und der
deutschsprachigen „Dolomiten“, ist deshalb Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Von
Bedeutung ist, dass beide Tageszeitungen stets nur die eigene deutsch- bzw. italienischsprachige Gruppe und nicht die Gesamtbevölkerung Südtirols repräsentieren.
Ausgehend von dieser Tatsache wird die These aufgestellt, dass die mediale Berichterstattung im Moscheebau-Konflikt in einer ethnisch fragmentierten Gesellschaft durch
die Verwendung von kultur- bzw. sprachgruppenspezifischen Argumentationsmustern gekennzeichnet ist. Es geht also um Fragen nach den vorherrschenden bzw. für
die jeweilige deutsch- und italienischsprachige Gruppe charakteristischen Topoi im
„Moschee-Diskurs“ von 1990 bis heute: Sind die Topoi im deutsch- und italienischsprachigen Diskurs unterschiedlich? Gibt es Topoi, die für jeweils nur eine Sprachgruppe
relevant sind? Welche Gründe gibt es dafür? Welche Argumentationsmuster herrschen
generell vor und welche Konsequenzen hat dies für die muslimischen Mitbürger in
Südtirol?
Der Beitrag gibt zunächst einen historischen Überblick über die Moscheebau-Debatten
der letzten zwanzig Jahre. Darauf aufbauend werden die wichtigsten Argumentationsmuster der Südtiroler Tageszeitungen aufgezeigt und gegenübergestellt. Fünf dieser
Argumentationsmuster werden anschließend genauer ausgeführt und die wichtigsten
Forschungsergebnisse im Schlusswort zusammengefasst.
10
11
12
13
Priska Bucher/Andrea Piga, Medien und Migration – ein Überblick, in: Urs Dahinden/Daniel Süss (Hrsg), Medienrealitäten, Konstanz 2009, S. 33–49, hier S. 33.
Urs Dahinden/Daniel Süss, Einleitung: Medienrealitäten als Forschungsprogramm, in: Dahinden/Süss, Medienrealitäten, S. 9; Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt am Main 2011,
S. 17.
Fritz Fellner, Die Zeitung als historische Quelle, in: Sigurd Paul Scheichl/Wolfgang Duchkowitsch (Hrsg.), Zeitungen im Wiener Fin de Siècle. Eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft „Wien um 1900“ der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, München 1997, S. 59–74, hier 68.
Thomas Niehr/Karin Böke, Diskursanalyse unter linguistischer Perspektive – am Beispiel des Migrationsdiskurses,
in: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehover (Hrsg.), Handbuch sozialwissenschaftliche
Diskursanalyse, Wiesbaden 32008, S. 359–383, hier S. 362.
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Südtiroler Moschee-Konflikte
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Die Südtiroler Moschee-Konflikte von 1990 bis heute:
Bevor genauer auf die Moschee-Konflikte in Südtirol eingegangen wird, ist zunächst
die Festlegung, was als Moschee gilt, von Bedeutung. Denn für Nicht-MuslimInnen
ist eine Moschee in der Regel ein repräsentativer Bau mit Kuppel und Minarett. Für
MuslimInnen hingegen kann bereits ein Ort, der zum Gebet verwendet wird, eine Moschee darstellen.14 Eine Differenzierung des Begriffes ist deshalb wichtig. Wenn in europäischen Kreisen von Moscheen gesprochen wird, ist also grundsätzlich zwischen
„Islamischen Zentren“, „Islamischen Gebetsräumen“, (Moscheen in umfunktionierten
Räumen) sowie international erbauten „Nachbarschafts-Moscheen“ (mit Kuppel oder
Minarett) zu unterscheiden.15 Die unterschiedliche Auslegung des Begriffes verstärkt
und verstärkte stets Missverständnisse auf beiden Seiten (Mehrheitsgesellschaft sowie
MuslimInnen), wenn Debatten zu Moscheebauten geführt wurden.16
In Südtirol bekam das Thema Moschee und Moscheebau in den 1990er-Jahren einen
erhöhten Stellen-und Diskussionswert, deutlich später als in Österreich oder in der
Schweiz.17 Es waren die Jahre, in denen sich Südtirol vom Abwanderungsland zu einem
typischen Einwanderungsland entwickelte, da die Provinz Bozen durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Konjunktur und die Stabilisierung des Arbeitsmarktes an Attraktivität für (Arbeits-)MigrantInnen gewann.18 Die Intensivierung der Einwanderung
brachte aber neben typischen Herausforderungen auch religiöse Konflikte mit sich, die
ihren Ursprung nicht zuletzt in der steigenden Zahl muslimischer BürgerInnen und der
aufkommenden Sichtbarkeit des Islams hatten. Das Recht auf Religionsfreiheit erlaubte
der wachsenden islamischen Gemeinschaft das Praktizieren des islamischen Glaubens,
das Fehlen notwendiger Strukturen löste dabei jedoch immer wieder Konflikte aus.19
Die Moschee mit Minarett und Kuppel, die von der Mehrheitsgesellschaft als Provokation und Machtdemonstration der islamischen Minderheit empfunden wurde, war dabei Ausgangspunkt dieser Konflikte. Die Thematik um Moscheen und Moscheebauten
löste sowohl bei der Bevölkerung als auch auf politischer Seite immer wieder heftige
Debatten aus. Medien und rechtspopulistische Parteien fanden in den Auseinandersetzungen ein medien- bzw. wahlkampffähiges Thema und hielten dabei entstandene
Konflikte mitunter künstlich am Leben.
14
15
16
17
18
19
Hohage, Moschee-Konflikt, S. 31.
Ebd, S. 33 f.
Thomas Schmitt, Die Mehrdimensionalität von Moscheebaukonflikten, in: Friedrich Ebert Stiftung/Politische Akademie/Referat Berliner Akademiegespräche/Interkultureller Dialog (Hrsg.), „Im Schatten des Minaretts“ Moscheebaukonflikte in Deutschland (Policy-Politische Akademie Nr. 25), Berlin 2008, S. 5.
Hohage, Moschee-Konflikt, S. 26.
Rainer Girardi, Geschichtlicher Abriss und demographische Daten zur Migration in Südtirol, in: Medda-Windischer/Hetfleisch/Meyer, Migration in Südtirol und Tirol, S. 78.
Manuel Massl, Religion, in: Landesinstitut für Statistik (Hrsg.), Immigration in Südtirol. Lebensumstände und Sichtweisen der in- und ausländischen Bevölkerung, Bozen 2012, S. 121–128, hier S. 121 ff.
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Sarah Oberbichler
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„Kriegt Bozen bald eine Moschee?“ – Die Konflikte 1994 und 2000
Der erste „Moschee-Konflikt“ in der Provinz Bozen ereignete sich bereits im Jahr 1994,
als muslimische Migrant/innen das erste Mal den Wunsch auf einen Raum für Gebete
äußerten und dabei auch Unterstützung der Caritas erhielten.20 Für Aufmerksamkeit
sorgte insbesondere eine Protestaktion von MuslimInnen, die auf offener Straße ihre
Gebete verrichteten.21 Erhofft hatten sich die Protestierenden Zugeständnisse bezüglich eines Gebetsraumes, zu ersten ernsthaften Gesprächen auf politischer Ebene kam
es aber erst im Jahr 2000, als muslimische Vereinigungen erneut den Wunsch nach
einem adäquaten Raum/Gebäude äußerten.22 Politische AkteurInnen im Kampf gegen
den Wunsch der MuslimInnen im Jahr 2000 waren die Freiheitlichen sowie Unitalia.
Sie legten dabei ihren Fokus auf die öffentliche Finanzierung einer repräsentativen
Moschee, obwohl es keine Forderung nach einer Moschee mit Minarett und Kuppel
seitens der muslimischen Gemeinschaft gab und laut einer schriftlichen Antwort des
Landeshauptmannes Luis Durnwalder (SVP) bis dato auch „kein Gesuch um die Bezuschussung des Baues einer Moschee im zuständigen Amt“23 vorlag.
Frei von Unstimmigkeiten war aber auch die Aussage des Landehauptmanns Luis Durnwalder nicht. Als Reaktion auf die Beschlussanträge von Donato Seppi (Unitalia) und
Pius Leiter (Freiheitliche) antwortete Durnwalder in einem Schreiben zunächst: „Das
Land beabsichtigt sicher nicht, eine Moschee zu errichten.“24 Bei der Landtagssitzung
im März 2001 betonte er jedoch, „wenn wir den anderen die Ausübung der Religion
zugestehen, dann müssen wir auch die Strukturen zugestehen, die sie brauchen, um
ihre Religion auszuüben.“25 Mit „Strukturen“ meinte Durnwalder wohl die Bereitstellung
eines Gebetsraumes, nicht jedoch eine Moschee mit Minarett. Einen Gebetsraum lehnten auch die Freiheitlichen ursprünglich nicht ab,26 erst in den kommenden Jahren, als
bekannt wurde, dass es bereits Gebetsräume gab, änderte sich auch hier der Diskurs.27
20
21
22
23
24
25
26
27
Kriegt Bozen bald eine Moschee?, in: Dolomiten, 22.2.1994. (Die Fußnoten der ‚Dolomiten‘ und der ‚Alto Adige‘
werden einheitlich ohne Seitenzahl angegeben, da u. a. digitalisierte Versionen beider Zeitungen verwendet
wurden)
Pregano sull‘ asfalto, in: Alto Adige, 23.4.1994; Moslems betend auf der Straße, in: Dolomiten, 26.4.1994.
Südtiroler Landtag, Wortprotokoll der 101. Sitzung vom 6.3.2001, abgerufen in der Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 13.10.2015.
Südtiroler Landtag, Antwortschreiben auf die Anfrage „Moschee für Südtirol?“, abgerufen in der Datenbank des
Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen
23.10.2015.
Ebd.
Südtiroler Landtag, Wortprotokoll der 101. Sitzung vom 6.3.2001, abgerufen in der Datenbank des Südtiroler
Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 23.10.2015.
Ebd.
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 50/09 vom 3.2.2009, eingebracht vom Abgeordneten Pius Leitner, betreffend „NEIN zur Moschee in Südtirol“, abgerufen in der Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 31.10.2015.
416
Südtiroler Moschee-Konflikte
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Hany Abd Elkarem: „Wir wollen Räumlichkeiten für eine Moschee“ –
Der Konflikt im Jahr 2004
Eine klare Forderung nach einem Gebetsraum durch ein Mitglied des Ausländerbeirates in Bozen, Hany Abd Elkarem, löste im Jahr 2004 auf italienischer Seite, aber auch
innerhalb der muslimischen Gemeinschaft den zweiten Südtiroler Moschee-Konflikt
aus.28 Hany Abd Elkarem, ein gebürtiger Ägypter, wurde im Jahr 2004 zum Vizepräsidenten des Ausländerbeirates in Bozen gewählt. In der Wahlwerbung um den Posten
des Präsidenten des Ausländerbeirates versprach er den WählerInnen, eine Moschee
zu errichten, die für die Anzahl der Muslime, die in Bozen lebten und auch ihre Religion
ausübten, angemessen sei.29
Neben der Kritik des Bozner Bürgermeisters stellten sich auch Mitglieder des Ausländerbeirates gegen Hany Abd Elkram. Es wurde ihm vorgeworfen, lediglich auf Stimmenfang zu sein, außerdem gäbe es wichtigere Dinge als einen Gebetsraum. Vorgeworfen wurde ihm auch, nur für einen Teil der MigrantInnen zu sprechen. Der Präsident
des Ausländerbeirates müsse aber für Entscheidungen für alle treffen. Und zuletzt wollte die islamische Gemeinschaft durch ein heikles Thema wie den „Moschee-Bau“ nicht
weitere Vorurteile aufkommen lassen.30
„Moschee statt Kino in Meran?“ – Der Konflikt im Jahr 2006
Im Jahr 2006 entfachten Spekulationen um die Errichtung einer Moschee (Gebetsraum)
im Odeon-Kino in Meran den Moschee-Konflikt erneut. Ausgangslage des Konfliktes
war eine Aussage des Kino-Eigentümers Gerhart Wielander, der laut der „Dolomiten“Zeitung drohte, die Einrichtung für den Bau einer Moschee der muslimischen Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Diese Drohung entstand als Reaktion auf Proteste der
Anrainer hinsichtlich eines Neubaus mit Tiefgarage, in dem die Anrainer ihre Mitnutzungsrechte beim Parkplatz gefährdet sahen.31 Neben der medialen Aufmerksamkeit
zog das Thema wiederum deutsche sowie italienische Rechtsparteien an, obwohl auch
zu dieser Zeit kein Ansuchen seitens der islamischen Gemeinschaft oder des Kinobesitzers zur Realisierung einer Moschee im italienischen Kino vorlag.32
„Moscheen nein, Gebetsräume ja“ – Der Konflikt im Jahr 2008 und 2009
Der Südtiroler Moschee-Konflikt erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren 2008 und
2009. Es war der Konflikt mit der größten medialen Aufmerksamkeit, gleichzeitig aber
auch die letzte diesbezügliche öffentliche Auseinandersetzung, die in Südtirol stattgefunden hat.
28
29
30
31
32
„La moschea? Non è tra le priorità”, in: Alto Adige, 6.6.2004.
Südtirol – Leben im Hinterhof – Kulturtreff: Die Szene im Bozner Lido zeigt, dass der Alltag hierzulande längst
auch muslimisch geworden ist, in: FF – Südtiroler Wochenmagazin, 16.9.2004.
Chiedere la moschea, errore strategico, in: Alto Adige, 4.6.2004.
Spekulation um Bau einer Moschee, in: Dolomiten, 18.4.2006.
Südtiroler Landtag, Antwortschreiben auf die Anfrage „Moschea a Merano“, abgerufen in der Datenbank des
Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen
27.10.2015.
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Sarah Oberbichler
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2008 und 2009 waren die Jahre, in denen die Südtiroler Volkspartei (SVP) die Aussage „Moscheen nein, Gebetsräume ja“33 zu ihrem politischen Leitspruch im Konflikt um
den Bau von Moscheen machte.34 Gleichzeitig war 2009 auch jenes Jahr, in dem die
Lega Nord sich dem Kampf um den Bau einer Moschee/eines Gebetsraumes verschrieben hatte und ihre xenophoben Ansichten verbreitete.35 Aber insbesondere waren
es die Jahre, in denen die Bereitstellung eines Gebetsraumes für die islamische Gemeinschaft endlich Realität werden sollte und gleichzeitig eine Volksabstimmung zum
Minarettbau-Verbot in der Schweiz Südtiroler Rechtsparteien auf neue Ideen brachte 36
Wie bereits im Jahr 1994 und 2000 führte auch in den Jahren 2008/2009 der Wunsch
islamischer Vereinigungen nach Gebetsräumen zu öffentlichen und politischen Auseinandersetzungen. In Bozen stellte der islamische Verein „Pace“ die Anfrage zur Mietung
eines Raums in der Schlachthofstraße,37 woraufhin die Lega Nord als Reaktion eine Protestkampagne organisierte.38 In Salurn führten Meldungen über ein zum Gebetsraum
umfunktioniertes Obstmagazin der Vereinigung „Per la Fratellanza“ zu Protestaktionen,
ebenfalls durch die Lega Nord.39 Zusätzlich brachte im Jänner 2009 die Abgeordnete
Elena Artioli (Lega Nord) einen Antrag ein, mit dem nicht nur das Verbot der Finanzierung von Moscheen, sondern auch von Gebetsräumen gefordert wurde.40 Islamische
Vereinigungen, so Artioli, seien „getarnte Terrorzellen“41 und jegliche finanzielle Unterstützung von Gebetsräumen fördere unweigerlich den Terror. Nicht zuletzt prangerte
Artioli den Bau von Moscheen an und forderte: „…das Erbauen von Moscheen als aggressives Zeichen welteroberischer Tendenzen der islamischen Religion auf Südtiroler
Gebiet zu verbieten.“42
Der Versuch, das Verbot der Finanzierung von Gebetsräumen sowie dessen Kontrolle
und Überwachung gesetzlich zu verankern, stieß in Südtirol auf keinen fruchtbaren
Boden, denn es sprachen sich immer mehr Politiker neben den Grünen und der SVP
für die Genehmigung von legalen Gebetsräumen aus. Gemäßigtere Worte fand Ende
2009 selbst Andreas Pöder (Union für Südtirol), der nach vielen kritischen Äußerungen
meinte, „Gebetsräume sind ein für alle Seiten akzeptabler Kompromiss“43.
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
Gegen Moschee in Bozen, in: Dolomiten, 6.10.2009.
Südtiroler Landtag, Antwortschreiben auf die Anfrage „Cellule eversive islamiche“ an Elena Artioli (Lega Nord),
abgerufen in der Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 31.10.2015.
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 33/09 vom 12.1.2009, eingebracht von der Abgeordneten Artioli, betreffend der Gewährung von Beiträgen an islamische Vereine und Vereinigungen, abgerufen in der Datenbank des
Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen
2.11.2015
Die Volksabstimmung vom 29. November 2009, [www.parlament.ch/d/wahlen-abstimmungen/volksabstimmungen/volksabstimmungen-2009/abstimmung-2009.11.29/minarette/seiten/default.aspx], eingesehen 31.10.2015.
Eine Herbergsuche auf muslimisch, in: Dolomiten, 27.11.2008.
Das „Nein“ mit Speck und Wein, in: Dolomiten, 19.1.2009.
Il gazebo contro la moschea, in: Alto Adige, 16.3.2008.
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 33/09 vom 12.1.2009, eingebracht von der Abgeordneten Artioli, betreffend der Gewährung von Beiträgen an islamische Vereine und Vereinigungen, abgerufen in der Datenbank des
Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen
2.11.2015.
Ebd.
Ebd.
Religion: Politgerangel um Moschee beziehungsweise Gebetsraum, in: Dolomiten, 6.10.2009.
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Südtiroler Moschee-Konflikte
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Kein akzeptabler Kompromiss für die Freiheitlichen war jedoch nach wie vor der Bau
symbolträchtiger Gebetshäuser. Angeregt durch die Schweizer Volksabstimmung zum
Minarett-Verbot im Jahr 2009, wurde erneut das Verbot repräsentativer Moscheen
durch die Freiheitlichen in den Vordergrund gestellt. In den Fokus rückte dabei das
Minarett, das „als Symbol des religiös-politischen Machtanspruchs“ 44 betrachtet wurde,
sowie als „Siegesstatue […], (die) als Sinnbild und Zeichen des Sieges des Islam gegenüber dem Christentum aus dem Boden [sprießt].“45
Die Angst vor dem Symbol nahm eine zentrale Rolle in den Moschee-Debatten der
Freiheitlichen in Südtirol ein. Denn der Verlust eigener und die Sichtbarkeit fremder
Symbole wurden mit Kontroll- und Traditionsverlust gleichgesetzt und das Minarett
wurde als politisches Symbol und als „Markierung“ des Territoriums verstanden.46 Eine
bewusste Assoziation zum Siegesdenkmal gelang durch den Begriff der „Siegesstatue“.
Das Siegesdenkmal wurde in Bozen nach der Eroberung Südtirols durch Italien 1926
erbaut und galt als Symbol der Eroberung und der Kontrolle des Territoriums. 47 Mit der
Androhung einer erneuten „Eroberung“ und deren Folgen für Südtirol provozierten die
Freiheitlichen insbesondere bei der deutschen Bevölkerung erneut Ängste.
Anders als in der Schweiz war in Südtirol der Bau einer Moschee mit Minarett nie vorgesehen. Weder gab es Ansuchen, noch gab es Zustimmungen aus einzelnen politischen
Reihen. Panikmache wurde also dort betrieben, wo es keinen Anlass für Panik gab. Im
Gegensatz zur Schweiz, wo es zur Zeit der Volksabstimmung bereits vier Moscheen
mit Minaretten zu verzeichnen gab,48 konnte Südtirol nicht einmal auf ein Vorhaben
hinweisen, geschweige denn auf eine mögliche Realisierung.
Warum rechtspopulistische Parteien in Südtirol das Thema „Moschee“ trotzdem immer
wieder an die Öffentlichkeit bringen konnten, ja sogar monatelang Diskussionen entfachen konnten, lag wohl an der internationalen Brisanz des Themas. Blicke in die Nachbarländer Deutschland, Österreich und Schweiz zeigten eine zunehmende Öffnung
für Moscheen und islamische Gebetsräume, gleichzeitig aber auch große Ablehnung
und Distanzierung. Was dort passierte, könne auch in Südtirol geschehen. Die Negativerfahrungen der Nachbarländer wurden zu Negativerfahrungen Südtirols adaptiert.
Nicht zuletzt spielten die Medien eine wichtige Rolle in diesen Konflikten, die durch
einseitige und verfälschende Darstellungen zugespitzt wurden.
44
45
46
47
48
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 61/09 vom 3.2.2009 „Bauverbot von Minaretten. Verpflichtung für nicht
abendländische Religionen zur Verwendung einer der Landessprachen bei der Abhaltung von Gottesdiensten
und Predigten“, abgerufen in der Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 13.10.2015.
Ebd.
Mathias Tanner, Minarett-Konflikte – Untersuchung ihrer Hintergründe und der Möglichkeit von Mediation zu
ihrer Bearbeitung, in: Matthias Tanner/Felix Müller/Frank Mathwig/Wolfgang Lienemann (Hrsg.), Streit um das
Minarett. Zusammenleben in der religiösen pluralistischen Gesellschaft, Zürich 2009, S. 225–248, hier S. 231.
Thomas Pardatscher, Das Siegesdenkmal in Bozen. Entstehung – Symbolik – Rezeption, Dipl. Innsbruck 1998,
S. 20 ff., 73 ff.
Felix Müller/Mathias Tanner, Muslime, Minarette und die Minarett-Initiative in der Schweiz: Grundlagen, in: Tanner/Müller/Mathwig/Lienemann, Streit, S. 21.
historia.scribere 08 (2016)
Sarah Oberbichler
419
Argumentationsmuster in den Tageszeitungen „Dolomiten“ und „Alto Adige“
Für die Untersuchung von Argumentationsmustern/Denkmustern im „Moscheen-Diskurs“ wurden alle Berichterstattungen sowie Leserbriefe der Südtiroler Tageszeitungen
„Dolomiten“ und „Alto Adige“ von 1990 bis 2014 untersucht, die das Thema Moschee
und Moschee-Bau thematisierten. Es handelt sich dabei um insgesamt 127 Artikel der
„Alto Adige“ und 148 Artikel der „Dolomiten“. Folgende Tabellen zeigen die Verteilung
der Artikel beider Tageszeitungen auf die Jahre 1990–2014:
Alto Adige:
Jahre
1990-1995
1996-2000
2001-2005
2006-2010
2011-2014
Anzahl
12
9
35
71
3
Jahre
1990-1995
1996-2000
2001-2005
2006-2010
2011-2014
Anzahl
21
13
30
76
7
Dolomiten:
Durch die Analyse der Zeitungsartikel haben sich zahlreiche Argumentationsmuster
bzw. Topoi finden lassen. In der nachfolgenden Graphik werden die in kurzen Stichworten formulierten Argumentationsmuster zum Vergleich gegenübergestellt, wodurch
Vorkommen und Häufigkeit der verwendeten Topoi sichtbar gemacht werden. Dabei
wird aus Gründen der Überschaubarkeit der Begriff „Moschee“ als übergeordnet für alle
Formen (repräsentative Moschee, islamisches Zentrum, Gebetsraum) verwendet.
Im Weiteren werden fünf Topoi ausführlicher erläutert, da sie sich besonders hervorgehoben haben. Auch kommen im Moscheen-Diskurs Muster vor, die nur von der
deutschsprachigen Seite verwendet werden, nicht aber in der italienischsprachigen
„Alto Adige“:
420
Südtiroler Moschee-Konflikte
historia.scribere 08 (2016)
Moschee als Gefahr
Alto Adige 127 Artikel
5%
2%
MigrantInnen haben ein
Recht auf einen
Gebetsort
6%
28%
9%
Moschee als eine
Notwendigkeit
12%
Wir dürfen keine
Vorurteile haben
23%
22%
Vorwurf der fehlenden
Gegenseitigkeit
Dolomiten 148 Artikel
Vorwurf des Populismus
6%
Moschee als politischer
Ort
6%
27%
7%
Wir müssen unsere
christlichen Werte
vertreten
8%
9%
16%
Christen müssen
Selbstbewusstsein haben
9%
12%
16%
Moscheen zerstören die
{Kultur-} Landschaft
Abb. 1: Die 10 wichtigsten Argumentationsmuster im MoscheeDiskurs der Tageszeitungen „Dolomiten“ und
„Alto Adige“.
historia.scribere 08 (2016)
Sarah Oberbichler
421
Die Moschee bzw. das Gebetshaus als Gefahr
„Moscheen und islamische Zentren, in denen sich Fundamentalisten versammeln, die
Hass gegen uns und die USA schüren, sollten gesperrt werden.“49 (Dolomiten)
Bei dem Argumentationsmuster „Die Moschee bzw. das Gebetshaus als Gefahr“ wird
davon ausgegangen, dass die Moschee eine Gefährdung für die lokale Gesellschaft,
deren Werte und Traditionen darstellt, weshalb etwas dagegen unternommen werden müsse. Der Topos der Gefahr ist in beiden Tageszeitungen mit 28 Prozent und
27 Prozent dominierend. Dabei wird vor der Terrorgefahr als auch vor der Gefahr der
Islamisierung gewarnt:
Das Argument der Terrorgefahr
Als sich Pius Leitner (Freiheitliche) im Jahr 2009 aufgrund der Gefahr vor Terroristen unter den Gläubigen gegen Moscheen aussprach,50 und Elena Artioli (Lega Nord) im Jahr
2009 in der Öffentlichkeit islamische Zentren als „Terrorzellen“ bezeichnete sowie das
Verbot von Gebetsträumen mit dem Hintergrund der „Terrorprävention“ propagierte,51
war dies eine Rhetorik, die auch in der „Alto Adige“ und der „Dolomiten“ große Verbreitung fand:
„Solange Moscheen als Predigerstätten für Hass gegen uns Ungläubige missbraucht werden, nach tausendfachen bestialischen Morden Freudentänze
aufgeführt werden, […]solange sollten wir uns Gedanken darüber machen
dürfen, wen wir uns ohne strengere Kontrollen ins Land holen.“ 52 (Dolomiten/
Leserbrief )
Die bewusste Verbindung des Terrors mit dem Bau einer Moschee bzw. dem Bereitstellen eines Gebetsraumes, führte zu einer verbreiteten Negativwahrnehmung.
Der Topos diente dabei der Konstruktion von Feindbildern, in denen der Islam als an
sich gewalttätige Religion dargestellt wurde, die sich grundsätzlich gegen das Christentum richte. Der Begriff „Moschee“ sollte bei der Bevölkerung mit Terror und Gewalt
assoziiert werden sowie mit negativen Gefühlen behaftet sein. Ein „Nein“ zur Moschee
in Verbindung mit Terror galt als legitim, stünde doch die eigene Sicherheit und die der
„abendländischen Welt“ auf dem Spiel:
„In den Moscheen wird anti-christliche Missionierung betrieben, man verbreitet Hass gegen die Ungläubigen in Europa, man begünstigt die illegale Einwanderung und man rekrutiert Selbstmordattentäter! […] Das Gebet in der
49
50
51
52
Terroristische Zellen, in: Dolomiten, 18.10.2001.
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 61/09 vom 3.2.2009 „Bauverbot von Minaretten. Verpflichtung für nicht
abendländische Religionen zur Verwendung einer der Landessprachen bei der Abhaltung von Gottesdiensten
und Predigten“, abgerufen in der Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenban
ken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 13.10.2015.
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 185/09 vom 18.12.2009, eingebracht von den Abgeordneten Artioli und
Pöder, betreffend die Sicherheit und Kontrolle der Gebetsstätten, abgerufen in der Datenbank des Südtiroler
Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 2.11.2015.
Terrorismus Ursachen, in: Dolomiten (Leserbrief ), 6.11.2001.
422
Südtiroler Moschee-Konflikte
historia.scribere 08 (2016)
Moschee verwandelt sich in Attacken auf die abendländische Welt, deren einzige Schuld es war, Muslime aufzunehmen.“ 53 (Alto Adige)
Stimmung wurde mit Begriffen wie „Hass“, „Ungläubige“ und „Mord“ gemacht, die Pauschalisierung dieser tat ihr Übriges. Der Bau einer Moschee bzw. eines Gebetsraumes
wurde mit dem Hervorbringen von Terroristen gleichgestellt, plädiert wurde jedoch
nicht nur für das Verbot der „Keimzellen“ des Terrorismus, sondern auch gegen die
(kontrollfreie) Aufnahme von Muslimen und Musliminnen.
Das Argument der Islamisierung
„Polemik um eine Moschee in Bozen: Besetzt der Islam langsam aber unaufhaltsam den
Boden des christlichen Abendlandes?“ 54 (Dolomiten)
Ein weiterer Aspekt des Gefahren-Topos war die Angst vor der Überbevölkerung durch
die MuslimInnen. Logische Schlussfolgerung war wiederum die Minimierung der Einwanderung bzw. Verstärkung der Kontrollen. Die steigende Zahl der muslimischen MigrantInnen legitimierte das Argument:
„Immer mehr Einwanderer aus islamischen Ländern leben in Südtirol, und ihre Forderungen z. B. nach einer Moschee wecken die Angst, dass sie das christlich gestaltete
Haus leer räumen und selbst bewohnen wollen.“55 (Dolomiten)
Aber nicht nur die Angst, dass das christlich gestaltete Haus leer geräumt werden
könnte, vielmehr die bereits seit Jahren leerer werdenden Kirchen würden die Gefahr
einer möglichen Islamisierung erhöhen:
„Die radikalen Moslems, welche sich auf geheime Weise in Europa einnisten,
nutzen die zunehmende Gottlosigkeit der ansässigen Bevölkerung und versuchen eine geistige Revolution zu installieren, denn diese ist meist wirksamer
als Gewaltanwendung, wo man in der Vergangenheit doch bereits Niederlagen einstecken musste.“ 56 (Dolomiten/Leserbrief )
Neben der Beschränkung der Einwanderung wurde mit dieser Art der Argumentation
für ein Wiedererstarken des christlichen Glaubens und der christlichen Werte plädiert.
Nur eine Gesellschaft, die stark an Glauben und Tradition sei, würde sich vor der „auf
Samtpfoten hereinschleichenden Religion mit Absolutheitsanspruch“57 verteidigen
können.
53
54
55
56
57
„No agli anticristiani“, in: Alto Adige, 3.5.2006. (Übers. d. Verf.)
ISLAM/Christentum/Konflikt, in: Dolomiten, 12.11.2003.
Klare Grenzen, gute Nachbarschaft, in: Dolomiten, 30.11.2006.
Islamisierung Gefahrenherd, in: Dolomiten (Leserbrief ), 3.9.2002.
Islam und wir, in: Dolomiten (Leserbrief ), 18.12.2004.
historia.scribere 08 (2016)
Sarah Oberbichler
423
MigrantInnen haben ein Recht auf einen Ort des Gebetes
Mit dem Argumentationsmuster „MigrantInnen haben ein Recht auf einen Ort des
Gebetes“ wird davon ausgegangen, dass MigrantInnen islamischer Herkunft aufgrund
kodifizierten Rechts ihre Religion frei ausüben können. Und weil wir uns an dieses von
der Verfassung festgeschriebene Recht halten müssen, sind Entscheidungen wie die
der Bereitstellung eines Gebetsraumes zu akzeptieren.58 Das Argumentationsmuster
kommt mit 16 Prozent in der „Dolomiten“ und 23 Prozent in der „Alto Adige“ vor und
nimmt somit nach dem Gefahren-Topos den Platz des am zweithäufigsten verwendeten Topos ein, wenn es auch in der „Alto Adige“ deutlich häufiger vorkommt.
Das Argument bezog sich im Südtiroler Moschee-Konflikt an erster Stelle auf das in
der Verfassung verankerte Recht auf Religionsfreiheit, dessen Missachtung mit der Verletzung der Demokratie gleichzusetzen war. Auch wenn die Religionsfreiheit in den
Südtiroler Moschee-Konflikten von den Gegnern nicht in Frage gestellt wurde, kam
diese Art der Argumentation besonders bei Moschee/Gebetsraum-Befürwortern vor.
Diese kamen vielfach aus den Reihen der Bevölkerung (besonders in der „Dolomiten“)
und sprachen sich für eine Welt der Toleranz und Gleichberechtigung aus. Auch betrachteten sie das Schaffen von Strukturen für die Gläubigen als Integrationsbeitrag:
„In Südtirol wird Stimmung gemacht gegen ein moslemisches Gebetshaus.
Moslemischen Zuwanderern wird das Recht abgesprochen, ein auch symbolisch erkennbares Gotteshaus zu haben. […]Integration bedeutet, ausländische Mitbürger in ihren Grundrechten ernstzunehmen, einschließlich des
Rechts auf Religionsausübung.“ 59 (Dolomiten/Leserbrief )
Des Weiteren war es die Kirche, die einen wichtigen Beitrag zur Befürwortung von Gebetsräumen brachte, indem sie sich für Gleichberechtigung aussprach:
„Die Christen bekennen sich zur Religionsfreiheit. Folgerichtig können auch Vertreter
anderer Religionen ihre Orte des Zusammentreffens und der öffentlichen Religionsausübung haben.“ 60 (Alto Adige)
Und zuletzt sprach sich auch die Südtiroler Volkspartei (SVP) für die Bereitstellung eines
Gebetsortes aus, in besonderer Berufung auf die Menschenrechte und die Gleichheit
der Religionen.
Vorwurf der fehlenden Gegenseitigkeit
Bei dem Argumentationsmuster „Vorwurf der fehlenden Gegenseitigkeit“ beziehen
sich die SprecherInnen auf die ungerechte Behandlung von ChristInnen in muslimischen Ländern. Weil ChristInnen in muslimischen Ländern ihre Religion nicht frei aus-
58
59
60
Martin Wengeler, Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985) (Reihe Germanistische Linguistik 244), Tübingen 2003, S. 317.
Leserbrief, in: Dolomiten (Leserbrief ), 14.11.2000.
Compagni di viaggio senza rinunciare ai simboli, in: Alto Adige, 23.11.2000. (Übers. d. Verf.)
424
Südtiroler Moschee-Konflikte
historia.scribere 08 (2016)
üben könnten, sollte dies den MuslimInnen in christlichen Ländern ebenfalls versagt
bleiben:
„Die Muslime können aufgrund unserer Toleranz bei uns Moscheen bauen.
Wenn Christen in muslimischen Ländern ihren Glauben bekennen oder gar
missionieren, müssen sie mit Kerkerhaft oder sogar mit Todesstrafe rechnen.“61
(Dolomiten/Leserbrief )
Dem Argumentationsmuster liegt die Annahme zugrunde, dass Gleiches nur mit Gleichem vergolten werden könne und Toleranz gegenüber einer anderen Religion nur
dann gerechtfertigt sei, wenn diese auch tolerant gegenüber der eigenen sei. Während
das Argumentationsmuster in der „Dolomiten“ mit 16 Prozent an dritter Stelle steht,
nimmt es in der „Alto Adige“ mit 9 Prozent die fünfte Stelle und somit eine nebensächlichere Rolle ein. Das Gleichheitsgefühl bzw. der Wunsch nach Ausgeglichenheit war
somit auf deutscher Seite deutlich stärker vorhanden, als auf italienischer.
Auch fand der Topos der fehlenden Gegenseitigkeit insbesondere bei LeserbriefschreiberInnen ein breites Echo:
„Ihr wollt eine Wohnung, habt eine Menge an Vergünstigungen, die nicht einmal ein gebürtiger Bozner bekommt, ihr wollt eine Moschee, wollt eine KoranSchule, schlachtet die Tiere auf eine abscheuliche Art und Weise und wollt die
Entwicklung eurer Frauen verhindern. […] Jedoch ich, wenn ich in eines deiner
Dörfer komme, muss ich mich an eure Gesetze und Bräuche halten?“62 (Alto
Adige/Leserbrief )
Was muslimische Migrant/innen bei uns bekommen, das sollte zumindest den ChristInnen in muslimischen Ländern auch nicht verwehrt bleiben. Die Toleranz gegenüber
den MuslimInnen bei gleichzeitiger Intoleranz gegenüber ChristInnen wurde als eine
Provokation empfunden, besonders in der deutschsprachigen „Dolomiten“. Mit dem
Argument der Gegenseitigkeit wurde somit gegen die Errichtung einer Moschee bzw.
eines Gebetshauses plädiert und dieses kam dann zur Anwendung, wenn andere Argumentationen nicht mehr überzeugten.
Moscheen zerstören die (Kultur)Landschaft
„Südtirol sieht sich als christliches Land, „Für F-Generalsekretär Sigmar Stocker wäre
eine Moschee erstens ein ästhetisches Problem: „Mit den ganzen Schnörkeln, das passt
nicht in unsere Kulturlandschaft.“ 63 (Dolomiten)
Das Argumentationsmuster „Moscheen zerstören die (Kultur-)Landschaft“ ist in der
„Dolomiten“ in 8 Prozent der Artikel vertreten, in der „Alto Adige“ kommt es nicht vor.
Es handelt sich deshalb um ein Argument, das nur innerhalb der deutschsprachigen
Gruppe Relevanz besaß. Wie bereits im ersten Kapitel besprochen, konnte die Angst
61
62
63
Gegenseitige Vergebung, in: Dolomiten, 26.6.2006.
Musulmani, adesso state esagerando, in: Alto Adige (Leserbrief ), 19.11.2004. (Übers. d. Verf.)
Keine Minarette neben Kirchturm, in: Dolomiten, 14.10.2000.
historia.scribere 08 (2016)
Sarah Oberbichler
425
vor dem fremden Symbol und der „Markierung“ des Territoriums bei den SüdtirolerInnen bereits als historisch verankert gesehen werden. Die italienischsprachige Bevölkerung in Südtirol wurde hingegen vielfach selbst als „fremd“ in einer „deutschen Kulturund Baulandschaft“ wahrgenommen.64
Auf deutscher Seite wurde die Moschee als ein exotisches Bauwerk betrachtet, dessen
Architektur nicht mit der bereits vorhandenen traditionellen Südtiroler Architektur vereinbar schien. Diese veränderte Architektur warf darüber hinaus auch die Frage nach
der eigenen Identität auf und konnte diese sogar in Frage stellen:
„Wie sähe Südtirol aus, wenn auf einmal neben einem Kirchturm ein Minarett stünde?
Es wäre nicht mehr Südtirol, ein Teil unserer Identität wäre dahin.“ 65 (Dolomiten)
Eine Veränderung des Stadtbildes bedeute gleichzeitig den Verlust des Bekannten,
eine „Verfremdung“ des bereits dagewesenen.66 Sprecher, die dieses Argumentationsmuster verwendeten, plädierten daher für den Erhalt des „Status quo“ in Südtirol. Denn
Südtirol sah sich als Tourismusland mit einzigartiger Natur- und Kulturlandschaft, reich
an Geschichte und wiederkehrenden Symboliken, wie u. a. die Geschichte des Freiheitskämpfers Andreas Hofer. Folgende Leserbriefschreiberin griff diese Aspekte und
Symbole auf, um gegen den Bau einer Moschee zu plädieren:
„Ich stelle mir das nostalgische Meran mit Moschee vor, das geprägt aus Kaisers Zeiten grüßt, welch Werbeeffekt für Südtirol-Fans, Infarkt für Andreas Hofer, Kollaps für unsere reifere Generation und welch Fortschritt für unsere EU,
die sich am Atheismus orientiert und uns fehlleitet.“ 67 (Dolomiten/Leserbrief )
Christen müssen Selbstbewusstsein haben
„Ist das Christentum in Südtirol so schwach verwurzelt, dass ein kleines Gotteshaus
moslemischer Mitbürger und Mitbürgerinnen den christlichen Charakter des Landes
ins Wanken bringen kann?“ 68 (Dolomiten/Leserbrief )
Mit dem Topos des Selbstbewusstseins wurde im Moscheen-Konflikt für ein stärkeres
Selbstbewusstsein der Anhänger des Christentums plädiert, um den neuen Herausforderungen entgegentreten zu können. Das Argumentationsmuster kommt dabei ausschließlich in der „Dolomiten“ und dabei in 7 Prozent der Artikel vor. Sprecher waren
insbesondere kirchliche AkteurInnen, aber auch LeserbriefschreiberInnen. Der Topos
wurde dabei befürwortend als auch ablehnend hinsichtlich des Baus einer Moschee
bzw. eines Gebetsraumes eingesetzt. Beiden Seiten war jedoch der Gedanke gemeinsam, dass das fehlende Selbstbewusstsein der ChristInnen in Südtirol überwunden
werden müsse, wenn eine Lösung zum Thema Moscheebau gefunden werden sollte.
64
65
66
67
68
Lucio Guideceandrea/Aldo Mazza, Stare insieme é un arte. Vivere in Alto Adige/Südtirol, Meran 2012, S. 43 ff.;
Günther Pallaver, Vom ethnischen zum territorialen cleavage. in: Günther Pallaver (Hrsg.), Politika. 10. Jahrbuch für
Politik, Bozen 2010, S. 377–405, hier S. 348.
Islam, in: Dolomiten (Leserbrief ), 3.12.2002.
Schmitt, Die Mehrdimensionalität von Moscheebaukonflikten, S. 7.
Meran Gebetsraum, in: Dolomiten (Leserbrief ), 12.5.2006.
Leserbrief, in: Dolomiten (Leserbrief ), 14.11.2000.
426
Südtiroler Moschee-Konflikte
historia.scribere 08 (2016)
BefürworterInnen sahen in einem stärkeren Selbstbewusstsein die Möglichkeit der Toleranz und Akzeptanz. Selbstbewusstsein diene der Relativierung von Furcht gegenüber fremden Religionen und ihren Symbolen. Dieser Meinung war auch Bischof Wilhelm Egger, der in einem stärkeren Selbstbewusstsein der Christen auch einen Dialog
mit MuslimInnenfür möglich hielt.
„Christen müssten ihr eigenes Daheim selbst besser kennen lernen und pflegen, um dann selbstbewusst mit den neuen Nachbarn zurecht zu kommen:
Das ist eine der Regeln für einen gelingenden Dialog mit dem Islam. Als Christen müssen wir wissen, wer wir eigentlich sind. Erst diese Identität fördert auch
den Dialog.“ (Dolomiten)69
Ablehnung fand sich auf Seiten der LeserbriefschreiberInnen wieder. Diese plädierten
mit dem Argumentationsmuster des Selbstbewusstseins für ein starkes Christentum,
damit dem Islam und dessen Ausbreitung entgegengetreten werden könne:
„Unser Volk muss seinen Glauben wieder finden. Ein in Glaube und Heimatbewusstsein
gestärktes Volk kann der Islamisierung standhalten.“ (Dolomiten/Leserbrief )70
Selbstbewusstsein auf ablehnender Seite verstand sich dabei nicht als Mittel für Akzeptanz, sondern als Rüstung gegen das Vordringen von Bürger/innen muslimischen
Glaubens.
Das alleinige Vorkommen des Argumentes auf deutscher Seite ist schwer erklärbar.
Sicherlich spielte ein starkes Selbstbewusstsein auf deutscher Seite seit der Anschließung an Italien nach dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle, vor allem dann, wenn
eine neue „Kultur“ in Südtirol immer sichtbarer wurde. Die historisch gewachsene Sorge um die kulturelle Identität und das daraus resultierte Selbstbewusstsein gegenüber
„Fremden“ ist auf deutscher Seite auch beim Thema „Moschee“ ein wichtiger Faktor
geblieben.71
Resümee
Insgesamt kann bei Moschee-Konflikten von einem „Drama in der diskursiven Arena
der Öffentlichkeit“72 gesprochen werden: Der „Chor der Mehrheit“ klagt das Fremde,
das Andere an, durchbrochen von Zurufen der Verteidigung.73 Diese metaphorische
Darstellung von Ernst Fürlinger über die Moscheebaukonflikte in Österreich könnte
auch die Südtiroler Situation nicht passender beschreiben. Der Südtiroler MoscheeKonflikt zeichnete sich aber im Gegensatz zu den Konflikten in Österreich und weiteren
europäischen Ländern dadurch aus, dass er rein von Spekulationen, Vermutungen und
übertriebenen Zukunftsvisionen lebte. Es gab in Südtirol nie eine ernsthafte Diskussi69
70
71
72
73
Klare Grenzen, gute Nachbarschaft, in: Dolomiten, 30.11.206.
Islamisierung, in: Dolomiten (Leserbrief ), 21.7.2007.
Julia Oberhofer, Regionalismus als Herausforderung – gesamtstaatliche Parteien in Südtirol und Venetien, phil.
Diss. Erlangen 2011, S. 51 ff.
Ernst Fürlinger, Moscheebaukonflikte in Österreich. Nationale Politik des religiösen Raums im globalen Zeitalter,
Göttingen 2013, S. 443.
Ebd.
historia.scribere 08 (2016)
Sarah Oberbichler
427
onsgrundlage um den Bau einer repräsentativen Moschee, und es gab auch diesbezüglich nie ein Ansuchen seitens der muslimischen Einwanderungsgesellschaft. Was es
aber gab, war der Wunsch nach einem Ort des Gebetes, der der islamischen Gemeinschaft in Südtirol ein wöchentliches Zusammentreffen ermöglichen sollte.
Die Wahrnehmung des Moschee-Konfliktes in den Tageszeitungen „Dolomiten“ und
„Alto Adige“ war beherrscht von einer Dynamik der Ausgrenzung und Ablehnung. Der
Gefahren-Topos, in beiden Zeitungen das dominanteste Argumentationsmuster, diente dabei der Legitimierung der Ausschließung einer Gesellschaftsgruppe, die ihr Recht
auf Religionsfreiheit geltend machen wollte. Die Ablehnung mittels Panikmache zeigte
den Drang nach Dominanz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber der Minderheit. Die
Angst vor Terror und der Islamisierung des Westens bestimmten dabei den GefahrenDiskurs beider Tageszeitungen.
Gleichzeitig machte sich in der medialen Öffentlichkeit auch eine Öffnung gegenüber
dem Fremden sichtbar. Die Topoi „Moschee als Notwendigkeit“ und „MuslimInnen
haben ein Recht auf eine Moschee“, beide ebenfalls dominante Muster, dienten der
Zustimmung und Annahme eines Phänomens, das aufgrund geltenden Rechts und
einer größer werdenden muslimischen Gemeinschaft nicht aufzuhalten schien. Nicht
Dominanz und Angst bestimmten hier die Rhetorik, sondern Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Die Stimmung in Südtirol gegenüber dem Bau von Moscheen bzw. Gebetsräumen war also neben Ablehnung und Distanz auch von einer nicht zu vernachlässigen befürwortenden Seite beherrscht, auf italienischer Seite dabei deutlich stärker
als auf deutscher Seite.
Unterschiede in der Rhetorik beider Tageszeitungen zeigen sich ebenfalls im Vorkommen individueller Topoi für die jeweilige Sprachgruppe. So können die Topoi „Christen
müssen selbstbewusst sein“ und „Moscheen zerstören die (Kultur-)Landschaft“ als spezifisch für die deutsche Sprachgruppe gesehen werden, da sie nur in der „Dolomiten“
vorkommen. Beide Topoi gehen dabei auf eine stark geprägte Regionalkultur und Identität der deutschsprachigen Bevölkerung zurück, die auf ein traditionell-konservatives
Repertoire an (christlichen) Werten zurückgreifen kann. Die ItalienerInnen in Südtirol
konnten aufgrund unterschiedlicher Herkunft und Binnenmigrationsgeschichten jedoch auf keine gemeinsame Geschichte und Kultur zurückblicken, was sich auch gerade im Nichtverwenden der genannten Argumentationsmuster zeigt.74
Auch der Topos „Vorwurf der fehlenden Gegenseitigkeit“ war auf deutscher Seite wesentlich stärker vertreten. Toleranz wurde dabei als gegenseitiger Verpflichtung betrachtet, Intoleranz jedoch genauso. Auch hier traten wiederum historisch bedingte
Ängste der deutschen Bevölkerung hervor, die gegen Ungerechtigkeiten von außen
gerichtet waren.75
Für die Zukunft positiv zu beurteilen sind die Stimmen der Toleranz und der Gerechtigkeit, sowohl auf italienischer als auch auf deutscher Seite. Auch wenn noch einiges aus74
75
Oberhofer, Regionalismus als Herausforderung, S. 51–53.
Ebd.
428
Südtiroler Moschee-Konflikte
historia.scribere 08 (2016)
steht, um ein breites Umdenken im Hinblick auf die islamische Gemeinschaft in Gang
zu bringen, sind positive Stimmen ein erster Schritt. Von einer notwendigen Versachlichung sind beide Sprachgruppen noch weit entfernt. Denn insbesondere in einer Zeit,
in der islamistischer Terrorismus die größte Herausforderung zu sein scheint, ist ein
sachlicher Dialog kaum möglich. Erst wenn es selbstverständlich und normal wird, dass
muslimische Gläubige in Europa und in Südtirol leben und ihre Religion praktizieren,
kann über weitere Schritte nachgedacht werden. Die Medien können einen wichtigen
Beitrag dazu leisten.
Quellen
Südtiroler Landtag, Wortprotokoll der 101. Sitzung vom 6.3.2001, abgerufen in der
Datenbank des Südtiroler Landtag, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/
akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 13.10.2015.
Südtiroler Landtag, Antwortschreiben auf die Anfrage „Moschee für Südtirol?“, abgerufen in der Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/
datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 23.10.2015.
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 257/00 vom 3.10.2000, eingebracht vom Abgeordneten Seppi, betreffend Südtirol-Einwanderer, die von den lokalen öffentlichen
Institutionen den Bau von Moscheen verlangen, abgerufen in der Datenbank des
Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken/akte/definition
_suche_akt.asp], eingesehen 23.10.2015.
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 281/00 vom 22.11.2000, eingebracht vom
Abgeordneten Leitner, betreffend „Keine Moschee in Südtirol mit Steuergeldern“ abgerufen in der Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/
datenbanken/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 23.10.2015.
Südtiroler Landtag, Beschlussantrag Nr. 50/09 vom 03.02.2009, eingebracht vom Abgeordneten Pius Leitner, betreffend „NEIN zur Moschee in Südtirol“, abgerufen in der
Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbanken
/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 31.10.2015.
Südtiroler Landtag, Antwortschreiben auf die Anfrage „Moschea a Merano“, abgerufen
in der Datenbank des Südtiroler Landtags, [http://www2.landtagbz.org/de/datenbank
en/akte/definition_suche_akt.asp], eingesehen 27.10.2015.
Südtiroler Landtag, Antwortschreiben auf die Anfrage „Cellule eversive islamiche“ an
Elena Artioli (Lega Nord), abgerufen in der Datenbank des Südtiroler Landtags, in:
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Mag.a Sarah Oberbichler studierte Geschichte und Germanistik an der Universität
Innsbruck und an der University of Gothenburg (Schweden) und ist Dissertantin und
wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Projekt Arbeitsmigration in Südtirol“ (Autonome
Provinz Bozen-Südtirol) am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.
sarah.oberbichler@uibk.ac.at
Zitation dieses Beitrages
Sarah Oberbichler, Südtiroler Moschee-Konflikte seit den 1990er-Jahren. Argumentationslinien in den Tageszeitungen „Dolomiten“ und „Alto Adige“, in: historia.scribere 8
(2016), S. 411–432, [http://historia.scribere.at], 2015–2016, eingesehen 14.6.2016 (=aktuelles Datum).
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