Interview with Ansgar Martins, May 2012
Ein Interview mit Peter Staudenmaier
http://waldorfblog.wordpress.com/2012/05/07/staudenmaier/
Ansgar Martins: Herr Staudenmaier, Sie haben 2010 eine Dissertation über die Verwicklungen von Anthroposophie und Faschismus vorgelegt und bereits seit 2005 in Fachzeitschriften zum Thema publiziert. Was interessiert Sie an der Anthroposophie allgemein? Und was war Ihr konkreter Anlass, sich mit ihr zu befassen?
Peter Staudenmaier: Das hat eine lange Geschichte. 1995 erschien ein Aufsatz von mir über den sogenannten „grünen Flügel“ der NSDAP und die brisante Frage der Ökologie und des Umweltschutzes als Teilaspekte nationalsozialistischen Denkens und Handelns. Da die biologisch-dynamische Landwirtschaft eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Zusammenhang spielte, habe ich auch dieses Thema gestreift. 1999 wurde ich von einer norwegischen Zeitschrift beauftragt, einen Aufsatz speziell zum Thema ‚Anthroposophie und Ökofaschismus’ zu schreiben. Dieser Text erschien 2000 und rief anthroposophischerseits lebhaften Widerspruch hervor, was mich zur weiteren Forschung veranlasste. Daraus ergab sich allmählich ein immer grösser angelegtes Projekt.
Martins: Steiner war ein Kind des Habsburger Reichs, zeitweiliger Fan des Sozialdarwinisten Ernst Haeckel und formulierte seine Rassentheorien um 1900 nach seiner Konversion zur theosophischen Esoterik Helena Blavatskys. Wie sah das Rassebild aus, das er daraus kompilierte?
Staudenmaier: Steiners Rassenbegriff war zugleich im populärwissenschaftlichen Umfeld der Jahrhundertwende verwurzelt und durch unverkennbar theosophische Züge gekennzeichnet, welche im deutschsprachigen Europa jener Zeit teilweise innovativ bzw. befremdend wirkten. Ausgehend von Blavatskys entwicklungstheoretischem Ansatz baute Steiner eine Evolutionslehre der Völker- und Rassengruppen auf, wonach die menschliche Seele durch aufeinanderfolgende Verkörperungen in immer „höheren“ Rassen geistig wie leiblich fortschreitet. Diese Stufenleiter der Rassen steht im Mittelpunkt von Steiners esoterischem Verständnis der Gesamtentwicklung der Menschheit, vom Verhaftetsein in der Materie hin zur geistigen Vervollkommnung.
Martins: Diese anthroposophische Rassenlehre entstand in einer Zeit, in der Eugenik und politischer Rassismus populär wie akademisch weit verbreitet waren. Wie radikal waren Steiners Theoreme vor diesem Hintergrund, welche Übereinstimmungen und Differenzen gibt es?
Staudenmaier: Radikal war Steiners Rassenlehre in dem Sinne nicht, eher im Gegenteil, vor allem im Vergleich etwa zur Ariosophie oder Evola usw. Steiners Ideen lagen vielmehr im Mainstream der damaligen Esoterik. Seine Schüler entwickelten diese Ideen dann weiter, zum Teil in Auseinandersetzung mit völkischen und nationalsozialistischen Rassentheoretikern. Die Übereinstimmungen und Differenzen lassen sich schwer zusammenfassen; da würde ich auf die einschlägigen Arbeiten von Helmut Zander, Jana Husmann und Georg Schmid verweisen.
Martins: Es gab in der anthroposophischen Szene einige jüdische Mitglieder, teils (Hans Büchenbacher) auch in wichtigen Positionen, bei Steiner und vielen prominenten Anthroposophen findet sich allerdings antijüdisches Ressentiment zur Genüge. Kam es da nicht zu Spannungen?
Staudenmaier: Ja, gewiss kam es zu Spannungen, welche sich teilweise in der anthroposophischen Literatur wiedergespiegelt haben, nicht zuletzt in Steiners eigenen Werken. Einerseits zeugt das von der Breite der anthroposophischen Bewegung, wo ein Hugo Bergmann und ein Karl Heise beide eine geistige Heimat finden konnten. Andererseits bereitete es den jüdischen Mitgliedern Schwierigkeiten, wobei diese sich selbst meistens eben nicht als Juden verstanden (Büchenbacher zum Beispiel, dessen Vater jüdischer Herkunft war, wurde katholisch erzogen). So schrieb etwa Karl Heyer 1931 an Oskar Franz Wienert: „Ihre Besorgnis wegen des Hervortretens des israelitischen Elements – das an sich ja zahlenmässig bei uns schwach vertreten ist – teile ich seit langem sehr.“ (Brief vom 16. 12. 1931) Die Lage war nach 1933 natürlich verschärft; Ernst Stegemann z.B. wollte im August 1935 alle „nichtarische“ Mitglieder aus den Mitgliederlisten der Anthroposophischen Gesellschaft löschen (Ernst Stegemann an Alfred Reebstein, 28. 8. 1935).
Martins: Anthroposophen kontern eine Kritik dieser Rassismen gern, indem sie Steiner als Verfechter einer radikalen Freiheitsethik und Gegner völkischen Gedankenguts profilieren. Es gibt ja auch tatsächlich entsprechende Zitate. Wie fügen sich diese widersprüchlichen Positionen in Steiners Geschichts- und Menschenbild ein und welche Gewichtung haben sie im Vergleich zu den manifesten Rassismen?
Staudenmaier: Als Gegenargument sind solche Gedankengänge historisch gesehen leider nicht sehr einleuchtend; sie scheinen von der irrtümlichen Annahme auszugehen, Verfechter einer Freiheitsethik und Gegner völkischen Gedankenguts müssten irgendwie frei sein von eigenen rassistischen oder antisemitischen Einstellungen. Das ist in der Geschichte keineswegs immer der Fall. Die gegenläufigen Positionen in Steiners vielschichtigen Theorien lassen sich m.E. nicht eindeutig in der einen oder anderen Richtung festlegen, und eine angemessene Interpretation muss beide Momente miteinbeziehen. Steiner hielt z.B. die verschiedenen Völker und Rassen für „Entwickelungsstufen zur reinen Menschheit hin“ und beschrieb die „Entwickelung des Menschen durch die Wiederverkörperungen in immer höher stehenden Volks- und Rassenformen“ als einen „Befreiungsprozeß.“ (GA 10, 210). So wird eine Zukunftsvision jenseits der Rassenunterschiede mit einem evolutionären Rassismus verknüpft, eine Verbindung, die im frühen 20. Jahrhundert nicht selten war.
Martins: Diese Kontinuität ist mir klar und ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Trotzdem: Ich finde da doch einiges schlicht widersprüchlich. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen demonstrieren: Bis ca 1909 setzte Steiner die imaginierten ‚Rassen‘ konsequent mit ‚Lehrstufen‘ der Evolution gleich, verschiedene ‚Rassen‘ seien Produkte verschiedener Entwicklungsstufen. Reinkarnation bedeutete hier den Aufstieg des geistigen ‚Ich‘ innerhalb der rassistischen Hierarchie (GA 54, 134). 1910 dagegen erklärte er, die ‚Rassen‘ seien nicht nacheinander, sondern gleichzeitig und als ‚Vereinseitigungen‘ entstanden, die Reinkarnation führe horizontal durch dieselben hindurch, sodass wir „einmal hier, einmal dort inkarniert werden“ (GA 121, 86) und „keine eigentliche Benachteiligung“ zwischen den ‚Rassen‘ bestehe (natürlich hielt er an “aussterbenden” Indianern und mit “Merkmalen der Kindheit” behafteten Afrikanern ungebrochn fest). Ein anderer Fall: 1907 bezog sich Steiner, scheinbar religiös verzückt, auf Christus als Repräsentanten des ‚Ich‘ und affirmierte mit antijüdischer Konnotation die „Blutmischung“, weil sie das Ende biologischer Rassen und den Übergang von der „Blutsliebe“ zum universalen Liebesgebot Christi bedeutete (GA 97, 63). 1923 aber konnte er sich, als schwarze Kolonialsoldaten im Ruhrgebiet stationiert waren, nichts Schlimmeres vorstellen als “Negerromane” und die Entstehung von sog. „Mulattenkindern“ (GA 348, 189). Wie würden Sie derartige Umbrüche deuten?
Staudenmaier: Als die Ungereimtheiten und Widersprüche eines strapazierten Redners, wie sie eigentilch zu erwarten sind von einem esoterischen Lehrer, der im Laufe der Jahre tausende von Vorträgen zu den verschiedensten Themen gehalten hat. Aber auch als gescheiterter Versuch, die schwankende Botschaft der Theosophie bzw. Anthroposophie im Hinblick auf die Rassenthematik einem wechselnden Publikum unter unterschiedlichen Verhältnissen zu vermitteln. Dass es Steiner schliesslich nicht gelang, diese gegensätzlichen Thesen in Einklang zu bringen, liegt nicht nur an der Unbeständigkeit der Esoterik; der Begriff der Rasse in jeglicher Form ist immer höchst widersprüchlich gewesen.
Martins: Auch in der wissenschaftlichen Forschungsliteratur wurde die theosophische Rassenlehre oft marginalisiert und das „internationale“ Selbstverständnis von Theosophie und Anthroposophie betont. Konkret etwa bei George L. Mosse („Theosophie konnte in der Tat auch einen neuen Humanismus tragen. Rudolf Steiners 1913 in Berlin gegründete Anthroposophische Gesellschaft verband Spiritualismus mit Freiheit und Universalismus“), Ulrich Linse („Die Verwendung der Rassen-Kategorie sollte“ nicht „als Beweis für eine rassistische Ausrichtung dienen“) oder James Santucci („Race as presented in The Secret Doctrine is not racist in intent“). Gerade Mosse und Linse sind Experten auf dem Gebiet, wie kommt es zu dieser Unterschätzung der rassistischen Parallelen?
Staudenmaier: Ich würde da unterscheiden zwischen Apologetik (z.B. Santucci) und einer kritischen Analyse, die in dem einen oder anderen Fall möglicherweise zu kurz greift (z.B. Mosse oder Linse). Mit der Anthroposophie hat sich Mosse nie eingehend beschäftigt, und Linse ist berechtigterweise bemüht, dem alten Bild der Esoterik entgegenzutreten. Über ein derart komplexes Thema lässt sich sowieso streiten, und es wäre verfehlt, von allen Wissenschaftlern die gleiche Interpretation zu erwarten, auch wenn meine Analysen oder Zanders Analysen z.B. im allgemeinen mit denen von Mosse oder Linse übereinstimmen.
Martins: Wie gingen Anthroposophen mit dem rassistischen Gedankengut Steiners nach der der ‚Machtergreifung‘ 1933 um? Welche Positionen lassen sich ausmachen?
Staudenmaier: Unter deutschen Anthroposophen war es weniger die Rassenlehre Steiners als der Deutschtumsbegriff, der sich als Anhaltspunkt anbot. Aber auch rassenthematische Überlegungen wurden weitergeführt. Ernst Uehli und Sigismund von Gleich beispielsweise verarbeiteten den Ariermythos, während Richard Karutz eine umfassende anthroposophische Rassensystematik vorlegte. Die Positionen reichten bis hin zur ausdrücklichen Zustimmung zu nationalsozialistischen Grundsätzen, so wie bei Karutz oder Ernst von Hippel . So schrieb Karutz z.B. über Hitler:
„Er macht die höhere Entwicklung der Völker von deren ungleichen Zusammensetzung aus einer organisatorisch befähigten und einer zum Herrschen nicht befähigten Rasse abhängig, er empfindet diese Schichtung als eine uralte, bis in die Rassenbildung zurückgehende […] Das setzt einen geistigen Entstehungsgrund für die Rassen voraus, der Nationalsozialismus ist, vielen unbewußt, tatsächlich eine geistige Bewegung, Rassenbildung und Rassenschichtung in Europa gehen tatsächlich bis in jene atlantischen Zeiten zurück, von denen Rudolf Steiner spricht.“ (Richard Karutz, Vorlesungen über moralische Völkerkunde, 1934, S. 5)
Martins: Wie spezifisch anthroposophisch war diese Reaktion? Die Anthroposophie war zu Beginn der Naziära eine von vielen theosophisch-esoterischen Splittergruppen mit wenigen tausend Anhängern. Gab es dort Parallelen oder gravierende Unterschiede?
Staudenmaier: Diese wenigen tausend Anhänger waren im Vergleich zu anderen esoterischen Gruppierungen eine beträchtliche Zahl. Parallelen zu theosophischen Strömungen gab es durchaus; sowohl die „Theosophische Verbrüderung“ Hermann Rudolphs als auch die Leipziger „Theosophische Gesellschaft“ Hugo Vollraths versuchten beharrlich, ihre eigenen Rassenvorstellungen als die ideale geistige Ergänzung des Nationalsozialismus aufzuführen, übrigens ohne Erfolg. Es ging ja aber nicht nur um die Rassentheorie; viele der Begegnungen – ob freundliche oder feindliche – zwischen Anthroposophen und Nationalsozialisten hatten mit diesem Thema relativ wenig zu tun. Die Gemeinsamkeiten und Konflikte wurden vor einem breiten ideologischen Feld ausgetragen, wobei die Topoi ‚Rasse’ und ‚Volk’ keinesfalls immer im Vordergrund standen, sondern z.B. Natur oder Leben oder Gemeinschaft oder Schicksal oder Erlösung oder geistige Wiedergeburt oder kulturelle Erneuerung usw. Wenn man diesen verwickelten Hintergrund in Betracht zieht, lassen sich die berüchtigten Skandalfälle (Otto Ohlendorf, Sigmund Rascher, Franz Lippert, Friedrich Benesch, Werner Georg Haverbeck, Andreas Molau, usw.) einigermaßen historisch kontextualisieren.
Martins: Umgekehrt – wie verhielten sich nationalsozialistische Organisationen zur Anthroposophie? Und gab es Resonanzen von zentralen Figuren wie Hitler, Himmler, Heydrich oder Goebbels?
Staudenmaier: Die Reaktionen aus dem nationalsozialistischen Lager reichten von ausgesprochener Sympathie bis zur unerbittlichen und zwanghaften Gegnerschaft. Dabei waren die anthroposophischen Belange nicht in erster Linie ein Anliegen der zentralen Figuren, mit Ausnahme von Heß, sondern eher der mittleren Ebenen des weitverzweigten und zerstrittenen NS-Apparates. Während der SD die Anthroposophie als „weltanschaulichen Gegner“ einstufte und entsprechend bekämpfte, erhielten Waldorfbewegung, biologisch-dynamische Landwirtschaft, anthroposophische Medizin, Christengemeinschaft, und andere anthroposophischen Projekte wiederholt Schutz und Förderung von nationalsozialistischer Seite. In einem Brief an Erziehungsminister Rust vom 9. 5. 1934, zum Beispiel, lobte der Stab des Stellvertreters des Führers die Waldorfschulen als „ein Instrument von nicht zu unterschätzender pädagogischer Bedeutung“; fünf Tage später resümierte ein Mitarbeiter,
„die in den Waldorf-Schulen aus deutschem Wesen erwachsene, planmäßig gegen materialistisches Denken und blossen Intellektualismus gerichtete Erziehungsart“ sei bestens geeignet, „bei der Neugestaltung des Erziehungswesens für die Sicherung des geistigen und seelischen Gehalts im Nationalsozialismus“ mitzuhelfen (Ernst Schulte-Strathaus, „Bericht an den Stellvertreter des Führers über die Waldorf-Schulen“ vom 14 .5. 1934).
Martins: Gerade Steiners „Deutschtums“-Bekenntnis stellt offenbar eine ideologische Parallele zum Nazidiskurs dar. Völkische Gegner der Anthroposophie (etwa Dietrich Eckart) echauffierten sich aber mitunter gerade darüber. Und auch die (teilweise führenden) Anthroposophen, die den Nationalsozialismus dezidiert ablehnten oder (in wenigen Fällen) zum Widerstand Kontakt suchten, sahen sich in aller Regel nicht als antinational: Sie verstanden ihr ‚idealistisches‘ Deutschlandbild als Gegenpol zu dem der Nazis. Wie lässt sich diese Bandbreite und Konkurrenz von Nationalismen verstehen?
Staudenmaier: In geschichtlicher Perspektive sind solche konkurrierenden und widersprüchlichen Spielarten des Nationalismus vollkommen normal, selbst in nationalsozialistischen Zusammenhängen. (Das Gleiche gilt übrigens für unterschiedliche Varianten der Rassentheorie, des Antisemitismus, usw.) Ein „idealistisches Deutschlandbild“ stellte für manche Anthroposophen in der Tat einen Gegenpol zum Nationalsozialismus dar; sie hielten an der Überzeugung fest, das gehobene und geistige deutsche Wesen im Gegensatz zur Hitlerschen Verzerrung zu vertreten. Gleichzeitig aber bot gerade dieses idealistische Deutschlandbild wesentliche Ansatzpünkte für weltanschauliche Annäherung. So schrieb ein führender NS-Publizist 1935 in einem Buch über den zeitweiligen Anthroposophen und Vertreter eines „idealistischen Antisemitismus“ Friedrich Lienhard:
„Der Nationalsozialismus ist die heutige Form des deutschen Idealismus.“ (Hellmuth Langenbucher, Friedrich Lienhard und sein Anteil am Kampf um die deutsche Erneuerung, Hamburg 1935, S. 151)
Martins: Ein Parallelbeispiel aus dem faschistischen Italien, wo Anthroposophen sich weit stärker in der faschistischen Politik engagierten. Auch hier gab es Verwicklungen, die in der Außenperspektive überraschen: Der Anthroposoph Colonna di Cesaro beispielsweise war politisch im Faschismus aktiv und gehörte zu Julius Evolas Ur-Kreis, wo er den üblen Rassisten Massimo Scaligero für Steiner begeisterte. Noch in der faschistischen Ära artikulierte er aber regimekritische Überzeugungen und soll sogar die ‚verwirrte‘ Violet Gibson bei der Planung ihres Mussolini-Attentats bestärkt haben. Spielte die Anthroposophie für ihn bei alledem eine Rolle?
Staudenmaier: Aufgrund der vorhandenen Quellen ist das schwer festzustellen. Colonna war ein kulturell und politisch vielseitiger Mensch, dessen Verhalten gegenüber dem Faschismus auffallend inkonsequent war. Bei einem Anthroposophen ist das nicht unbedingt überraschend, angesichts der vorwiegend „unpolitischen“ Haltung unter Steiners Schülern, und auch deutsche Anthroposophen wie Emil Leinhas oder Johannes Hemleben haben Mussolini und den Faschismus begrüßt. Die Gerüchte über eine mögliche Beteiligung Colonnas an Gibsons Attentatsversuch wurden schon damals sowohl von der faschistischen Polizei als auch von den britischen Behörden zurückgewiesen. Ins Gesamtbild der italienischen Anthroposophie in der Zeit des Faschismus passt eine zwielichtige Figur wie Colonna eigentlich recht gut ein. Im Rückblick wird er verständlicherweise überschattet von einem Scaligero, mit seinem eifrigen Engagement für den faschistischen Rassismus und Antisemitismus, oder einem Ettore Martinoli, Mitbegründer und Sekretär der italienischen Anthroposophischen Gesellschaft, der als hochrangiger Funktionär der faschistischen Rassenbürokratie an der Judenverfolgung aktiv teilnahm.
Martins: All das sind für die ‘anthroposophische Bewegung’ höchst unbequeme Verbindungen. Wie haben Anthroposophen auf Ihre Forschungsergebnisse reagiert? Welche Kritik und welche positive Anknüpfung gab es?
Staudenmaier: Das Spektrum der anthroposophischen Reaktionen auf meine Forschungen ist so breit und bunt wie bei meinem deutschen Kollegen Helmut Zander, von ernsthaften Auseinandersetzungen bis hin zu dunklen Andeutungen einer anti-anthroposophischen Verschwörung. Vor allem im englischsprachigen Raum fällt es vielen Anthroposophen schwer, sich dem Thema zu stellen, sei es Steiners Rassenlehren oder seine Ausführungen zum wahren Deutschtum, sei es die Geschichte der Anthroposophie im nationalsozialistischen Deutschland oder die Frühgeschichte der Waldorferziehung oder die Verbindungen der biologisch-dynamischen Bewegung zur SS. Dies liegt teilweise in der tradierten esoterischen Abneigung gegen akademisch-wissenschaftliche Erkenntnis begründet. Steiner selbst wetterte gegen die, wie er sie nannte, „materialistische Geschichtswissenschaft“ und hielt die „professorale Geschichtsbetrachtung“ für „unsinnig“ und der „Welt der Maja“ verhaftet, ja „die äußere Geschichte und ihre Kenntnis ist geradezu eine Störung für den Seher.“ (GA 112, 30). Noch heute erschweren solche Vorbehalte den anthroposophischen Umgang mit der eigenen Geschichte. Trotzdem gibt es Anzeichen einer anderen Einstellung zu den bisher unterbelichteten Seiten dieser Vergangenheit, und auch wenn ich nicht in erster Linie für eine esoterische Leserschaft schreibe, würde ich mich freuen, wenn meine Recherchen der inneranthroposophischen Forschung und Diskussion einen Stoß gibt.
Martins: In den letzten Jahren verstärkt haben sich auch einige AnthroposophInnen für eine kritische Historisierung des Steinerschen Rassismus ausgesprochen. Viele Versuche waren reine Apologie, andere blieben zaghaft oder inkonsequent, manche zeugen von ehrlicher Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Einige Kritiker gehen dagegen davon aus, dass die Anthroposophie im Kern und unrevidierbar rassistisch sei. Wie schätzen Sie die Chancen für eine ‚ent-rassisierte‘ Anthroposophie ein?
Staudenmaier: Keine Weltanschauung ist unrevidierbar. Auch keine Geheimwissenschaft oder Geisteswissenschaft oder Erkenntnisweg oder Initiationsweisheit. Wie alle Formen menschlichen Wissens und Glaubens sind sie der historischen Entwicklung unterworfen, so sehr sich das esoterische Selbstverständnis dagegen sträuben mag. Wie die Anthroposophie zu ändern sei, müssen allerdings Anthroposophen selber entscheiden; da habe ich als Nicht-Anthroposoph an sich kein Mitspracherecht. Aus historischer Sicht gibt es durchaus Grund zum Optimismus: die Anthroposophie ist erst vor etwa einem Jahrhundert entstanden, ist also noch eine vergleichsweise junge Erscheinung, und die Religionsgeschichte wie auch die Wissenschaftsgeschichte zeigen, dass überholte Rassenvorstellungen nicht beibehalten werden müssen und nicht zwingend sind. Das Hinauswachsen über solche Entwürfe bedeutet nicht notwendigerweise die Preisgabe der anthroposophischen Identität. Eine grundsätzliche Bereitwilligkeit zur Aufarbeitung der anthroposophischen Vergangenheit könnte in dieser Hinsicht zu einer wesentlichen Erneuerung beitragen.
Martins: Danke für Ihre präzisen Stellungnahmen! Ich freue mich, von Ihren weiteren Forschungen zu hören.