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Der Schwarzenbacheffekt Wenn Abstimmungen Menschen traumatisieren und politisieren Herausgegeben von Francesca Falk Mit Fotografien von Michael Züger und Beiträgen von Francesca Falk, Cenk Akdoganbulut, Melinda Nadj Abonji, Jelica Popović und Fatima Moumouni Unter Mitarbeit von Studierenden der Universität Bern Limmat Verlag Zürich 7 Einleitung Francesca Falk 21 Überfremdungs diskurse und migrantischer Widerstand in der Nachkriegsschweiz Cenk Akdoganbulut 35 Zeitstrahl 37 Rosanna Ambrosi 44 Gemma Capone 52 Marina Frigerio 59 Alex Granato 66 Guglielmo Grossi 75 Paola Monti 81 Giuseppe Reo 89 Enrique Ros 96 Ödön Szabo 103 «Überfremd» Melinda Nadj Abonji 112 Ein Brief an Melinda Jelica Popović 118 Nachwort: Diese Schweiz ist mir fremd – Beobachtungen einer privilegierten Migrantin Fatima Moumouni Einleitung Francesca Falk 1970 wurde die Schwarzenbach-Initiative von den stimmberechtigten Männern in der Schweiz knapp verworfen. Rund ein Drittel der «ausländischen Arbeitskräfte» in der Schweiz – 300 000 Menschen – war damals von der Ausweisung bedroht, weil sie keinen Schweizer Pass besassen.1 Wie haben diese Menschen den Abstimmungskampf und die Debatten zur sogenannten «Überfremdung» erlebt? Und welche Spuren haben diese Erfahrungen in ihrem Leben hinterlassen?2 In neun Porträts – basierend auf Oral History Interviews und verfasst von Geschichtsstudierenden der Universität Bern – wird an ein «Leben im Provisorium» erinnert. Die Porträtierten berichten von ihrem damaligen Alltag. Sie sprechen über Arbeitsbedingungen, prekäre Wohnverhältnisse, zurückgelassene Kinder oder Prügeleien in der Schule. Erzählt wird von Diskriminierung und Ausgrenzung, aber auch von Freundschaft, Engagement und Widerstand. «Überfremdungskampagnen» führen dazu, dass den Betroffenen eine Gesichts- und Stimmlosigkeit auferlegt wird: Es wird sehr viel über sie geschrieben und geredet, ihre Stimmen werden hingegen selten hörbar. Gleichzeitig werden die so Marginalisierten als eine diffuse Masse wahrgenommen, «die aufgrund dieser Ent-Individualisierung und der daraus folgenden Generalisierung wie ein bedrohliches unfassbares Grossindividuum erscheint».3 Umso wichtiger war es uns, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Denn diese Stimmen sind, wie Melinda Nadj Abonji in ihrem Beitrag schreibt, auch fünfzig Jahre später noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. 7 Traumatisierung und Politisierung Die Interviews in diesem Buch zeigen, wie die Schwarzenbach-Abstimmung einige der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen traumatisiert und zugleich politisiert hat. Stellvertretend für diese Auswirkungen steht ein Zitat von Marina Frigerio (geb. 1959), welches sie in Bezug auf die Schwarzenbach-Abstimmung geäussert hat: «Das war der Moment, als ich auf die Barrikaden gestiegen bin – und ich bin noch nicht runter.» Ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei der 18-Prozent-, der Minarett- oder der Ausschaffungsinitiative beobachten. Renzo Loiudice (geb. 1979) gibt an, dass die 18-Prozent-Initiative bei ihm den Ausschlag gegeben habe, sich politisch zu engagieren.4 Er war von 2014 bis 2019 Mitglied im Kantonsrat von Schaffhausen. Mohamed Wa Baile (geb. 1974), Mitbegründer der Allianz gegen Racial Profiling, nennt das Plakat der Ausschaffungsinitiative von 2007, auf welchem weisse Schafe ein schwarzes Schaf aus der Schweiz raustreten, als ein Auslöser für sein politisches Engagement. Er habe damals begonnen, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen.5 Ähnlich wie Mohamed Wa Baile erging es auch Arber Bullakaj (geb. 1986) mit der Ausschaffungsinitiative. Seit 2013 ist Arber Bullakaj Mitglied im Stadtparlament von Wil. Er kam als Kind aus dem Kosovo in die Schweiz und fühlte sich durch die damalige Abstimmungskampagne, etwa durch das Plakat «Kosovaren schlitzen Schweizer auf», persönlich angegriffen. Eine kleine Gruppe von Menschen sei als etwas dargestellt worden, das den Frieden der Mehrheitsgesellschaft störe.6 Emsale Selmani (geb. 1993), Mitglied im Grossen Gemeinderat von Ostermundigen, schrieb wiederum im Zusammenhang mit ihrem Wahlkampf von 2020: «Die Annahme der Minarettinitiative im Jahr 2009 war es, die mich zum Politisieren bewegt hat.»7 In einem Gespräch mit mir führte sie aus, dass sie eigentlich nicht sehr religiös sei. Dennoch habe sie sich durch diese Initiative als Muslimin diskriminiert gefühlt: «Etwas, das zu meiner Kultur gehört, wird verboten.»8 Dass ein 8 solches Anliegen auch in ihrem erweiterten Freundeskreis nicht immer abgelehnt wurde, habe sie schlicht nicht nachvollziehen können. Prozesse der Politisierung sind komplex und lassen sich nicht auf einen einzelnen Faktor zurückführen. Dennoch ist es interessant, dass verschiedene Personen solche Abstimmungskampagnen und die damit einhergehenden Folgen in Geschichte und Gegenwart als Auslöser für ihr politisches Engagement bezeichnen. Auch davon – und von viel mehr – erzählen die hier versammelten Porträts. Fokus Die drohenden Ausschaffungen von 1970 hätten – je nach Aufenthaltsstatus – die gesamte «ausländische» Bevölkerung betroffen.9 Die Abstimmungskampagne zielte allerdings vor allem auf die damals grösste migrantische Bevölkerungsgruppe in der Schweiz, die Italiener:innen, ab. Dieser Umstand widerspiegelt sich auch in der Auswahl der hier porträtierten Personen. Der Fokus ist also gerechtfertigt – und gleichzeitig müssen wir uns dessen Einschränkungen bewusst sein und ebenfalls fragen: Wie haben migrierte Menschen aus anderen Ländern diese Zeit erlebt? Um Anhaltspunkte für die Antwort auf diese Frage finden zu können, ist es interessant, die geschilderten Erfahrungen von Enrique Ros und Ödön Szabo mit den anderen Porträtierten zu vergleichen. Die Kontakte zu den interviewten Personen sind über verschiedene Wege entstanden. Auf einige der Porträtierten wurden wir über meinen Bekanntenkreis und denjenigen der Studierenden aufmerksam, andere wurden uns von der Unia und vom Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz vermittelt. Auch bei einem Anlass mit Concetto Vecchio in der Casa d’Italia in Bern habe ich im November 2019 dieses Projekt vorgestellt, worauf sich einige Interessierte bei mir gemeldet haben. Unser Fokus lag auf Menschen, die in der Deutschschweiz leben.10 Die allermeisten Interviews wurden deshalb auch auf Schweizer- oder Schrift9 deutsch geführt. Ein Grossteil der biografisch-thematischen11 Interviews wurden im Frühjahr 2020 durchgeführt, ein weiteres im September 2020. Auch wenn wir darauf geachtet haben, Menschen mit verschiedenen sozialen Hintergründen, unterschiedlichen Berufen und aus verschiedenen Altersklassen für die hier abgedruckten neun Porträts auszuwählen und uns ein möglichst ausgeglichenes Geschlechterverhältnis wichtig war – dieser Ansatz will keine statistisch verstandene Repräsentativität beanspruchen.12 Wessen Geschichte zählt? Oral History zeichnet mündliche Erinnerungen von Zeitzeug:innen auf und wertet sie aus.13 Dadurch wird es möglich, die Perspektiven von Menschen sichtbar zu machen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung wenig berücksichtigt wurden. «Migrantische Erfahrungen» werden dort meist unzureichend dokumentiert und tauchen im kollektiven Gedächtnis nur am Rande auf. Durch Oral History werden folglich Alltagserfahrungen artikuliert, die ansonsten oft unausgesprochen blieben.14 Wie und was jemand erzählt, hat dabei immer sowohl mit der erlebten Geschichte als auch mit der Gegenwart zu tun. Erzählte Erinnerungen sind immer retrospektiv: Sie spiegeln ebenfalls wider, wie interviewte Personen ihrem Leben in der Gegenwart einen Sinn verleihen, indem sie unter anderem auswählen, was sie in ihren Erzählungen ein- und was sie ausschliessen. Erzählte Erinnerungen sind zudem subjektiv: Sie zeigen vor allem, wie jemand etwas erlebt hat. Sie sind deshalb nie einfach «Abbildungen von Ereignissen», sondern stets «Reproduktionen von in eine komplexe lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung eingebetteten Bildern».15 Gerade darin liegt jedoch ihr besonderer Erkenntniswert, denn erzählte Erinnerungen geben immer auch Einblick in das Selbstverständnis, die Sinnbildungsprozesse und Deutungsweisen der befragten Personen. Gleichzeitig folgen mündliche Überlieferungen gesellschaftlichen Konventionen; 10 Erinnerungen sind deshalb immer auch an die soziale Zugehörigkeit eines Menschen gebunden.16 Übersetzungen Wir haben uns bemüht, bei den Zitaten der interviewten Personen nahe am gesprochenen Wort zu bleiben und zugleich eine gute Lesbarkeit zu ermöglichen. Bereits durch unsere Setzung der Satzzeichen und der in den meisten Fällen vom Schweizer- ins Schriftdeutsch erfolgten Übersetzung wurden die Aussagen der Porträtierten jedoch immer auch von uns interpretiert. Auf Schriftdeutsch wurden die Gespräche mit Rosanna Ambrosi, Gemma Capone, Marina Frigerio und Guglielmo Grossi durchgeführt, auf Schweizerdeutsch jene mit Alex Granato, Giuseppe Reo, Enrique Ros und Ödön Szabo. Das Interview mit Paola Monti fand auf Italienisch statt. Bei Giuseppe Reo haben sich die Verfasserinnen des Porträts entschieden, wörtliche Zitate in der Mundart wiederzugeben, da sie sonst an Ausdruck verloren hätten. Bei allen anderen wurde für die Wiedergabe der Zitate meist Schriftdeutsch gewählt, allerdings finden sich auch da Schweizerdeutsche Satzkonstruktionen oder Ausdrücke. Digitales Oral History Archiv Es war uns wichtig, dass die Porträtierten sich in ihrem Porträt wiederfinden. So hat Gemma Capone bei ihrem Porträt eine nachträgliche Ergänzung angebracht, die als solche ausgewiesen ist. Nicht alles, was die Porträtierten erzählten, konnte in diesem Buch untergebracht werden. Auch sind bei der hier gewählten Form des Porträts die Fragen der Interviewenden nicht ersichtlich. Aus diesen Gründen haben wir die Audio-Dateien der den Porträts zugrunde liegenden Interviews auf der Website oral-history-archiv.ch veröffentlicht. Das sich im Aufbau befindende digitale Archiv umfasst auch weitere Oral History-Interviews, die im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen an der Universität Bern entstehen. Ein besonderer 11 Fokus liegt dabei auf Migrationserfahrungen. Gerne laden wir dazu ein, die mündlichen Interviews mit den in diesem Buch verschriftlichten Porträts zu vergleichen, um die erfolgte Transformation selbst beobachten und reflektieren zu können. Durch Oral History schaffen Historikerinnen und Historiker gemeinsam mit den von ihnen interviewten Personen neue Quellen, was in der historischen Forschung eine Besonderheit darstellt. Auf Seiten der Interviewenden bedarf dies einer Selbstreflexion. Nach jedem Interview fertigten die Studierenden deshalb Interviewprotokolle an, um die Interviewsituation und den Gesprächsverlauf zu dokumentieren und zu reflektieren. Die Interviewprotokolle, die biografischen Fragebögen und die erstellten Transkripte werden indes nicht veröffentlicht. Das hat insbesondere mit dem Schutz der Privatsphäre der Interviewten und Interviewenden zu tun sowie beim Transkript zusätzlich mit dem Umstand, dass die Interviewten durch die Überführung eines mündlichen Interviews in schriftliche Sprache Mühe haben können, sich darin wiederzufinden und einer Veröffentlichung in dieser Form zuzustimmen.17 Erinnerungen In einem Fernseh-Interview von 2005 erzählt Rosmarie Schwarzenbach, ihr Bruder James sei nie darauf angewiesen gewesen, Geld zu verdienen.18 Bei den in diesem Buch porträtierten Personen war es hingegen oft die Arbeit, die überhaupt erst ihre Daseinsberechtigung in der Schweiz schuf. Die Arbeit dominierte den Alltag der Erwachsenen. Besonders Kinder trugen dementsprechend von klein auf eine grosse Verantwortung, wie folgende Schilderung zeigt: Alex Granato brachte morgens vor dem Kindergarten seine Geschwister in die Kinderkrippe und ging dann wieder nach Hause. Als es Zeit war, sich für den Kindergarten aufzumachen, lief er los. Vorher ging er aber noch bei seinem Vater vorbei, der nicht weit entfernt in der Sägerei arbeitete, und brachte ihm den Wohnungsschlüssel. In einem anderen Interview erwähnt Giuseppe Reo de12 mütigende Behördengänge, die er als Kind für seine Eltern übernahm. An das Gefühl, bei der Fremdenpolizei von oben herab behandelt zu werden, erinnert er sich heute noch. Als Junge sei es für ihn jedes Mal «en Gruus» gewesen, die Räumlichkeiten der Fremdenpolizei zu betreten. Einige der hier Porträtierten erzählen, wie sie als Kind für einige Zeit von den Eltern getrennt wurden und bei den Grosseltern lebten. Die Hasskampagnen, die ab 1964 geführt wurden, hätten eine veritable Desintegration bewirkt, meint etwa Guglielmo Grossi. Weil die Familien dachten, sie würden bald nach Italien zurückkehren, wurden die Kinder dorthin zurückgeschickt oder gleich in Italien gelassen. Solche Trennungen betrafen Zehntausende Familien. Und als die Kinder dann wieder in die Schweiz kamen, konnten sie die Sprache nicht, was in der Schule zu grossen Problemen führte. Einige, die ihre Schulzeit in der Schweiz verbracht haben, erzählen, wie «ausländische» Kinder in der Schule diskriminiert wurden. Ein Mädchen, das die Umlaute nicht richtig aussprach, wurde zur Strafe von der Lehrperson in die Ecke gestellt. Enrique Ros wurde von manchen Lehrkräften nicht mit Namen angesprochen, er war «der Spanier dort hinten». Alex Granato erzählt, wie er um die Zeit der Abstimmung häufig Schlägereien hatte. Die Schweizer Kinder hätten die Diskussionen zu Hause aufgeschnappt und mit in die Schule getragen. Er sei als «huere Tschingg» beschimpft worden. Das habe er sich aber nicht bieten lassen und sich gewehrt. Die Folge war, dass der Lehrer ihn manchmal an den Ohren geholt und «versorgt» habe. Die «Zündler» blieben hingegen ungestraft. Unterstützung fand Alex Granato bei der Familie des Arbeitgebers, bei der er mit den Töchtern spielen und die Hausaufgaben machen konnte. Giuseppe Reo erzählt, wie ein guter Freund in der Zeit vor der Schwarzenbach-Initiative nicht mehr mit ihm verkehren durfte. Die beiden hätten sich dennoch auf dem Schulweg getroffen, «nicht von Anfang an, aber in der Mitte». Paola Monti berichtet, 13 dass sie in Chur in einem Italiener:innen-Quartier gewohnt habe. Obwohl ihre Eltern ihr damals versicherten hätten, dass sie eine Niederlassung in der Schweiz und deshalb keine Ausweisung zu befürchten hätten, habe sie grosse Angst gehabt. Wahrscheinlich habe sie auch die Angst der anderen gespürt. Von den Auswirkungen der «Überfremdungsdebatten» auf das Leben der Kinder berichtet auch Marina Frigerio. Als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche störe es sie heute noch, wenn die Strassen voller Plakate seien, in denen die Eltern der Kinder als Schmarotzer dargestellt würden. Enrique Ros wurde als Kind von den Eltern eingetrichtert, nicht aufzufallen: «Herunterdämpfen, herunterdämpfen, reinnehmen, schlucken, still sein». Ähnliches erlebte Paola Monti. Wenn sie mit einem Schweizer Kind stritt, wies sie ihre Mutter an, den Mund zu halten, auch wenn sie eigentlich im Recht war. Anders war es bei Alex Granato. Sein Vater habe ihm mitgegeben, dass er sich nichts bieten lassen müsse: «Du bist nicht weniger Wert als die.» Geprägt wurden diese Kinder auch von den Lebensbedingungen, die oft alles andere als einfach waren. Giuseppe Reo erzählt, wie seine Familie ein paar Jahre in einer Baracke lebte. Gegessen wurde jeweils in der Kantine, Bad und Dusche wurden geteilt. Während die Kinder in solchen Lebenssituationen oft früh selbständig werden mussten, wurden die Erwachsenen zuweilen wie Unmündige behandelt. Etwa dann, wenn ihnen das Recht abgesprochen wurde, eine Person des anderen Geschlechts in die eigene Wohnung mitzunehmen. Damit die Holztreppe durch ihr «Krickkrack» nicht zwei Paar Füsse verriet, wurden damals die Partnerinnen von den Männern geschultert, wie sich Gemma Capone erinnert. Mit der Initiative von 1970, so Capone, habe alles zu wackeln begonnen: «Du bist provisorisch», sagte man ihr. Enrique Ros erlebte diese Zeit ebenfalls als existenzielle Verunsicherung, eine Erfahrung der «Ausschaffbarkeit», die sich damals zuspitzte. Unerhört gefunden habe er, dass man ihn vom Ort, an dem er sich auf eine 14 Art zu Hause fühlte, rausschmeissen konnte. Dass eine Demokratie wie die Schweiz ihn in die Franco-Diktatur zurückschicken würde, habe ihn «wahnsinnig gedünkt» und wütend gemacht. Giuseppe Reo erinnert sich an die Erlebnisse seines Vaters, eines Bauarbeiters. Dieser erzählte etwa von einem Arbeitskollegen, der aus heiterem Himmel in den Baracken mit Beschimpfungen gegen «ausländische» Mitarbeitende um sich warf: «Sooo heee iär huere Seck da, jetz chöit der de abfahre.» Und wenn der Vater, der sehr kommunikativ und belesen war, etwas erwiderte, hiess es jeweils: «Lehr zersch Dütsch, bevor mit mir redsch!» Wie wichtig der Zugang zu Büchern und allgemein zu Informationen war, zeigen die Erzählungen der Porträtierten ebenfalls. Marina Frigerio erinnert sich, dass ihr Vater, ein Elektriker, eine riesige Bibliothek besass: «Er war einer, der wahrscheinlich hätte studieren sollen, aber es war eben nicht möglich.» Ausserdem ist es auffallend, dass viele der hier porträtierten Frauen selber Bücher verfasst haben. Rosanna Ambrosi, Gemma Capone und Marina Frigerio haben auf diese Weise sich und ihrem Umfeld zu einer Stimme verholfen. Migrierte seien eine Gruppe gewesen, «die man ohne Stimme, ohne Rechte haben wollte», erinnert sich Giuseppe Reo. In die Abstimmungsdebatte haben sie sich trotzdem eingemischt. Mit der Initiative sei der Esel geschlagen, aber der Ritter gemeint gewesen, erinnert sich Giuseppe Reo. Guglielmo Grossi beschreibt, wie sich das Comitato d’Intesa bildete, damit linke und katholische Organisationen sich beim Widerstand gegen die Initiative koordinieren konnten. Der bereits erwähnte Schwarzenbacheffekt zeigte sich auch hier. Gerade durch die «Überfremdungskampagnen» wurden einige der Interviewten politisiert. Sie setzten sich für bessere Arbeitsbedingungen ein, kämpften etwa für gleiche Entlohnung (was rechtlich gesehen bereits zwingend gewesen wäre), damit migrantische Arbeitskräfte nicht für ein Lohndumping missbraucht werden konnten. Guglielmo Grossi erzählt ausserdem vom schwierigen Kampf für die doppelte Staatsbürgerschaft. 15 Alle Porträtierten besitzen heute die Schweizer Staatsbürgerschaft. Alex Granato sieht seine Einbürgerung als Spätfolge von «Schwarzenbach». Bereits mit Fünfzehn habe er sich gesagt, dass es so nicht weitergehen könne. «Die Auswirkungen, die das eigentlich gehabt hat: Dass ich überhaupt Schweizer Bürger geworden bin, weil ich mitbestimmen wollte.» Auch Enrique Ros wollte sich bereits als Jugendlicher einbürgern lassen. Als er dem Einbürgerungsbeamten im zweiten oder dritten Gespräch allerdings auf Nachfrage hin eröffnete, er werde den Militärdienst verweigern, sei die Antwort gewesen: «Ja dann werden Sie nicht Schweizer.» Über einen anderen Weg, nämlich als Enrique Ros seine Schweizer Frau heiratete, habe er die Schweizer Staatsbürgerschaft später doch noch erhalten. Rosanna Ambrosis geschildertes Erlebnis zur Einbürgerung ist ebenfalls filmreif. Ein konsequent Schweizerdeutsch sprechender «Polizist» besuchte sie damals zu Hause und machte sich während des Gesprächs immer wieder Notizen. Ambrosi nahm irgendwann ebenfalls einen Block zur Hand und begann, sich Dinge zu notieren. Wieso sie das mache, wurde sie von ihm gefragt. «Weil ich in einer Ausländerkommission der Stadt Zürich bin», war ihre Antwort. Und sie wolle beweisen und erzählen, wie eine solche Prozedur vor sich ginge. Da sei sein Verhalten auf einmal ganz anders geworden, er habe zudem sofort ins Schriftdeutsche gewechselt. Marina Frigerio kam durch Heirat zur doppelten Staatsbürgerschaft. Sie sei in der Schweiz geboren und habe sich immer schon als Tessinerin gefühlt. Deshalb habe sie das Beantragen eines Schweizer Passes als demütigend empfunden. Ödön Szabo wiederum war 1970 bereits eingebürgert. 1956 floh er mit seiner Familie aus Ungarn in die Schweiz. Er nimmt im Kreis der porträtierten Personen eine besondere Stellung ein. So ist er der Einzige, der als Geflüchteter in die Schweiz kam. Während heute Geflüchtete in der Hierarchie unten stehen, sei es damals gerade umgekehrt gewesen, erinnert er sich. Für seine Familie war es kein 16 Leben im Provisorium, sondern in der Permanenz: Es war von Anfang an klar, dass sie von nun an in der Schweiz bleiben würden. Szabo empfindet seine damalige Situation im Vergleich zu jener der sogenannten «Gastarbeiterfamilien» allgemein als privilegiert. Die italienischen Saisonniers hätten in einer sehr schwierigen Situation gelebt und sich dabei sehr «konform» verhalten. Vieles habe er damals aber nicht mitbekommen, etwa die Situation der verborgenen Kinder. Diese Kinder lebten in den 1970er-Jahren illegal und versteckt in der Schweiz, weil sie keine Aufenthaltsbewilligungen erhielten.19 Die ungarische Gemeinschaft sei gegen die Schwarzenbach-Initiative gewesen. In Ödön Szabos Augen wäre es allerdings gelogen, zu sagen: «Wir sind dort bewegt gewesen». Als «ehemalige ungarische Flüchtlinge» hätten sie vor allem gegen die aufkommende Linke gekämpft und sich gleichzeitig gegen jegliche Ausländerfeindlichkeit starkgemacht. Ob die Abstimmung von 1970 für ihn noch irgendwie nachgewirkt habe? Die Antwort von Ödön Szabo nach längerer Überlegung lautet: Er habe irgendwann angefangen, differenziert sein linkes Herz zu entdecken. Zu sagen, es sei direkt Schwarzenbach zu verdanken, wäre geblufft. Aber er habe schon gemerkt, «grundsätzlich gefallen mir die linken Ideen». Die «Demokratie» bleibt im Kommen Die porträtierten Personen erzählen von Gemeinschaften, die sich organisiert und für ihre Rechte gekämpft haben. Viele der porträtierten Personen waren und sind noch immer in Vereinen, Parteien oder Gewerkschaften engagiert. Sie haben das gesellschaftliche Leben geprägt. Sie haben Strassen, Spitäler und Schulen gebaut. Und sie haben den öffentlichen Raum «geöffnet». Auch die «Einheimischen» haben sich im Laufe der Zeit in diese «neue Schweiz» integriert. Sie haben gelernt, dass man Tische draussen aufstellen und die Kinder abends zum Essen und Ausgehen mitnehmen kann. Die Schweiz ist gerade auch durch Migration zu dem Land ge17 worden, das sie heute ist. Wären Menschen mit und ohne «Migrationserfahrung» dabei nicht immer wieder «auf die Barrikaden gestiegen», gäbe es viele unserer politischen und sozialen Errungenschaften nicht.20 Aber angekommen sind wir alle noch nicht: Die «Demokratie» bleibt im Kommen.21 Davon zeugten im Gedenkjahr der Schwarzenbach-Initiative besonders die globalen Black Lives Matter Proteste.22 1 Es ist wichtig zu wissen, dass es bei der Schwarzenbach-Initiative nicht nur darum ging, die Anzahl der «ausländischen Arbeitskräfte» zu reduzieren. Die Situation der Italiener:innen in der Schweiz hatte sich durch das 1964 unterzeichnete Einwanderungsabkommen mit Italien verbessert. Dies war vielen ein Dorn im Auge – und ein wichtiger Mobilisierungsfaktor für die Initiative. Wie die Schwarzenbach-Initiative die Rechte von Migrant:innen beschränken wollte, schildert Cenk Akdoganbulut in seinem Beitrag. Er zeigt auch die Wirkungen auf, die die Initiative trotz ihrer Ablehnung entfaltete. 2 Die hier porträtierten Personen haben im Laufe ihres Lebens verschiedene Bewilligungsformen durchlaufen. Der Status «Niedergelassene» entspricht der C-Bewilligung, «Jahresaufenthalt» der B-Bewilligung und das Saisonnierstatut der A-Bewilligung. 3 Maiolino, Angelo: Als die Italiener noch Tschinggen waren. Der Widerstand gegen die SchwarzenbachInitiative. Zürich 2011, S. 25. 4 Hunziker, Peter: Wochengespräch. In: Schaffhauser AZ. 1.6.2006, S. 4–5. 18 Vgl. die digitale Diskussion vom 22.9.2020 mit Melinda Nadj Abonji, Mohamed Wa Baile, Arber Bullakaj, Francesca Falk und Kaspar Surber auf youtu.be/YCtYBA_augk (23.9.2020). 6 Das Bundesgericht bestätigte 2017 das Urteil der Vorinstanz, dass das Plakat gegen die Anti-Rassismuss-Strafnorm verstosse. 7 Selmani, Emsale. In: Bantiger Post, 11.8.2020. 8 Gespräch zwischen Emsale Selmani und Francesca Falk vom 15.8.2020. 9 In den letzten Jahren sind wichtige und inspirierende Bücher zum Thema erschienen. Siehe etwa Maiolino 2011; Vecchio, Concetto: Jagt sie weg! Die Schwarzenbach-Initiative und die italienischen Migranten. Zürich 2020. Angelo Maiolino möchte die Ereignisse aus der Sicht derjenigen schildern, die damals mit dem Etikett «Tschingg» diskreditiert wurden. Eine ähnliche Absicht verfolgt auch Concetto Vecchio. Den Ansatz der Oral History haben allerdings beide Autoren nur sehr begrenzt in Anschlag gebracht. Die Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus der französischsprachigen Schweiz steht hingegen im Zentrum des 2010 erschienen Films «Les années Schwarzenbach» von Katharine Dominice 5 und Luc Peter. Weitere Bücher zum Thema werden in Kürze erscheinen, so etwa die von der italienischen Botschaft initiierte Publikation: Mignano, Silvio / Riccardi, Toni: Più Svizzeri, sempre italiani. Mezzo secolo dopo l’iniziativa Schwarzenbach. Rom 2022. Zu James Schwarzenbach und allgemein zum «Überfremdungsdiskurs» zu dieser Zeit siehe etwa Skenderovic, Damir: The Radical Right in Switzerland. Continuity and Change, 1945–2000. New York 2009; Skenderovic, Damir / D’Amato, Gianni: Mit dem Fremden politisieren. Rechtspopulistische Parteien und Migrationspolitik in der Schweiz seit den 1960er-Jahren. Zürich 2008; Drews, Isabel: «Schweizer erwache!». Der Rechtspopulist James Schwarzenbach (1967–1978). Frauenfeld 2005; Buomberger, Thomas: Kampf gegen unerwünschte Fremde. Von James Schwarzenbach bis Christoph Blocher. Zürich 2004. 10 Eine Porträtierte ist im Tessin aufgewachsen, eine weitere lebt heute da. 11 In der Forschungsliteratur wird zwischen Expert:inneninterviews, thematischen und biografischen Interviews unterschieden. Die Grenzen zwischen verschiedenen Formen der Gesprächsführung sind allerdings oft fliessend. Uns interessierten die Lebensgeschichten der interviewten Personen und im Speziellen ihre Erinnerungen an die SchwarzenbachInitiative. Aufgrund dieser von uns vorgenommenen Relevanzsetzung und der Kombination von erzählgenerierenden und themenzentrierten Fragen haben wir den Begriff des «biografisch-thematischen Interviews» gewählt. 12 So sind bei den hier porträtierten Personen beispielsweise keine dabei, die 1970 über einen Aufenthaltsstatus als Saisonnier oder Saisonnière verfügten. Einige Interviews mit Saisonnières und Saisonniers finden sich auf der Website oral-history-archiv.ch (12.1.2022). 13 An den Universitäten herrschte lange Zeit eine grosse Skepsis gegenüber Oral History. So stellte 1994 Gregor Spuhler fest, dass in der Schweiz kaum Veranstaltungen stattfinden, «in denen Studierende über die historische Forschung mit Interviews und die Besonderheiten dieser Arbeitsweise etwas erfahren könnten». Spuhler, Gregor: Oral History in der Schweiz. In: Ders.: Vielstimmiges Gedächtnis. Beiträge zur Oral History. Zürich 1994, S. 7–20. S. 11. In den letzten Jahren wurde die Bedeutung von Oral History allerdings aufgewertet. Beispielsweise wurde 2013 der Verein Oralhistory.ch gegründet, siehe dazu oralhistory.ch/web/ (2.8.2021). 14 In Bezug auf die Migration aus Italien in die Schweiz siehe in diesem Zusammenhang etwa Barcella, Paolo: Per cercare lavoro. Donne e uomini dell’emigrazione italiana in Svizzera. Roma 2018. 15 Wierling, Dorothee: Oral History. In: Maurer, Michael: Aufriss der historischen Wissenschaften. Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2001, S. 81–148. S. 96. 16 Ebd., S. 82. Zwischen individuellen Erinnerungen und hegemonialen Erinnerungsdiskursen kann zuweilen allerdings auch ein Spannungsverhältnis bestehen. Siehe dazu Dejung, Christof: Oral History und kollektives Gedächtnis. Für eine sozialhistorische Erweiterung der Erinnerungsgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 96–115. 19 17 Siehe dazu Chiquet, Simone: Wem gehört die Geschichte? Ein Arbeitsbericht. In: Spuhler, Gregor: Vielstimmiges Gedächtnis. Beiträge zur Oral History. Zürich 1994, S. 49–55. 18 Die Passage des Interviews findet sich auch im Dokumentarfilm von 2014 «Gegen das Fremde – Der lange Schatten des James Schwarzenbach»: srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/ wochenende-gesellschaft/dok-film-gegen-das-fremde-der-lange-schattendes-james-schwarzenbach, 13:52 (18.9.2020). 19 Frigerio, Marina: Verbotene Kinder. Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität. Zürich 2014; Frigerio, Marina / Burgherr, Simone: Versteckte Kinder. Zwischen Illegalität und Trennung. Saisonnierkinder und ihre Eltern erzählen. Luzern 1992; Khan, Muhammad Benyamin: Unsichtbare Kinder. Der Umgang der Behörden mit versteckten Kindern von ArbeitsmigrantInnen in der Schweiz (1950er–1970er-Jahre). Bern 2019 (unveröffentlichte Masterarbeit); Khan, Muhammad Benyamin: Leben im Versteck. In: NZZ Geschichte 31 (2020) S. 86–93. Siehe dazu auch das laufende Projekt an der Universität Neuchâtel «Une socio-histoire des gens qui migrent: Les ‹enfants du placard›»: unine.ch/histoire/home/recherche-1/une-socio-histoire-desgens-qui.html (13.11.2020). Ein wichtiger Aufruf zur Aufarbeitung dieser Geschichte stellt folgende Intervention dar: De Martin, Paola: Brennende Unschärfe. Offener Brief an Bundesrätin Simonetta Sommaruga. 21.9.2018: institutneueschweiz.ch/De/Blog/176/De_Martin_ Brennende_Unschrfte (1.12.2020). Siehe dazu auch das Projekt «Schwarzenbach-Komplex»: schwarzenbachkomplex.ch/cms/ (1.12.2020). 20 20 Wie die Geschlechtergerechtigkeit in der Schweiz durch Migration vorangetrieben wurde, thematisiere ich in Falk, Fancesca: Gender Innovation and Migration in Switzerland. Cham 2019. 21 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft. Frankfurt am Main 2002. 22 Siehe dazu Jain, Rohit: Schwarzenbach geht uns alle an! Gedanken zu einer vielstimmigen, antirassistischen Erinnerungspolitik. Blogeintrag vom 26.6.2020: institutneueschweiz.ch/ De/Blog/249/ Schwarzenbach_geht_ uns_alle_an_Gedanken_ zu_einer_ vielstimmigen_antirassistischen_Erinnerungspolitik (1.12.2020); Dos Santos Pinto, Jovita / Boulila, Stefanie: Was Black Lives Matter für die Schweiz bedeutet. 23.6.2020: republik.ch/2020/06/23/was-black-livesmatter-fuer-die-schweiz-bedeutet (1.12.2020); Espahangizi, Kijan: Wer waren die N***** Europas? Der 50. Jahrestag der «SchwarzenbachInitiative gegen Überfremdung» in der Schweiz und die antirassistische Protestbewegung in den USA. 7.6.2020: geschichtedergegenwart.ch/ wer-waren-die-n-europas-der-50jahrestag-der-schwarzenbach-initiative-gegen-ueberfremdung-in-derschweiz-und-die-antirassistische-protestbewegung-in-den-usa/ (1.12.2020).